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Früchtetee

Autor:  extramagenfuerbanane
Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin in regelmäßigen Abständen einigermaßen überfordert, mit mir und der Welt und wenn ich darüber einen Text schreibe, dann nennt der sich Früchtetee und klingt folgendermaßen:

Eigentlich müsste ich auf Stelzen schreiten, um so Abstand zu gewinnen, zu dem, was mich runterzieht.
Eigentlich müsste mein Hirn wie ein Sieb funktionieren, stets wissend, was zu vergessen ist, was zu konservieren.
Eigentlich müsste ich Boxen integrieren in meinen Hinterkopf, um immer die richtige Musik zu haben, im Hintergrund.
Eigentlich müsste ich zwischen Mund und Kehle eine Stimmgabel klemmen, um immer den richtigen Ton zu treffen.
Eigentlich müsste ich mich auf einen Baum hocken und solange feste pressen, bis aus meinen Schulterblättern Schwingen dringen, mit denen ich gen Süden zöge um mal rauszukommen hier.
Eigentlich müsste ich mir einen Stock bis zum Anschlag in den Arsch rammen, um aber auch wirklich in jeder Situation noch Haltung zu bewahren.
Eigentlich müsste ich dann auch meine Wirbel verrücken, um dann in die entstandenen Lücken Selbstvertrauen drücken, um immer Zuversicht im Rücken zu haben.
Eigentlich müsste ich Augäpfel pflücken und Radarbrillen tragen, um immer den Über- und Durchblick zu haben.
Eigentlich müsste ich an Gott, Parteiprogramme, die eine große Liebe und mich selbst glauben.
Eigentlich müsste ich euch allen die Zeit rauben, weil mir immer zu allem die Zeit fehlt.
Eigentlich müsste ich mir mehr Zeit nehmen für die wichtigen Dinge.
Eigentlich ist alle viel zu wichtig, als dass man was davon vernachlässigen könnte.
Eigentlich müsste ich, wo bei anderen das Hirn sitzt, einen Post its-Block haben, um an alles zu denken.
Eigentlich sollte ich meine Zeit nicht mit dummen Gedanken verschwenden, wie:
"Ein Autositz hat mehr von einem Fahrstuhl als ein Aufzug."
Eigentlich sollte ich weniger Aufzug fahren, sondern Treppen steigen.
Eigentlich sollte ich keine Treppen mehr steigen, sondern Karriereleitern.
Eigentlich sollte ich mehr Slam-Workshops leiten, um mich besser zu finanzieren.
Eigentlich sollte ich meine Finanzierung besser überdenken.
Eigentlich sollte ich meine Zeit nicht mit dummen Gedanken verschwenden, wie:
" Tumore sind wie gut erzogene Kinder - still und wachsen von alleine."
Eigentlich müssen meine Beine in Sieben-Meilen-Stifeln staksen, um mehr Weg zurückzulegen, mehr zu schaffen.
Eigentlich müsste in meinen Adern purer Tatendrang und Speed fließen, weil ich immer, immer zu langsam bin.
Eigentlich müsste ich aufrüsten, bis unter das Kinn, weil meine Verse mir ständig auf den Fersen sind,
Eigentlich, eigentlich, eigentlich...
Aber da bin immer nur ich und manchmal reicht das nicht.
Aber da bin immer nur ich, aber meistens ist das schon zuviel für mich, weil
eigentlich müsste ich mir Superlative spritzen, um in allem besser zu sein.
Eigentlich müsste ich mir das Herz eines Blauwals implantieren lassen, da passen nämlich ganze Menschen rein, dann hättens meine Freunde auch endlich mal gemütlicher bei mir.
Eigentlich müsste ich mir die Mundwinkel hinter die Ohrläppchen tackern, weil Delfine und Mädchen lächeln immer.
Eigentlich müsse ich mein Zimmer, nein meine ganze Bude mit dem Duden tapezieren, um immer die richtigen Worte zu finden.
Eigentlich müsste ich mir die Augen verbinden und Scheuklappen tragen, um stets unbeirrt voran zu traben.
Eigentlich müsste ich ständig neben mir stehen, um permanent hinter mir her zu räumen.
Eigentlich müsste ich Schlafwandeln können um auch tagsüber zu träumen.
Eigentlich müsste ich um mich Brotkrumen verteilen, um mehr aus mir rauszugehen und trotzdem noch zurück zu finden.
Eigentlich müsste sich mein Lebnslauf bereits auf Seite zehn befinden.
Eigentlich müsste ich zum Arschabputzen das Feuilleton der Süddeutschen benutzen, um mal wirklich drauf zu scheißen, was Kritiker über mich denken.
Eigentlich müsste man mir alle Lebkuchenherzen des Oktoberfestes schenken, dann hätte ich auch mal ein Herz für Kinder, eines für Tiere, für den Umweltschutz, eines für afrikanische Hungerbäuche, eines für kürzlich verstorbene Kinderschänder und eines für Britneys Drogenexzesse.
Dann wär ich vielleicht endlich mal nicht mehr so erschreckend gleichgültig.
Eigentlich sollte ich mir nicht alles so zu Herzen nehmen.
Eigentlich sollte ich stets steil nach oben streben.
Eigentlich soll ich mich mal zufrieden geben.
Eigentlich soll ich so viel verstehen, wenn ich groß bin, aber wieso Mama, ganz ehrlich, ist mir dann immernoch sovieles unerklärlich?
Weil eigentlich müsste ich soviel wissen.
Eigentlich müsste ich einen Penis haben. Ja um auch mal würdevoll in die Wildnis zu pissen!
Und eigentlich müsste ich mich mit David Copperfield liieren, damit er mich morgens erstmal gepflegt in meine Einzelteile zersägt.
Dann könnte mein Torso in der Vorlesung sein, während meine Beine draußen gegen Studiengebühren demonstrieren.
Meine Augen würden Sonntagabend Tatort sehen, während meine Arme mit den Mädels einen Heben gehen und meine Hüften würden über den Tanzboden schweben, während meine Füße sich artig schlafen legen, weil eigentlich sollte ich sowieso alles in einem sein, wie eine Sitz- Geh- Legenheit eben.
Eigentlich müsste ich Mut verflüssigen, Verstand pulverisieren, eine Prise Risikofreude dazugeben, das dann zu pinken Pillen komprimieren, die ich in Apotheken verkaufe, als Mittel gegen Unentschlossenheit: Entscheidung- forte
Eigentlich müsste ich Worte gurgeln, damit sie mir nur so über die Zunge hüpfen.
Eigentlich müsste ich Eier legen, aus denen ständig neue Textideen schlüpfen.
Eigentlich müsste mir eine Supermarktkette gehören, dann würde ich nämlich Weisheit in Dosen verkaufen, damit ich die wirklich mal mit Löffeln fressen kann!
Eigentlich müsste ich dann eine Stategie entwickeln, wie ich von drei Dosen Weisheit, fünf Litern Wasser und zehntausend Situps am Tag überlebe, um endlich auszusehen wie Heidi Klum.
Eigentlich sollte ich es für erstrebenswert halten, auszusehen wie Heidi Klum,
eigentlich sollte es mir egal sein, dass ich nicht aussehe wie Heidi Klum, 
eigentlich, eigentlich, eigentlich...
Aber da bin immer nur ich und manchmal reicht das nicht. Weil das bin ja nur ich.
Aber meistens ist das schon zuviel für mich.
Und dann kommst du. Sagst ich soll mal runterkommen, langsam machen, sagst du.
Dass ich auch nur ein Mensch bin und Menschen kleine Brötchen backen, sagst du.
Und Früchtetee, sagst du, schmeckt auch nur nach nichts, mit ein bisschen Weihnachten.

 
                                                                                                                       Franziska Holzheimer
Datum: 14.07.2011 10:04
wow wirklich ein hammer text. der regt total zum nachdenken an!


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