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Centuries

von

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Kapitel 2

Die Stimmung in der Halle glich einem Hexenkessel, dem niemand entkommen konnte. Mit spielerisch anmutender Leichtigkeit kontrollierte Hizumi die Fans, die seiner atemraubenden Bühnenpräsenz von Anfang an verfallen waren. Sie funktionierten alle wie perfekt aufeinander abgestimmte Zahnrädchen eines Uhrwerks, es gab keine technischen Schwierigkeiten, die ihnen in der Vergangenheit schon so oft das Leben schwer gemacht hatten, und doch konnte Zero das alles hier nicht genießen. Es war lediglich jahrelanger Übung zu verdanken, dass sein Körper tat, was von ihm erwartet wurde. Seine Finger huschten über die Saiten seines Basses, seine Hüften wiegten sich im Rhythmus von Tsukasas Trommelschlägen und ein beherzter Kopfschwung ließ seine langen Rasterzöpfe durch die Luft fliegen. Sein Geist jedoch war meilenweit weg.

Wieder und wieder huschten seine Augen nach links, suchten die hochgewachsene Gestalt Karyus, während alles in ihm danach schrie, zu ihm zu gehen und sicherzustellen, dass er wirklich in Ordnung war. Doch bis auf eine anhaltende Blässe war ihrem Leader der Schrecken kaum noch anzumerken, dem sie Stunden zuvor nur knapp entronnen waren, und dennoch konnte Zero die anhaltende Sorge nicht abschütteln.

 

Hätte Karyu nicht schon gebremst, weit bevor sein panischer Ausruf im Wageninneren verklungen gewesen war, würden sie nun nicht auf der Bühne stehen. Der Lastwagen hatte riesig ausgesehen, als er nur Zentimeter an ihrem kleinen Van vorbeigerauscht war, sodass sie sogar die verdrängte Luft hatten spüren können, die ihr Fahrzeug kurz hatte ruckeln lassen. Als die Erkenntnis zäh wie Teer in sein Bewusstsein gesickert war, dass sie soeben dem sicheren Tod nur um Haaresbreite entkommen waren, hätte er Karyu am liebsten in seine Arme gezogen und nie wieder losgelassen. Selbst jetzt noch wurden seine Augen feucht, wenn er sich an diesen Moment zurückerinnerte, und er musste sich wegdrehen, bevor die Fans noch etwas bemerken würden.

 

Als sein Herz nach ihrem Beinahe-Zusammenstoß endlich wieder in einem normalen Rhythmus geschlagen hatte, hatte er die Hand auf die Karyus gelegt, die das Lenkrad so fest umklammert hatte, dass der Körper des Gitarristen unkontrolliert zu beben begonnen hatte. Der Schock war dem anderen nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben gewesen und Zero hätte später nicht sagen können, wie lange sie mitten auf der Kreuzung stehen geblieben waren, ohne dass einer von ihnen in der Lage gewesen wäre, diesen Umstand zu ändern oder auch nur ein Wort zu sagen. Irgendwann, als die Autos hinter ihnen mehr und mehr zu hupen begonnen hatten und ein älterer Herr mit besorgter Miene an das Seitenfenster auf der Fahrerseite geklopft hatte, um sich zu erkundigen, ob mit ihnen alles in Ordnung sei, war wieder Leben in sie gekommen. Karyu hatte den Van im Schneckentempo an den Seitenstreifen gefahren, bevor er ausgestiegen war und sich übergeben hatte. Der arme Kerl war minutenlang zu nichts anderem fähig gewesen, als gepresst ein und wieder auszuatmen. Zero war an seiner Seite geblieben, während Hizumi sich um ihren Drummer gekümmert hatte. Tsukasa hatte sich während der Vollbremsung auf die Unterlippe gebissen und obwohl die Verletzung harmlos war, hatte sie stark geblutet und hatte später backstage von einem Sanitäter behandelt werden müssen. Dennoch hatten sie alles in allem unverschämtes Glück gehabt, was Zero auch jetzt noch immer nicht wirklich fassen konnte.

 

Er verzog das Gesicht, als bei der nächsten Drehung der Gurt seines Basses verrutschte und nun genau auf die Stelle drückte, die durch den Sicherheitsgurt in Mitleidenschaft gezogen worden war. Als er sich vorhin für die Show fertiggemacht hatte, hatte er schon bemerkt, dass sein Schlüsselbein hübsch blau angelaufen war, aber er hatte es nicht für nötig empfunden, deswegen ein Fass aufzumachen. So eine kleine Prellung war schließlich nichts, was eine Mütze Schlaf und Ruhe nicht wieder geraderücken konnten. Eine seiner typischen Fehleinschätzungen, wie er nun schmerzhaft feststellen musste. Gut nur, dass sie ihr Set für den Abend schon beinahe abgearbeitet hatten und im Prinzip nur noch die finale Zugabe fehlte. Doch bevor sie sich für eine kurze Pause zurückziehen würden, heizte Hizumi den Fans noch einmal so richtig ein und selbst Karyu verließ zum ersten Mal an diesem Abend seine angestammte Bühnenseite, um sich genau mittig vor den singenden und jubelnden Massen aufzubauen. Spätestens jetzt hielt es auch ihn nicht mehr an seinem Platz. Mit wenigen ausladenden Schritten kam er an Karyus Seite an und gönnte es sich, unter dem lauter werdenden Kreischen der Fans, sich ein wenig gegen die Schulter des Gitarristen zu lehnen. Er musste aufpassen, dass er dem anderen nicht im Weg war, aber Karyu spielte mit und drehte sich so, dass sie für einige lange Minuten Rücken an Rücken spielen konnten. Seine nackten Schultern pressten sich gegen den durch Karyus Körperwärme aufgeheizten Stoff seines Oberteils und ließen ihn für einen Augenblick erschauern. Himmel, es tat so gut, ihn fühlen zu können – lebendig. Zero schloss die Augen und gab sich voll und ganz ihrer Musik und seinen Emotionen hin, bevor das Lied endete und er wieder auf Abstand gehen musste.

 

~*~

 

Waren Konzerte schon immer so anstrengend gewesen? Vollkommen erschöpft saß er auf dem Bett in seinem Hotelzimmer und hatte den Kopf in beide Hände gestützt, während der Fernseher für leise Hintergrundgeräusche sorgte. Hizumi, Tsukasa und Karyu waren zwar enttäuscht gewesen, als er nach ihrer Show deutlich gemacht hatte, dass er kein Interesse daran hatte, noch irgendeinen Klub oder eine Bar unsicher zu machen, aber er hatte nur noch ins Hotel gewollt, um endlich seine Ruhe zu haben. Und nun war er hier, frisch geduscht und bettfertig und konnte sich nicht überwinden, sich endlich hinzulegen. Ihm spukte so vieles im Kopf herum – ihr Beinahe-Unfall, der Moment, als er sich an Karyus Rücken gelehnt und das Leben in ihm hatte fühlen können, dieser noch immer viel zu lebendige Traum. Letzterer war es auch, der die Furcht in ihm schürte, seiner Übermüdung nachzugeben und sich endlich schlafenzulegen. Was wäre, wenn er wieder träumte? Was, wenn er Karyu erneut sterben sah?

 

Er schreckte hoch, als es unverhofft an seiner Tür klopfte. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich totzustellen, allerdings sorgten sein angeborenes Pflichtbewusstsein oder schlichtweg simple Neugierde dafür, dass er schon zur Tür gegangen war und sie geöffnet hatte, noch bevor sein Hirn registrieren konnte, dass das eine blöde Idee war. Blöde Idee deswegen, weil niemand anderer als Karyu höchst selbst vor seinem Zimmer stand und ihn nun aus großen Augen anschaute.

 

‚Beinahe so, als hätte er nicht damit gerechnet, dass ich ihm aufmache‘, ging es Zero durch den Kopf und ein feines Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. „Soll ich die Tür wieder zumachen und dich ignorieren, damit ich deinen Erwartungen gerecht werde?“

 

„Ehm … was?“

 

„Ach, schon gut.“ Er winkte ab und verbat es sich, den überforderten Ausdruck auf Karyus Gesicht in welcher Form auch immer niedlich zu finden. „Was machst du hier? Ich dachte, du wolltest mit den beiden anderen um die Häuser ziehen?“

 

„Mh, wollte ich auch. Aber in der Bar gabs nicht wirklich was Anständiges zu essen und normalerweise kann ich mein Essen auch trinken, aber heute …“ Karyu zuckte mit den Schultern. „Seit vorhin ist mir nicht gerade wohl und ich dachte mir, vielleicht sollte ich doch lieber was essen gehen, statt es mit dem ein oder anderen Bier noch schlimmer zu machen.“

 

„Aha.“ Zero gab sich unbeeindruckt von der ausschweifenden Erklärung seines Leaders, obwohl es in seinem Inneren ganz anders aussah. Sie wussten beide, was Karyu mit vorhin meinte und als er erwähnte, dass es ihm nicht gut ging, war der Drang, sich um ihn kümmern zu wollen, so groß, dass er sich kaum zurückhalten konnte. Er hatte es noch nie ertragen, ihn leiden zu sehen. Stattdessen lehnte er sich an den Türrahmen und erschauderte leicht, als ihm das kühle Holz eine Gänsehaut bescherte. „Und was genau machst du jetzt hier?“, wiederholte er also seine Frage, auch wenn er schon eine ziemlich gute Vorstellung davon hatte, warum Karyu nun vor seiner Tür stand. Das einzige Ziel seines Lebens war es zwar, auf den Großen achtzugeben, aber das hieß nicht, dass er ihn nicht ab und an ein bisschen ärgern durfte. Ganz besonders, wenn Karyu, so wie jetzt, eine feine Röte über die Wangen huschte und er nervös die langen Finger ineinander zu verknoten begann.

 

„Na ja, ich bin also zurück um mir was Bequemeres anzuziehen und hab auf dem Weg hierher doch tatsächlich gesehen, dass genau gegenüber vom Hotel ein Coco Ichibanya Curry House ist.“ Stille folgte, während derer Karyus Blicke wie gebannt auf ihm ruhten. Alle in der Band wussten, wie sehr er das Curry eben jener Kette liebte, und allein bei dem Gedanken an einen Teller davon lief ihm das Wasser im Mund zusammen, aber das musste er sich ja nicht zwingend anmerken lassen.

 

„Ja …. Und weiter?“

 

„Ehm …“, war vorerst alles, was von Karyu kam, und wer ihren extrovertierten Gitarristen jemals auf der Bühne gesehen hatte, hätte diese Version hier sicherlich nicht mit ihm in Verbindung gebracht. Sein Gegenüber hatte den Kopf gesenkt, blickte unter seinen langen Wimpern hindurch zu ihm auf, obwohl er es war, der Zero um mindestens eine Handbreite überragte.

 

‚Das soll ihm echt mal jemand nachmachen‘, dachte er neidlos und das anhaltende Schmunzeln hob seine Mundwinkel noch ein Stück weiter nach oben.

 

„Ich wollte fragen … ob du mitkommen magst?“

 

Zero öffnete den Mund im festen Vorhaben zu verneinen, aber eine leise Stimme in seinem Kopf, die verdächtig nach Hizumi klang, ließ ihn innehalten.

‚… dass dein Verhalten ihn früher oder später zerstören wird.‘

‚… er hat keine Ahnung, warum er sich so bedingungslos zu dir hingezogen fühlt, warum ihn die Sehnsucht nach dir schier auffrisst.‘

‚Er begreift nicht, kann nicht begreifen, dass er dir ebenso wenig entfliehen kann wie du ihm.‘

Wieder hatte er den Lastwagen vor Augen und eine Welle der Furcht drohte über ihm zusammenzubrechen. Himmel, er hätte Karyu heute verlieren können und doch stand er nun vor ihm, lebendig, unverletzt. Für einen langen Moment schloss er die Augen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Zeit mit Karyu zu verbringen und der panischen Angst, nachlässig zu werden. Er verabscheute diesen Zwiespalt in sich, hasste die Tiefe seiner Emotionen. Warum konnte er nicht damit zufrieden sein, Karyu ein Freund und für ihn da zu sein, ihn zu beschützen? Warum musste er immer um so vieles mehr wollen?

Ach, was sollte es schon. Er konnte ohnehin an nichts und niemand anderen denken als an den Mann, der nun vor ihm stand, da konnte er genauso gut Zeit mit ihm verbringen. Eine fast kindliche Sturheit schlich sich in seine Gedanken und wie automatisch ballten sich seine Hände zu Fäusten, als würde er seinen halbgaren Entschluss auch körperlich gegen jeden verteidigen wollen, der ihn infrage stellte – auch gegen sich selbst.

 

„Zero?“ Eine sachte Berührung an seiner Schulter ließ ihn zusammenzucken. Blinzelnd erwiderte er Karyus besorgten Blick, schüttelte jedoch den Kopf, als der Größere erneut zum Sprechen ansetzte.

 

„Ich komm mit.“ Er zuckte die Schultern im Versuch, nonchalant zu wirken, und verzog das Gesicht, als sich sein Schlüsselbein erneut zu Wort meldete. Dummes Ding. Karyu hatte noch irgendwas sagen wollen, vermutlich ein Ausdruck der Verwunderung, dass er nun doch zugesagt hatte, aber bei dem kleinen Schmerzenslaut, den er nicht hatte unterdrücken können, hielt er inne.

 

„Was hast du gemacht?“, fragte er und noch bevor Zero ihn daran hätte hindern können, hatten sich kühle Finger kaum spürbar auf die blau verfärbte Stelle seines Schlüsselbeins gelegt, welche sein verrutschtes Tanktop gerade preisgegeben hatte.

 

„Nichts weiter. Das war nur der Sicherheitsgurt“, murmelte er und ging einen Schritt zurück, um den sanften Fingern zu entfliehen. Für einen Sekundenbruchteil wirkte der andere beinahe verletzt von seinem Rückzug, aber diese Regung war so schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Stattdessen hatte sich auf das Gesicht des Gitarristen ein tadelnder Ausdruck gelegt und noch bevor er hätte protestieren können, hatte Karyu befohlen, dass er sich nicht vom Fleck rühren solle, er wäre gleich wieder da. Zero verkniff sich ein Seufzen, ging zurück ins Zimmer und zog sich Socken und Hose an. Gerade, als er sich auch seinen Hoody überstreifen wollte, erklang Karyus Stimme so nah hinter ihm, dass sich die feinen Härchen in seinem Nacken prickelnd aufrichteten.

 

„Hatte ich nicht gesagt, du sollst dich nicht von der Stelle rühren?“

 

„Doch, hast du, aber ich hab nicht gesagt, dass ich das auch tun werde.“ Mit hochgezogener Augenbraue drehte er sich herum und schaute Karyu ins Gesicht, den innerlichen Drang unterdrückend, schützend die Arme vor der Brust verschränken zu wollen. Der andere hielt seinem Starren nur kurz stand und hielt ihm, ohne seine Niederlage einzuräumen, eine weiße Tube entgegen.

 

„Hier. Eigentlich sollte sich das ja ein Arzt ansehen, aber da ich nicht glaube, dass ich dich dazubekomme, jetzt noch mit mir ins Krankenhaus zu fahren, solltest du dich wenigstens hiermit einreiben.“

 

„Will ich wissen, warum du eine Salbe gegen Prellungen dabeihast?“ Kopfschüttelnd nahm Zero die Tube entgegen, schraubte sie auf und begann damit, etwas der scharf riechenden Salbe auf seiner Haut zu verteilen. Karyu sparte sich einen Kommentar, auch wenn er die ganze Zeit über seine Blicke auf sich ruhen fühlen konnte. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es ihn verunsicherte, so gemustert zu werden, schraubte stattdessen die Tube wieder zu und gab sie zurück.

 

„Ich bin ja ehrlich erstaunt, dass du mitkommst“, meinte Karyu, nachdem Zero sich fertig angezogen und sein Hotelzimmer abgesperrt hatte. „Du hast vorhin ja nicht wirklich den Eindruck gemacht, als wärest du scharf auf Gesellschaft.“ Der Leader hielt vor seinem eigenen Zimmer noch einmal kurz inne, warf die Salbe in Richtung Bett – nach dem dumpfen Schlag, der zu hören war, hatte er heute jedoch eindeutig zu wenig Zielwasser getrunken –und ging voran in Richtung der Aufzüge.

 

„Ich komm ja auch nicht deiner Gesellschaft wegen mit, sondern weil mir der Magen in den Kniekehlen hängt und ich so ohnehin nicht schlafen könnte. Von daher war es schon ganz gut, dass du vorbeigekommen bist.“ Karyus Miene, die eben noch enttäuscht gewirkt hatte, hellte sich binnen Sekunden auf und Zero fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er der Einzige war, der im Gesicht ihres Gitarristen lesen konnte wie in einem Buch.

 

„Hey, das freut mich. Ich hatte schon befürchtet, dir auf die Nerven zu gehen.“

 

„Karyu?“ Er wartete, bis der andere sich ihm zuwandte, bevor er ihm schmunzelnd gegen den Oberarm boxte. „Du nervst mich immer, das weißt du doch.“ Er betrat den Aufzug, der mit einem hellen Läuten auf sich aufmerksam gemacht hatte, und drückte den Knopf für das Erdgeschoss.

 

„Du bist immer so gemein zu mir.“ Schmollend verschränkte der Größere die Arme vor der Brust, aber Zero konnte nur zu genau sehen, dass er sich ein Lächeln verkneifen musste. Wenn es nur immer so zwischen ihnen sein könnte. Locker, ungezwungen, keine Last der Vergangenheit, die sich erstickend über sie legte. Natürlich war ihm klar, dass er an ihrem angespannten Verhältnis die Hauptschuld trug. Er war es schließlich, der Karyu immer auf Abstand hielt, der ihn mit Worten und Taten verletzte, nur um ihn bloß nicht zu nah an sich heranzulassen. Er lehnte sich gegen den Spiegel, der die rechte Seite der Aufzugwand vereinnahmte und senkte den Kopf, sodass sein Gegenüber nicht erkennen konnte, wie intensiv er ihn musterte. Dennoch fing Karyu an, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten, ganz so, als würde er seine Blicke fühlen können.

„Ich mag Aufzüge nicht“, stellte er schließlich fest, als ihm die Stille zwischen ihnen wohl zu viel geworden war. „Ich weiß immer nie, ob es okay ist, zu reden oder nicht.“

 

„Es ist wirklich erstaunlich, worüber du dir immer alles Gedanken machst.“ Zero schüttelte ehrlich verblüfft den Kopf und sah seinem Leader nun wieder direkt ins Gesicht. „Ist ja nicht so, als würde man ewig viel Zeit in einem Aufzug verbringen.“

 

„Schon, aber findest du nicht auch, dass es immer eine ganz seltsame Stimmung ist? Wenn man so nichts tuend beisammensteht und darauf wartet, von A nach B gebracht zu werden.“

 

„Nein, nicht wirklich.“ Zero zuckte mit den Schultern und gerade, als er den Blick auf die rot leuchtende Anzeige über dem Bedienungspanel richtete, um Karyu mitteilen zu können, dass sie ohnehin gleich im Erdgeschoss ankommen würden, gingen sämtliche Lichter aus und der Fahrstuhl kam mit einem abrupten Rucken zum Stehen. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren, aber ein beherzter Griff an den Handlauf verhinderte Schlimmeres.

„Na, super“, seufzte er und tastete sich nach vorn, um auf dem Bedienpult den SOS-Knopf zu suchen. Es klickte leise, als er den Knopf mehrere Male hintereinander drückte, aber weiter geschah nichts.

„Okay“, murmelte er, „wie es scheint, ist das ein kompletter Stromausfall, da geht ja mal gleich gar nichts mehr.“ Erst als er sich wieder an die gegenüberliegende Wand zurückgezogen und sich gegen den kühlen Spiegel gelehnt hatte, fiel ihm auf, dass von Karyu noch keinerlei Reaktion gekommen war. Stirnrunzelnd drehte er den Kopf in die Richtung, wo der andere noch vor Sekunden gestanden hatte, aber im Inneren des Aufzuges herrschte derart vollkommene Dunkelheit, dass er nicht einmal seine Umrisse erkennen konnte.

„Karyu?“, flüsterte er und hätte sich für diese automatische Reaktion am liebsten geohrfeigt. „Alles gut bei dir?“, setzte er daher in normalem Tonfall nach, erhielt aber auch jetzt keine Antwort. Wüsste er es nicht besser, würde er behaupten, dass sich der andere in Luft aufgelöst haben musste und er nun vollkommen allein hier festsaß. Aber was er eben noch für vollkommene Stille gehalten hatte, wurde nun durch zittrige Atemgeräusche unterbrochen, die von Mal zu Mal gepresster klangen.

„Was ist mit dir?“ Furcht schlich sich in seine Gedanken, hatte Karyu sich, in welcher Form auch immer, verletzt? War etwas anderes geschehen, das er nicht mitbekommen hatte, weil er zu sehr auf den Stromausfall fixiert gewesen war? Oh Gott, was, wenn Karyu … Energisch schüttelte er den Kopf, als sein Hirn mit immer dramatischeren und unrealistischeren Horrorszenarien aufzuwarten begann. Langsam schob er sich in die Richtung an der Wand entlang, in der er den anderen vermutete, immer darauf bedacht, ihm nicht auf die Füße zu treten. Aber als er an der gegenüberliegenden Seite des geräumigen Aufzugs angekommen war, war da kein Karyu mehr.

„Hey, Großer, wo hast du dich verkrochen?“ Er versuchte, seiner Stimme einen leicht neckenden Unterton zu verleihen, um Karyu nicht mit seiner steigenden Panik anzustecken. Denn wenn er sein Atmen richtig deutete, war Panik gerade genau das, was den Gitarristen daran hinderte, endlich mit ihm zu sprechen. Vorsichtig tastete er sich weiter vor, suchte mit ausgestreckten Armen nach ihm, bis er endlich auf etwas Weiches stieß. Stoff, wie ihm seine Fingerspitzen mitteilten, und ein gekrümmter Rücken. Karyu musste sich auf dem Boden zusammengekauert haben und zitterte wie Espenlaub.

„Hey“, wisperte er und konnte nicht verhindern, dass seiner Stimme eine gewisse Sanftheit anhaftete, die er sich unter anderen Umständen tunlichst verkniffen hätte. „Erträgst du es, wenn ich mich zu dir setze?“ Wieder kam keine verbale Antwort, aber er glaubte, zu spüren, dass Karyu nickte. Also setzte er sich nah an seine Seite, zog jedoch seine Hand zurück, um so wenigstens einen gewissen Abstand zu wahren, obwohl alles in ihm danach schrie, Karyu zu halten.

„Willst du mir sagen, was dir solche Angst macht?“

 

„Ich mag keine Aufzüge. Generell nicht. Nicht nur, weil ich nie weiß, ob ich reden soll oder lieber nicht. Ich mag sie einfach nicht. Weil sie stecken bleiben können. Weil sie abstürzen können. Und … und …“

 

„Schsch.“ Seine Finger zuckten, aber noch bevor sie Karyu erreichen konnten, verschränkte er sie ineinander. „Hier stürzt niemand ab, hörst du? Die Aufzüge sind doppelt und dreifach abgesichert, allein schon der vielen Erdbeben wegen. Das ist nur ein Stromausfall, der sicherlich schnell wieder behoben ist.“

 

„Und warum ist dann nicht schon lange das Notstromaggregat angesprungen? Ich dachte, große Hotels wie dieses hier müssen so was haben.“

 

Ja, die Frage hatte er sich auch schon gestellt, war aber noch zu keinem Schluss gekommen, den er Karyu in ihrer Lage guten Gewissens unterbreiten konnte.

 

„Weiß nicht. Aber ich weiß, dass wir hier sicher sind.“

 

„Und woher willst du das wissen?“

 

„Na, weil ich bei dir bin und ich keinen Bock darauf habe, jetzt hops zu gehen.“ Seine selbstsicheren Worte hatten den gewünschten Erfolg, als ein holpriges Auflachen die drückende Stille durchbrach.

 

„Ich will einmal in meinem Leben so von mir überzeugt sein, wie du es bist.“

 

„Ich bin nur gut darin, anderen etwas vorzumachen.“ Zero biss sich, kaum hatten diese Worte seinen Mund verlassen, auf die Unterlippe. Verdammt, das hatte er so nicht sagen wollen. Sein gesamter Körper spannte sich an, während er sich krampfhaft eine Antwort auf die Fragen überlegte, die sicherlich gleich kommen würden. Aber auch nach mehreren bewusst ruhigen Atemzügen seinerseits blieb es still im Aufzug … bis von außen plötzlich ein lautes, metallisches Scheppern zu hören war. Ein Rucken ging durch ihre Kabine, die wenige Zentimeter nach unten sackte, bevor sie wieder erstarrte.

 

„Scheiße!“

 

Karyus Aufschrei hallte von den Wänden wieder, während zeitgleich die Wärme seines Körpers verschwand. „Ich will hier raus!“ Zero war für den Augenblick wie erstarrt, die Angst so präsent in ihm, dass sie ihm schier den Atem raubte. Seine tauben Lippen formten den Namen seiner Liebe, doch die Laute blieben ihm im Hals stecken. Verflucht, er durfte Karyu nicht verlieren, nicht schon wieder und auf diese Weise. Nicht, wenn er noch gar keine Chance bekommen hatte, sein vergangenes Versagen wieder gut zu machen. Als Fäuste begannen, gegen die metallenen Türen des Aufzugs zu hämmern, und die panischen Rufe mehr und mehr einem Kreischen glichen, kam endlich wieder Bewegung in ihn. Er rappelte sich hoch und war bereits nach wenigen Schritten hinter Karyu angekommen. Ohne zu versuchen, Worte zu finden, schlang er seine Arme um den zitternden Leib und presste seine Stirn zwischen die angespannten Schulterblätter. Karyus frenetisches Klopfen stoppte ebenso wie seine Rufe verstummten, nur das Beben blieb.

„Ich will hier raus“, wiederholte er irgendwann nach zähen Momenten der Stille mit so leiser, verzweifelter Stimme, dass Zeros Herz in Mitgefühl schmerzte.

 

„Beruhig dich. Wir sind bestimmt bald wieder draußen“, beteuerte er, obwohl seine Zuversicht in den letzten Minuten einen gehörigen Dämpfer erlitten hatte. Wenn er nur wüsste, was da so gekracht und warum sich ihre Kabine bewegt hatte. Würden die Bremsen doch versagen? Aber was war mit den zusätzlichen Sicherheitsvorrichtungen, die jeder Fahrstuhl haben musste? Waren sie es, die gerade das Schlimmste verhindert hatten und wenn ja, würden sie auch so lange halten, bis Rettung in der Nähe war? Die vielen Fragen ließen seinen Kopf schmerzen und gleichzeitig spürte er, wie die bloße, körperliche Nähe zu Karyu eine lang vermisste Ruhe in ihm aufkommen ließ.

„Was hältst du davon, wenn wir uns setzen?“

 

„J… ja, ich glaub, das ist eine gute Idee.“ Karyus Stimme war nicht minder fragil, als sich der Größere in seinen Armen anfühlte. Ohne über seine Handlungen auch nur im Ansatz nachzudenken, dirigierte er ihn auf den Boden, hockte sich neben ihn und zog ihn nah an sich, die Arme fest um die zitternden Schultern gelegt.

 

„Alles gut“, murmelte er und ließ seine Finger durch die kurzen Haare im Nacken des Größeren gleiten. Verdammt, er sollte seine Distanz wahren und nicht auf Tuchfühlung gehen, aber wie hätte er den anderen in seiner Panik alleinlassen können?

„Versuch, mit mir zu atmen, okay?“ Zero bemühte sich, bewusst gleichmäßig ein- und wieder auszuatmen, und stellte erleichtert fest, dass Karyu ihn fast augenblicklich zu spiegeln begann.

„Gut so“, lobte er, „Dir passiert hier nichts, ich versprech‘s dir.“

 

„Ist … ist das so okay für dich?“, murmelte Karyu kleinlaut, nachdem er etwas umständlich seinen Kopf gegen Zeros Schulter gelehnt und ebenfalls die Arme um ihn geschlungen hatte.

 

„Ja, alles gut.“

 

Wieder und wieder jagten Schauer durch den dünnen Körper und unbewusst hatte er damit begonnen, mit den Fingern der linken Hand beruhigend über Karyus Nacken zu kosen. Die Rechte lag auf seiner Schulter, glitt auch hier auf und ab, und während Zero langsam das Gefühl bekam, der Größere würde sich etwas beruhigen, fragte er sich gleichzeitig, ob diese Haltung für Karyu nicht unglaublich unbequem sein musste. Er konnte sich gerade ehrlich nicht vorstellen, dass so zusammengekauert wie der andere war, ihm seine Glieder nicht binnen Sekunden schmerzen mussten. Schließlich war Karyu um einiges größer als er selbst und ein wahrer Sitzriese noch dazu, sodass seine Kuschelaktion von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Auf Zeros Lippen schlich sich ein liebevolles Lächeln, was in der vorherrschenden Dunkelheit jedoch glücklicherweise nicht zu sehen war.

 

„Ich glaub, so wird das nichts. Wenn du länger so krumm dasitzt, bist du morgen für die Show nicht zu gebrauchen. Willst du dich hinlegen?“

 

„Ehm …“, machte Karyu und dieser kurze Laut allein genügte, um die ganze Bandbreite an Verlegenheit auszudrücken, zu der der Gitarrist fähig war. „Wenn es dir nichts ausmacht?“

 

„Ich hätte es dir nicht angeboten, würde es mir was ausmachen. Und jetzt hingelegt und ruhig geatmet, bevor du mir hier doch noch hyperventilierst.“ Seine Worte klangen harscher als er beabsichtigt hatte, hatten aber zumindest den erhofften Erfolg, denn keine halbe Minute später lag der Kopf des anderen in seinem Schoß.

„Siehst du, geht doch.“ Mit einem sachten Lächeln auf den Lippen begann er erneut über Karyus Haare zu streicheln und mit vereinzelten Strähnen zu spielen.

 

„Glaubst du, wir stecken hier noch viel länger fest?“

 

„Nein“, behauptete er, obwohl er keine Ahnung hatte, wodurch der Stromausfall verursacht worden war oder welche Priorität das Retten von Hotelgästen aus steckengebliebenen Fahrstühlen hatte. „Spätestens wenn sich die erste Verwirrung gelegt hat und klar ist, warum der Strom weg ist, klappern die mit Sicherheit alle Aufzüge ab. Das kann so lange ja nicht dauern.“ Er versuchte, seiner Stimme einen eher ungeduldigen Klang zu verleihen, der seine eigene Besorgnis überdecken sollte.

 

„Hoffentlich … ich will hier raus“, jammerte Karyu und verspannte sich gleich noch mehr.

 

„Versuch, an etwas anderes zu denken.“

 

„Ich kann gerade an gar nichts denken, nur daran, dass …“ Karyu unterbrach sich selbst und der Druck auf Zeros Schoß wurde mit einem Mal stärker, als würde der andere krampfhaft die Augen zusammenkneifen und dadurch seinen Kopf fester nach unten drücken.

 

„Hey, alles gut, ich sagte doch, es passiert dir nichts.“

‚Ich pass auf dich auf. Diesmal werde ich nicht versagen und dich beschützen, das verspreche ich dir.‘

In Zeros Gedanken hörten sich seine Schwüre in jedem Leben so einfach an und doch hatte er wieder und wieder versagt. Warum sollte es diesmal anders sein? Was könnte er schon unternehmen, sollten die Sicherheitsvorkehrungen des Aufzuges plötzlich beschließen, versagen zu wollen? Nichts würde er tun können, rein gar nichts. Nun war er es, der die Lider fest aufeinanderpresste, um die Flut an Bildern zurückzudrängen, die ihn zu übermannen drohten.

„Soll …“, begann er viel zu laut in der Stille des kleinen Raums und räusperte sich. „Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Vielleicht lenkt sie dich ein wenig ab.“

 

„Eine Geschichte? So nach dem Motto: es war einmal …?“ Trotz der anhaltend schlechten Verfassung, in der Karyu sich mental befand, schlich sich eine gewisse Skepsis in seine Stimme. Statt sich jedoch gekränkt zu fühlen, verbuchte Zero diesen Umstand lieber als kleinen Teilerfolg und ließ sich nicht beirren.

 

„Ja, ganz genau so eine Geschichte meine ich.“

 

„Lass hören.“

 

„Es war einmal …“ Zero versuchte, ernst zu bleiben, aber spätestens, als Karyu schnaubte, konnte er sich ein leises Lachen nicht mehr verkneifen. „Denk dran, du bist nicht in der Position, wählerisch zu sein. Gerade bin ich der einzige Geschichtenerzähler hier.“

 

„Okay, okay, ich bin schon still.“

 

Kurz verschwand Karyus Gewicht von seinen Beinen, als er sich zur Seite drehte, das Gesicht von ihm fortgedreht, und nach seiner Hand tastete. Kaum hatte er sie gefunden, legte er sich seinen Arm um die Mitte und verschränkte ihre Finger miteinander. Lächelnd ließ sich Zero so drapieren, wie sein Leader ihn haben wollte, bevor er Luft holte, um mit seiner Erzählung zu beginnen.

 

„Meine Geschichte spielt vor vielen Hundert Jahren, zu einer Zeit, in der Hunger und Armut in nahezu jeder Familie Opfer forderten…“

Obwohl ihm durchaus bewusst war, dass es eine dumme Idee war, Karyu ausgerechnet davon zu erzählen, versuchte er, diese Bedenken ebenso zu ignorieren, wie die anhaltende Furcht, sie könnten doch noch abstürzen. Jede Geschichte war besser, als noch einmal das Entsetzen in Karyus Stimme hören zu müssen – außerdem fiel ihm gerade tatsächlich nichts anderes ein.

‚Ganz so, als würdest du ihm davon erzählen wollen, was?‘ Wieder klang die leicht gehässige Stimme in seinem Kopf verdächtig nach Hizumi, aber statt ihn dazu zu bringen, sein Vorhaben doch noch zu überdenken, schürte sie lediglich seine Sturheit.

„Fürsten hatten das Land unter sich aufgeteilt, unterdrückten ihr Volk, beuteten es aus und zwangen die jungen Männer, auf den Schlachtfeldern für sie Krieg zu führen, was die Not der Menschen nur noch vergrößerte.“

 

„Mh, nicht gerade das Setting, das ich mir erhofft habe“, murmelte Karyu, „das wird aber keine deiner Gruselgeschichten, oder?“

 

„Alter Hasenfuß“, stellte er fest und tätschelte neckend Karyus Kopf, „es wird kein Märchen mit eitel Sonnenschein, aber auch keine Gruselgeschichte, versprochen.“

 

„Na gut …“ Der andere seufzte leise, was Zero als Aufforderung ansah, mit seiner Erzählung fortzufahren.

 

„Also …“

 

 

~*~
 

Sometimes the only payoff for having any faith

Is when it's tested again and again everyday

I'm still comparing your past to my future

It might be your wound but they're my sutures

 

I am the sand in the bottom half of the hourglass, glass

I try to picture me without you but I can't

 

'Cause we could be immortals, immortals

Just not for long, for long

Live with me forever now

Pull the blackout curtains down

Just not for long, for long

 

We could be immortals

Immortals

~*~



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ryo-ki
2023-02-08T03:45:39+00:00 08.02.2023 04:45
Ganz kurz war ich zu Beginn verwirrt, weil da so gar kein Bezug zum vorigen Kapitel war ... bis Zero zu Karyu gesehen hat. Noch bevor da Karyus Blässe erwähnt ist, war die Stimmung anders, nicht mehr so positiv, wie es bei Hizumi und Tsukasa gewirkt hatte, fast so, als wäre der Beinahe-Unfall gar nicht geschehen.

So ganz verstehe ich Zeros Zögern noch immer nicht. Aber ich bin sicher, das ist Absicht. Es erscheint mir bislang nur so, dass er ohnehin keinen Einfluss darauf haben wird, ob er Karyu retten kann oder nicht. An dem Punkt denke ich auch, lass es einfach zu und genieße, so lange wie möglich.
Aber dann kommt die Zeit im Fahrstuhl - und ich wusste schon, da muss etwas geschehen, als Karyu sagte, dass er sie nicht mag. Da ist Karyus Panik, die schwer für mich war, weil ich das selbst kenne, das beklemmende Gefühl, in der Falle zu sitzen, dort weg zu müssen und nicht zu können - sie kommt eindeutig rüber. Aber vor allem ist da Zero mit seinem schon zwanghaften Festhalten an seinen eigenen Ängsten, der sich lieber selbst im Weg steht, um Dinge, die er - so mein Eindruck - nicht beeinflussen kann, zu verhindern (haha, ich kenne diesen Selbstboykott nur zu gut). Sein spontaner Entschluss, doch mitzugehen, war unglaublich schnell, aber ich finde, das macht ihn realistischer - langes Nachdenken fördert meist die Zweifel umso stärker hervor und sie verdrängen die Punkte, die dafür sprechen, also Augen zu und durch und nur nicht darüber nachdenken.

Dass er Karyu dann doch näher an sich ranlässt, ist noch einmal so wundervoll mehrdeutig und zugleich völlig passend. Zum einen kann er sich nicht entziehen, auch wenn er theoretisch und präventiv will. Aber zugleich braucht Karyu das und deswegen gibt Zero diesem das. Zum anderen ist es aber auch so, dass es die letzte Möglichkeit sein könnte. Ich glaube jedenfalls, dass Zero zwar aus Angst, durch seine Gefühle für Karyu und wenn er diese zulässt, Karyu in Gefahr zu bringen, so als wäre Karyus Tod die Strafe für die Gefühle. Zugleich macht es dann aber eigentlich auch keinen Unterschied mehr, wenn es ja ohnehin gleich passieren wird.
Und mal ehrlich, wie viel Pech muss eins haben, innerhalb von weniger als 24 Stunden, erst beinahe von einem Lkw erwischt zu werden und dann so im Aufzug stecken zu bleiben und zu befürchten, es ist gleich vorbei (und ich hoffe, das Kapitelende und die weiteren Kapitel bedeuten, dem ist nicht so, aber ich vertraue nicht darauf, dass nicht doch was ist und es in den folgenden Kapiteln im nächsten Leben weitergeht).
Antwort von:  yamimaru
12.02.2023 09:34
Wow, erst einmal vielen, lieben Dank, dass du die Story so treu liest und mir für jedes Kapitel einen ausführlichen und echt super interessanten Kommentar dalässt. Das freut mich ungemein und zeigt mir auf, wo meine Argumentationskette ein paar Lücken aufweist. *lacht* Da diese Story jetzt schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat und mich zeitweise echt Nerven gekostet hat, würde ich heute manche Dinge, wie auch Zeros Zögern, vermutlich anders schreiben. Aber damals erschien mir das als richtig, dass er einfach zu viel Angst hat, mit seinem Handeln Karyus Schicksal zu besiegeln, dass er lieber nichts tut. Lieber leidet er und erträgt es, auch Karyu leiden zu sehen, bevor er etwas Falsches tut. Ich finde es großartig, dass du ihn hier hinterfragst und offen sagst, dass du sein Zögern eher nicht nachvollziehen kannst. (Kann ich, um ehrlich zu sein, auch nicht. XD)

Ja, der Einstieg in das Kapitel war recht abrupt, vor allem, wenn man, wie du, die Kapitel hintereinander weg liest. Ich weiß noch, dass ich lange überlegt habe, ob ich die Ereignisse nach dem unfall chronologisch abarbeite oder ob auch ein Rückblick genügt. Ich denke, mit Distanz betrachtet wird die Angst, die vor allem Karyu, aber auch Zero in dem Moment empfunden haben, noch deutlicher. Hizumi und Tsukasa lassen sich da ja weniger anmerken, aber das Warum versteht man Rückblickend sicher am Ende der Geschichte. ^^

Ich bin sehr froh, dass sowohl Karyus Angst im Fahrstuhl rüberkommt, aber auch Zeros Entscheidung, ihn dann doch etwas näher an sich ranzulassen und ihm mit seiner Nähe wiederum zu helfen, zwar schnell für dich kam, dennoch nachvollziehbar ist. Ich denke, wenn Zero erst einmal soweit ist, dass er seine Selbstzweifel über Bord werfen kann, geht das generell alles sehr schnell. Immerhin haben sich über Jahre in ihm Empfindungen angestaut, die dann einfach nicht mehr aufzuhalten sind. Auch wenn er es wieder und wieder versucht. ^^

Ja, das Pech der beiden ist sehr ausgeprägt. ;D
Ich finde den Ansatz deiner Überlegungen übrigens sehr spannend. Also, dass jetzt im Fahrstuhl wirklich was passiert und es im nächsten Leben für die beiden weitergehen könnte. So weit hatte ich zwar nie gedacht, aber die Idee ist echt cool. :)

Vielen Dank für deinen tollen Kommentar. ^^


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