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Herz über Kopf

von

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Fliegen lernen

Auf dem Heimweg musste ich kurz vor dem Ziel anhalten, weil ein Mähdrescher die Straße blockierte. Während ich wartete, dass das schwere Gefährt nebst Traktor und Anhänger das nächste Feld ansteuerte, zog ich mein Handy heraus. In der Zeit, in der ich bei Jo gewesen war, hatte mein Bruder mir geschrieben.

 

'Was ist los? Hast du Mia geschwängert?'

 

Ich unterdrückte ein Augenrollen und tippte ein simples „Nein!“ als Antwort ein. Als ich gerade überlegte, ob ich noch etwas hinzufügen sollte, vibrierte das Gerät schon wieder. Es war allerdings keine Nachricht von Christopher, denn dessen Chatverlauf hatte sich nicht geändert. Ich rief also die Liste auf und sah, dass ich eine Nachricht von Benedikt bekommen hatte.

 

'Hey, ich wollte mal wissen', zeigte mir die Vorschau an. Schnell öffnete ich sie, um auch den Rest lesen zu können.

 

'...wo du abgeblieben bist. Hab nach der sechsten nach dir Ausschau gehalten.'

 

Ich atmete einmal tief durch und schrieb zurück.

 

'War nochmal beim Arzt. Erzähl ich dir morgen.'

 

Es dauerte keine zwei Sekunden, bevor er online war und die Nachricht las. Ich sah, wie er tippte.

 

'Alles okay?', erschien auf dem Bildschirm.

 

'Ja, alles okay', schrieb ich zurück. 'Ich hab ihr nur nochmal von dem erzählt, worüber wir Freitag geredet haben.'

 

Erneut sah ich ihn tippen, dann stoppte er. Noch während ich wartete, dass er die Nachricht endlich abschickte, begann das Gerät in meiner Hand plötzlich zu summen. Völlig verdattert starrte ich den wackelnden grünen Hörer auf dem Display erst einige Augenblicke lang an, bis ich endlich die Geistesgegenwart besaß, darauf zu drücken. Immer noch auf Autopilot hob ich das Handy an mein Ohr.

 

„Ja?“

 

„Ich bin’s“, antwortete Benedikt, obwohl ich das natürlich schon wusste. „Ich hatte keine Lust mehr zu tippen.“
 

„Ah“, machte ich und schob mein Rad ein wenig zur Seite, um ein Auto durchzulassen, dass ebenfalls auf die Freigabe der Straße gewartet hatte. Es fuhr los und ließ mich in einer stinkenden Abgaswolke zurück. Ich hustete.

 

„Was ist denn da bei dir los?“, wollte Benedikt wissen. „Hört sich an, als wärst du in den Krieg der Maschinen geraten.“

 

„Mähdrescher“, gab ich zurück. „Warte. Ich muss mal von der Straße runter, damit mich keiner umnietet.“

 

Ich klemmte mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter, sodass ich mit beiden Händen nach dem Lenker greifen und das Rad beiseite schieben konnte. Ein Feldeingang, der mit einem einfachen Band abgesperrt war, diente mir als Rettungsinsel. Dort angekommen, lehnte ich mein Mountainbike an einen Baum und nahm das Telefon wieder zur Hand.
 

„So, jetzt geht’s besser.“

„Wo bist du denn?“

„Auf dem Heimweg.“

„So lang hat das gedauert?“

 

Ich überlegte kurz, bis mir einfiel, dass er sicherlich den Arzttermin meinte.
 

„Nein, ich … ich war noch bei Jo.“

 

Am anderen Ende herrschte verblüfftes Schweigen.

 

„Bei Jo?“, hakte Benedikt schließlich nach.

 

„Ja, wir … wir haben geredet. Über uns und so.“

„Und was sagt er?“

 

Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und richtete meinen Blick auf die Brache auf der anderen Seite der Absperrung.
 

„Na ja, begeistert ist er immer noch nicht. Aber ich denke, er wird sich dran gewöhnen.“

„Das hoffe ich doch.“

 

Wieder schwiegen wir einen Moment lang. Ich dachte an Jo und die Ärztin und alles, was sonst noch so in den letzten Tagen passiert war. Benedikt hatte recht. Ich legte wirklich ein ziemliches Tempo vor. Fast so, als würde ich in einer Achterbahn immer nur nach oben fahren.

 

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte Benedikt. Anscheinend war die Stille doch ein wenig lang geworden.
 

„Ja. Ja, alles in Ordnung“, versicherte ich schnell. „Ich bin nur ein bisschen müde. Der Tag war ganz schön anstrengend.“

 

„Kann ich mir vorstellen.“

 

Ich sah mich um, ob auf der Straße noch jemand kam, bevor ich mich neben dem Baum zu Boden sinken ließ. Den Stamm im Rücken lehnte ich mich dagegen und schloss die Augen.
 

„Ich wäre jetzt gerne bei dir“, sagte ich leise und war mir sicher, dass er mich trotzdem gehört hatte.

 

„Ja, ich auch.“

„Du wärst auch gern bei dir?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Ja.“

 

Ich spürte das Lächeln, das meine Lippen verzog, den Sonnenschein auf meinem Gesicht und den rauen, festen Stamm in meinem Rücken. Tief verwurzelt war er hier Jahr um Jahr gewachsen und nicht einmal der stärkste Sturm hatte ihn umblasen können. Er erinnerte mich an Benedikt.

 

Du bist der Wind unter meinen Flügeln

Du bist die Straße, in der ich wohn

 

„Was summst du da?“, fragte es plötzlich an meinem Ohr.

 

„Was?“

 

Anscheinend war ich schon wieder gedanklich auf Abwege geraten.

 

„Das Lied. Das du gesummt hast. Was war das?“

„Ach das … Das war nur … Das war der Song, den ich dir mal vorsingen wollte.“

 

Benedikt zögerte kurz, bevor er sagte: „Würdest du ihn jetzt für mich singen?“

 

„Jetzt?“

„Ja.“

 

Ich überlegte. Wollte ich das? Hier so mitten im Freien, wo mich jeder sehen konnte. Dann jedoch lachte ich über mich selbst. Außer ein paar Amseln und wilden Kaninchen würde hier vermutlich niemand etwas davon mitbekommen. Warum also nicht?
 

„Na gut“, sagte ich und begann noch einmal ganz von vorne. Zuerst noch leise und ein wenig verhalten, doch mit jedem Wort schwoll meine Stimme an. Sie blies sich auf unter all den Gefühlen, verwebte sie mit den Strophen und dem Refrain. Mit all den Dingen, die ich Benedikt so gerne sagen wollte und doch nicht konnte, weil die Zeit dafür noch nicht reif war. Und mit jeder Silbe, jedem Ton wurde das Gebilde um mich herum größer und voller, bis es schließlich die Ausmaße eines Fesselballons hatte.
 

Als ich geendet hatte, ließ ich den Ballon ziehen. Er stieg höher und höher in den Augusthimmel und ich stellte mir vor, wie der Wind ihn forttrug in die Richtung, in der Benedikts Haus lag. Wie er ans Fenster treten und nach oben sehen würde und dort konnte er es sehen. Das riesige, unglaublich Große, das nur für ihn bestimmt war.

 

Ich kniff ein paar Mal die Augen zusammen, um mich wieder auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Ich saß schließlich hier nur an irgendeinem Feldrand und sang in mein Handy. Kein Grund für Herzrasen.
 

„Und?“, meinte ich und meine Stimme klang seltsam brüchig. „Wie fandest du es?“

 

„Wie … wie ich es fand? Theo!“

 

Benedikts Stimme war laut an meinem Ohr. Er lachte. Ich konnte es hören.
 

„Das war einfach unglaublich. Ich sitze hier gerade mit der Gänsehaut des Jahrhunderts und weiß gar nicht, was ich sagen soll. Toll trifft es nicht mal ansatzweise. Das war einfach nur krass. Mega-krass!“

 

Ich biss mir auf die Lippen, aber auch das konnte das breite Grinsen nicht stoppen, dass sich meiner Gesichtsmuskeln bemächtigte. Benedikt war derweil immer noch dabei, mich zuzutexten.
 

„Das musst du aufnehmen. Mit Klavier, Gitarre oder meinetwegen auch Cembalo. Egal! Hauptsache du bringst das irgendwie raus. Das ist absolut genial.“

 

Ich versuchte krampfhaft, endlich mit dem Grinsen aufzuhören.
 

„Und du meinst nicht, dass du ein winzig kleines bisschen parteiisch bist?“

„Warum?

„Weil du mein Freund bist?“

„Ach na ja …“

„Und weil der Song für dich war.“

 

Daraufhin sagte Benedikt gar nichts mehr. Ich hörte nur ein dumpfes Geräusch und dann etwas, das sich wie ein sehr, sehr gedämpfter Schrei anhörte.
 

„Äh, Benedikt?“, fragte ich vorsichtig. „Alles klar bei dir?“

 

„Ja, ja. Ich sterbe hier nur gerade ein bisschen. Lass dich davon nicht irritieren.“

 

Wieder musste ich grinsen, während weiter eigenartige Laute an mein Ohr drangen. Anscheinend lachte, brüllte oder was auch immer Benedikt gerade in sein Kissen. Als er damit fertig war, setzte er sich rot im Gesicht und vollkommen verstrubbelt auf. Zumindest stellte ich mir vor, dass er so aussah.

 

„Wieder beruhigt?“, fragte ich ein wenig belustigt.
 

„Ja, schon. So in etwa. Aber bevor du so was das nächste Mal von dir gibst, stell bitte sicher, dass ich sitze.“

„Tust du das denn nicht?“

„Nein, ich … ich laufe irgendwie immer rum beim Telefonieren. Ist so eine Angewohnheit. Also zumindest, wenn ich nervös bin.“

„Und warum bist du nervös.“

 

Jetzt hörte ich ihn schnauben und erneut ein Geräusch, als er sich wohl dieses Mal wirklich aufs Bett setzte.
 

„Ach, ich weiß auch nicht. Manchmal traue ich dem Frieden vielleicht noch nicht so ganz. Ich hab wahrscheinlich Angst, dass die Uhr Mitternacht schlägt und aus meiner Kutsche wieder ein Kürbis wird.“

 

Ich lächelte ein bisschen. Dieser Märchenvergleich hätte albern sein können, aber eigentlich fand ich ihn … charmant.

 

„Und was passiert dann mit mir? Werde ich wieder zur alten Schindmähre?“

„Keine Ahnung. Aber ein klappriger Gaul bist du bestimmt nicht.“

„Was dann?“

„Mein Prinz?“

 

Ich lachte.
 

„Also ich weiß nicht, ob ich dafür königlich genug bin.“

„Ein Prinz ist ja noch in Ausbildung. Das passt schon.“

 

Mein Lachen schrumpfte zu einem Lächeln zusammen.
 

„Dann meinst du, ich kann das noch lernen?“

„Was?“

„Na, alles irgendwie. Das mit dir und mit dem Schwulsein und so?“

 

Schon in dem Moment, in dem ich es aussprach, kam ich mir dumm vor. Ich wusste nur einfach nicht, wie ich es sonst ausdrücken sollte. Da gab es noch so viele Sachen, körperliche Sachen, bei denen ich mir unsicher war, ob ich sie hinbekommen würde. Bei Benedikt wirkte das alles ganz natürlich, aber ich hatte immer noch so komische Hemmungen. Dabei war das so albern. Ich merkte doch, wie sehr es ihm gefiel, und ich mochte es auch. Das war doch eigentlich das Einzige, auf das es ankam. Aber dann waren da noch die anderen. Jo, Mia und die ganze restliche Welt. Würde ich es hinkriegen, auch ihnen gegenüber der zu sein, der ich sein wollte? Würde ich zu mir stehen können und vor allem zu Benedikt?

 

Mein Freund schien meine Bedenken nicht zu teilen.

 

„Ich glaube, da musst du nicht viel lernen“, sagte er und ich konnte sein Gesicht dabei vor mir sehen. Wie er mich mit diesem warmen Blick ansah und mich darin einhüllte, wie in eine weiche, flauschige Decke. „Du bist du. Auf deine Weise. Und das ist okay so.“
 

Erneut schloss ich die Augen und wünschte mir, ich wäre jetzt bei ihm. Dann hätte er mich in den Arm nehmen können. Ganz fest, damit ich nicht auseinanderbrach.

 

„Soll ich zu dir kommen?“, fragte er auf einmal, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich schluckte, um das Gefühl zurückzudrängen.
 

„Nein. Ich schaff das schon.“

„Du musst da aber nicht alleine durch.“
 

„Ich weiß“, flüsterte ich. „Aber ich … ich krieg das hin. Bestimmt.“
 

„Okay“, hörte ich Benedikt sagen und war mir sicher, dass er, wenn ich es gewollt hätte, sofort hergekommen wäre. Ohne Wenn und Aber. Es war gut, das zu wissen.

 

„Ich werd ne Therapie machen“, sagte ich ohne Überleitung. Es hätte eh keine passende gegeben.

 

„Find ich gut. Ich glaube, so ne Therapie könnten mehr Leute brauchen. Ich bestimmt auch.“

„Du?“

„Klar. Meinst du vielleicht, ich komm einfach so mit allem zurecht? Wahrscheinlich hab ich auch irgendwelche Schäden, weil ich ohne Vater aufgewachsen bin, oder was weiß ich. Gründe, einen an der Marmel zu haben, gibt es doch genug.“

„Du findest also, dass ich verrückt bin?“

„Nicht mehr als alle anderen. Aber im Gegensatz zu den anderen Spinnern tust du was dagegen. Das ist toll.“

 

Ich hatte nicht das Gefühl, den Applaus verdient zu haben. Ich tat doch nichts Besonderes. Nichts, was eine Auszeichnung wert gewesen wäre.

 

„Theo, ich weiß, dass du das vielleicht nicht so siehst, aber … du bist toll. Ja wirklich. Du hast eine Wahnsinnsstimme, du siehst hammermäßig gut aus, du bist witzig und schlau und ich bin wirklich, wirklich froh, dass du … dass wir jetzt zusammen sind. Ich bin glücklich mit dir. Ich glaube, es gibt keinen glücklicheren Menschen als mich.“

 

Ich lächelte.

 

„Doch, den gibt es.“

„Und wen?“

„Na mich.“

 

Ich hörte zuerst nur Stille am anderen Ende und dann ein saftiges „Scheiße!“, auf das ich mir zuerst keinen Reim machen konnte. Erst, als Benedikt wieder zu sprechen begann, hörte ich, wie seine Stimme zitterte.
 

„Ich … ich weiß grad nicht, was ich sagen soll.“

„Dann sag nichts.“

„Ist das am Telefon nicht doof?“

„Ein bisschen. Aber ist das nicht egal?“
 

Ich hörte ihn grinsen.

 

„Ja, ist es. Vollkommen egal.“

 

Also saßen wir beide einfach nur so da, das Handy in der Hand, und hörten uns gegenseitig beim Atmen zu. Nach ungefähr zehn Minuten, brach Benedikt das Schweigen.
 

„Ich glaube, wir sollten doch langsam mal auflegen, sonst wird’s albern.“

„Okay.“

„Telefonieren wir heute Abend nochmal?“

„Ja.“

„Kann ich mit dem Handy am Ohr einschlafen?“

„Wenn du willst.“

„Singst du mir dann auch nochmal was vor.“

„Gerne.“

„Dann leg ich jetzt auf.“

„Gut.“

„Ich mach das wirklich.“

„Ja.“

„Theo?“

„Ja?“

„Könntest du auflegen? Ich schaff das nämlich nicht.“

 

Ich lachte und schüttelte den Kopf.
 

„Na gut, ich leg auf. Und ich ruf dich heute Abend wieder an, wenn ich Zeit habe.“

„Okay. Bis dann.“

„Bis dann.“

„Bye.“

„Bye.“

„Jetzt leg endlich auf!“

„Okay!“

 

Ich riss mich endgültig von dem Gespräch los und drückte die rote Taste. Danach ließ ich das Gerät sinken und ließ meinen Kopf gegen den Stamm in meinem Rücken sinken. Das Bedürfnis, gleich auf mein Rad zu steigen, um zu Benedikt zu fahren, war immer noch groß, aber es wich Schritt für Schritt, je länger ich hier saß und ihm nicht nachgab. So wartete ich, bis ich mich wieder so weit im Griff hatte, dass ich den richtigen Weg einschlagen konnte. Den, der mich nach Hause brachte.

 

 

Als ich dort ankam, war meine Mutter im Garten und nahm Wäsche ab. Sie winkte, als sie mich kommen sah.
 

„Hey, Theodor. Du bist spät.“

 

Ich stellte mein Rad neben das Haus und ging, um ihr mit den Betttüchern zu helfen. Die Wäsche vom wochenendlichen Bettenwechsel hatte angestanden und füllte jetzt Reihe um Reihe unseren Garten.

 

„Ich war noch bei Jo“, sagte ich als Erklärung, während ich eines der Laken in der Mitte faltete.
 

„Ach, schön. Hattet ihr Spaß?“

 

„Ja“, sagte ich, obwohl Spaß vielleicht nicht so ganz das richtige Wort dafür war. Aber es war ein guter Besuch gewesen.

 

„Ich dachte ja, du wärst bei Mia.“

„Nein, sie … sie hatte heute was anderes vor.“

 

Meine Mutter wandte sich dem nächsten Bettbezug zu, als die Frage kam, die ich schon befürchtet hatte.
 

„Kommt sie eigentlich am Wochenende? Du weißt schon. Wegen Christophers Geburtstag.“

„Nein, sie … sie kann da auch nicht.“

„Ach, wie schade. Christopher will uns nämlich vielleicht seine neue Freundin vorstellen. Katja heißt sie. Ein reizendes Mädchen.“

„Ich dachte, du kennst sie nicht.“

„Aber ich hab ein Foto gesehen.“

 

Ich verzog das Gesicht. Dass Christopher jemanden mitbrachte, passte mir so gar nicht. Noch dazu seine Freundin. Es war der perfekte Rahmen für eine perfekte Katastrophe. Und warum hatte er mir eigentlich kein Foto geschickt? Als ich eine Bemerkung dazu machte, lachte meine Mutter.
 

„Hast du ihn denn danach gefragt?“

„Nein.“

„Na siehst du. Ein Telefon funktioniert nicht nur in eine Richtung.“

 

Ich wollte gegen diesen Vorwurf aufbegehren, als mir aufging, dass sie recht hatte. Ich hatte mich immer geärgert, dass Christopher sich nicht bei mir meldete. Aber ich hatte auch nichts getan, um von mir aus auf ihn zuzugehen. Stattdessen hatte ich mir ach so leid getan. Diese Feststellung war nicht angenehm.

 

„Steht es denn schon fest? Dass seine Freundin mitkommt, meine ich.“

„Nein. Er will mir Freitag Bescheid geben. Reichlich kurzfristig, wenn du mich fragst, aber so sind halt die jungen Leute.“

 

Meine Mutter grinste ein bisschen und zwinkerte mir zu. Ich nahm die Spitze als Anlass, mir den Wäschekorb zu schnappen und reinzubringen. Während ich ihn in den ersten Stock trug, dachte ich daran, Christopher vielleicht doch lieber alles am Telefon zu erzählen. Wenn er seine Freundin tatsächlich mitbrachte, konnte ich meinen Plan vergessen. Gleichzeitig wusste ich nicht, wie ich das Gespräch anfangen sollte.

 

Ich stellte die Wäsche ins Schlafzimmer und ging weiter nach oben in mein eigenes Zimmer. Es kam mir seltsam leer vor. All der Platz und darin nur ich. Hier hätten leicht zwei leben können.

 

Ich nahm mir meine Gitarre und setzte mich aufs Bett. Mit dem Instrument in der Hand schloss ich die Augen. Ich fühlte das Gewicht auf meinem Schoß, die straff gespannten Saiten unter meinen Fingern, das glatte Holz und die Fülle des Klangkörpers, der darauf wartete, dass ich ihn zum Leben erweckte. Mit einem tiefen Atemzug schlug ich den ersten Akkord an. Der Ton breitete sich im Raum aus, erfüllte ihn und machte ihn leichter. Ich ließ einen zweiten und einen dritten folgen. Sie mischten sich zunächst ungeordnet und wild, bis sich irgendwann eine Folge, eine Melodie herauskristallisierte. Sie war leicht und fröhlich, doch die Worte, die dazu in meinem Kopf entstanden, waren voller Sehnsucht und Trauer.

 

Es heißt Nähe ist keine

Frage der Entfernung

So sagen alle Leute

Es ist eine Redewendung

Aber ich weiß, dass es manchmal

Eben doch so seien kann

Dass Distanz mit etwas anfängt

Das räumlich ist und dann

Verliert man sich aus den Augen

Obwohl man doch so viel geteilt

Man sagt viel zu oft „ich müsste“

Und ist schon vorbei geeilt

 

Und du rufst mich nicht an

Und ich ruf nicht zurück

So entfernen wir uns weiter

Jeden Tag ein neues Stück

 

Und irgendwann stellt man

Dann ganz erstaunt fest

Dass sich Freundschaft nicht so einfach

Reparieren lässt

Weil sie Zeit braucht und Pflege

Und jemand, der sie lenkt

Dass sie verkümmert und eingeht

Wenn man nicht daran denkt

 

Wir hatten mal was Besonderes

Keiner war so eng wie wir

Doch wir kamen in die Jahre

Und die Frage stellt sich mir

Wie es so weit kommen konnte

Dass du mir fremd bist und ich dir

Das es nicht mehr von uns gibt

Als alte Fotos auf Papier

 

Manchmal denk ich an damals

Wie es war vor langer Zeit

Und in meinem Inneren

Macht sich Melancholie breit

Dann denk ich, ich ruf dich

Jetzt einfach mal an

Oder schreibt dir ’ne Nachricht

Doch ich tu’s nicht und dann

Ist wieder eine Woche, ein Monat, ein Jahr

Vergangen, ohne dass da etwas zwischen uns war

 

Und du rufst mich nicht an

Und ich ruf nicht zurück

So entfernen wir uns weiter

Jeden Tag ein neues Stück

 

Und irgendwann stellt man

Dann ganz erstaunt fest

Dass sich Freundschaft nicht so einfach

Reparieren lässt

Weil sie Zeit braucht und Pflege

Und jemand, der sie lenkt

Dass sie verkümmert und eingeht

Wenn man nicht daran denkt

 

 

Ich legte meine Hand auf die Saiten, um die letzten Töne zu ersticken. Die Stille des Sommernachmittags kehrte zurück, der eigentlich schon fast zum Abend geworden war. Draußen hörte man noch die Schwalben, die auf der Jagd nach Insekten über den Hof hinwegfegten. Ende des Monats würden sie unsere Gefilde wieder verlassen und gen Süden ziehen, nur um im nächsten Frühling wiederzukommen, als wäre nichts passiert. Mit Christopher würde es nicht so sein. Er hatte das elterliche Nest verlassen und stand jetzt auf eigenen Füßen. Wir lebten in verschiedenen Welten. Während er nach vorn drängte, hing ich noch immer in der Vergangenheit fest. Ich klebte an dem, was einmal war, ohne mich verändern zu wollen.

 

Nein, das stimmt nicht, berichtigte ich mich selbst. Denn auch ich hatte mich mittlerweile auf den Weg gemacht. Es wäre gelogen gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass mir das keine Angst machte. Die Welt da draußen mit all ihren Anforderungen, ihrer Verantwortung und den vielen, vielen Möglichkeiten zu versagen verängstigte mich zutiefst. Was, wenn ich es nicht hinbekam? Wenn ich scheiterte? Wenn ich mit gebrochenen Beinen und lahmen Flügeln auf dem Boden liegen und elendig verenden würde? Gleichzeitig wusste ich, dass ich irgendwann würde springen müssen, wenn ich nicht für immer im Nest hocken bleiben wollte. Ich würde springen und hoffen müssen, dass meine Flügel mich trugen. Aber der Boden war so weit weg und die Angst vor dem Aufprall lähmte mich und ließ mich meine Krallen in den Nestrand bohren.

 

Vielleicht ist es doch keine gute Idee, es ihnen am Wochenende zu sagen. Vielleicht warte ich noch ein bisschen damit, bis sich die Lage in der Schule wieder beruhigt hat.

 

Noch während ich mir das einredete, fiel mir ein, dass ich nicht mehr zurückkonnte. Ich hatte mir selbst wohlweislich den Rückweg abgeschnitten. In diesem Moment bereute ich es und hätte alles dafür getan, die schicksalhafte Nachricht an Christopher wieder zurückzuholen.

 

Und auch das hast du vorausgesehen.

 

Es war wirklich faszinierend, wie man sich selbst manipulieren konnte. Jetzt hatte ich keinen Ausweg mehr und allein der Gedanke daran sorgte dafür, dass mir vor Angst ganz schlecht wurde. Noch fünf Tage. Fünf Tage bis zum großen Showdown und ich war so überhaupt nicht darauf vorbereitet.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  fatua
2021-03-15T20:40:03+00:00 15.03.2021 21:40
Oh, das war süß! Und jetzt wird es richtig spannend ... Theo macht sich schon wieder Stress. Der Arme.
Antwort von:  Maginisha
16.03.2021 15:01
Stress ist Theos zweiter Vorname. :D
Von:  Ryosae
2021-03-15T17:06:57+00:00 15.03.2021 18:06
Ahhh schnell Kommi schreiben um das neue Kappi zu lesen!! xD
Oha. Ok. Also Benedikt unser Fels in der Brandung!
Er ist doch einfach zum liebhaben! Als würde er spüren, dass Theo ihn brauch.

Natürlich kann er jetzt noch einen Rückzieher machen, wieso auch nicht? Theo kann immer noch behaupten mit seinem Bruder über ihre schwierige Beziehung reden zu wollen.
Er setzt sich wieder zu sehr unter druck. :(

Alles kann, nichts muss. Immer dran denken ;)

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
16.03.2021 14:38
Hey Ryosae!

Ich hab schon überlegt, ob die Benachrichtigungen nicht rausgegangen sind, weil keiner was zu sagen hatte. :D

Benedikt hat tatsächlich ein gutes Näschen dafür, was Theo braucht. Auch durchs Telefon.

Und natürlich macht Theo sich wieder Druck. Wie auch sonst. Er will das ja auch schaffen, die Überwindung ist halt groß. Ob sich selbst zwingen da gut ist, sei mal dahin gestellt, aber er will ja nun drauf los. ;)

Ich eile mal weiter. :)


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