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Herz über Kopf

von

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Grabenkämpfe

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, als ich auf Jos Nachricht hin nicht zu mir sondern zu ihm nach Hause gefahren war. Er wollte reden, hatte darin gestanden. Mir waren spontan tausend Sachen eingefallen, die in diesem Gespräch passieren konnten, aber jetzt, wo ich vor seiner Haustür stand, war mein Kopf wie leergefegt. Totale Nulllinie. Trotzdem war ich erstaunt, dass er die Tür nur einen Spalt weit öffnete. Statt sich wie sonst umzudrehen und einfach wieder in sein Zimmer zurückzugehen, blieb er dieses Mal stehen und blockierte so den Türspalt.

 

„Hi“, sagte ich, um wenigstens einen Anfang zu machen. Er nickte mir nur zu. Sein Gesicht war blass. Der Eindruck wurde noch durch das dunkle Sweatshirt unterstützt, das er trug. Bei Jo im Haus war es immer kühl. Lag wohl an den alten Mauern, die irgendwo unter Dämmung und Rigipsplatten verborgen lagen. Sein Vater hatte den Ausbau selbst gemacht, hatte er mir mal erzählt.
 

„Darf ich rein?“, wurde ich jetzt etwas deutlicher, denn hier vor der Tür zu stehen wie ein Vertreter für Isolierglasscheiben, fühlte sich nicht gut an.
 

„Wenn’s sein muss“, brummte Jo und öffnete die Tür ein minimales Stück. Zu wenig, als das ich hindurch gepasst hätte. Ich seufzte innerlich und hob die Hand, um mich selbst reinzulassen. Drinnen hörte ich Musik, die aus Jos Zimmer kam. Irgendwas Dunkles, Aggressives, bei dem jemand seine Gitarre hinreichend vergewaltigte, sodass sie einen gequälten Akkord nach dem anderen von sich gab. Mein Trommelfell zuckte im Takt der Anschläge.

 

Der Rest des Zimmers machte eher den Eindruck einer Tierhöhle denn eines menschlichen Zuhauses. Ich wusste zwar, dass Jo nicht der Ordentlichste war – ich glänzte ja selbst nicht gerade in dieser Disziplin – aber das hier übertraf alles bisher Gesehene. Getragene Klamotten, abgegessenene Teller, leere Getränkeflaschen, nicht wenige davon klein und braun und mit einem Promillezeichen versehen. Ein Paradies für Pfandsammler. Dazu waren die Rollos heruntergelassen und die einzige Lichtquelle bildete das pausierte Videospiel. Irgendein Militär-Shooter. Typisch Jo also.

 

Ich ließ den Fernseher links liegen und steuerte wie üblich das Bett an, den einzigen Ort, den Jo einigermaßen aufgeräumt hielt. Noch bevor ich dort ankam, überholte er mich und verstellte mir den Weg. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine steile Falte und er verschränkte die Arme vor der Brust wie eine zu klein geratene Karikatur eines Türstehers. Ich deutete fragend auf das Bett.
 

„Darf ich mich nicht setzen?“

„Nicht da.“

„Und warum nicht?“

 

Die Antwort auf meine Frage blieb aus. Stattdessen zerrte Jo seinen seit ewigen Zeiten defekten Bürostuhl hervor, warf die darüber hängenden Klamotten einfach auf den Fußboden und schob ihn mir hin. Ich verkniff mir eine Bemerkung darüber, dass er sich wie ein Kleinkind aufführte, und nahm auf dem viel zu niedrig eingestellten Stuhl Platz. Seit die Druckfeder kaputtgegangen war, machte Jo neben allem anderen auch noch seine Hausaufgaben auf dem Bett. Leon witzelte oft genug, dass Jo vermutlich irgendwann auch mal in diesem Bett sterben würde.
 

„Vorher zeuge ich da drin aber noch jede Menge Kinder“, hatte Jo geantwortet und das Ganze mit einer entsprechenden Hüftbewegung unterstrichen. Vermutlich war das der Grund, warum ich jetzt nicht mehr darauf sitzen durfte.

 

Jo ließ sich auf sein Bett fallen und stieß dabei den Stapel Fußballmagazine um, der daneben auf dem Fußboden lag. Die bunt bedruckte Papierflut ergoss sich direkt vor meine Füße.
 

„Ach scheiße“, murrte Jo, machte jedoch keine Anstalten, die Unordnung zu beseitigen. Also ignorierte ich sie ebenfalls und sah ihn stattdessen auffordernd an.
 

„Und? Worüber wolltest du mit mir reden?“

 

„Ich?“ Jo schnaubte abfällig. „Ich wollte gar nicht mit dir reden. Aber Leon hat gesagt, ich soll endlich aufhören, so eine Pussy zu sein.“

 

Jos Empörung über diese Anschuldigung konnte ich mir lebhaft vorstellen. Unschlüssig war ich mir allerdings darüber, ob ich Leon wirklich für diese Nötigung dankbar sein sollte. Es war unübersehbar, dass Jo nicht mit mir reden wollte. Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. So schwiegen wir uns eine geraume Weile lang an, aber es war kein gutes Schweigen, sondern eines, das gefüllt war mit erzwungenen Entschuldigungen und leeren Versprechen. Wahrscheinlich hätte Jo mich nicht aufgehalten, wenn ich einfach gegangen wäre. Aber ich wollte ihn noch nicht aufgeben.

 

„Jo, hör zu, es … es tut mir leid, wie das gelaufen ist. Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst.“

„Wie denn dann?Wolltest du mich zu Kaffee und Kuchen einladen?“

„Nein, aber vielleicht auf ein Bier?“

„Dann wäre mir wenigstens das Kotzen leichter gefallen.“

 

Ich lächelte leicht, aber Jos Gesichtsausdruck machte deutlich, dass das kein Scherz gewesen war. Abscheu, Ekel und Wut bildeten eine undurchdringliche Mauer, an der alles, was ich sagte, einfach abzuprallen schien. Als wäre ich etwas, das die Katze hereingeschleppt und das danach drei Tage unentdeckt unter dem warmen Heizkörper gelegen hatte. Ich versuchte einen neuen Ansatz.

 

„Man, Jo. Ich bin doch immer noch der gleiche Kerl wie vorher. Nur … nur dass ich halt …“

„Dass du Benedikt fickst.“

 

Ich wusste nicht, was schlimmer war. Seine Wortwahl oder der Ton, in dem er das sagte. Doch noch bevor ich etwas darauf erwidern konnte, redete er bereits weiter.
 

„Man, ich kapier’s echt nicht. Ich meine, du hattest doch Mia. Wenn du sie gefragt hättest, hätte sie dich bestimmt an ihr Hintertürchen rangelassen. Dazu musst du doch nicht mit der Schwuchtel ins Bett steigen.“

 

Unter dem Wort zuckte ich zusammen.

 

„Nenn ihn nicht so.“

„Wie? Schwuchtel?“

 

Wie von selbst ballte sich meine Hand zur Faust.

 

„Pass auf, was du sagst. Sonst vergesse ich noch, dass du mein bester Freund bist.“

„Ach, bin ich das?“

 

Ich weiß nicht genau, was es war, das mich aufhorchen ließ. Vielleicht die Tatsache, dass er bei der Frage den Blick senkte oder dass seine Stimme zu einem Flüstern herabsackte oder die winzige Spur Hoffnungslosigkeit, die darin mitschwang. Aus irgendeinem Grund musste ich plötzlich an Jos Vater denken. Er war ein großer, bulliger Mann mit groben Händen, die ordentlich zupacken und ordentlich hinlangen konnten. Jo war körperlich gesehen genau das Gegenteil und die Witze, ob er wohl Ähnlichkeit mit dem Postboten hätte, hatten Jo die eine oder andere Rauferei eingebracht. Nicht immer war er siegreich daraus hervorgegangen, aber er hatte trotzdem nie aufgehört, es zu versuchen. Egal wie oft er im Staub gelandet war, er war immer wieder aufgestanden, hatte die Zähne zusammengebissen und weitergemacht. Das hier war nicht der Jo, den ich kannte.

 

„Natürlich bist du das.“

„Und warum hast du dann nie was gesagt?“

 

Er sah mich jetzt an und sein Blick verletzte mich mehr, als es jeder Schlag und jede Beleidigung gekonnt hätte. Ich sah die Trauer und Enttäuschung hinter all der Wut, die er wie ein Schild aufrechtzuerhalten versuchte.

 

„Ich hab dich verteidigt, weißt du? Als Oliver damals behauptet hat, dass du auch so einer wärst, hab ich ihm gesagt, dass das Schwachsinn ist. Ich hab immer zu dir gehalten, hab mich hinter dich gestellt, und jetzt stellt sich auf einmal raus, dass das alles eine Lüge war. Dass du es die ganze Zeit gewusst und mir nichts gesagt hast.“

„Ich wusste es nicht.“

 

Es war eine schlechte Ausrede aber zugleich die einzige, die ich hatte.

 

„Ich hab es nicht gewusst“, wiederholte ich und sah Jo bittend an. „Vielleicht hab ich es auch nicht wissen wollen. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass es mir besser geht, seit ich es herausgefunden habe.“

 

Wieder schnaubte Jo abfällig.
 

„Und wie hast du das rausgefunden? Hast du dich beim Pornos raussuchen verklickt, oder was?“

 

Ich musste bei dem Gedanken, dass ich genau so was anfangs vermutlich behauptet hätte, ein wenig schmunzeln.
 

„Nein, ich … ich hab Benedikt im Ferienlager getroffen.“

„Und dann hat er dich angemacht? Ich schwör dir, ich brech ihm alle Knochen, wenn das stimmt.“

„Nein, so war es nicht.“

„Wie dann?“

 

Einen Augenblick lang wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte. Wenn ich Jo erzählte, dass ich vorher immer schon mal an Männer gedacht hatte, würde er denken, dass ich ihn doch angelogen hatte. Und wenn ich ihm erzählte, dass ich mich spontan in Benedikt verliebt hatte, würde Jo denken, dass es Benedikts Schuld war. Wie ich es auch drehte und wendete, es gab einfach nichts, mit dem ich Jo hätte überzeugen können.

 

„Ich kann es dir nicht erklären“, gestand ich, nachdem ich eine ungute Zeit lang geschwiegen hatte. „Ich kann dich lediglich bitten, mir zu glauben, dass ich es bis vor ein paar Wochen wirklich nicht wusste. Und die Erkenntnis war alles andere als angenehm. Ich bin in dem Moment vollkommen zusammengebrochen und Benedikt war einfach für mich da und … na ja.“

 

In dem Moment, als Jos Kopf nach oben ruckte, wusste ich, dass ich etwas Falsches gesagt hatte.
 

„Ach, er war für dich da? So rein zufällig, oder was? Hat dich in den Arm genommen, dir erzählt, dass alles in Ordnung kommt und dass er dir hilft und all so einen Scheiß. War es so?“

 

Jos Ton war wieder aggressiv geworden. Der plötzliche Umschwung überraschte mich. Trotzdem zwang ich mich zu antworten.
 

„Ja, so ähnlich. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich mich …“

 

Ich stoppte mich gerade noch rechtzeitig, bevor ich es aussprach. Es war allerdings schon zu spät. Jo wusste, was ich hatte sagen wollen.
 

„Du willst mir echt erzählen, dass du dich in den Typen verknallt hast? In diesen verlogenen Sack, der immer so nett tut, aber sich selbst für so geil hält. Und weswegen? Weil er schwul ist? Ne Eins in Mathe hat? Ne Monatskarte für den Bus? Was? Was macht ihn denn so special?“

 

Jo hatte sich jetzt richtig in Rage geredet. Er war aufgesprungen und tigerte wie ein eingesperrtes Raubtier im Zimmer umher.
 

„Ich sag dir, das ist alles nur ne Masche. Und du fällst auch noch darauf rein und machst mit Mia Schluss. Mit Mia! Ich hab damals auf sie verzichtet, weil du mir Stein und Bein geschworen hast, dass du dich unsterblich in sie verliebt hast. Und jetzt lässt du sie fallen. Wegen dem Arsch!“

 

Obwohl ich Jo noch mühelos mit den Augen folgen konnte, kapitulierte mein Gehirn vor seiner verdrehten Logik.
 

„Du hast auf Mia verzichtet? Sie wollte doch gar nichts von dir.“

„Ja, weil du da warst. Aber wenn sie gewusst hätte, dass du schwul bist, dann hätte sie …“

„Was? Etwa dich ausgewählt?“

 

Bei allen Alarmglocken, die in meinem Kopf gerade klingelten, konnte ich diese Bemerkung nicht auf mir sitzen lassen.
 

„Man, Jo, sie wollte nichts von dir wissen. Egal ob ich nun da war oder nicht. Du bist einfach nicht ihr Typ.“

„Aber ich hätte es sein können!“
 

Seine Stimme war jetzt wieder weinerlich geworden und ich kam so langsam nicht mehr mit. Wenn es das nicht alles noch schlimmer gemacht hätte, hätte ich mir gerne gewünscht, dass Benedikt jetzt hier gewesen wäre. Er hätte bestimmt gewusst, was man in so einem Fall tun musste.
 

„Jo, bitte“, versuchte ich noch einmal an die Vernunft meines besten Freundes zu appellieren. „Mia hat wirklich nichts mit der Sache zu tun. Sie ist toll, ganz ohne Frage, aber …“
 

Ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte, ohne abfällig zu klingen. Das hatte Mia nicht verdient. Sie war ein toller Mensch, aber sie hatte einen weiblichen Körper und der gab mir, bei aller Liebe, nun einmal überhaupt nichts mehr. Ich fand sie wunderschön, aber eben nicht anziehend. Nicht das kleinste bisschen.

 

„Jo, ich bin schwul. Ich steh auf Kerle. Dafür kann keiner was. Weder ich noch du noch Benedikt oder Mia oder sonst irgendwer. Es tut mir wirklich leid, dass du so ein Problem damit hast, aber ich werde mich nicht weiter dafür bei dir entschuldigen. Und schon gar nicht kann oder will ich es ändern. Du kannst dir aussuchen, ob du damit klarkommst und weiter mein Freund sein willst, oder du kannst es bleiben lassen. Denn jemanden, der das nicht akzeptieren kann, brauche ich nicht als Freund.“

 

Jo schwieg nach dieser Ansage eine Weile lang. Er hockte auf seinem Bett, starrte ins Leere und sagte kein Sterbenswörtchen. Erst, als ich Anstalten machte, mich zu erheben, kam wieder Leben in ihn.

 

„Willst du es öffentlich machen?“

 

Ich behielt die Türklinke in der Hand und drehte mich nur halb zu ihm um.

 

„Wie meinst du das?“

„Na, an der Schule. Willst du es allen sagen?“

 

Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Als ich Jo genau das antwortete, blickte er unsicher zu mir hoch.
 

„Es könnte doch unter uns bleiben. Muss doch keiner wissen, oder?“

 

Ich hätte gerne behauptet, dass ich dachte, dass Jo sich um mich sorgte, aber genau das Gegenteil war der Fall.
 

„Warum sollte ich es geheim halten?“, fragte ich daher zurück. Ich wollte wissen, ob er mir ehrlich antwortete.
 

„Na ja“, druckste er herum und fing an, an einer seiner Socken herumzuzpfen. Am großen Zeh stand ein Faden ab, an dem er zog und zog, bis er endlich riss. Ohne darüber nachzudenken, ließ er das abgerissene Stück fallen.

 

„Ich hab nur gedacht, wenn es keiner erfährt, dann …“

„Dann was?“

„Dann kommt auch keiner auf die Idee, dass wir beide …“

 

Er sprach nicht weiter, denn mein Lachen unterbrach ihn.
 

„Was denn? Darum geht es? Dass du nicht mit einem Schwulen gesehen werden willst?“

 

Jos Kopf sank noch ein wenig tiefer.
 

„Ist doch nur, weil … na ja. Die Jungs reden halt. Im Verein und so. Und meine Eltern fänden das bestimmt auch nicht so toll.“

„Und du gibst was darauf, was die sagen?“

 

Wieder wandte ich mich zum Gehen, aber Jo war schneller. Mit zwei Schritten war er an der Tür und drückte sie wieder ins Schloss. Als ihm bewusst wurde, wie nahe er mir dabei gekommen war, wich er vor mir zurück.

 

„Versteh doch, T. Ich … ich hab einen Ruf zu verlieren.“

„Einen Ruf?“

 

Ich glaubte, mich verhört zu haben, aber Jo redete einfach weiter.
 

„Ja! Ich meine, wenn bekannt wird, dass du schwul bist und ich weiter mit dir abhänge, dann denken die doch bestimmt, dass ich auch … Oder wenn wir abends in so ne Bar gehen und mich dann einer von denen angräbt. Ich … ich weiß echt nicht, wie ich dann reagiere. Ich will keine schwulen Griffel an meinem Hintern oder ne Zunge von irgendnem Kerl im Hals.“

 

Ich wusste wirklich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Glaubte mein bester Freund diesen ganzen Schwachsinn etwa wirklich, den er da von sich gab? Und wollte ich mich wirklich damit abgeben? Zusätzlich zu dem ganzen anderen Mist, den ich bereits an der Backe hatte.

 

Doch dann musste ich wieder an den Tag denken, an dem ich das erste Mal in die Klasse gekommen war. Der, an dem Jo einfach so auf mich zugekommen war. Dass er bereits in so vielen Situationen an meiner Seite gewesen war und wir sogar diese Scheiße mit Oliver hinter uns gelassen hatten, auch wenn sich das Ganze im Endeffekt anders entwickelt hatte, als wir alle gedacht hatten. Und ich dachte an die Woche zurück, in der ich mir jedes Mal hatte verkneifen müssen, auf einen von Jos selten gewordenen Posts zu reagieren. Es mochte dumm und nicht gut für mich sein, aber … Jo war mein Freund und ich würde ihn nicht einfach so aufgeben. Ich würde nicht vor ihm davonlaufen.
 

„Jo, ich … ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass dich ein Schwuler angraben würde. Ich wüsste auch gar nicht bei welcher Gelegenheit. Ich hab schließlich nicht vor, dich in irgendwelche Gaybars zu schleppen. Schon gar nicht, wenn du dich da unwohl fühlst. Und bei allen anderen Gelegenheiten bin ich mir ziemlich sicher, dass die Leute mitkriegen, wie du tickst. Immerhin jagst du allem hinterher, was einigermaßen weibliche Kurven hat. Die verwechseln dich schon nicht.“

 

Diese Aussage von mir schien ihn ein wenig zu beruhigen. Einer seiner Mundwinkel hob sich ein Stück, bevor er ihn wieder fallen ließ.
 

„Du würdest also nicht erwarten, dass ich dir den Wingman mache?“

„Nein! Und außerdem hab ich bereits einen Freund, schon vergessen?“

 

Jetzt verzog Jo wieder das Gesicht. Das mit Benedikt schien ihm wirklich zu schaffen zu machen.
 

„Ich frag mich echt, was du gegen ihn hast“, meinte ich kopfschüttelnd.

 

Jo lachte bitter auf.
 

„Leider nichts, was hilft.“

 

Er trottete zurück zu seinem Bett und ließ sich darauf fallen. Ich überlegte zuerst, ob ich mich wieder auf den Stuhl setzen sollte, doch dann ließ ich mich lieber auf dem Boden nieder. Von dort aus sah ich zu Jo hoch.
 

„Mir ist klar, dass ihr beide nicht gerade die besten Freunde seid, aber ich möchte mich wirklich nicht zwischen euch entscheiden müssen.“

 

Jo gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Schnauben und einem Lachen lag.
 

„Ist ja auch klar, wofür du dich entscheiden würdest.“

„Ach, ist es das?“

„Logisch. Bei nem Mädchen hätte ich immer gesagt 'Bros before hoes', aber so …?“

 

In diesem Moment realisierte ich, dass Jo eifersüchtig auf Benedikt war. Hätte ich ihm das auf den Kopf zugesagt, hätte er es vermutlich schon aus Prinzip abgestritten. Für mich brauchte es da jedoch nicht mehr viele Worte.

 

„Hör mal, Jo. Ich weiß, dass das Ganze wirklich megabeschissen gelaufen ist. Aber ich brauche dich. Als meinen Freund. Meinen besten Freund.“

 

Ich hörte, wie Jo einmal tief ein- und dann wieder ausatmete.

 

„Mir tut’s auch leid“, sagte er plötzlich. „Dass … dass ich so dämlich reagiert habe. Ich war so wütend, weil du mich hast dastehen lassen wie einen Deppen. Dass du es Benedikt und sogar Mia erzählt hast und damit nicht zuerst zu mir gekommen bist.“

 

Auch ich atmete einmal tief durch.
 

„Ich hatte Angst, es dir zu sagen. Und wenn ich es mir hätte aussuchen können, hätte ich es wahrscheinlich niemandem erzählt. Aber Mia war ich es einfach schuldig und Benedikt … na ja. Er war halt tatsächlich gerade da und er ist eben auch schwul. Er weiß, wie das ist.“

„Ach, und ich nicht?“

 

Jo funkelte mich trotzig an und ich lächelte nur.
 

„Nein, tut mir leid. Wie es ist, schwul zu sein, weißt du nicht.“

 

Er überlegte kurz, bevor er knurrte: „Ist auch besser so.“

 

Ich nickte und lächelte dazu, obwohl mir der Satz schon leichtes Unwohlsein verursachte. Wir würden vermutlich eine Zeit lang brauchen, um wieder eine neue Basis zu erschaffen. Eine, mit der wir alle leben konnten.

 

„Ich, also …“, begann ich und überlegte, wie ich es am besten formulieren sollte. „Ich mein nur, wenn du irgendwelche Fragen hast, dann frag ruhig. Ich kann dir zwar nicht versprechen, dass ich die alle beantworten kann, aber …“

 

Jos Gesichtsmuskeln zuckten. Es war klar, dass ihm etwas auf dem Herzen lag. Erst, als ich noch einmal nachfragte, rückte er mit der Sprache raus.

 

„Ich … ich hab mich gefragt, ob du … Also hast du eigentlich schon mal …, na du weißt schon. Beim Wichsen an jemanden gedacht, den du kennst?“

 

Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass ich dabei durchaus schon an Benedikt gedacht hatte, aber ich wusste, was er mit der Frage eigentlich meinte. Also beschloss ich, ihm nur die Info zu geben, die er brauchte.
 

„Ich hab dabei noch nie an dich, Leon oder Phillip gedacht, wenn du das meinst.“

„Und auch an sonst keinen?“

„Soll ich dich anlügen?“

 

Jo verzog das Gesicht.

 

„Nee, danke. Reicht schon.“

 

Ich lachte. Einfach weil es gut war, wieder mit Jo zu reden statt zu streiten.
 

„Und du … also ihr … habt ihr schon … Boah, ich will mir das gar nicht vorstellen.

„Dann tu’s nicht!“

„Hä?“

 

Ich seufzte schwer.

 

„Wenn du den Gedanken an zwei Männer im Bett unangenehm findest, dann stell es dir doch nicht vor. Ich stelle mir dich ja auch nicht beim Sex mit Vanessa, Chantal oder Gabi vor.“

„Ich hatte noch nie ne Freundin, die Gabi hieß.“

„Was nicht ist, kann ja noch werden.“

 

Jo lachte jetzt auch, wurde dann aber wieder ernst.
 

„Na, aber, Schwule haben doch ständig Sex, oder nicht?“

„Also ich nicht. Wie auch? Ich muss schließlich essen, schlafen und zur Schule gehen. Da bleibt vom Tag leider nicht mehr viel Zeit übrig. Aber auf fünf oder sechs Stunden komme ich bestimmt.“

„Jetzt verarschst du mich.“

„Weil du dumme Fragen stellst.“

 

Er zeigte mir den Mittelfinger und ich grinste nur.
 

„Na, aber, ist doch wahr, oder nicht?“

„Was?“

„Dass ihr ständig Sex habt. Ich meine, ihr seid zwei Kerle, oder nicht? Oder wart ihr auch schon mal zu dritt? Zu viert? Fünft?“

 

Ich verzog das Gesicht.
 

„Jo, ich wäre dir echt dankbar, wenn wir das Thema Sex mal fallen lassen könnten.“

„Du hast doch gesagt, ich kann alles fragen.“

„Ja, aber nicht solche Details. Ich will schließlich auch nicht wissen, in welcher Stellung du es am liebsten machst.“

„Das weißt du doch schon.“

 

Ich schloss die Augen und stöhnte.
 

„Ja, aber ich will es gar nicht wissen, verstehst du? Für mich ist das einfach was Privates. Das war mit Mia so und ist jetzt nicht anders. Klar?“

 

Jo schwieg ne Weile, dann nickte er.
 

„Okay. Aber … eine Frage hätte ich noch.“

„Ja?“

„Fehlt dir denn da gar nichts? Ich meine, Mia hat ja nun wirklich gei... sehr schöne Brüste. Vermisst du die nicht?“

 

Ich dachte einen Augenblick über die Frage nach.

 

„Nein, eigentlich nicht. Also ja, ich find sie schön und ich glaube, ich fände es schon nett, wenn ich dem nochmal mehr abgewinnen könnte, aber eigentlich … nein. Ich vermisse nichts.“
 

Wieder brauchte Jo einen Augenblick, bis er die Information verarbeitet hatte. Ich ließ sie ihm und wartete geduldig, bis er sich wieder an mich wandte.
 

„Was haben eigentlich deine Eltern dazu gesagt?

„Sie wissen es noch nicht.“

„Was? Warum das denn nicht?“

„Hab Schiss gehabt, es ihnen zu erzählen.“

 

Ich konnte nicht genau sagen, woran ich es festmachte, dass diese Info etwas in Jo zum Klingen brachte, Der Wandel war jedoch, so klein er auch sein mochte, nicht zu übersehen.
 

„Das ist scheiße“, sagte er voller Inbrunst und ich konnte ihm da nur zustimmen.
 

„Willst du es ihnen sagen?“

„Ja, schon. Ich will ja kein geheimes Doppelleben aufziehen oder so.“

„Und wann?“

„Vielleicht am Wochenende. Christopher hat Geburtstag und kommt her. Ich will es erst ihm und dann meinen Eltern sagen.“

„Und was glaubst du, wie sie reagieren werden?“

„Ich hab keinen Schimmer.“

 

Jo sagte nichts dazu, aber nach einer Weile sah er mich an und meinte:
 

„Also wenn sie dich rausschmeißen, kannst du solange bei mir pennen.“

 

Ich unterdrückte ein Grinsen.
 

„Hast du denn gar keine Angst, dass ich dir an die Wäsche gehe?“

 

Auf sein entsetztes Gesicht hin, musste ich lachen.

 

„Man, Jo, ich verarsch dich doch nur. Das wäre ja, als würde ich mit meinem Bruder ins Bett gehen.“

 

Jos Mund verzog sich daraufhin zu einem schmalen Lächeln, das ich erwiderte. Danach holte ich noch einmal tief Luft.
 

„Ich werd übrigens ne Therapie machen.“

 

Jo blinzelte, als hätte ihm gerade jemand erzählt, dass die Erde doch eine Scheibe und der Mond aus Käse sei.
 

„Ne was?“

„Therapie. Ich … also ich hab festgestellt, dass bei mir einiges nicht so ganz rund läuft. Ich denke, es wäre gut, da mal mit jemandem zu sprechen, der nicht darin involviert ist. Ein bisschen Klarheit reinbringen, was ich will und so. Ich denke, das täte mir ganz gut.“

 

Man merkte Jo an, dass er am liebsten dagegen protestiert hätte, aber dann hielt er doch die Klappe und nickte nur.
 

„Das hab ich bis jetzt übrigens noch niemandem erzählt“, fügte ich hinzu und sah, wie ein kurzes Leuchten über sein Gesicht huschte, das er jedoch schnell wieder vor mir verbarg.
 

„Ich verrat’s niemandem“, versprach er und ich war froh darüber, dass ich es ihm erzählt hatte. Vielleicht würde dann alles andere auch irgendwie werden.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  fatua
2021-03-15T20:22:55+00:00 15.03.2021 21:22
Hey, das Kapitel gefällt mir sooo gut. Ich dachte, das wird jetzt total dramatisch und nicht mehr zu retten ... aber du hast den Anfang einer Versöhnung geschafft! Das Gespräch kommt realistisch rüber, man kapiert ein bisschen, was Jo eigentlich für ein Problem hat und Theo findet zum Glück die richtigen Worte. Benedikts Einfühlungsvermögen scheint abzufärben. 😉
Antwort von:  Maginisha
16.03.2021 14:43
Hey fatua!

Ich war ein bisschen hin und her gerissen. Und wäre es irgendein Freund gewesen, wäre vielleicht sogar ein endgültiger Bruch möglich gewesen. Aber irgendwelche Qualitäten muss Jo ja auch haben, die Theo an ihm findet, und Loyalität gehört nun einmal dazu. Von daher haben die beiden eine Chance auf einen Neuanfang verdient. :)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2021-03-08T17:17:13+00:00 08.03.2021 18:17
Wow das Gespräch lief wesentlich gesitteter als ich dachte.
Hätte wirklich Drama erwartet, aber Theo hat auch mal etwas sanftes verdienst :)
Leon hatte ein gutes Näschen. Das Alles war schlussendlich doch in gewisser weise eine art Missverständnis. Phu! :D

Wie wohl das Outing vor seinem Bruder laufen wird? Bin so gespannt!! :D

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
08.03.2021 18:36
Hey Ryosae!

Ich gebe zu, ich hätte auch mit dem Gedanken gespielt, Jo schlechter reagieren zu lassen. Das hätte allerdings damit geendet, dass die beiden getrennte Wege gegangen wären, denn wie man vielleicht rausgelesen hat, wäre Theo bereit diesen Weg zu gehen. Und ich finde, man hätte sich gefragt,warum die beiden überhaupt beste Freunde waren. Von daher passte es so besser. ;)

Weitere Outings folgen in Kürze. :D

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  chaos-kao
2021-03-07T19:19:02+00:00 07.03.2021 20:19
Ein Hoch auf Leon, der Jo den dringend benötigten Arschtritt verpasst hat. Ich hoffe wirklich, dass es sich zwischen den beiden wieder normalisiert. Und vllt. fühlt sich Jo jetzt, da er als erster von der Therapie erfahren hat, wieder weniger übergangen :)
Antwort von:  Maginisha
08.03.2021 14:27
Jaa, Leon ist schon ein Schätzchen. (Ein unterschätztes Schätzchen...) Bis sich das alles wieder so gefunden hat, wird es bestimmt noch ne Weile dauern, aber sie haben immerhin mal mit Friedensverhandlungen angefangen und das Feuer eingestellt. :D


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