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Demon Girls & Boys

von

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Der Anfang vom Ende - Teil 3

Der Anfang vom Ende - Teil 3

 

 

 

Das Gefühl war erschreckend gewesen. Schrecklich. Der plötzliche Schmerz und gleichzeitig diese unsagbare Panik. Die Angst zu sterben.

Und plötzlich, ganz plötzlich, war das alles vorbei.

Kein Schmerz. Keine Angst.

Stattdessen Wärme, Geborgenheit.

Blinzelnd öffnete Susanne ihre Augen. „Was…“

„Susi?“, hörte sie eine ungläubige und doch irgendwie liebevolle Stimme fragen.

Noch etwas verschwommen, beinahe schlaftrunken, schaute Susanne auf und blickte in Annes nachtblaue Augen, die mit Erleichterung und Verwunderung zugleich gefüllt waren.

„Anne? Was… Was ist passiert?“, fragte sie und unterdrückte ein Gähnen. So langsam kehrten ihre Sinne zu ihr zurück, sodass sich Susanne umschauen konnte. „Und… Wo sind wir hier?“

Es schien eine Art Höhle, doch Susanne konnte sich nicht erklären, wie sie hier gelandet waren. Hatte sie so lange geschlafen?

„Du… Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?“, fragte Anne, statt zu antworten.

Nun war Susanne umso verwirrter. „Nein, wieso?“

Ihre Aussage wiederum schien Anne zu irritieren. Schließlich seufzte diese. „Du wurdest von einem Werwolf angegriffen. Wir dachten… Es sah wirklich schlimm aus. Also wieso…“

Kaum fiel der Begriff ‚Werwolf‘ kehrten die Erinnerungen zurück. Die Erinnerung an den Schmerz. Das Gefühl in Stücke gerissen zu werden.

Instinktiv griff Susanne nach ihrem Hals aber… Wo waren die Schmerzen?

„Bist… bist du dir sicher?“

Anne schaute sie an als habe sie die Sorge, dass der Angriff auch Teile ihres Gehirns getroffen hatte. „Extrem sicher, glaub mir.“

Umso verwirrter tastete Susanne die Stelle an ihrem Hals ab. „Aber… ich spüre nichts.“ So ganz stimmte das nicht. Sie merkte eine feuchte, leicht dickflüssige Substanz an ihrer Schuluniform haften. Und als sie ihre Hand betrachtete stellte sie schaudernd fest, dass ihre Finger sich dunkelrot gefärbt hatten.

„Willst du mich ver-…“ Noch bevor Anne ihre Frage fertig gestellt hatte, trafen sich ihre Blicke. Sie wirkte wirklich besorgt, wie Susanne feststellte. Und mindestens genauso verwirrt wie Susanne selbst sich fühlte.

Anne seufzte. „Kann ich… darf ich mir das mal anschauen?“

Susanne brachte lediglich ein Nicken zustande. Was ging hier vor sich?

Behutsam, um nicht zu sagen sanft, strich Anne Susannes Haare nach hinten. Inzwischen waren sie schon wieder so lang, dass sie ihr in leichten Wellen über die Schultern fielen.

Begleitet von noch deutlicherem Zögern begann Anne schließlich, die oberen Knöpfe von ihrer Schuluniform zu öffnen. Es waren nicht viele, nur so weit, bis Anne die Bluse weit genug zur Seite schieben konnte, um einen Blick auf Susannes Hals werfen zu können.

Und trotzdem…

Die Art, wie sie ihre Haare berührt hatte, die Vorsicht, mit der ihre Finger über ihren Hals strichen…

Susannes Herzschlag beschleunigte sich und ein seltsames und doch wohliges Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus. Was war das?

Bisher hatte Susanne jegliche sanfte Berührung mit einem Lächeln hingenommen ohne etwas gefühlt zu haben. Wie Miguel ihre Hand gehalten hatte, wie er ihr über die Wange gestrichen hatte… Selbst als er sie beim letzten Abschied geküsst hatte. Susanne hatte es auf die Aufregung geschoben. Dachte, wenn sie sich nur nahe genug kommen würden, dann kämen diese schwerelosen Gefühle von alleine, von denen sie immer und immer wieder in Büchern gelesen hatte.

Also wie konnte es sein, dass sie so lange schon versuchte eine Bindung zu Miguel aufzubauen, während eine einzige Berührung einer anderen Person schon dieses Gefühl vermittelte? Diese Schwerelosigkeit?

Anne schien immer noch viel zu fokussiert auf die vermeintliche Verletzung an Susannes Hals, um zu bemerken wie sehr sie Susanne mit diesen nebensächlichen Berührungen aus dem Konzept brachte. Wie sehr sie sie damit verwirrte.

Waren das diese Gefühle, von denen Lissi erzählt hatte? Fühlte es sich so an verliebt zu sein?

Unwillkürlich erinnerte sich Susanne an ein Gespräch mit ihrer Schwester wenige Wochen zuvor.

Sie saßen beide auf einem Bett in ihrem Zimmer der Coeur-Academy. Susanne war mit ihren Gedanken bei Laura und Benni gewesen und schließlich weiter zu Miguel abgedriftet.

‚Wie fühlt es sich eigentlich an, verliebt zu sein?‘, fragte sie.

Lissi ließ sich zurück in die Kissen fallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. ‚Hm, das ist schwer zu beschreiben.‘

‚Wirklich? Ich dachte, es wäre einfach. Dieses typische Phänomen mit Schmetterlingen im Bauch, nicht richtig denken zu können, …‘

‚Jaaaaa…‘ Lissi schien nicht sonderlich überzeugt. ‚Das gehört schon dazu.‘ Sie kicherte. ‚Besonders bei Cärstchen, der bei BaNanes Anwesenheit auf einmal zu gar nichts mehr in der Lage ist.‘

Die Schwestern lachten auf bei den Erinnerungen an Carstens Unbeholfenheit, wenn er von Ariane in eine ungewohnte Situation gebracht wurde.

Schließlich richtete sich Lissi wieder auf. ‚Aber verliebt sein kann man nicht einfach nur mit Schmetterlingen im Bauch und rosaroter Brille beschreiben. Und Liebe selbst erst recht nicht.‘

Susanne runzelte die Stirn. ‚Und woran soll man dann erkennen, dass man jemanden liebt?‘

‚Das ist ganz einfach!‘ Mit ihrer typischen überschwänglich guten Laune drückte Lissi sie an sich. ‚Man weiß es einfach!‘

Damals hatte Susanne Lissis Aussage lachend akzeptiert, ohne sie wirklich verstanden zu haben. Doch nun, schon alleine das Bewusstsein, dass sie sich genau jetzt an genau dieses Gespräch erinnerte…

Seufzend schüttelte Anne den Kopf und setzte sich wieder normal auf den Boden der Höhle. „Krass. Nichts. Da scheint nicht einmal mehr ein Kratzer zu sein.“

„Was?“ Susanne hatte ganz vergessen, worum es ursprünglich ging.

„Susi, du bist komplett unverletzt.“, wiederholte Anne sich, immer noch nicht in der Lage das zu glauben. „Wie kann das sein? Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie der Werwolf dir fast den Kopf vom Hals gebissen hat.“

Susanne schauderte bei der Art von Annes Erzählung. Stimmte das? War es wirklich so schlimm gewesen? Aber… „Ich… Mir geht es gut, wirklich.“ Sie schien sich mit der Aussage beinahe für irgendetwas entschuldigen zu wollen.

Wieder bedeckte sie mit der Hand ihren Hals. Spürte das noch nicht getrocknete Blut, welches ihr eigenes zu sein schien.

Anne runzelte nachdenklich die Stirn. „Vielleicht hast du durch deine Energie so gute Regenerationsfähigkeiten?“

„Das kann sein…“, gab sie ihr nachdenklich recht. „Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals ernsthaft verletzt gewesen zu sein. Und selbst kleinere Wunden waren eigentlich immer sofort verheilt. Ich dachte, es läge allgemein an der Regenerationsfähigkeit eines Dämonenverbundenen.“

„Aber vielleicht ist deine aufgrund der Heil-Energie viel stärker als die vom Rest von uns.“, beendete Anne ihre Vermutung.

Geistesabwesend nickte Susanne. Wenn die Prüfung des Pinken Bärs ihr eine Sache gezeigt hatte, dann, dass ihre Kräfte ihre Grenzen hatten. Sie konnte niemanden ins Leben zurückholen, der bereits auf der Schwelle des Todes stand. Zumindest nicht, ohne dafür ein anderes Opfer in Kauf nehmen zu müssen…

Ohne es zu wollen hatte sie wie so oft Naokis Gesicht vor Augen. Sie erinnerte sich an die pechschwarzen Haare, im Kontrast zu seiner hellen Haut. An das freundliche und doch irgendwie traurige Lächeln, der Blick seiner bernsteinbraunen Augen, viel zu stark und erwachsen für seine jungen Jahre. Ein Kind, was nie wirklich Kind sein konnte. Ein Leben, was er nie leben konnte. Weil Susanne ihn getötet hatte.

Diese Erinnerung ließ ihr, wie so häufig, das Herz schwer werden. Selbst wenn es nötig war, um die Prüfung zu bestehen… Wie war sie überhaupt dazu in der Lage gewesen? Wieso hatte ihr Körper so eine grausame Tat durchführen können? Einem Kind das Leben zu nehmen…

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Anne, anscheinend in Sorge, dass Susanne doch irgendwie verletzt war.

Susanne blinzelte die Tränen weg. „Ich bin so egoistisch… Jemand anderen kann ich mit meiner Energie nicht vor dem Tod retten. Aber mich selbst…“

„Du meinst wegen… Hast du das von damals immer noch nicht verarbeitet?“

Natürlich nicht. Wie sollte man so etwas auch verarbeiten können? Sie schluchzte.

Geräuschvoll atmete Anne aus. „Das beschäftigt dich häufiger, nicht wahr?“

Susanne konnte darauf nichts antworten. Die Erinnerungen, das schreckliche Gefühl, alles hatte sie viel zu sehr im Griff. Ließ sie nicht mehr los. Erfolglos kämpfte sie gegen ihre Tränen an.

Sie spürte, wie Anne eine Hand auf ihre Schulter legte. Aber… irgendwie reichte Susanne diese Form von Trost nicht. Warum konnte Anne sie nicht einfach in den Arm nehmen? Sie war doch so stark. Stark genug um sie zusammen zu halten, um zu verhindern, dass Susanne zersplitterte.

Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen: „Hör mal, Susanne… Ich kann verstehen, dass das schwer ist. Und du Zeit brauchst. Aber nicht jetzt. Wir müssen schnell zu Carsten, um-“

„Coralin, bitte! Mach die Augen auf!!!“ Der verzweifelte Ruf eines Jungen ließ beide schlagartig verstummen.

Immer noch schluchzend wischte sich Susanne mit der Handfläche die Tränen von den Wangen und schaute auf, in die Richtung aus der die Stimme kam.

Weiter entfernt in der Höhle sah sie das Leuchten einer der Elfen bei einem Jungen, der weinend über den Körper eines Mädchens gebeugt war. Susanne schwante schlimmes. Immer noch leicht geschwächt mühte sie sich auf die Beine, doch Anne hielt sie zurück. „Du solltest da nicht hin.“

„Aber… Ich bin Sanitäterin! Ich muss!“

„Glaubst du wirklich, du könntest noch etwas für sie machen?“

Verzweifelt schaute Susanne weiter zu dem Jungen, der seine Freundin anflehte endlich aufzuwachen. Konnte sie denn wirklich nichts ausrichten? War sie so nutzlos? Und das, obwohl doch ihre Energie die Heilung war. Obwohl sie so gerne Leuten half! Und doch war sie zu nichts zu gebrauchen?

„Ich… Ich muss es versuchen!“ Überraschenderweise hielt Anne sie nicht länger auf. Durch den Blutverlust noch etwas wankend ging Susanne zu der kleinen Gruppe rüber. Um die beiden hatten sich inzwischen einige Schüler versammelt und versuchten, ihren Mitschüler zu beruhigen.

Sie quetschte sich durch die Traube an Jugendlicher. Einige machten ihr bereitwillig Platz, als sie das Sanitäter-Mädchen aus dem ersten Jahr erkannten. Doch Susannes Hoffnung zu helfen schwand, als sie die blutende Wunde an dem Kopf des Mädchens erblickte.

Und trotzdem…

„Was ist passiert?“, fragte sie und kniete sich zu dem jungen Paar.

„Ich… wir… wir waren in der Bib, als es plötzlich anfing zu stürmen.“, erklärte der Junge verstört. „Erst dachten wir uns nichts dabei, doch bald… Der Sturm wurde stärker. Da wollten wir zurück gehen. Und… und dann… Da war dieser Ast, der ist abgebrochen… und hat… Coralin wurde…“

„Kannst du etwas für sie tun?“, erkundigte sich ein Mädchen aus Susannes Klasse.

„Ich kann es zumindest versuchen…“ Ein bedrückendes Gefühl breitete sich wieder in ihrem Herzen aus als sie die blutverschmierten Haare beiseite strich, um die Kopfwunde zu untersuchen. Dass die normale erste Hilfe ausreichen würde bezweifelte Susanne. Aber vielleicht könnte sie ja wirklich noch etwas mit Magie bewirken.

Sie sprach einen Zauber, der die Heilung beschleunigen sollte. Ein warmes rosa Leuchten füllte die Höhle und ließ alle umstehenden Hoffnung schöpfen. Doch der Zauber wirkte nur langsam und war zu entkräftigend auf die Zeit.

Schwer atmend brach Susanne ihn ab und wischte sich mit dem Unterarm Schweißtropfen von der Stirn. Ihre Hände bebten.

Eigentlich war sie durch das regelmäßige Balletttraining und Schwimmen immer ziemlich fit, doch Heilmagie war nicht ohne Grund die anspruchsvollste Magieform von allen. Sie erforderte unsagbar viel Kondition. Weshalb viele Magier häufiger und früher an ihr Limit stießen als wenn sie einen Kampf bestreiten würden.

Ihr verzweifelter Blick schien Bände zu sprechen.

„Kann… kann man denn nichts für sie tun?“ Die hoffnungslose Stimme ihres Mitschülers machte die Sache umso schlimmer.

Susanne senkte den Kopf und ballte die Hände zu Fäusten. War es das? Sie beherrschte die Heil-Energie und konnte trotzdem niemanden retten?

Betrübt fragte sie sich, ob Carsten das Mädchen würde heilen können. Vermutlich. Selbst wenn sogar bei ihm normale Magie nicht ausreichte, Susanne war sich sicher, dass er alle erdenklichen Fäden ziehen würde. Mit Erfolg. Er hatte die Macht dazu Leben zu retten. Die Fähigkeiten.

Susanne konnte nur jemand anderen stattdessen sterben lassen…

Sie spürte eine Hand auf ihren zitternden Fäusten. Doch sie wollte Anne nicht in die Augen schauen müssen. Sie fühlte sich beschämt, gar nicht erst berechtigt hier zu sein. Warum war sie nach all dem noch am Leben? Warum hatte sie diese Fähigkeiten, wenn sie doch niemand anderem damit helfen konnte?!

„Susi, wir sollten wirklich-“

„Nein!“, schrie Susanne aufgebracht. „Ich will sie nicht sterben lassen! Ich kann sie nicht sterben lassen!!!“

„Wir haben keine Zeit.“, appellierte Anne an irgendetwas, woran Susanne gerade ohnehin nicht denken konnte.

Die Verzweiflung nahm zu. Ja, ihr rannte die Zeit davon. Je mehr Sekunden sie verzweifelt damit verbrachte nach einer Lösung zu suchen, desto wahrscheinlicher war es, dass das Mädchen nicht überlebte. Sie betrachtete ihren Freund, dem das Leid deutlich ins Gesicht geschrieben war.

Bitte! Gibt es wirklich nichts, dass ich machen kann?!

Ein stiller Hilferuf. Ein Flehen an jenes Wesen, dass ihr gezeigt hatte welch tödliche Waffe ihre Energie eigentlich war.

Keine Antwort.

Stattdessen meinte der Junge plötzlich: „Gibt… gibt es irgendetwas, was ich tun kann?“

Ihr war, als schlug ein Blitz in genau die Stelle ein, an der sie saß. Sein trauriger Blick erinnerte Susanne direkt wieder an Naoki.

Nein, sie konnte das nicht. Nicht schon wieder!

Aber…

Plötzlich meinte Anne, so leise, dass nur Susanne durch ihr verbessertes Gehör es wahrnehmen konnte: „Sag mal… Es gibt eine Sache, die mich schon immer verwirrt hatte. Musst du die Wunden komplett heilen?“

Susanne runzelte die Stirn. Eigentlich… Konnte sie das wirklich? Einfach so? Eine ernsthafte Wunde in zwei weniger gefährliche aufteilen?

Geteiltes Leid ist halbes Leid. Sagt man das nicht so?, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Eine Stimme, die sie seit mehreren Monaten nicht mehr gehört hatte. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie diese Stimme seit langem auch nicht mehr hören wollen. Doch jetzt…

Sie musste es versuchen. Sie musste.

Anne schien ihren Entschluss zu bemerken. Zumindest meinte sie, wieder genauso leise: „Ich hab nicht vor dich aufzuhalten. Aber denk dran, warum wir eigentlich…“

Susanne nickte. Ja, sie brachte sich damit selbst in Gefahr, indem die Schüler sie als Dämonenbesitzerin erkennen könnten. Aber andererseits… War es nicht genau das? Wollte nicht jeder, dass Dämonenverbundene endlich nicht mehr gefürchtet wurden?

Susanne betrachtete ihren Mitschüler, dessen Blick sie anflehte alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um seine Freundin zu retten.

Sie atmete tief durch und meinte schließlich: „Ich… Es gäbe tatsächlich etwas. Aber ich weiß nicht, ob es funktioniert.“

„Wirklich?!“ Er schien den zweiten Teil ihrer Aussage gar nicht erst wahrgenommen zu haben, so hoffnungsvoll klang seine Stimme.

Susanne nickte. „Aber du musst dir ganz sicher sein. Wenn… Es könnte schief gehen. Ihr könntet beide sterben.“

„Aber sie könnte überleben? Du kannst sie heilen?!“

Trotz allem war Susanne immer noch nicht ganz von sich überzeugt.  Was wenn… Wieder driftete sie mit den Gedanken zu Naoki ab. Erinnerte sich an denjenigen, an den die Persönlichkeit des Jungen angelehnt war. An das Schicksal, welches die Person erdulden musste, die Naoki in Susannes Prüfung repräsentiert hatte.

Ihre Gedanken kreisten weiter, zu dem ersten richtigen Gespräch was Susanne mit Benni damals in Flickas Box hatte. Wie seine Freundlichkeit und sein Humor sie damals positiv überrascht hatten. Und…

„Du bist wie Carsten.“, meinte Benni seufzend.

Susanne lachte nun endgültig verlegen auf. „Irgendwie schon, stimmt.“

„Eure Selbstzweifel sind hinfällig.“

Es war diese eine Erinnerung und auf einmal waren alle Zweifel wie fortgeblasen. Stattdessen nahm die Entschlossenheit ihren Platz ein.

Susanne streckte die Hand nach dem Jungen aus. „Darf ich?“

Ohne es auch nur ansatzweise zu hinterfragen nickte er.

Erneut atmete Susanne tief durch, berührte die verwundete Stelle am Kopf des Mädchens und die entsprechend unverletzte am Kopf des Jungen. Die noch unverletzte. Aber wenn alles gut lief…

Susanne schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Die Verletzung schien nicht tödlich. Noch nicht. Also wenn sie wirklich sofort handelte…

Ohne sich wieder in Erinnerungen zu verlieren sandte Susanne ihre Energie aus. Ein rosa Schimmern umgab ihren Körper in einer angenehmen Form der Wärme und der Hoffnung. Beinahe ein Versprechen, dass alles gut werden würde.

Der Junge verzog für einen Moment das Gesicht, als Susanne ihm etwas seiner Gesundheit, seiner Unverletztheit wegnahm und es an seine Freundin weitergab. Eine leicht blutende Stelle bildete sich an seiner Schläfe. Zur selben Zeit konnte man beinahe zusehen, wie die Wunde des Mädchens begann zu verheilen. Wie sie nicht mehr so schlimm, so lebensbedrohlich aussah.

Einen Teil der Verletzung gab Susanne nicht an den Jungen weiter. Diesen Teil führte sie ihrem eigenen Körper zu. Wenn sie schon so gute Regenerationsfähigkeiten hatte, dann sollte sie das auch auf anderem Wege nutzen. Susanne wurde etwas schwummrig. Vermutlich, weil sie auch die leichte Gehirnerschütterung übernahm. Doch es war in Ordnung. Es war gut so.

Als sie die Augen öffnete, zeugte nur noch eine leicht rötliche Stelle davon, dass das Mädchen hier fast ihren Verletzungen ausgeliefert gewesen ist.

Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken, wo überraschenderweise Anne direkt da war um sie zu stützen. Wieder dieses Herzklopfen…

Ein Schweigen, beinahe ehrfürchtig, breitete sich in der Höhle aus. Selbst die Gespräche der anderen Mitschüler, die nicht um sie herumstanden, schienen verstummt zu sein. Fast so als wartete jeder auf etwas.

Und ihre Erwartungen wurden erfüllt.

„… Coralin?“, fragte der Junge ungläubig, als seine Freundin leicht das Gesicht verzog.

Als sie schließlich die Augenlider öffnete breitete sich ungläubiges Raunen aus, was sehr schnell in Erleichterung und Begeisterung über schwang.

Wieder mit Tränen überströmtem Gesicht drückte der Junge sie an sich und erkundigte sich mehrfach, ob alles in Ordnung sei und ob sie Schmerzen habe. Coralin selbst schien immer noch viel zu benommen, um antworten zu können.

Oder hatte sie etwa… Coralins Blick fiel auf Susanne, Unglauben sprach aus ihren Augen. „Was… was war das?“

Sie hatte es gemerkt. Man konnte wohl wirklich einen Unterschied zwischen Heil-Energie und Heil-Magie spüren.

Doch obwohl sie sich gerade im Prinzip verraten hatte, hatte Susanne keine Angst. Lächelnd legte sie ihren Zeigefinger über die Lippen. „Wer weiß? Vielleicht ein Schutzengel.“

 
 

~*~

 

Öznur war noch nie sonderlich sportlich gewesen. Ausgerechnet Eagle hatte sie deshalb häufiger gerne aufgezogen, aber sie hatte sich eigentlich nichts daraus gemacht. Bis auf heute.

Natürlich war Eagle nicht zuhause gewesen, sondern hatte eine Sitzung mit den Stammesoberhäuptern. Das hatte ihr die kleine, etwas dickliche Haushälterin Jenny so langsam und deutlich wie möglich auf Indigonisch erklärt. Öznur war noch nie so froh gewesen, dass sie sich von Eagle und Carsten ein paar Indigonisch-Grundlagen hatte beibringen lassen.

Wahrscheinlich hätte sie hier in Indigo sogar wieder Handyempfang gehabt, aber ihr Handy lag ja nun alles andere als brauchbar im Mensaturm der Coeur-Academy. Außerdem wäre Eagle vermutlich sowieso nicht dran gegangen, falls er sein Handy überhaupt eingeschaltet hatte. Und somit blieb Öznur keine andere Wahl, als gefühlt durch ganz Karibera zu rennen.

Komplett außer Puste und vor Frust absolut verheult kam sie in dem relativ großen, verhältnismäßig modernen Regierungsgebäude an.

„Ich muss sofort zum Häuptling!“, schrie sie so gut sie konnte auf Indigonisch.

Die Empfangsdame war absolut verwirrt. Aber zum Glück kannte, oder eher erkannte, sie Öznur und begleitete sie zum Konferenzraum.

Noch bevor die Indigonerin höflich anklopfen konnte riss Öznur die Tür auf.

Direkt fragte einer der Stammesoberhäupter kritisch: „Wie können Sie es wagen zu-“

„Öznur?“ Eagle kam ihr entgegen, sodass Öznur absolut k.o. in seine Arme fiel.

„Du… Du musst sofort mitkommen! Coeur-Academy… Sturm…“, versuchte Öznur zu erklären und gleichzeitig wieder zu Luft zu kommen.

Eagle erkannte zum Glück sofort, dass etwas ganz gewaltig nicht in Ordnung war. Er stieß einen Fluch aus und sagte irgendetwas zu den restlichen Anwesenden, was Öznur bei der Muttersprachler-Geschwindigkeit gar nicht mehr verstehen konnte.

Dann packte er sie am Arm und schleifte sie regelrecht mit nach außen. „Kannst du noch laufen?“

Automatisch nickte sie, obwohl sie richtig Schwierigkeiten hatte auch nur geradeaus zu schauen. Dennoch bekam sie mit, wie er sich in Windeseile von seinem Hemd befreite.

„Jenny bringt mich sonst wirklich noch um.“, meinte er nur und drückte es Öznur in die Hand.

Außerhalb vom Gebäude angekommen nahm er seine Dämonenform an.

Wie gerne würde Öznur jetzt einen Moment innehalten und die attraktive Ausstrahlung in sich einsaugen, die von Eagle ausging. Doch leider fehlte ihnen die Zeit dazu. Und Eagle gab ihr auch nicht wirklich die Gelegenheit.

Kaum realisierte Öznur, dass er sie auf den Arm genommen hatte, befanden sie sich auch schon in schwindelerregenden Höhen. Leicht erschrocken kreischte sie auf.

„Ich hoffe, du kannst den Zauber endlich.“, meinte Eagle nur.

Ohne darauf zu antworten oder gar darüber nachzudenken, teleportierte Öznur sie zurück nach Cor, kaum, dass sie die Magiebarriere von Eagles und Carstens Oma verlassen hatten.

„Was bei den Dämonen…“ Der Schock war Eagle deutlich ins Gesicht geschrieben.

Sie waren südlich vom Campus bei der Bushaltestelle gelandet und auch Öznur raubte der Anblick den Atem.

Um sie herum herrschte die reinste Zerstörung. Die Wolken waren tiefschwarz und der überirdisch starke Wind ließ nicht nur vereinzelte Blätter, sondern auch größere Äste und Steine mit lautem Geheule in der Luft herumwirbeln. Bäume lagen quer über der Hauptstraße, das Wurzelwerk wurde zum Teil sogar mit aus dem Boden gerissen. Ein Bereich der Mauer und des großen Eingangstores war durch einen gewaltigen Stamm zertrümmert.

Doch die Schule selbst stand noch, wie Öznur ungläubig feststellte. Eine tiefrot leuchtende Kuppel umgab den größten Teil des Campus, von der immer wieder kleine Wellen nach unten liefen. Irgendwie erinnerte Öznur dieser Anblick an Blut…

All die Eindrücke prasselten in kürzester Zeit auf Öznur ein, sodass ihr von dieser Reizüberflutung fast schwindelig wurde. Besonders das laute Getöse des Windes bereitete ihr Kopfschmerzen.

Plötzlich spürte sie neben sich Energie und ein anderer Wind begann an ihren Haaren und ihrer Schuluniform zu zerren. Auch ohne den Blick zur Seite hätte sie die Ursache gewusst.

Eagle hatte die Hand ausgestreckt, als wolle er die unsichtbare Macht irgendwie einfangen. Die Adern auf seinem Handrücken und seinem Arm stachen leuchtend grau hervor und pulsierten. Ebenso die Adern in und um seine Augen, deren bernsteinfarbene Iris unheimlich zu leuchten begann.

Der Anblick hatte etwas Betörendes, aber gleichzeitig auch erschreckend und einschüchternd. Bei dem dämonischen Blick in Eagles Augen konnte Öznur nicht eindeutig sagen, ob er ihnen nun wirklich helfen wollte oder für den Sturm sogar verantwortlich war. Sie selbst wusste es. Aber ein Außenstehender…

So langsam verstand sie, weshalb die Menschen solch eine Angst vor den Dämonen und dadurch auch den Dämonenverbundenen hatten. Diese Erkenntnis, was für eine Macht sie hatten… Wie leicht sie Leute damit verletzen oder gar töten könnten…

Öznur ertappte sich selbst bei diesen Gedanken. So attraktiv Eagle war, so sehr sie ihn auch liebte… Diese Gestalt von ihm, ihn so zu sehen, das machte ihr einfach Angst.

Aber gleichzeitig stellte sie besorgt fest, dass der Versuch diesen Sturm einzudämmen extrem an Eagles Kräften zehrte. Er biss die Zähne zusammen uns setzte noch etwas mehr Energie frei. Und tatsächlich. Öznur war sich sicher, dass es keine Einbildung war. Der Wind wurde schwächer. Langsam, ganz langsam verlor er an Kraft.

Fast so wie beim Armdrücken, wenn erst die eine Seite die Oberhand hatte, dann die andere, schließlich wieder die eine und plötzlich, mit einem Schlag, war alles weg. Windstille.

Ungläubig starrte Öznur in den immer noch schwarzen Himmel. Doch nun waren dort nur noch Wolken. Keine Blätter, keine Äste, keine Steine… Sondern einfach nur dunkle Wolken.

Sie hörte ein schwaches Keuchen und beobachtete besorgt, wie Eagle kraftlos auf den Boden sackte.

Hastig kniete sie sich vor ihn und strich ihm etwas von dem Schweiß von der Stirn, der ihm in Strömen über das Gesicht lief. „Geht’s?“

„Gib mir ‘nen Moment…“, antwortete Eagle nur, mit besorgniserregender schwacher Stimme. Er schien es noch nicht einmal zu schaffen die Dämonenform länger aufrechtzuerhalten. Mit einer angenehm kühlen Brise, begleitet von einzelnen Federn die um sie tanzten, verschwanden die Flügel und die grau lodernde Aura, die Eagle umgeben hatte.

Immer noch etwas in Sorge strich Öznur Eagle wiederholt über die Wange und wartete, bis er einen Teil seiner Kräfte zurückgewonnen hatte.

Schließlich fragte sie verstört: „Was… was war das?“

„Keine Ahnung…“, erwiderte Eagle matt und schaute in den betrügerisch friedlichen und doch düsteren Himmel. „Es schien wie Wind-Energie, aber…“

„Denkst du es war Mars?“ Öznur schauderte. „So wie beim Feuer in Obakemori damals?“

Eagle runzelte die Stirn. „Irgendwie schon und irgendwie nicht… Du konntest das Feuer ja erst dann kontrollieren, als Lissi es mit ihrer Wasser-Energie bereits geschwächt hatte. Aber das hier, das ließ sich…“

„…Sofort kontrollieren?“, vermutete Öznur. Eagle nickte, immer noch ganz schön erschöpft. Behutsam legte Öznur das Hemd über seine Schultern, in der Sorge, dass er bei dem ganzen Schweiß unterkühlen könnte.

Eagle fuhr sich durch seinen kurzen schwarzen Haaransatz und richtete sich seufzend wieder auf, wenn auch mit einiger Anstrengung. „Lass uns schauen, wie es auf dem Campus aussieht.“, schlug er vor und streifte sich das Hemd über, ohne sich die Mühe zu machen es zu verschließen.

Einen Moment lang hielt Öznur inne und atmete erleichtert auf.

„Was ist?“, fragte Eagle verwirrt, doch sie schüttelte nur den Kopf. Sie war einfach froh, dass diese seltsame Angst von vorhin wieder verschwunden war.

Nun stand wieder der attraktive, muskulöse Indigoner vor ihr, der sich gefälligst das Hemd zuknöpfen sollte, damit Öznur nicht die ganze Zeit auf seinen durchtrainierten Körper starren musste.

Darauf bedacht, nicht von Steinen oder sonstigen instabilen Sachen erschlagen zu werden, betraten Eagle und Öznur durch das Loch in der Mauer den Campus.

Eagle verzog das Gesicht, als auch er die magische Kuppel bemerkte. „Will ich wissen, was das ist?“

„Müsste die Magiebarriere sein.“, vermutete Öznur. „Der Direktor wollte mit den Magiern aus dem dritten Jahr, den Lehrern und Carsten das Schild aufrechterhalten.“

Eagle schien nicht überzeugt. „So wenig ich von Magie auch weiß, aber so sieht für mich kein normaler Schutzschild aus.“

Öznur ahnte schon, was er befürchtete.

Gerade, als sie die blutrote Barriere erreicht hatten, begann sie sich nach und nach in kleinen Wellen aufzulösen, wie ein fallender Vorhang.

Kaum war sie verschwunden, hörte Öznur Eagle auch schon einen indigonischen Fluch ausstoßen. Sie hatte keine Chance mit ihm Schritt zu halten, als er auf einmal losrannte, zur anderen Seite des großen Platzes.

So erschöpft sie durch ihren Marathon vorhin auch war, als Öznur erkannte, wie sich Eagle zu Laura und Ariane kniete, beschleunigte auch sie ihre Schritte so schnell es ging.

Übelkeit und Sorge stiegen in ihr auf, als sie erkannte, wen Laura da an sich drückte. Sie hörte wie das Mädchen unter Tränen die Umstände schilderte und dass sie keine Chance mehr gehabt hatten Carsten aufzuhalten.

Schließlich hatte auch sie die Gruppe erreicht, während Eagle mit leicht panischer Stimme seinen kleinen Bruder dazu aufforderte die Augen auf zu machen. Seine Panik ging direkt auf Öznur über, als sie Carsten genauer betrachten konnte.

Er hatte an sich in letzter Zeit schon besorgniserregend schwach und mager gewirkt. Doch nun… Das Gesicht schien wie eingefallen und was auch immer er für einen Zauber verwendete, um die Wunden von dem Ritual von damals zu verbergen, offensichtlich hatte er seine Wirkung verloren. Selbst wenn die indigonischen Muster der Verbrennungen im Gesicht besser aussahen als vor einer Woche, trugen sie dazu bei, dass der Gesamteindruck umso schlimmer wirkte.

Ohne direkt hinzuschauen deutete Ariane auf Carstens linken Unterarm. „Kann… kann jemand von euch einen Druckverband oder so machen?“

Instinktiv schaute sich Öznur nach Susanne um, doch von ihr fehlte jede Spur. Genauso wie von Anne oder gar Lissi, die eigentlich losgegangen war, um die beiden zu holen.

Umso überraschter beobachtete Öznur, wie Eagle direkt den zerfetzten Teil vom Ärmel von Carstens Schuluniform abriss. Zum Vorschein kam eine tiefe Stichwunde, die beinahe den gesamten Arm durchbohrt zu haben schien.

Eigentlich wollte Öznur nicht hinsehen, doch genauso wenig konnte sie den Blick abwenden. Stattdessen beobachtete sie verstört und auch leicht bewundernd, wie Eagle tatsächlich mit den Stofffetzen und Carstens Bordeaux-roter Uniformkrawatte einen Verband improvisierte, um die Blutung zu stoppen.

Auch Laura schien beeindruckt. „Nicht schlecht…“

„Meine Stiefmutter ist immerhin Ärztin.“, erwiderte Eagle nur, verbissen konzentriert darauf, den eigentlichen Mediziner ihrer Gruppe zu verarzten. „Komm schon, wach endlich auf.“, forderte er Carsten leise auf.

Schweren Herzens kniete sie sich neben Eagle und legte eine Hand auf seinen Rücken, während sie Carsten im Stillen fragte, wie er seinem großen Bruder nur ständig solche Sorgen bereiten konnte.

 
 

~*~

 

Schmerz.

Nichts weiter als Schmerz.

Eigentlich müsste er dieses Gefühl gewöhnt sein und doch war es immer und immer wieder grauenhaft. Seine Aufmerksamkeit war nur darauf beschränkt, gar nicht dazu in der Lage irgendetwas anderes wahrnehmen zu können.

Wieso war er überhaupt noch hier? Wie konnte er noch am Leben sein?

Kaum hatte er sich diese Fragen stellen können, verlor sich Jack erneut in der Tiefe der Bewusstlosigkeit.

 
 

~*~

 

Absolut verzweifelt und besorgt und doch auch beeindruckt beobachtete Laura, wie Eagle Carstens Stichwunde in kürzester Zeit verbunden hatte. Es war definitiv nicht der beste, sterilste Weg, aber immerhin verblutete er so nicht…

Laura biss sich auf die Unterlippe, während sie ihren Griff um Carstens bewusstlosen Körper verstärkte und mit aller Kraft versuchte die Tränen zurückzuhalten. „Warum hast du das nur gemacht?“, fragte sie verbittert.

„Was ist denn hier passiert?“, ertönte hinter ihr die Stimme der Direktorin.

Herr Bôss stieß einen Fluch aus als er die Situation verstand. „Der Junge lernt auch einfach nicht dazu.“

„Scheiße Carsten, wach endlich auf!“, schrie Eagle derweil seinen kleinen Bruder verzweifelt an und auch Laura verlor allmählich ihren Kampf gegen die Tränen.

Derweil kniete sich der Direktor neben Eagle. Eine hellgrün schimmernde Aura umgab seine Hand als er diese über Carstens verwundeten Arm hielt.

Es waren vermutlich keine zwei Minuten und dennoch warteten sie länger und ungeduldiger darauf, dass etwas passierte, als ihnen lieb war.

Begleitet von einem schwachen Schmerzenslaut öffnete Carsten langsam die Augen, was alle Umstehenden erleichtert aufatmen ließ.

Laura wischte sich eine Träne von der Wange. „Alles okay?“, fragte sie ihn, während sich Carsten benommen umschaute. Laura stützte ihn etwas, als er Anstalten machte sich aufzusetzen.

Ein plötzlicher Schmerz ließ ihn zusammenzucken.

„Mach langsam, du bist immer noch verletzt.“, wies Ariane ihn an.

Auch auf ihre Aussage erwiderte Carsten nichts, doch überrascht stellte Laura fest, dass es nicht die Stichwunde am Unterarm zu sein schien, die ihm Schmerzen bereitete. Stattdessen war es die rechte Seite auf Höhe der Rippen, nach der er tastete. Ob das durch die Verbrennungen kam?

Halt nein, das war links gewesen., erinnerte sich Laura verwirrt. Also was…

Bevor sie ihre Gedanken zu Ende führen konnte zuckte sie erschrocken zusammen, als Eagle Carsten an den Schultern packte und schrie: „Was sollte das?! Was hast du dir dabei gedacht?!“

Der grobe Griff und der vorwurfsvolle Ton ließ auch Carsten zusammenschrecken. Die erste richtige Reaktion, die er zeigte.

„Eagle, lass das! Er ist verletzt!“, schrie Öznur.

Doch Eagle ignorierte sie. „Was zum Teufel ist los mit dir, dass du ständig so lebensmüde Aktionen startest?! Ist dir egal, was die schwarze Magie mit dir anstellt?! Willst du das?!? Willst du den Verstand verlieren?!“

„Lass ihn doch erstmal zu sich kommen.“, wies nun auch Ariane ihn zurecht.

„Nehmt ihr ihn auch noch in Schutz?!“, fragte Eagle vorwurfsvoll. „Ist das okay für euch, dass er jede Gelegenheit sucht sich Schaden zuzufügen?!?“

„Nein! Aber- aber du musst ihn doch nicht so anschreien!“ Öznur versuchte ihn von Carsten wegzuzerren, doch er schüttelte sie nur grob ab.

Besorgt bemerkte Laura, wie Carsten die Augen zusammengekniffen hatte und am ganzen Körper zitterte. Fast schon so als hätte er…

„Eagle, bitte beruhige dich! Du machst ihm Angst!“, versuchte sie an seine fürsorgliche Seite zu appellieren.

„Angst?!? Das nennst du Angst?! Ich sag dir mal, was Angst ist! Angst ist, die ganze Zeit in der Sorge zu leben, dass ein gewisser Jemand sich wegen dieser verfickten schwarzen Magie umzubringen droht!!!“

Eingeschüchtert wandte sich Laura ab, während ihr wieder Tränen in die Augen schossen. Natürlich verstand sie Eagle. Auch sie hatte diese Angst. Insgeheim. Die Angst, dass die Folgen der schwarzen Magie eines Tages zu schlimm wurden. Und dass sie Carsten nicht mehr davor würden beschützen können. Diese unsagbare, lähmende Angst, dass es ihn zerreißen könnte.

Aber…

Befangen beobachtete Laura, wie Carsten immer noch am ganzen Körper zitternd die Schimpftirade seines großen Bruders über sich ergehen ließ. Er zeigte nicht die geringste Form der Gegenwehr, beinahe, als wäre er gar nicht dazu in der Lage.

Während Öznur aufgebracht und Ariane etwas ruhiger versuchten Eagle davon abzubringen so auszurasten, realisierte Laura es.

Carsten zeigte keine Gegenwehr, da er wie gefangen in dieser Situation war. Die Angst schien ihn daran zu hindern, irgendwie handeln zu können. Und die Art, wie er die Augen zusammengekniffen hatte… Es war fast so als würde er den Schlag ins Gesicht schon erwarten. Nicht nur Worte, sondern einen physischen Schlag.

Und da verstand Laura.

Die Bilder von damals waren so schockierend, so prägend gewesen, dass sie sie trotz ihrer jungen Jahre nie hatte vergessen können.

Sie war noch keine vier Jahre alt und zum ersten Mal in Indigo gewesen. Es wirkte auf sie fast so als befände sie sich in einer anderen Welt. Die hübschen bunten Tipis, die Leute mit der dunklen Hautfarbe und den langen schwarzen Haaren, so etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Während O-Too-Sama mit ihrer Mutter und ihren älteren Geschwistern Höflichkeiten mit den Anwohnern ausgetauscht hatte, war Laura getrieben von Entdeckerlust auf eine kleine Tour gegangen. Natürlich nicht ohne Begleitung von Benni, der damals bereits fünf war.

Sie waren gerade auf dem zentralen Platz am Marterpfahl angekommen, als ihnen eine Gruppe Kinder auffiel, nicht viel älter als sie selbst.

Die Gruppe lachte ausgelassen und im ersten Moment dachte Laura, dass das Spiel wohl ziemlich viel Spaß machte, was sie da gerade spielten. Doch als Laura und Benni ihnen näher kamen, als sie die Situation genauer erkennen konnten, war es auf einmal nicht mehr lustig.

Die Gruppe, allesamt Jungs, standen um einen weiteren kleinen Jungen der auf dem Boden lag. Obwohl er die Arme zum Schutz vor dem Gesicht hatte konnte Laura erkennen, dass er weinte. Vor Angst, Schmerz, Trauer, irgendetwas davon oder alles zusammen.

Der größte Junge verpasste ihm einen so schmerzhaft wirkenden Tritt gegen die rechten Rippen, dass Laura automatisch selbst zusammenzuckte als habe man sie getreten.

„Lasst ihn in Ruhe!“, hatte sie aus voller Kehle geschrien. Etwa zeitgleich war Benni losgerannt.

Der größere Indigonerjunge hatte schon zum Schlag ausgeholt, doch genau in dem Moment war Benni bei ihnen angekommen und blockte den Angriff ab.

Auch Laura rannte auf die Gruppe zu, wenn auch nicht so schnell wie Benni. In der Zeit hatte Benni den Angreifer bereits zurückgestoßen und sich zwischen ihn und dem am Boden kauernden Jungen gestellt. Es kam zu einem kleinen Kampf, aus dem Benni aber nach nicht einmal drei Sekunden schon als Gewinner hervorging. Selbst wenn der ältere Indigonerjunge Kampfkünstler war, Benni hatte dank Eufelia-Sensei jetzt schon zigmal mehr Kampferfahrung sammeln können als er.

Als Laura sie schließlich erreicht hatte, nahm die Gruppe bereits Reißaus.

Ohne sie weiter zu beachten wandte Benni sich dem am Boden liegenden Jungen zu. „Bist du verletzt?“

Schniefend wischte sich dieser mit dem Arm über die Augen, schüttelte aber den Kopf.

Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern Indigos waren es nicht die pechschwarzen, etwas längeren Haare oder die dunkle Hautfarbe, die ihr bei ihm als erstes auffielen. Nein, es waren die lila Augen, von denen irgendwie ein magisches Leuchten auszugehen schien.

„Kannst du aufstehen?“, erkundigte sich Benni derweil.

Als der Junge nicht reagierte, hielt Benni ihm die Hand entgegen.

Laura hätte damals fast losgeweint, als der kleine Indigonerjunge ungläubig zu Benni hochgeschaut hatte. Beinahe als könne er es nicht glauben, dass jemand ihm einfach so auf die Beine helfen wollte.

Er hatte deutlich gezögert. Vielleicht hatte er einen Moment lang sogar Angst gehabt, Benni würde die Hand zurückziehen und genauso hämisch lachen wie die Gruppe zuvor gelacht hatte.

Doch Benni, bekannt für seine engelsgleiche Geduld, hatte einfach nur gewartet.

Und schließlich ergriff der kleine Indigoner die Hand und ließ sich aufhelfen.

Mit abgewandtem und beschämtem Blick nuschelte er ein schwaches „Danke“.

Laura kannte diesen Tonfall von sich selbst, wenn sie gezwungen war mit irgendwelchen fremden Leuten zu reden. Wie schwierig es war, ihnen in die Augen zu schauen.

Um ihm die Situation etwas zu erleichtern nahm sie seine Hand und lächelte ihn ermutigend an. „Ich bin Laura und das ist Benni. Wie heißt du?“

Es dauerte einen Moment, doch schließlich überwand der Junge seine Schüchternheit und schaffte es, ihnen in die Augen zu schauen. „Carsten.“

Blinzelnd kehrte Laura in die Gegenwart zurück, während Eagle immer noch seinem kleinen Bruder einen Vorwurf nach dem nächsten machte. Er hatte ihn immer noch an den Schultern gepackt und schüttelte ihn, als könne er so den Wahnsinn aus Carsten heraustreiben.

Und trotzdem zeigte Carsten nicht den leisesten Ansatz einer Gegenwehr. Er wirkte wie der kleine Junge von damals, der das alles einfach über sich ergehen ließ.

„Lass ihn in Ruhe!“, schrie Laura. Sie packte Eagle an den Armen und versuchte ihn dazu zu bringen, Carsten endlich loszulassen.

„Halt dich da raus!“, wies Eagle sie an. Natürlich hatte sie keine Chance gegen seine körperliche Stärke.

Verbissen sandte Laura etwas Finster-Energie in ihre Hände. Nicht viel, aber genug um etwas von seiner Kraft zu absorbieren und Eagles Griff zu schwächen. Laura stieß ihn zurück und stellte sich zwischen die Brüder. „Merkst du nicht, dass du das alles gerade nur noch schlimmer machst?!“

Verärgert aber auch leicht verwirrt erwiderte er ihren Blick. „Wovon zum Henker redest du?“

Eagle wollte sich aufrichten, schien aber ziemlich geschwächt. Entweder durch Lauras Finsternis-Energie oder der Tatsache, dass er den Sturm hatte kontrollieren müssen.

Öznur stützte ihren Freund etwas, hielt Eagle aber gleichzeitig zurück Carsten wieder zu nahe zu kommen. Und auch Ariane legte eine Hand auf seine Schulter als wolle sie ihn von seinem kleinen Bruder fernhalten.

Derweil wandte sich Laura eilig Carsten zu. „Bist du verletzt?“

Ihr bester Freund schwieg weiterhin, doch Laura kam nicht drum herum, in ihm schon wieder den kleinen Jungen von damals zu sehen. Der verletzte Blick in seinen lila Augen ließ ihr Herz schwer werden.

Benni, wo steckst du nur? Carsten braucht dich doch!

Laura schluckte die Tränen herunter. Sie konnte das nicht. Sie konnte nicht die Stütze für Carsten sein, die Benni schon immer gewesen ist. Sie hatte nicht die Kraft dazu. Sie hatte nicht die Ruhe dafür! Sie hatte nicht diese starke Ausstrahlung, der Fels in der Brandung zu sein!

Aber genau das brauchte Carsten. Jetzt mehr denn je.

Laura atmete tief durch und erinnerte sich an Bennis starken Griff. Wie er auch ihr schon so häufig wieder auf die Beine geholfen hatte. Wie er ihr ständig etwas von seiner Kraft gegeben hatte.

Sie warf ihrem besten Freund ein schwaches Lächeln zu und hielt ihm die Hand entgegen. „Kannst du aufstehen?“

Carsten hatte haargenau denselben ungläubigen, verängstigten Blick wie vor über zwölf Jahren. Laura zwang sich die Tränen zurückzuhalten. Einfach zu warten.

Und tatsächlich, endlich, genauso wie damals, streckte Carsten schließlich die Hand aus. Dank ihrer Kampfkünstlerstärke hatte Laura keine großen Probleme ihm auf die Beine zu helfen. Doch sie merkte trotzdem, wie wenig Carsten von seinem eigenen Gewicht tragen konnte. Wie schwach er war.

Von weiter entfernt meinte Laura schnelle Schritte auf die Gruppe zukommen zu hören, doch sie beachtete sie nicht weiter. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem besten Freund, der ihrem Blick wie früher leicht verängstigt und ungewohnt verschüchtert auswich.

Lauras Gedanken überschlugen sich. Das konnte kein Zufall sein, er verhielt sich viel zu sehr so wie damals.

Sie hatte beinahe schon Angst vor dem was passieren würde, als sie sich schließlich dazu durchrang seine Hand zu nehmen.

Carsten blinzelte mehrmals, bis seine lila Augen die ihre fanden. „… Laura?“

Es war unheimlich zu beobachten, wie sich Carstens Mimik veränderte. Erst noch der eingeschüchterte Blick, der sich allmählich in Unglauben und schließlich Erkenntnis und Entsetzen wandelte. Seine Stimme war kaum mehr als ein schauderndes Flüstern. „Was passiert mit mir?“

Sofort nahm Laura Carsten in die Arme.

„Was geht hier vor sich?“ Seine Stimme brach und zitternd klammerte Carsten sich an sie.

Sie wussten es beide. Laura hatte sich nur an damals erinnert doch Carsten, Carsten hatte sich in dieser Situation befunden. Er war wieder der kleine Junge gewesen, der von seinem großen Bruder gedemütigt und schikaniert wurde. Und zwar nicht einfach nur als Erinnerung. In dem Moment war es für Carsten die Realität.

War schwarze Magie wirklich zu so etwas in der Lage? Hatte sie die Macht solche Wahnvorstellungen auszulösen?!

Sie hatten ihre Antwort.

Laura biss sich auf die Unterlippe und verstärkte die Umarmung, während diese Erkenntnis Carsten mit voller Wucht traf. Wie er nun selbst realisierte, was da in seinem Kopf vor sich ging. Laura kamen selbst die Tränen, während sich Carsten zitternd und weinend an sie krallte, als sei sie zur Zeit der einzige Bezug zum Hier und Jetzt, den er noch hatte.

„Ich bin hier. Es ist alles gut, ich bin doch hier.“, redete sie auf ihren besten Freund ein und hatte gleichzeitig keine Ahnung, was sie sonst machen konnte außer ihm über die Haare zu streichen und ihm irgendwie zu vermitteln, dass das hier die Realität, die echte Realität war.

Es verstrichen unendlich viele Minuten, in denen sich Carsten einfach gar nicht beruhigen konnte. Ansonsten herrschte Schweigen. Vermutlich wusste der Rest noch nicht einmal, was los war.

Laura war absolut verzweifelt. Ihr war in letzter Zeit an sich schon immer zum Weinen zumute, wenn sich die Auswirkungen von all dem was gerade vor sich ging bei Carsten zeigten. Doch jetzt… Jetzt wurde es zu viel. Auch für sie.

Sie schluchzte und drückte ihn noch fester an sich. „Das wird schon wieder, Carsten. Versprochen!“

 
 

~*~

 

‚Komm schon, wach auf!‘

Eine Stimme, beinahe wie ein Echo. So weit entfernt. Viel näher waren die Qualen. Das Gefühl, von einem lodernden Feuer verschlungen zu werden.

Doch irgendwo dahinter…

Er spürte eine Hand auf seiner rechten Schulter. Die Berührung war zu sanft um real zu sein.

Jack gab ein schmerzverzerrtes Stöhnen von sich und versuchte blinzelnd die Augen zu öffnen. Über sich erkannte er eine Gestalt. Verschwommen realisierte er die blonden langen Haare mit dem Pony, die das Gesicht rahmten.

Janine?

Nach und nach schärfte sich seine Sicht und überlagerte das Bild seiner Vorstellung. Die eisblauen Augen bekamen einen grün-braun-Ton. Die Nase wurde ein bisschen stupsiger. Die Gesichtsform wurde rundlicher, wirkte jünger.

„Johanna?“, fragte Jack matt.

Arianes kleine Schwester atmete erleichtert auf. „Zum Glück bist du wach.“ Etwas lauter rief sie: „Er ist aufgewacht!“

„Das hilft uns auch nicht weiter!“, dröhnte eine weitere Mädchenstimme in seinen Ohren.

„Zocker-Onkel, wir brauchen Hilfe!“, schrie eine hohe aber weniger mädchenhafte Stimme.

Jack selbst hatte nicht die Energie den Inhalt dieser Worte zu verarbeiten. Sie waren für ihn nur ein seltsamer Wirrwarr aus verschiedenen Lauten und Tönen.

Er schloss die Augen, verlor sich beinahe wieder in der Finsternis aus Feuer und Schmerz. Doch Johannas energisches Rütteln und ihr „Komm zu dir!“ verhinderte dies.

Die plötzliche Bewegung ließ einen grauenhaften Schmerz durch seinen Körper zucken, ausgehend von seiner linken Schulter. Erneut drang ein heiserer Schmerzenslaut aus Jacks Kehle. Was zum Teufel…

Benommen tastete er nach der brennenden Stelle, zuckte aber sofort zusammen. Dennoch bemerkte er das Blut, das an seinen Fingern kleben blieb.

Während Jack die rote Färbung seiner Hand betrachtete bemerkte er, dass er wohl ziemlich viel Glück im Unglück gehabt haben musste. In dieser Situation hätte Mars ihn unter Garantie nicht mit dem Leben davonkommen lassen. Und er selbst hätte noch weniger die Kraft dazu gehabt, ums Überleben zu kämpfen.

„Ich schulde dir was, Max.“ Keuchend aber erfolglos versuchte Jack sich aufzurichten.

Irgendwie überlagerte dieser Schmerz in seiner linken Schulter alles andere, selbst das fast schon beängstigende Taubheitsgefühl in seinen Beinen oder seinem rechten Arm.

Allmählich nahm er irgendeine störende Geräuschkulisse im Hintergrund wahr, doch er hatte immer noch nicht die Energie dazu ihr oder dem Rest Beachtung zu schenken.

Er schaute sich so gut es ging um, wobei er sich so wenig wie möglich zu bewegen versuchte. Als erstes fiel ihm der dunkle, wolkenverhangene Himmel in die Augen.

Was ein Kackwetter, hoffentlich fängt es nicht gleich an zu regnen.

Doch die Wiese auf der er lag fühlte sich weitgehend trocken an. Insofern er neben all den Qualen noch was anderes spüren konnte. Sogar der verbesserte Tastsinn schien wie eingeschlafen.

Mit etwas Mühe wandte er den Kopf nach links, doch bis auf die Tatsache, dass Johanna neben ihm kniete, konnte Jack ansonsten nur Grau und Gestrüpp sehen. Also prüfte er die Seite rechts von sich. Dort meinte er Sakura zu erkennen, die Sultana stützte und…

„Max?“

Ein Schauder durchfuhr Jack, eine unsichtbare Macht presste ihm die Luft aus den Lungen. Obwohl seine linke Schulter lautstark protestierte, stemmte er sich hoch. Sein rechter Arm weigerte sich, die Last zu tragen und doch stützte Jack sich auf ihm ab als er sich auf die Seite hievte, wo Max wenige Zentimeter entfernt neben ihm lag. Mühevoll brachte Jack sich in eine halbwegs sitzende Position.

„Alles okay?“, fragte er, die Stimme rau von all der Belastung, der sein Körper die letzten 24 Stunden ausgesetzt war.

Noch während Jack die Hand nach ihm ausstreckte, um ihn wach zu rütteln, hielt er geschockt inne. Unter ihm färbte irgendetwas das Gras dunkel. Zerrissene Kleidung, deren Ausläufe mit Blut getränkt waren. Ein Loch in Höhe der Stelle, wo sich das Herz befand.

Sakura sagte irgendetwas, doch er hörte sie nicht. Diese seltsame Geräuschkulisse schien verschwunden. Jack hörte nichts. Er spürte nichts. Gar nichts. Keinen Herzschlag.

„… Max?“ Es erforderte beängstigend viel Kraft, ihn auf den Rücken zu drehen. Der Körper schien schlaff. Leblos.

Jack erinnerte sich. Er hatte es mit letzter Kraft geschafft das Portal zu schließen. Doch davor… Da hatte er zwei Schüsse gehört.

„Komm Max, verarsch mich nicht.“ Jack biss die Zähne zusammen. „Du warst doch so froh, endlich wieder du selbst sein zu können…“

Keine Reaktion. Nichts. Nur himmelblaue Augen, die nach oben schauten. In eine unendliche Ferne, weit hinter die schwarze Wolkendecke.

Jack ballte die zitternden Hände zu Fäusten. „Du hast es doch kaum erwarten können, wieder nach Hause zu kommen…“

Das konnte nicht sein. Das war nicht fair! Max war frei gewesen! Er hatte es fast geschafft!!! Nur, weil er sich umgedreht hatte! Weil er ihm geholfen hatte! Jack war derjenige, der hätte sterben sollen!!!

Jacks Augen begannen zu brennen, seine Sicht verschwamm allmählich. „…Das ist nicht fair…“

Schon wieder! Schon wieder war jemand gestorben, weil er ihn beschützen wollte!

Schon wieder war jemand gestorben, den Jack hatte beschützen wollen!

Seine Fingernägel bohrten sich in das Fleisch der Handflächen. „Ich will nicht mehr.“

Jack richtete sich auf. Die Verletzungen nahm er gar nicht mehr wahr, so sehr übernahmen Trauer, Zorn und Frust seine Wahrnehmung.

Er kannte dieses Gefühl. Nur zu gut.

Der Schuss hallte in seinen Ohren. Er spürte Erschütterungen durch den Boden wandern. Er ging auf die Ursache davon zu.

Jack sah nichts. Er spürte nur. Er spürte eine gewaltige Mauer, die sich vor ihnen auftat und den Weg versperrte. Eine Mauer aus Werwölfen, Vampiren, Zombies und weiteren widerlichen Ausgeburten der Unterwelt.

Vor der Wand standen zwei Personen, die irgendwie zu verhindern versuchten, dass sie die Gruppe überrollte.

Eine kochende Aura in loderndem Orange umgab Jack, als er auf diese Wand zuging. „Ich bin es leid, machtlos zu sein.“

Janine und Johannes schlugen sich tapfer, doch eine so gewaltige Übermacht konnte selbst Eis-Energie und Kampfmagie zusammen nicht lange aufhalten.

Jacks Körper zitterte vor Wut. Mit ihm zitterte die Erde.

Die Unterweltler erstarrten in ihren Bewegungen.

Das Beben wurde stärker.

Jack schob Johannes und Janine zur Seite, bis er zwischen ihnen und der Wand an Monstern stand. Kreaturen, deren genaue Position er kannte. Die er genau voneinander unterscheiden konnte.

Eines der Wesen erkannte in. „Jack?“

Er spürte, wie das Blut langsam seinen linken Arm hinunterfloss.

„Ich hab die Schnauze voll.“

Das Blut erreichte die Spitze seiner Finger, ein Tropfen fiel.

Das Beben hörte ruckartig auf.

Der Bluttropfen berührte die Erde. Gleichzeitig ballte Jack die Hand zur Faust.

Spitze Steine schossen aus dem Boden, genau an der Stelle, wo die Unterweltler standen. Nicht mehr, nicht weniger.

Jeder wurde aufgespießt. Kein einziger überlebte.

Entfernt hörte er eines der Mädchen aufkreischen. Das brachte ihn zurück, raus aus der Trance von Zorn, Frustration und Selbsthass.

Jack spürte, wie die Energie ihn verließ. Keuchend sackte er auf den Boden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Regina_Regenbogen
2021-02-20T22:21:45+00:00 20.02.2021 23:21
😭😭😭😭😭 Das Kapitel war wieder heftig. Ich fürchte das muss ich erst verarbeiten. Oh Mann.

Es war schön Susanne und Anne zu erleben und dass Susanne sehr viel schneller Gefühle für Anne entwickelt, als ich dachte. ❤ Und endlich macht Susanne wieder was anstatt sich nur noch zu verkriechen.
Ich habe ja den Eindruck, Lissi liebt nur Susanne wirklich, aber voll schön, dass man in der Erinnerung sieht, dass Lissi viel reifer ist als sie sonst zeigt.
Oh, mein Carsten! 😭 Ich kann Eagle ja verstehen, aber das hilft halt nicht. Ich fand es so cool, wie Laura hier wieder über sich hinausgewachsen ist! Und die Erinnerung war auch schön eingearbeitet und wie die Schwarze Magie Carsten totale Flashbacks beschert. :'(
Max 😭😭😭😭 Oh Mann, ich konnte so mit Jack mitfühlen. Das war echt so traurig. Mir fehlen gerade die Worte. Ich brauche noch Zeit, um das auf die Reihe zu kriegen.
Aber cool, wie Jack trotz völliger körperlicher Schwäche noch seine Kraft einsetzen konnte. Sehr beeindruckend.
Antwort von:  RukaHimenoshi
21.02.2021 13:16
Aaah, es tut mir so leid und gleichzeitig bin ich auch wieder froh, wie dich das mitnehmen konnte... o(TヘTo) ^^"
Das mit Max tat mir auch so leid, da man ja nur wenig Gelegenheit hatte, sein wahres Ich zu sehen und man aber trotzdem schon weiß, dass er eigentlich eine richtig tolle Persönlichkeit ist. Noch dazu ist er auch mein "jüngstes Opfer" mit seinen 18 Jahren, was halt auch nochmal krass ist. ≧ ﹏ ≦
Ja, Jack ist diesbezüglich wahnsinnig stark. Auch im Teil 1 wo er die Knochen gerichtet hat. Er kann seine Grenzen extrem überschreiten, wenn er das will.

Ich glaube, Susi hatte unterschwellig schon früher romantische Gefühle für Anne entwickelt (z.B. wo sie sie getröstet hat, als sie nach Janine gesucht hatten) aber so eine Form der Nähe wo Anne auch mal ihre sanfte Seite zeigt, dürften sie bisher eigentlich nicht gehabt haben. (Wie auch, bei ANNE?! XD)
Und ja, Lissi ist einfach die Queen. ;) Aber ihre Gefühlswelt ist wirklich unergründlich. Ich finde das eigentlich ganz cool, dass niemand so wirklich blickt, was sich bei ihr unter der Oberfläche befindet. °o°

Die Szene von Carsten zu schreiben tat mir auch im Herzen weh. Ich heule immer noch fast los, wenn ich Lauras Rückblick lese und man erfährt, wie sie und Benni ihn eigentlich kennengelernt haben... ^^" (Schön, wie man sich mit seiner eigenen Geschichte zum Weinen bringen kann... :'D)
Für Eagle war das auch nochmal ne richtig dämliche Situation, denn so nachvollziehbar sein Ausbruch der Verzweiflung auch ist, er hat es dadurch nur noch schlimmer gemacht, da er ja damals der "Täter" war. T~T
Antwort von:  Regina_Regenbogen
21.02.2021 15:25
Alles gut, ich weiß ja, dass jetzt das Finale kommt und es da Opfer geben wird. Finde es auch toll, wie du das rüberbringst und wie sehr man mitfiebert.
Und Jack ist einfach beeindruckend!
Stimmt, Susi hat damals schon sehr viel Nähe zu Anne hergestellt.
Ach, das war so süß, wie Anne ihr das Haar weg gestrichen hat. :D
Ja, das ist an Lissi wirklich besonders beeindruckend. Sie ist so undurchsichtig.
Und finde es auch gut, dass eben noch mal vorkam, dass Eagle eben ein richtiger Mistkerl war und das eben durch die Schwarze Magie für Carsten gerade richtig schwer ist.

Die eigene Geschichte ist richtig gut, wenn man selbst auch dabei weint. :D


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