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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
»I don’t have time to be swayed by emotions. I must go to fulfill the destiny of my cursed blood.«
– Jin (Tekken 5) Komplett anzeigen

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Akt XII: Aus den Tiefen - 16-1

16-1: JIN
 

Jin wusste nur noch, dass seine Muskeln gekrampft hatten wie unter Strom. Der Atlantik konnte nur drei oder vier Grad warm sein. Die Kälte hatte ihn und Yuri buchstäblich schockgefrostet.

Aber sie hatte auch die Dämonen vertrieben. Die beiden Wesen, die sich ihrer Körper bemächtigt hatten und dabei gewesen waren, einen Kampf auf Leben und Tod an Aberystwyths Kai auszutragen.

Jins Erinnerung an alles, was danach kam, war mehr als lückenhaft. Er wusste, dass sie irgendwann das Wasser wieder durchstoßen und ihre Lungen mit nicht weniger eisiger Luft gefüllt hatten. Jin hatte das befestigte Ufer gesehen – den im Licht glänzenden Sand vor der Promenade, irgendwo, zu weit entfernt. Dann war ein Schatten über ihm gewesen. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht, und dann hatten zwei Hände Jin unsanft an den Schultern gepackt und aus dem Wasser gerissen wie ein Fischadler seine Beute. Plötzlich war er am Ufer, wurde grob auf den nassen Beton geworfen, wo er unkontrolliert fröstelte wie im Fieber. Einen Moment später war Yuri neben ihm, genauso nass und kältestarr. Der Schatten, der sie gerettet hatte, stob geräuschvoll davon. Nichts als Kälte und Dunkelheit umgaben sie.

Später war Jin noch einmal ganz kurz zu sich gekommen, als er auf etwas Lärmendem lag, einer holpernden, dröhnenden Unterlage. Etwas lag über ihm, aber er wusste nicht was, da sein Leib nichts fühlte. An seinem Handgelenk war etwas Warmes – die Hand eines Menschen, mit festem, aber vorsichtigem Griff. Jin wähnte sich außer Gefahr, zumindest in diesem Moment. Dann versank alles wieder im Nichts.
 

Diesmal war sein Erwachen endgültig und stabil. Er schlug die Augen auf und sah … Dante. Was nicht allzu überraschend war, wenn Jin darüber nachdachte – wer sonst hätte sie schnell genug aus dem Wasser fischen und von dort wegbringen können? Der Teufelsjäger saß in einem grau bezogenen Sessel, die Hände hinter dem Nacken, und döste. Sein Mantel war über der Brust aufgeschlagen, das schwarze Shirt darunter hatte nasse Flecken. Meerwasser, höchstvermutlich.

Jin war schwindelig. Sein Körper fühlte sich wie ein Stein an, die Glieder lahm und schlaff. Er verstand, dass er Unmengen an Energie verloren hatte – erst durch Devils Übernahme und sein Kämpfen, dann durch die panischen Versuche seines Körpers, die Temperatur zu halten. Es war kein Wunder, dass er völlig am Ende war.

Er sah sich in dem Raum um: Sie waren nicht im Seaside, auch nicht in Rogers Versteck, sondern in irgendeinem Wohnzimmer. Die Wände waren in hellem Beige gestrichen, ein paar berahmte Druckereien mit Meeresmotiven zierten sie hier und dort. Eine kronleuchterähnliche Deckenlampe brannte über ihnen. Jin lag auf einem grauen Diwan, und als er vorsichtig den Kopf zur anderen Seite drehte, entdeckte er Yuri direkt neben sich. Sie lagen beide unter derselben riesigen braunen Decke und wärmten sich gegenseitig. Normalerweise wäre Jin so viel Nähe unangenehm gewesen, doch im Moment hatte er keine Kraft, sich daran zu stören. Immerhin lebte er noch, und jetzt musste er verarbeiten, dass er zuerst von Yuri und gleich danach offenbar von Dante gerettet worden war. Wie lebensunfähig er doch war, seit Sarris Azazel auf ihn aufmerksam gemacht hatte; zu viele Situationen seitdem, die ihn überforderten und Devils Gewalt aussetzten.

Yuri neben ihm stöhnte und rieb sich die Augen. »Oh, was für ’ne Kacke.«

Jin wandte sich wieder nach Dante um und bemerkte, dass dieser sie inzwischen beobachtete. »So«, sagte er nun, räkelte sich und kreuzte die Arme über dem Bauch. »Haben eure Mütter euch nicht beigebracht, dass man nach dem Essen nicht schwimmen geht?«

»Wir brauchen jetzt keine Sprüche«, murrte Yuri.

»Nein, ihr braucht Tritte. Ich hätte nicht übel Lust, das zu übernehmen. Was zur Hölle stimmt mit euch nicht?«

Jin war zu müde, um sich zu rechtfertigen.

»Halt bloß den Rand«, brummte Yuri. »Wir mussten eine Katastrophe verhindern.«

Dante gab einen abschätzigen Laut von sich, der wie »Tse« klang, und raffte sich träge aus dem Sessel hoch.

»Wo sind wir?«, stellte Jin diejenige Frage, die ihn gerade am meisten beschäftigte.

»Bei Rhys.«

»Bei Rhys?«

»Wo denn sonst, Superheld? Wo hätte ich euch hinbringen können? Zwei Dinge qualifizieren Rhys als den einzigen in Frage kommenden Komplizen: Er weiß bescheid. Er hat einen Pickup. Er wohnt nicht weit weg. Oh, das waren drei Dinge.« Dante streckte sich und trottete Richtung Zimmertür.

»Warte! Wo ist Rhys?«

»Na, arbeiten. Unten.«

»Wie hast du uns hierhergebracht?« Jin erinnerte sich an den Schatten, der ihn gepackt und an Land gestoßen hatte. »Hast du deinen … Devil Trigger benutzt?«

Dante schaute über die Schulter. »Ja, natürlich. Sei froh. Euch zusammen ins Wasser plumpsen zu sehen hat mir genug Adrenalin verpasst, ganz ohne Kampf.«

»Und dann hast du …«

»Dann bin ich zu Rhys, hab ihn in seinen Pickup geschmissen und ihn dazu gebracht, euch einzusammeln. Was glaubst du, wie viel Zeit man hat, bevor bei solchen Temperaturen jemand den Löffel abgibt?«

»Ich weiß es nicht«, gab Jin zu.

»Tja, ich auch nicht.« Dante zuckte die Schultern und verschwand durch die Tür.

Jin drehte sich wieder zu Yuri um, was ihn mehr Mühe kostete als erwartet. Zwischen ihnen war die Wärme konzentriert, weil ihre Körper immer noch heizten; Jin wusste, dass er sofort frieren würde, wenn es wagte, die Decke von sich zu schieben. Ihre müden Blicke trafen sich.

»Tut mir leid«, brummte Yuri.

»Du hast alles richtig gemacht.«

»Quatsch.« Er zog die Nase hoch, und es klang, als wäre noch reichlich Wasser darin. »Ich hätte wissen müssen, dass er das machen würde. Du hast uns gesagt, dass er das kann, wie Azazel. Und Devil Jin ist viel stärker geworden, er bekommt immer mehr Kraft von Azazel. Ich hab ihn unterschätzt.«

»Du bist nicht der Erste, dem das passiert.« Jin horchte in sich hinein und fand dort, voller Bitterkeit, das leise Drängen und Flüstern, von dem er wusste, dass es Devils Lauer war.
 

Dante kehrte mit heißem Tee zurück. Rhys musste ihn sofort nach ihrer Ankunft aufgesetzt haben, denn er hatte schon eine trinkbare Temperatur. Dennoch war Tee Jin noch niemals so heiß im Körper vorgekommen. Um einen Schweißausbruch zu vermeiden, musste er sich nun doch halb aus der Decke befreien und entdeckte mit mildem Erschrecken, dass er – natürlich – nichts anhatte, bis auf ein noch klammes Bettlaken, das um ihn gewickelt worden war. Dasselbe galt offenbar für Yuri, den das jedoch nicht im Mindesten zu stören schien. Er umklammerte seine Tasse wie einen rettenden Strohhalm, die Augen nicht von ihr abwendend.

»Was hat deinen Freund Devil denn diesmal auf die Palme gebracht?«, wollte Dante wissen.

Jin musste kurz darüber nachdenken, so sehr war der simple Grund für ihn schon wieder in die Ferne gerückt. »Es war die Übersetzung«, murmelte er. »Azazel ist gefesselt und vergraben. Deshalb kann er nicht gerufen werden. Wir haben uns gefragt, wer es getan hat. Sarris hatte deinen Vater im Verdacht …«

»Den hatte ich auch im Verdacht«, gab Dante zu. »Würde mehr Sinn ergeben als Devil.«

»Nein, keiner von beiden kommt in Frage. Es …« Jin zuckte zusammen, als ihn wieder ohne jedes Vorzeichen eine Welle von Übelkeit schüttelte. Er spürte Yuris und Dantes alarmiertes Auffahren und beeilte sich, sie zu beruhigen. »Nicht, es ist … in Ordnung«, sagte er und schluckte mühsam. »Er hat es mir gezeigt … Azazel hat … es mich sehen lassen.«

Und wie er das hatte. Erst jetzt erinnerte sich Jin daran, warum sein Widerstand gegen Devil so schnell und haltlos zusammengebrochen war. Wie Azazel seinen Verstand geflutet hatte mit Bildern, mit Visionen, mit Traumfragmenten, die so erschreckend waren, dass Jin sie sofort verdrängt hatte. Jetzt kehrten sie zurück. Er hatte alles gesehen.

Das Gefängnis. Ein Loch unter der Erde, Tausende Fuß tief, lichtlos. Urzeitwürmer krochen dort durch undurchdringliche Finsternis, Wesen ohne Augen und Ohren. Tote Körper zersetzten sich seit Jahrhunderten zu Ölen und Gasen, ihre Seelen glitten namenlos vorüber. Jin kannte keines dieser Geschöpfe, sie gehörten in ein präevolutionäres Äon, das die Menschheit nie entdeckt hatte; nichts, das dort unten lag, hatte jemals ein Mensch erblickt oder erträumt. Der, der Azazel dort hinuntergestoßen hatte, thronte über ihm in einem schwarzen Universum; ein Raum, der sich von Himmel und Erde trennte, in dem nur Sterne glühten und Staub umherwirbelte. Er hatte Flügel aus Marmor und trug ein Schwert so lang wie er selbst. Seine Stimme war ein Donner ohne jedes Echo. Jin sah auch, wo Azazel geboren war: eine schwarze Ebene in einer fernen Welt, wo Gebäude wie Pilze aus dem Boden wuchsen, schief und blasig, Geschwüre mit Aus- und Eingängen. Dampf schwebte zwischen ihnen wie ein giftiger Nebel. Nichts in dieser Welt hatte eine klare Form; keine Linie war gerade, keine schien auch nur in einer einzigen Dimension zu verlaufen; alles war halb hier, halb dort, verschwand und kehrte wieder. Diesen Ort zu sehen hatte Jin bis tief ins Mark mit Entsetzen und Ekel erfüllt. Die Luft roch so tot, so leer, wie ein Fetzen des Weltalls. Dies war die Unterwelt, die Hölle, die Welt der Teufel – ein Ort so wandelbar, fremd und widerwärtig, dass der bloße Anblick einem Menschen den Schweiß auf die Haut und die Panik in den Geist trieb. Schwarze Sonnen, weggefegte Welten … das Ende aller Dinge, der Stillstand aller Zeit …

Jin presste die Hände auf die Augen und würgte, ein krampfartiges, hilfloses Würgen, das nichts hervorbrachte. Zum Glück. Er stöhnte leise. Dies konnte nicht viel schlimmer werden; es nützte schon gar nichts mehr, sich vor Dante und Yuri zu schämen. Er hatte ohnehin jedes Gesicht vor ihnen verloren.

Yuri legte ihm eine Hand auf den schweißfeuchten Rücken. Es war keine willkommene Berührung, aber Jin ertrug sie.

»He, Jin … Wer hat es getan?«

»Mundus.«

Dantes Blick zuckte hoch. »Was

»Mundus hat Azazel versiegelt.«

»Wie – warum?«

Jin versuchte, die Informationen, die auf ihn eingeprasselt waren, in eine Ordnung zu bringen. Mundus war der Herrscher der Unterwelt – seines Teils der Unterwelt –, das wusste Dante selbst am besten. Doch … »Die mächtigen alten Blutlinien kämpfen um die Thronfolge, oder nicht?«

»Kann man so sagen … Den Herrscheranspruch zu vererben funktioniert nicht immer, eben weil es ständig Usurpatoren aus anderen Teufelsgeschlechtern gibt.«

»Azazel war Mundus’ Rivale«, sagte Jin. »Als er den Thron bestieg, hat Azazel ihn herausgefordert. Er war älter als Mundus, Jahrhunderte älter, und sein Anspruch war legitimiert. Er wollte, musste die traditionelle Thronfolge unterbrechen.«

»Nicht ungewöhnlich«, kommentierte Dante, aber Jin bemerkte eine gewisse Anspannung in seiner Stimme.

»Sie kämpften drei Tage ohne Unterbrechung. Sie verwüsteten ganze Landstriche … Und schließlich besiegte Mundus Azazel am Fuße eines Berges aus Knochen. Er spießte ihn einfach auf ein herausragendes Rückgrat und brach seine Macht.« Jin befeuchtete sich die Lippen und merkte, dass sein Unterkiefer leicht zitterte, ohne dass er es verhindern konnte. »Damit hatte er seinen Herrscheranspruch besiegelt. Für dessen Aufsässigkeit verbannte er Azazel in sein Verlies unter der Wüste. Dort hatte Azazel viel Zeit, seine Kräfte zu erneuen, und nun … ist er endlich stark genug …«

»Verstehe«, sagte Dante.

»Tust du das? Du hast Mundus besiegt. Deshalb hatte Devil Angst vor dir. Aber seit er durch das Ritual mit Azazel verbunden ist, kannst du ihn nicht mehr einschüchtern. Im Gegenteil, deine bloße Nähe provoziert ihn.« Sie tat es auch jetzt. Jin hatte fortwährend an sich beobachtet, wie er unterbewusst immer wieder passiv-aggressiv auf Dante reagierte, ohne zu wissen warum. Er steuerte weiter dagegen – jetzt umso mehr, da er sich seinen grundlosen Groll auf den Dämonenjäger nun erklären konnte.

»Gut, wenn also ich in deiner Nähe gewesen wäre, hätte er alles daran gesetzt, mich ganz sicher kaltzumachen?«

»Oh, das wollte er mit mir auch machen«, warf Yuri träge ein. »Er weiß auch, wer ich bin.«

Dante lehnte sich wieder in den Sessel und kreuzte die Arme. »Also ist das ein Problem obendrauf. Nicht nur Sarris will Azazel beschwören, sondern Azazel lässt auch keine Gelegenheit aus, den Weg dafür weiter zu ebnen. Durch Devil.«

»Richtig … Wenn wir Sarris aufhalten, egal wie wir das machen, haben wir immer noch das Problem, dass Devil immer stärker wird. Und Jin langsam, aber sicher zu seinem, naja, willenlosen Gefäß macht.«

Jin zog die Decke fester um sich, obwohl ihm heiß war, fast unerträglich heiß. Was Yuri da so lapidar ausgesprochen hatte, war sein Alptraum, eine Aussicht, die er in die dunkelste Ecke seines Verstandes zu verbannen versuchte, weil er es nicht ertragen konnte, sie in vollem Licht zu sehen. Er begriff, dass es keine Fluchtmöglichkeit mehr gab, dass genau das passieren würde, was sein ganzes Sein fürchtete. »Mundus wollte nicht riskieren, je wieder einer Bedrohung durch Azazel ausgesetzt zu sein«, sagte er mit bebender Stimme, unfähig, sich zusammenzunehmen. »Also versiegelte er ihn, genau wie Sparda es später mit Mundus tat. Aber … auch das stärkste Siegel bricht irgendwann.«

Dante nickte mit behutsamer Zustimmung. »Sicher … Sonst hätte Mundus nicht zurückkehren können.«

»Dein Vater erneuerte auch das Siegel um Azazel, als er Mundus einsperrte, und vernichtete alle Hinweise auf den Ort des Kerkers. Doch auch wenn die Fessel lange gehalten hat, wird sie brechen. Das war Zafinas Prophezeiung. Sie existiert nur, weil Kazuya und ich existieren. Versteht ihr, was das bedeutet? Azazel wird zurückkommen – einfach nur, weil es uns gibt! Er hat einmal versucht, die Macht an sich zu reißen, und ist an Mundus gescheitert. Aber wenn er die Welt der Menschen unterwerfen kann … was Mundus nicht geschafft hat … dann kann er die Unterwelt genauso leicht erobern.«

Dante schüttelte den Kopf und fragte verständnislos: »Warum reden wir überhaupt darüber? Wenn er das wirklich wagt, gibt’s ein Rückflugticket!«

»Sei nicht so anmaßend!«, versetzte Jin, weil es ihn wirklich ärgerte. »Du kannst ihn nicht töten, das weißt du. Du kannst ihn genauso wenig töten, wie du Mundus töten konntest.«

Dante ließ die eben noch erhobenen Arme sinken.

Yuri horchte auf. »Wie, du hast den Oberboss gar nicht getötet?«

»Es ist nicht möglich, ihn zu töten«, behauptete Dante. »Ich hab ihn zurück in die Verbannung geschickt, für die nächsten – ich weiß nicht – tausend Jahre.«

»Ach was?«

»Ich kann Azazel töten«, sagte Jin. Seine Stimme klang wieder fester, was ihn allerdings viel Mühe kostete. Im Grunde hatte er genauso viel Angst wie vorher.

»Wie kannst du dir da sicher sein?«, bohrte Dante. »Nur weil Sarris das gesagt hat?«

»Weil es die Wahrheit ist. Ich weiß es. Nur jemand mit dem Teufelsgen kann ihn besiegen. Und ich meine nicht versiegeln; ich meine vernichten

Dante musterte ihn unwillig, wie jemand, der gerade dazu überredet wird, sich eine richtig dumme Ausrede anzuhören. Schließlich ließ er die Schultern fallen und nahm seine übliche gleichgültige Haltung ein. »Okay, von mir aus. Dann sind wir ja in Sicherheit. Du erledigst den Job.«

Einen Moment herrschte brütendes Schweigen. Jin hielt seinen Tee in der Hand, ohne ihn zu trinken, weil ihm dafür einfach zu warm war. Nur der Umstand, dass er nicht mehr als ein Laken am Körper trug, hinderte ihn daran, die Decke ganz abzustreifen.

Schließlich, nach einem Seitenblick auf ihn, stellte Yuri die fällige Frage: »Sind unsere Klamotten okay?«

»Rhys wollte die in den Trockner schmeißen«, sagte Dante. »Was eure Mäntel betrifft, dazu muss ich nichts sagen, oder? Vielleicht hat Roger noch Zwirn. Mit Haaren wird das nämlich nichts.« Dante lächelte zufrieden und strich seinen eigenen über der Brust glatt. »Somit bin ich diesmal der Einzige, der in einem gepflegten und heilen Mantel aus der Sache rausgeht. Wer hätte das gedacht?«
 

Jin war einigermaßen beruhigt, als sein Mantel sich trotz einiger angerissener Nähte noch als tragbar erwies. Solange er nicht auf dem Thron der Zaibatsu Platz nehmen wollte, war diese rein optische Beeinträchtigung für ihn nur von sekundärer Wichtigkeit. Was Yuris Mantel betraf … Der sah nun keinesfalls besser aus als vorher, doch sofern es keinen weiteren Zwischenfall gab, würde er Yuri nicht in vollem Lauf von den Schultern rutschen. In krassem Gegensatz zum Zustand ihrer Kleidung war die Taschenuhr gänzlich unbeeindruckt: Wasser tröpfelte aus ihr, als Dante sie Yuri zurückgab, doch die Zeiger liefen, als wäre ihnen alles andere egal.

Weit schlechter ergangen war es den Seiten der Dschaizan-Abschrift. Jin zog die aneinander haftenden Folios auseinander, um einen ersten Eindruck zu gewinnen, wie es um sie stand. »Man kann die Symbole noch erkennen … aber …«

»… der Dämon, den man beschwören will, braucht eine gute Brille?«

Jins Blick wanderte zum Émigré-Dokument, das als letztes noch auf dem Tisch lag. Auf wundersame Weise zeigte es keinerlei Anzeichen eines Wasserschadens: Das Leder des Einbands war glatt, nirgends aufgeschwemmt, obwohl es sicher niemand liebevoll mit Fett imprägniert hatte; die Seiten zeigten keine Wellung, keine einzige Unleserlichkeit; auch die verstörenden Abbildungen im schwarzseitigen Mittelteil waren gestochen scharf.

Nach kurzem Zögern schob Jin das widerwärtige Buch wieder unter den Mantel. »Gehen wir«, sagte er.
 

Rhys bewirtete Kunden in seinem Schankraum im Erdgeschoss, als die Drei, so vorzeigbar wie irgendmöglich, über die Holztreppe in den abgegrenzten Lagerraum hinter der Theke stiegen. Lärm erklang aus der Stube, vor allem das Gelächter junger, angetrunkener Leute. Sicher: Eine Tagung wurde von Nachwuchswissenschaftlern gerne als Kurzurlaub für diverse Zerstreuungen genutzt. Und was hatte Aberystwyth ansonsten zu bieten?

Dante zog den fleckigen Vorhang beiseite, der den Lagerraum abtrennte, und sie traten hinter dem Tresen vor und durchquerten den Raum zügig, um nicht mehr Aufmerksamkeit zu erregen als nötig. Dantes roter Mantel war allerdings ein Blickfang. Als auch Rhys ihn sah, schien es Jin, als würde der Wirt kurz zusammenzucken, ehe er das angedeutete, grüßende Nicken hastig erwiderte. Jin konnte nur mutmaßen, wie Dante ihn überredet hatte, mit dem Pickup zu Hilfe zu kommen.

»Hast du ihn bedroht?«, fragte er Dante, als die Tür hinter ihnen zugefallen war und sie im Regen standen. »Mit einer Pistole?«

Dantes Schulterzucken zeigte, wenn man genau hinsah, eine Mischung aus betonter Lässigkeit und Verlegenheit. »Ich würde gerne behaupten, ich mache das nicht, aber leider mache ich das«, war seine vieldeutige Antwort.

Sie trotteten durch den Nieselregen zum Seaside, die nächtlichen Straßen leer und lautlos bis auf ein gelegentliches, abnorm hallendes Klappern, das der Wind verursachte. Jin fühlte sich mutlos und erschöpft. Was passiert war, zeigte ihm, dass er sich – wieder einmal – falsche Hoffnungen gemacht hatte. Als er Yuri im Wald begegnet war, hatte er Devil erfolgreich unterdrückt – oder glaubte zumindest, das getan zu haben –, nur um kurz danach am Strand die Lektion erteilt zu bekommen, dass er mitnichten irgendeinen Widerstand gegen den Teufel leisten konnte. Yuri hatte ihn aufgehalten, jedoch nur mit einer äußerst radikalen Maßnahme, die sie Beide leicht das Leben hätte kosten können. Es stimmte: Devil war stärker geworden, deutlich stärker. Am Anfang hatte es noch genügt, ihn kräftig gegen eine Wand zu schmettern oder Ähnliches, um Jin das Bewusstsein und damit Devil die Kontrolle zu rauben. Nun aber ließ er sich nicht mehr gegen Wände schubsen.
 

Es war kurz nach drei Uhr nachts, als sie im Hotel ankamen.

Jin entdeckte einen versäumten Anruf von Nina auf seinem Telefon und beschloss, sich im Laufe des nächsten Tages bei ihr zu melden. Höchstvermutlich war es nur wieder einer ihrer Routineanrufe, um ihn zu fragen, wie es ihm ging, ob er vorankam und ob sie etwas für ihn tun konnte. Möglicherweise wollte sie ihm auch irgendetwas über die Firma erzählen; darüber wollte er nichts hören.

Er stellte sich ein Glas Wasser auf den Nachttisch. Nicht zum Trinken – denn in Britannien war sogar das Regenwasser gechlort –, sondern weil ihn das beruhigte; eine sehr, sehr alte Angewohnheit, seit man ihm beigebracht hatte, dass man an der Oberfläche eines Wasserglases die frühsten Anzeichen eines Erdbebens erkennen kann. Hier hatte er keine Erdbeben zu befürchten, doch trotzdem hatte diese ritualisierte Maßnahme eine versammelnde Wirkung auf ihn. Zu vieles, das ihm durch den Kopf ging und ihn aufwühlte, doch seine körperliche und geistige Energie war am Ende, und er konnte sich nicht damit beschäftigen. Dennoch hing sein Blick lange an den mondbeschienenen Gardinen vor dem Fenster und dem diffusen Schatten, den sie in das Zimmer warfen.
 

Am Morgen traf er die Anderen in der winzigen, natürlich leeren Hotellobby, im Gepäck auch wieder die Schriften, die ebenso wie Jin und Yuri ein unfreiwilliges Bad genommen hatten. Die vierzehn Seiten und das Émigré-Manuskript waren auf der Heizung leidlich getrocknet; letzteres war tatsächlich ohne jeden Schaden geblieben, die losen Pergamentblätter der Dschaizan-Kopie jedoch waren in einem katastrophalen Zustand, gewellt und verwaschen, die Symbole nur noch mühsam erkennbar.

»Vielleicht gibt sich das wieder«, kommentierte Dante sorglos. »Wir lassen sie bei Roger weiter durchtrocknen.«

»Bei Roger trocknet ja auch alles so toll«, brummte Yuri.

Gemeinsam traten sie den Weg zu Roger an. Jin ging voraus, die Schriftstücke sicher in den Taschen.

»Meine Gelenke fühlen sich alle an wie deine Türscharniere«, beklagte sich Yuri auf halbem Weg bei Dante, der das mit einem gönnerhaften Lächeln quittierte.

Jin drehte sich nicht um, musste aber insgeheim zustimmen: Auch sein ganzer Körper fühlte sich steif und wund an, jeder Schritt über das Grasland kostete Mühe. Es regnete nicht mehr, doch der Himmel war ein Brei aus Grautönen, der Boden aufgeweicht und nachgiebig.
 

Roger empfing sie mit einem mürrischen: »Wie schön, dass ihr euch auch mal wieder blicken lasst!« Er trug einen kleinen Morgenrock und bot, wie immer, keinen schönen Anblick.

»Bist du weitergekommen mit der Übersetzung?«, fragte Yuri. »Und wie geht’s Sarris?«

»Sicher, sicher, aber es gibt nicht viel, das wir nicht schon vorher wussten. Und unser Gast … von dem höre und sehe ich nichts.« Roger zuckte die Achseln.

»Du bist aber schon sicher, dass ihn nicht irgendwas da unten gefressen hat?«, erkundigte sich Dante mit zusammengezogenen Brauen.

»Jaah, jaah. Der ist kein Anfänger, der Mann … hat schon diverse Bannkreise angebracht …« Roger wies sie mit der Hand an den Teetisch und fuhr fort: »Im Buch steht nur noch, dass, wer Azazel auf die Erde holen will, zur Stätte seines Gefängnisses gehen und ein Oneirisches Tor erschaffen muss. Von zwei schwarzen Sternen ist dort nicht die Rede, auch nicht davon, dass irgendein Clan von Wächtern dort patrouilliert.«

»Zafina war … sehr überzeugend«, sagte Jin vorsichtig.

»Ja, so überzeugend, dass sie einen Killer für ihn mitgebracht hat«, stimmte Dante zu.

»Vielleicht bewacht sie Azazels Grab ja wirklich.«

»Dazu müsste sie wissen, wo es ist.«

»Wenn es wirklich die Pflicht ihres Clans ist, diesen Ort zu bewachen, dann weiß sie das sehr genau.«

Roger wedelte mit den Händen. »Da wäre eins noch zu ergänzen«, erklärte er, »nämlich dass Azazels Gefängnis nur dann zugänglich wird, wenn … tja, wenn Chaos und Leid auf der Welt groß genug geworden sind.«

In Jins Augen waren Chaos und Leid auf der Welt schon lange groß genug, auch ohne das bemühte Zutun von Sarris. Vielleicht aber hatte es seine Wirkung bereits getan: Wenn negative Energie Azazels Kerkergrab sichtbar machte, dann war es vielleicht schon geschehen – und deshalb war Zafina gekommen, um Jin zu töten. Um zu verhindern, dass Azazel aus den Untiefen von Mundus’ Verlies heraufbeschworen wurde. Wenn er nur herausfinden könnte, ob irgendwo in einer Wüste etwas Unbekanntes aufgetaucht war, irgendein anomales Phänomen, eine spukende Wanderdüne, oder – und ihm graute bei dem Gedanken – ein abstoßendes, unirdisches Gebilde wie diejenigen, die ihm Azazel in seinem Traum gezeigt hatte …

»Jedenfalls ist alles, was der Kerl vorhatte, vergebliche Liebesmüh, richtig?«, fasste Yuri für alle zusammen. »Azazel beschwören geht nur an seiner Grabstätte, nur da entsteht dieses Oneirische Tor.«

»Ja, weil Azazel sich nicht in der Unterwelt aufhält«, bestätigte Roger. »Und um ihm physische Form zu geben und den verbotenen Ort sichtbar zu machen, muss man die Welt mit Chaos überziehen.«

»Aber wie?«, hörte Jin sich fragen. »Das bisschen Unfug, das Sarris mit Dämonen getrieben hat?«

»Unfug? Der Typ hat mir ’ne Menge Ärger gemacht«, bemerkte Dante verstimmt.

»Mag sein, aber genügt das? Hat das Zafina und ihren Clan so nervös gemacht?«

»Nein, das warst du«, berichtigte Yuri. »Du und dein Vater, und dass ihr gekämpft habt. Sarris hat es noch nicht geschafft, Azazels Fesseln zu sprengen, das würdest du merken, meinst du nicht?«

Jin erwiderte den forschenden Blick finster. »Natürlich. Eben das meine ich. Sarris’ Mühen haben ihm nichts genützt, und das weiß er jetzt. Selbst wenn er herausfindet, dass es Mundus ist, dessen Blut er bräuchte, um einen Weg zu Azazel zu schaffen … Was bringt ihm das?«

»Ja, sein Plan B ist ’ne Sackgasse«, stimmte Dante zu.

»Also was müsste man tun, um wirklich so viel negative Energie zu erwirken? Woher kommt diese … Bosheit, die Azazel befreit?«

»Jin.« Yuri schüttelte den Kopf, seine Geduld sichtlich am Limit. »Wir haben darüber geredet, du und ich, und meine Meinung dazu kennst du.«

Natürlich erinnerte sich Jin an Yuris leidenschaftliches Statement bei ihrem gemeinsamen Abendessen vor kurzem. »Du hast Krieg gesagt.«

»Ich kann’s auch noch mal sagen, wenn du’s noch mal hören willst. Es gibt nichts, das schlimmer ist.«

»Krieg wäre wohl ein sicherer Weg zu diesem Ziel«, sagte Roger und faltete die dürren Finger auf dem Tisch. »Je größer, desto besser. Davon habe ich schon ganz, ganz viel gesehen – und du auch, Yuri, eh? Krieg ist eine sehr beliebte Methode, um viel Leid zu verursachen und dämonischen Aktivitäten den Weg zu ebnen.«

»Hör auf damit!«, sagte Yuri scharf. »Niemand braucht oder will Krieg, nicht in eurer Zeit! Mir reicht’s!« Er hatte beide Fäuste auf den Tisch geschlagen, doch jetzt schaute er sich um und zog die Hände auf seinen Schoß zurück.

»Was ist mit Menschenopfern im Allgemeinen?«, hakte Jin nach. Die Frage widerte ihn selbst an. Er wusste, welche Antwort er hören wollte.

»Menschen zu töten nützt rein gar nichts«, antwortete Roger. »Tote leiden schließlich nicht.«

Jin atmete still auf. Das war die gute Antwort. Zahllose Leben zu beenden war keine Notwendigkeit, noch nicht mal eine Option. Es ging ausschließlich um Verzweiflung, um Schmerz, um Angst – darum, die Welt aus ihren Fugen zu heben.

Das war sicherlich leichter. Viel leichter.

»Kommen wir zu unserem zweiten Problem«, wechselte Roger das Thema. »Der Transporter. Stellt euch vor: Es geht voran! Sarris hat tatsächlich Wort gehalten, ich habe eine Teslaspule in meiner Truhe gefunden!«

»So ist er leider«, murmelte Dante. »Hat mich noch nie belogen.«

»Ich verstehe. Jedenfalls können wir damit arbeiten. Nun brauche ich nur noch ein winziges bisschen Hilfe, um das Ding einzubauen. Ein alter Mann ist ja kein Dieselmotor!«

»Ah, okay«, sagte Yuri vorsichtig. »Also könntest du mich, wenn das funktioniert, zurückschicken …«

»Da wir die Émigré-Schrift haben, ja. Ich weiß, dass du meinst, hier noch was zu erledigen zu haben …« Roger sagte das beinahe feierlich, und Jin sah einen vieldeutigen Ausdruck in dem kleinen, zerfurchten Gesicht. »… aber du stehst auch unter Zeitdruck. Noch bin ich nicht fertig, aber wenn ich fertig werde, müssen wir bereit sein.«

»Okay«, sagte Yuri genauso ausweichend.

»Was, okay

»Okay.«

»Junge, Junge«, seufzte Roger.

Jin betrachtete die Beiden, sah den stummen Austausch von Blicken zwischen ihnen, und plötzlich drängte sich etwas übermächtig in sein Bewusstsein. Zuerst dunkel, dann immer klarer überkam ihn die Erinnerung an einen Traum, den er in der vergangenen Nacht geträumt hatte – einen, den er vergessen oder verdrängt hatte, der ihm erst jetzt wieder einfiel.

Da war ein Vogel gewesen. Ein Rabe, schwarz wie die Nacht, der mit langsamem Flügelschlag durch die Dämmerung flog. Ob es Morgen- oder Abenddämmerung war, schien nicht von Bedeutung zu sein; es war ein Zwielicht, das irgendwo zwischen Tag und Nacht herrschte, ein dünnes graues Band zwischen zwei breiteren Schichten, wie eine Straße zwischen Wald und Feld. Der Rabe kreiste über Jin, der sich selbst nicht fühlen oder verorten konnte, genau wie in dem Moment, als er Devil Jin und seinem Kampf gegen Yuri von außen hatte zusehen müssen; er wusste nicht, ob er selbst real war, oder ob wahrhaft ein Teil von ihm in diesem Raben steckte, dessen schwarze Flügel denen von Devil Jin so ähnlich waren. Nein, entschied er dann, der Vogel war nicht nur er. Nicht allein. Er war auch … Yuri. Das wurde ihm in dem Moment klar, als er Dante sah, der dort unten stand – auf Gras, auf Beton, ganz egal worauf – und den Raben mit seiner silbernen Pistole anvisierte. Sein Blick war seltsam gehetzt, ohne zu blinzeln auf den Raben gerichtet, als wäre es kein harmloses Tier, sondern eine reale Bedrohung, die er schnell zur Strecke bringen musste. Es wirkte so surreal: Er, Jin, war der Rabe, und Yuri war es auch, sie waren beide dieser Vogel, und Dante war im Begriff, sie zu erschießen. Einen Moment später fiel ein völlig lautloser Schuss, und Jin fühlte einen Schmerz, der seinen ganzen unsichtbaren Körper durchfuhr, und zugleich eine Art Taubheit und wilde Angst, die schlagartig verschwand, als der sterbende Vogel tot vom Himmel fiel. Ohne einen einzigen müden Flügelschlag segelte er leblos durch das endlose Zwielicht, bis er geräuschlos auf dem ungeformten Boden aufkam. Jin fühlte sich unendlich traurig, als wäre er es selbst gewesen, der den Raben getötet hatte, und sein Blick hing an dem kleinen dunklen Körper, aus dem langsam und stetig eine größer werdende rote Pfütze sickerte, leuchtend auf dem Dunkel.

»Kazama? Bist du noch on tour

Jin hob den Kopf und begegnete Dantes fragendem Blick. Auch Roger und Yuri musterten ihn interessiert. »Alles in Ordnung«, log er.

Niemand wirkte überzeugt, doch Dante fragte nicht weiter. »Gut, dann schlage ich Arbeitsteilung vor. Du bist fitter in Technik als wir, also …«

»Ich helfe Roger«, folgerte Jin.

»Exakt. Yuri und ich gehen mal runter und schauen, ob wir Sarris finden. Vielleicht kann er ein bisschen betreuten Ausgang bekommen.«

Jin nickte als Zeichen der Zustimmung. Sarris war nicht gefährlich, solange er weder eine Peitsche noch ein Messer noch irgendein apokalyptisches Schriftstück mit sich herumtrug. Womöglich gelang es ihnen am Ende doch, ihn etwas kooperativer zu stimmen, sodass er Sapientes Gladios Strafe entgehen konnte. Doch irgendwie hatte Jin starke Zweifel daran.
 

Die Teslaspule, die Sarris ihnen überlassen hatte, war voll funktionsfähig – sofern man bei einem derart simplen Konstrukt von Funktion sprechen konnte. Man konnte eher sagen: Sie war ordnungsgemäß zusammengesetzt und würde ihren Zweck erfüllen.

»Beim Propheten, wir haben es! Heureka!«, rief Roger triumphierend, als sie alle Teile korrekt verbaut und verknüpft hatten. »Wir haben es wirklich geschafft, dieses Ding wieder zum Laufen zu bringen! Fehlt nur noch ein Testlauf!« Emsig brabbelnd lief er um das Gerät herum.

Einen vertrauenerweckenden Eindruck machte es auf Jin noch immer nicht. Er hatte den Gedanken, was wohl mit Yuri geschehen würde, wenn sie nicht schneller waren als die Taschenuhr, noch immer nicht zu Ende gedacht. Dass Yuri im Jahr 2008 gefangen blieb, war der glimpflichste Ausgang; über andere mögliche Optionen weigerten sie sich alle nachzudenken. Ebenso war Jin bewusst, dass sein eigenes Problem immer mehr in den Hintergrund rückte. Nichts und niemand konnte verhindern, dass er immer mehr zu Devils Sklave wurde, wenn Azazel in seinem Kopf nicht zum Schweigen gebracht wurde. Doch davon war er, Jin, weiter entfernt als je zuvor, nun, da so viele andere Schwierigkeiten dringender waren.

Und doch: Falls er geglaubt hatte, dass Dante und Yuri nicht über ihn nachdachten, so hatte er sich geirrt. Das erfuhr er, als er sie aus den Ruinen zurückkehren hörte. Er selbst saß nach getaner Arbeit in der kleineren der beiden Grotten, nahe dem Eingang, am Kaffeetisch, während Roger Kaffee kochte, und starrte auf sein Mobiltelefon, das sechs entgangene Anrufe zeigte – vier von Ninas Handy, zwei aus dem Devil May Cry. Er steckte das Telefon wieder ein. Im sogenannten Wohnzimmer nebenan hörte er die Bodenluke quietschen und Dante und Yuri herausklettern. Sarris hatten sie nicht dabei; offenbar blieb er verschollen. Die Beiden schienen nicht damit zu rechnen, dass Jin still im Raum neben ihnen saß, nur durch die halboffene Tür von ihnen getrennt, denn sie redeten gut hörbar über ihn.

»… immer schlimmer«, hörte Jin Dante sagen.

»Wie, das fällt dir erst JETZT auf?« Yuris Ton klang gereizt. »Ich bewundere deine Ignoranz, ehrlich, ich wünschte, ich könnte das auch.«

Sie ließen sich auf der Couch nieder, dem leisen Quietschen nach zu urteilen.

»Du hättest es tun müssen, als Jin wieder zu Devil Jin wurde«, sagte Dante. »Es wird allerhöchste Zeit, begreifst du das nicht? Du lässt zu, dass es ihm immer schlechter geht.«

»Dante! Ich hatte ohne Fusion KEINE CHANCE gegen Devil Jin! Ich musste –«

»Aber du HAST Devil Jin besiegt.«

»Ich hab ihn ins Wasser geschmissen.«

»Das zählt.«

»Und mich dazu.«

»Hyuga, du weißt genau, dass du der Einzige bist, der an Jins Dilemma irgendwas ändern kann. Du bist doch sein Freund, oder nicht?«

»Ich hab keine Ahnung, ob es in Jins Welt so was wie Freunde gibt.«

»Du musst Devil für Jin unterwerfen. Er selber schafft es nicht.«

Yuri gab ein Geräusch zwischen Seufzen und Stöhnen von sich. »Nein, ich müsste es irgendwie schaffen, dass wir ZUSAMMEN Devil besiegen. Jin hat dieses Teufelsgen-Dings, nicht ich. Devil klebt an ihm wie 'ne Zecke. Ihre Seelen sind nicht trennbar.«

»Und das heißt?«

»Dass ich … nicht genau weiß, wie das geht. Ich meine … Ich hab es hingekriegt, dass wir miteinander REDEN konnten, als wir verwandelt waren. Das ist ein Anfang, aber …«

In seinem gewohnt gleichmütigen Ton sagte Dante: »Ich glaub, du hast nur Angst.«

Jin sah Yuri geradezu vor seinem geistigen Auge aufspringen, als er das entsprechende Geräusch hörte: ein protestierendes Hochschnellen der Federn im Polster. »Ich glaub, DU hast Angst!«, knurrte Yuri. »Du merkst selber, dass Devil ein zu starker Gegner sein könnte, und jetzt weißt du auch, dass du auf seiner Abschussliste ganz oben stehst. Dich zu töten würde Azazel als neuen Oberboss der Teufelswelt rechtfertigen, und du kannst ihn NICHT töten! Diesen Teufel steckst du nicht in deine Einkaufstüte, Mann! Er kann dich plattmachen. Schluck das!«

Dantes Stimme war auf so provokante Weise unbeeindruckt, dass selbst Jin einen Anflug von Ärger spürte. »Wow, du hast ja Hausaufgaben gemacht. Im Übrigen hab ich vor gar nichts Angst.«

»Ach, echt?«, fauchte Yuri. »Hast du Mundus getötet? Nö! Das konnte dein Vater nicht, das konntest DU nicht. Azazel ist also nicht der erste Teufel, den du nicht tot kriegst. Was sollen wir denn machen, wenn er kommt? Ihn versiegeln, mit … keine Ahnung, Fensterkitt?«

Als Dante nicht widersprach, nichts Anderes vorschlug, wurde Jin klar, dass die Beiden ihm noch immer die Fähigkeit absprachen, Azazel zu töten. Sie glaubten einfach nicht, dass Jin es konnte. Sie hielten ihn immer noch für schwach, dem Unheil ausgeliefert.

Die böse Stimme in Jin sagte: Genau das bist du doch auch. Oder nicht?

Da wollte er nicht mehr hören, wie die Unterhaltung weiterging. Er erhob sich lautlos – ein Ergebnis langen, unnachgiebigen Trainings seiner Körperbeherrschung – und entfernte sich Richtung Ausgang. Er hatte das Bedürfnis nach frischer und vor allem trockener Luft.
 

Nicht lange, nachdem er draußen vor dem Gottesschlächterdenkmal stehen geblieben war und einen weiteren Anruf von Nina ignoriert hatte, kam Yuri zu ihm.

Und fiel direkt mit der Tür ins Haus. »He, Jin, hör mal zu«, sagte er ziemlich gefasst, jedoch die Hände halb zu Fäusten geballt. »Ich will dir was anbieten. Das heißt …« Er schloss kurz den Mund und machte ihn wieder auf. »… ich will dir das nicht anbieten, aber alle Anderen wollen, dass ich dir das anbiete.«

Ohne Überraschung wandte Jin sich ihm zu. »Du musst das nicht tun.«

»Doch, ich fürchte, ich muss.«

»Ich will kein Opfer von dir«, sagte Jin kühl. »Ich will nichts haben, das mir jemand nicht freiwillig gibt. Du hast genauso viel Angst vor Devil wie ich.«

»Ja«, gab Yuri bereitwillig zu. »Devil macht mir Angst. Wir wissen nicht, was er ist, er wird immer mächtiger, ich kann ihn überhaupt nicht einschätzen. Und verschätzt hab ich mich schon einmal zu viel. Wenn es diesmal schief geht, dann … ist Alice nicht hier, um mich zurückzuholen.«

Ohne dass er es wollte, hatte Jin plötzlich wieder die Bilder aus seinem Traum vor Augen. Der Rabe, der sie beide war. Der durch dämmriges Halbdunkel flog, bis eine Kugel aus Dantes Pistole ihn in einer Wolke aus Blut zerplatzen ließ.

Vielleicht, dachte Jin, konnte diese Sache noch sehr viel schiefer gehen, als Yuri glaubte.

Er machte seine Ablehnung durch ein Kopfschütteln deutlich. »Nein. Ich will das nicht.«

Yuri wirkte verblüfft. »Ah … äh, sag das nicht meinetwegen, okay? Ich … will dir wirklich helfen. Wir könnten dran arbeiten. Ich müsste sowieso erst mal einen Weg finden, um –«

»Nein«, unterbrach ihn Jin. »Wir tun das nicht.«

Yuri blinzelte, immer verständnisloser. »Warum nicht? Für dich ist es beinahe die einzige Chance, wie’s aussieht.«

Sie hielten Blickkontakt. Jin hatte es stets vermieden, anderen Menschen so lange in die Augen zu sehen, doch gerade jetzt stellte sich die Abneigung dagegen sonderbarer Weise nicht ein. Yuri hatte weder Abscheu noch Verachtung für ihn übrig, keine Abwertung; er schaute einfach nur zurück, abwartend, aufmerksam.

Ich will es einfach nicht, dachte Jin.

Es war die Nähe, die ihm nicht behagte. Allein das. Devil war wie ein Verband über einer offenen Wunde, und wenn man ihn wegnahm, unter ihn sah, dann … war alles … nackt.

Devil war nur gekommen, weil Jin gelitten hatte. Heihachi hatte ihn gequält, Kazuya hatte ihn gequält. Devil hatte ihn beschützt. So sehr Jin ihn auch hasste, Devil war eine Mauer. Nahm man ihn weg, dann … wurde das wunde Fleisch sichtbar, das darunter eiterte. Und wenn das passierte, wäre Yuri so dicht bei ihm, dass er alles sehen konnte.

Und Jin hasste den Gedanken, dass irgendjemand alles sehen konnte.

Yuri musste all das in seinem Gesicht gelesen haben. »Oh Mann«, stöhnte er, »du wirst nie jemanden an dich ranlassen, oder? So kann dir keiner helfen!«

Jin sagte nichts. Es gab auch nichts zu sagen.

Mit resigniertem Seufzen ließ Yuri die Arme wieder fallen. »Gut, lassen wir das. Denk drüber nach. Oder nicht. Mir egal.« Er drehte sich um und ging, und auf der Steintreppe verschluckte ihn rasch wieder das Dunkel.
 

Jin folgte ihm in kurzem Abstand. Schon auf den letzten Stufen hörte er, wie Dante Yuri fragte, was Jin gesagt hätte. Yuri sagte es ihm. Jin blieb im Gang stehen; er war halb empört, halb perplex, wie schamlos sie schon wieder über ihn redeten, als wüssten sie nicht, dass er möglicherweise in Hörweite war.

»Ich WEISS es nicht, Mann. Ich hab keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Devil beeinflusst ihn, ganz sicher, aber … ich weiß nicht, ob er irgendwas … SCHLIMMES anstellen könnte.«

»Willst du meine Zwei-Cent-Gedanken dazu hören?«, fragte Dante, und dabei schien er sich ein wenig zu entfernen – allerdings nicht weit genug. »Jin wird am Ende machen, was Devil will. Dass er jetzt noch wie wild dagegen kämpft – geschenkt. Denk dran, welche Möglichkeiten jemand wie Jin hat: Er hat Kohle wie Heu. Und diese ganze Mishima-Firma.«

»Was ist das überhaupt für’n Laden?«

»Eine riesige, reiche japanische … Mafia, wahrscheinlich. Hat Einfluss auf verdammt viele Institutionen und unterhält eine eigene paramilitärische Delegation. So eine Art … Privatarmee.«

Jin schauderte. Woher wusste Dante diese Dinge? Er interessierte sich doch gar nicht für das, was um ihn herum passierte … oder doch?

»Die nennen es ein Imperium«, fuhr Dante fort. »Bisschen lächerlich … Er hat ’nen eigenen Thronsaal, und so.«

»Die spinnen alle«, brummte Yuri. »Du glaubst also, er hat keine Chance?«

»Nicht ganz«, erwiderte Dante. »Jin ist ein guter Kerl. Aber ich hab Zweifel, ob das am Ende ausreicht.«

»Unterschätz ihn nicht.«

»Genau DAS meine ich. Er hat Macht.«

Jin visualisierte Yuris Augenrollen. »Ja, aber … ehrlich? NEIN. Klar, seine Vaterlinie ist für’n Arsch, aber seine Mama war was Besonderes … vielleicht besonderer als meine oder deine. Ihr Schutz liegt noch auf ihm, sie hält ihn davon ab, böse zu werden. Jin ist … einfach ein armer Kerl mit einer Riesenkraft und einem miesen Schicksal.«

»Wie du, hm?«

Einen Moment lang war es still. Dann sagte Yuri fast drohend: »Und wie DU, wette ich.«

Dantes Auflachen klang eine Spur zu bemüht. »Lass mich da raus. Ich lauf nicht Amok.«

»Sicher?«

»Schließ nicht von dir auf Andere, Hyuga. Auch nicht auf Jin. DU hast die Willenskraft, deine Dämonenkräfte zu bändigen, du kannst es dir erlauben, auf deinem … heiligen Pfad frisch voran zu spazieren. Aber Jin –«

»– ist was? Eine tickende Zeitbombe?«

»Weißt du überhaupt, was das ist?«

»Jaha.«

»Wie auch immer. DU als Hamonixer hast ein geistiges Polster, Jin hat das nicht. Das ist der Punkt.« Etwas leiser fuhr Dante fort: »Schon mal drüber nachgedacht, dass Jin einer von diesen Schurken werden könnte, die du früher bekämpft hast?«

Yuri reagierte entsetzt. »Sag mal, hörst du dich eigentlich reden, du Spinner?«

Dante, für den keine Beleidigung jemals ein Grund zu sein schien, tatsächlich beleidigt zu sein, fuhr fort: »Er wäre kein Präzedenzfall für einen getretenen Hund, der bissig wird.«

»Auf eine Rolle als böser Herrscher steuert wohl eher sein Vater zu«, entgegnete Yuri, räumte dann aber zu Jins Missfallen ein: »Aber ich weiß, was du meinst. Erst sind sie Opfer, dann kriegen sie plötzlich Macht … und dann werden sie das, was die Gesellschaft sowieso schon in ihnen sieht …«

»Monster.«

»Ja.«

»Glaubst du, er könnte grausam sein?«

»Nicht Jin. Glaub mir … Egal, wie viel vom Vater drin ist. Jin ist … rein, im Innersten.«

»Hmm«, machte Dante, und die Skepsis, die in diesem Ton mitschwang, versetzte Jin in Alarmbereitschaft. »Solange es keine Anzeichen dafür gibt, dass – …«

Und da reichte es Jin. Er wollte nicht hören, was Dante jetzt sagte. Es konnte nichts sein, das gut für seine Ohren war.

Mit großen Schritten ging er weiter zum Höhleneingang, gab sich Mühe, seine Ankunft besonders deutlich zu machen. Dante und Yuri hatten immerhin den Anstand, ertappt auszusehen.

»Habt ihr wieder über mich geredet?«, fragte Jin und war selbst überrascht über die Kälte in seine Stimme, die im Gegensatz zu seiner üblichen bemühten Höflichkeit stand. Als die Beiden nicht antworteten, sagte er: »Aha. Verstehe«, wandte den Blick ab und ging an ihnen vorbei.

Dante war unverfroren genug, seinen angefangenen Satz laut fortzusetzen: »… dass Jins Persönlichkeit sich verändert, sollten wir ihm helfen. Hast du gehört, Kazama? Aber interessiert dich nicht, oder?«

Jin antwortete nicht. Am liebsten wäre er wieder hinaus ans Tageslicht geflüchtet, doch dafür war er auf dem falschen Weg. Im Nebenzimmer stand Roger verloren vor seiner Maschine und sah Jin mit großen, aufmerksamen Augen an.

Dann, mit einem Mal, fuhr eine Erschütterung durch den Boden.

Ein grollendes Beben schüttelte die Wände, Steine und Lehmbrocken hagelten von der Höhlendecke. Kleine Risse bildeten sich in der Erde. Jin sah zwei Teetassen vom Tisch fallen, während er sich an der Wand abstützte.

Nur zwei Sekunden später war der Spuk wieder vorbei. Jin ließ die Wand los, zog sein Handy aus der Tasche, um den Erdbeben-Alarm zu beenden – Zu spät, dachte er –, und fing Rogers Blick auf. »Was war das? Der Fluss?«

Der kleine Mönch war in die Knie gegangen und rappelte sich gerade wieder auf. »Nein«, ächzte er, »das … kam von unten.«

Unten.

Yuri und Dante kamen hereingestürmt. Sie analysierten die Lage innerhalb eines Wimpernschlags.

»Es wird warm«, bemerkte Yuri mit hochgezogenen Brauen.

»Hast endlich die Heizung angekriegt, Roger?«, fragte Dante den Mönch. »Wenn ja, was in aller Welt verheizt du hier?«

Jin roch es ebenfalls: verbranntes Holz, schmelzende Erde und den Rauch versengter organischer Substanz, der in der Nase stach. Der Geruch eines schweren Brandes.

»Hat keiner eine Ahnung, was da unten los ist?«, fragte Dante in die Runde, und Jin sah die ratlosen Blicke der Anderen.

»Wir gehen runter«, entschied Yuri. »Zumindest Sarris müssen wir finden und da rausholen.«

»Ihr habt ihn also nicht gefunden«, schloss Jin. An Sarris hatte er zuletzt keinen Gedanken mehr verschwendet.

»Nein. Aber wir waren auch nicht weit drinnen. Viele von den Lichtern da unten sind ausgegangen, wir wollten uns eigentlich eine –«

Wieder brach eine Erschütterung aus, und diese war heftiger als die vorausgegangene. Jin packte den Tisch, um sich aufrecht zu halten. Ein faustgroßes Felsstück krachte an seinem Ohr vorbei auf den Höhlenboden.

»Bald gibt’s von Sarris nicht mehr viel zu retten!«, kommentierte Dante über den Lärm hinweg.

»Der hat wohl zu tief gegraben!« Yuri schüttelte die Faust und schob seine Finger durch die Aussparungen eines seiner Schlagringe. »Ich geh vor, okay?«

Das Beben stoppte, und alle fanden wieder Halt. Yuri rannte an Jin und Roger vorbei.

Jin schickte sich an, ihm zu folgen, doch plötzlich lag Dantes Arm quer über seiner Brust und schob ihn zurück. »Stopp, Kazama. Sei vernünftig.«

Vernünftig? »Lass das.«

»Nichts da. Dein gehörnter Kumpel hat es zuletzt etwas übertrieben, meinst du nicht?«

»Dante!«, presste Jin zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Lass mich los!«

»Wenn du artig hierbleibst.« Dante funkelte ihn an – lächerlich, dass er immer noch glaubte, das würde funktionieren.

»Lass mich los«, wiederholte Jin drohend.

»Sonst was?«

Da kam das Beben wieder, und diesmal riss es sie von den Füßen und marterte ihre Trommelfelle. Unwillkürlich kauerten sie sich auf dem Höhlenboden zusammen, bis die unerträglichen Sekunden vorüber waren.

Als das Donnern abebbte, schälte sich ein einziges Geräusch aus dem akustischen Wirrwarr hervor: Sarris’ Stimme. »Und IHR beschützt die Welt vor Teufeln? Da habt ihr schlechte Arbeit geleistet.«

Jin sah zwischen den Anderen umher. Alle schauten einander fragend an.

»He, Dante … Entweder hat dein Vater oder der Gottesschlächter hier was übersehen.« Sarris’ Stimme kam langsam näher – und zwar nicht von der Falltür aus, sondern aus der Richtung des Eingangs. Er war also bereits draußen gewesen, wie auch immer er entkommen war. Zusammen mit ihm nahm auch die Hitze zu, wurde unangenehm. Jin und die Anderen lauschten weiter angestrengt. »Da unten ist ein TOR«, verkündete Sarris triumphierend. »Oder nennen wir es lieber ein Loch. Ein Loch hinter einem Erdrutsch, aber dennoch. Ihr habt euch nie gewundert, woher die Dämonen kommen, die sich hier unten einnisten? Dieser Ort zieht sie an. Die Ruinen sind so voller böser Energie, sie LIEBEN es.«

»Roger«, wisperte Yuri. »Verarscht er uns?«

Rogers faltiges Gesicht war weiß wie die Höhlendecke. »Ich denke, es ist … möglich …«

»War es der Neameto, Roger? Damals, als der Schwimmer aufgestiegen ist, die Erde aufgerissen und dabei die Ruinen freigelegt hat … Könnte darunter …?«

»Kann sein«, murmelte Roger, »kann sein … Es waren schon immer viele Monster dort unten …«

»Und du hast dich nie gefragt, wieso?«

Dante unterbrach diesen unglücklichen Austausch. »Moment, versucht ihr uns gerade zu sagen, dass Sarris ein Portal in die Unterwelt ausgebuddelt hat? Eins von den vielen, die mein Vater alle mühsam eins nach dem anderen –«

Da ertönte wieder Sarris’ Stimme, diesmal ganz aus nächster Nähe. »Ich danke euch allen für eure Fürsorglichkeit. Das meine ich ernst. Aber meine Position kennt ihr, und meine Entdeckung hat das Blatt wieder etwas gewendet. Meine Sachen habe ich schon gefunden, vielen Dank – ihr habt ja alles ganz in der Nähe aufbewahrt, und obwohl man die Seiten nicht mehr so leicht lesen kann, werden sie dem Zweck noch genügen. Ich habe immer noch eine Chance, dass alles so kommt, wie ich hoffe.« Er trat zu ihnen ins Zimmer, die Wangen hitzerot und die Jacke voller Rußflecken. Er schaute drein, als besuchte er gute Freunde auf einen Drink. Jin wurde der Mann immer unheimlicher: So ruhig und vernünftig sich Sarris auch gab, es zeichnete sich immer mehr ab, dass er dem Wahnsinn verfiel. Nichts Anderes konnte es bedeuten, dass er inmitten von wachsender Hitze nach einer traumatisierenden Begegnung mit der Hölle mild lächelnd in Rogers Höhle stand. »Euch ist doch klar, was passiert ist? Die Neam-Ruinen sind Jahrmillionen alt, ihre Verbindung zur Unterwelt existierte seit Anbeginn der Zeit, bis Sparda allen Zugängen ein Ende setzte. Doch Albert Simon schickte den Neameto aus den Tiefen des Meeres ins Weltall, und das Aufbrechen des Felssaums legte alle tieferen Schichten wieder frei. Was macht schon das Bisschen Gras, das seitdem darüber gewachsen ist? Eine oberflächlich verheilte Wunde, unter der das Blut fault.«

»Ich mag deine anschaulichen Vergleiche«, sagte Dante, »aber für den Fall, dass es bei dir noch nicht angekommen ist: Azazel hockt in einem Loch unter der Wüste, unerreichbar für dich. So viel zu deinem Plan.«

»Ich muss nicht nach Dudael reisen und Azazel suchen«, erwiderte Sarris geschmeidig, und seine fiebrig glänzenden Augen richteten sich auf Jin. »Ich habe das, was ihr Devil nennt … und mit ihm und den vierzehn Seiten kann ich genug anfangen.«

»Oooh«, jammerte Roger von unter dem Tisch. »Du, du wirst doch nicht …«

»Azazels Geist, seinen Schatten, seine Seele. Das kann ich herauf beschwören – egal wo er ist. Und ihr habt nichts mehr gegen mich in der Hand.« Er griff in seine Jackentasche, zog ein allzu bekanntes Bündel loser Pergamentblätter heraus und winkte damit in die Runde. »In der Nähe eines Höllentors können diese verbotenen Seiten eine Menge anrichten. Ich bin überzeugt, dass ihr das gut überstehen werdet. Wir sehen uns nachher.« Damit nickte er noch einmal, nun wieder ernst und gefasst, und machte kehrt.

Jin wollte hochschnellen und ihm folgen. Doch schon brach das nächste Beben über die Höhle herein, schüttelte sie ein weiteres Mal von oben bis unten durch, und als Jin mit schmerzendem Genick zur anderen Seite blickte, sah er Dampf aus den Ritzen der geschlossenen Falltür quellen.

Dampf …

Der Fluss verdampfte.

Schon quoll neuerliche, alles versengende Hitze hinterdrein, das Holz begann sich schwarz zu färben, zerfiel vor seinen Augen zu spröden, schwarzen Splittern, und dann –

dann brach die Hölle los.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich komme einfach so selten zum Posten! Danke an alle fürs Lesen. Komplett anzeigen

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