Zum Inhalt der Seite

Das Schlachthaus in der Minton Street

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Chapter 5 - 1

Als Eddie am nächsten Tag das Schulgelände betrat, anderthalb Stunden später als gewöhnlich, da die ersten beiden Stunden Mathematik ausgefallen waren, saß Victor bereits auf seinem Stammplatz, einem Steintisch unter einer großen Eiche, die angenehmen Schatten spendete. In der Hand hatte er ein Buch, und er hörte Musik, sodass er Eddie erst bemerkte, als dieser direkt vor ihm stand und grüßend die Hand hob.

Victor setzte die Kopfhörer ab und klappte sein Buch zusammen, um es in seiner Tasche zu verstauen, wobei Eddie einen Blick auf den Einband erhaschen konnte - Eine kurze Geschichte der Zeit, von Stephen Hawking. Natürlich. Was auch sonst.

„Morgen“, meinte Eddie, und er merkte selbst, dass er sogar dieses eine Wort nicht hatte herausbringen können ohne dabei nervös zu klingen. Er hatte noch immer ein schlechtes Gewissen wegen des Vorfalls gestern im Chemieunterricht, und der Tatsache, dass sein Freund wegen ihm hatte nachsitzen müssen. Falls Victor etwas von dieser Unsicherheit merkte, und es war nicht unwahrscheinlich, dass dem nicht so war, so ließ er es sich nicht anmerken. „Morgen“, erwiderte er, dann gähnte er. Allgemein wirkte er so, als habe er nicht wirklich viel geschlafen, und das selbst für seine Verhältnisse… Eddie wusste, dass Victor beinahe jede Nacht Alpträume hatte, immer wieder begleitet von Zuständen der Schlafparalyse, in denen er Dinge sah die nicht wirklich da waren, und grade in stressigen Situationen wurden diese Zustände schlimmer… Als Eddie fortfuhr, war ihm sein schlechtes Gewissen noch deutlicher anzumerken als zuvor, und auch Victor schien das nun zu bemerken. „Wie war’s gestern noch? Ich hoffe, das Nachsitzen war nicht allzu schlimm…?“

„Ach was!“ Victor versuchte zu lächeln, doch wirklich überzeugend klang seine Antwort nicht, und dass diese Unbekümmertheit nicht wirklich echt war wurde noch deutlicher, als er hinzufügte: „Das Nachsitzen war einfach langweilig wie immer. Mr. Hallow hat uns böse angeguckt und das einzige was man tun durfte, war Atmen… aber wenn man mit den Gedanken eh woanders ist, geht’s.“ Da schien noch mehr zu sein, das spürte Eddie, auch, wenn es so aussah als wolle Victor nicht darüber reden, doch nach einer kurzen Pause des Schweigens fuhr der dann doch fort: „…na ja… und Mr. Hallow hat meinen Vater angerufen.“

„…das…oh.“ Es war nicht wirklich überraschend, dass der Direktor das getan hatte, war es doch das normale Vorgehen wenn ein Schüler auf solche Weise auffällig wurde, dennoch hatte Eddie einfach gehofft, dass es in diesem Fall nicht so gewesen war. Abgesehen davon, dass er selbst Dr. Cormins nicht grade sympathisch, ja, gradezu ein wenig unheimlich fand, wusste er auch, dass Victors Beziehung zu seinem Vater nicht grade die beste war. Wahrscheinlich konnte man zu diesem Mann auch gar keine gute Beziehung haben, auch, wenn Victor manchmal davon erzählte, dass das damals, als seine Mutter noch am Leben gewesen war, anders gewesen wäre…

Eddie merkte erst, dass er wieder einmal mit seinen Gedanken abgeschweift war, als er hörte wie Victor weitersprach: „Ja, er war nicht grade begeistert… aber… auch nicht wirklich überrascht.“ Ein Schulterzucken. „Ich weiß nicht… es wär mir vielleicht lieber gewesen, wenn er wirklich sauer gewesen wäre! Aber… er hat nur gesagt, das wäre ja typisch. Ich könnte mich ja einfach nicht benehmen… ich würde ständig Probleme machen, so wie ich das immer schon getan habe…“ Bei den letzten Worten brach seine Stimme, und Eddie spürte, wie dieses schlechte Gewissen in ihm noch einmal an Intensität zunahm; er wünschte sich so sehr, etwas hilfreiches tun oder zumindest sagen zu können, doch da war nichts was ihm einfiel, einfach nichts, und er fühlte sich in diesem Augenblick so verdammt nutzlos…

Und währenddessen sprach Victor weiter, mit zitternder Stimme, und mit jedem Wort fühlte Eddie sich schlechter und schlechter. „Wieso bin ich so? Er hat ja recht! Ich will das doch gar nicht, aber irgendwie… passieren immer wieder Dinge… ich komm einfach nicht normal zurecht! Ich weiß nicht, wie!“

„Aber das ist doch nicht deine Schuld!“ Ohne es zu wollen hatte Eddie beinahe geschrien, und einige der nahestehenden Schüler drehten sich kurz zu ihnen um um herauszufinden, ob dort etwas Interessantes vor sich ging das sie vielleicht beobachtet konnten, und schnell senkte Eddie seine Stimme als er weitersprach: „Das Einzige, was du tust, ist, dich gegen diese Deppen zu wehren! Man, nur weil ich selber zu feige war, mir mein Buch zurückzuholen… das ist nicht fair, du hilfst mir so oft, weil ich selber nichts auf die Reihe kriege! Aber wenn hier jemand ständig Ärger macht, dann sind das Neil und Dan und Jay und Alva, aber doch nicht du!“ Er merkte selbst, dass seine Ausführungen wirr geklungen hatten, doch seine Gedanken flossen wild durcheinander, überschnitten sich und bildeten ein undurchdringliches Chaos; er wollte so gerne in Worte fassen was er dachte, wie froh er darüber war dass Victor ihm immer wieder zur Seite stand - alleine seine Anwesenheit sorgte schon dafür, dass Eddie um einiges seltener von diesen Idioten traktiert wurde, denn im Gegensatz zu ihm wehrte sich Victor eben - doch erschien ihm alles, was er sagte, irgendwie bedeutungslos.

So überraschte es ihn auch nicht großartig, dass Victor nicht wirklich überzeugt klang, als er antwortete: „Aber ich… hab schon immer irgendwie Probleme gemacht! Ich bin nie mit anderen zurechtgekommen! Mein Vater hat Recht, ich mache ständig Probleme; wäre ich nicht so unfähig, wäre wahrscheinlich auch Mom noch am Leben!“

Nun war er es gewesen, der zum Ende seines Satzes hin beinahe geschrien hatte, doch Eddie bemerkte es kaum, zu sehr war er damit beschäftigt, die Bedeutung der soeben vernommenen Worte zu verarbeiten. „Das…was?“, stotterte er, merklich überrumpelt. „Wie… das stimmt doch nicht!“

Diese Antwort war ein Reflex gewesen, eine natürliche Abwehrreaktion; er hatte nicht die geringste Ahnung, ob diese Aussage der Wahrheit entsprach oder nicht… aber das konnte doch einfach nicht sein.

Er wusste, dass Victors Mutter gestorben war als er sieben oder acht Jahre alt gewesen war. Dass sie einen Unfall gehabt hatte. Dass Victor irgendwie dabei gewesen war, doch was genau passiert war, darüber hatte Victor nie gesprochen… also warum jetzt?

Mit einem Ausdruck der Verbitterung betrachtete Victor seinen Freund, schien zu überlegen, ob er weitersprechen sollte. Hatte sich Eddie vorher bereits mies und schuldig gefühlt, so waren diese Beschreibungen für sein aktuellen Befinden überhaupt kein Ausdruck mehr. „Vic?“, murmelte er, bedachte seinen Freund mit einem Blick, von dem er hoffte dass er aufmunternd und mitfühlend wirkte, doch möglicherweise drückte er auch einfach bloß Überforderung aus. „Wenn du… darüber reden willst…“ Er brach ab. Senkte den Blick, starrte zu Boden. Wie um alles in der Welt führte man eine derartige Unterhaltung? Er war überfordert, und er wünschte sich, derart kompetent in solchen Dingen zu sein wie die Charaktere in seinen Geschichten es waren; die immer wussten was sie sagen, was sie tun sollten, wie sie reagieren sollten. Diese ganze Unterhaltung hatte sehr schnell eine Wendung genommen, die er nicht hatte kommen sehen, die er niemals erwartet hätte…

Als er den Blick wieder hob bemerkte er, dass Victor ihn noch immer ansah, mit diesem nachdenklichen, und zugleich verbitterten Gesichtsausdruck. Seine Hände lagen verkrampft auf dem Tisch, die Finger krallten sich in das Holz, er wirkte, als würde er nach Halt suchen. Ein Zittern durchlief seinen gesamten Körper, immer und immer wieder…



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück