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Das Schlachthaus in der Minton Street

von

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Chapter 3 - 3

„Hm…“, machte Lilith, sie klang wenig überzeugt, hielt sich jedoch mit weiteren Kommentaren zurück. So setzte Mom ihre Erzählung ungestört fort. „Jedenfalls half das ein wenig, aber nicht lange. Und irgendwann, so erzählte man sich, war Michael, der zweitälteste Sohn der Familie, spurlos verschwunden. Niemand hat sich damals groß darum gekümmert. Es hat wohl auch lange gedauert, bis es überhaupt jemandem aufgefallen ist. Michael ging auch nicht zur Schule, sondern hat seinen Eltern zuhause geholfen, also hat niemand ihn vermisst. Nur irgendwann gab es Gerüchte in der Nachbarschaft, weil man ihn, im Gegensatz zu seinen Geschwistern, überhaupt nicht mehr draußen gesehen hat, und dann hat ein Jäger im Wald ein menschliches Skelett gefunden, an dem kein bisschen Muskeln oder Fleisch mehr vorhanden war.“ Sie hielt inne, sah in die Runde, als wolle sie sich vergewissern dass sie niemandem mit ihrer Erzählung den Appetit verdarb, doch abgesehen von ihrem Mann, der ein wenig unglücklich den Reis betrachtete den er soeben auf seine Gabel geladen hatte, schien niemand negativ davon beeindruckt zu sein. „Es konnte natürlich niemals nachgewiesen worden, dass es wirklich Michael war, aber es sah nicht so aus, als habe das Skelett sonderlich lange dort gelegen. Einige Leute behaupteten, Michael sei von einem Fremden umgebracht worden, der sich auf der Durchreise befand, weil sie sich nicht vorstellen konnten dass in dieser friedlichen Kleinstadt jemand lebte, der so etwas tun würde. Andere waren der Meinung, ein Tier habe Michael umgebracht und sein Fleisch verzehrt, aber niemand konnte wirklich überzeugend festlegen, was für eines das gewesen sein sollte. Manche waren auch der Ansicht, es wäre etwas Übernatürliches. Besonders beliebt war wohl die Theorie vom Wendigo, ein menschenfressendes Wesen aus der Folklore amerikanischer Ureinwohner. Es gab das Gerücht, einer der Leute die sich im Wald verirrt hatten - das ist öfters passiert zu der Zeit - habe nichts anderes mehr zu essen gefunden und sich deshalb in solch ein Wesen verwandelt. Und einige - vor allem die Leute, die in der Nachbarschaft der Crichtons wohnten und denen auch als erstes aufgefallen war, dass Michael verschwunden zu sein schien, vermuteten zumindest, wenn sie sich nicht sogar sicher waren, dass es sich bei dem Skelett um Michael handelte, der von seinem Vater getötet worden war, damit die Familie sich von seinem Fleisch ernähren und so dem Hungertod entkommen konnte.“ Erneut hielt sie inne, blickte nacheinander in der Gesichter der am Tisch Sitzenden. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Niemand schien genau zu wissen, was er dazu sagen sollte, obgleich auch keiner der Anwesenden so wirkte als sei er nun sonderlich geschockt von dieser Offenbarung. Interessiert jedoch wirkten sie weiterhin, und selbst Dad machte mittlerweile den Eindruck, als bereite es ihm durchaus Freude, seiner Frau beim Erzählen dieser uralten Geschichte zuzuhören.

Irgendwann schließlich, nach Sekunden, die sich scheinbar ewig hinzogen, entschied sich schließlich Lilith, nachzufragen: „…und weiter?“ Sie klang beinahe ehrfürchtig, ein Zustand der so gar nicht zu dem für gewöhnlich so vorlauten Mädchen zu passen schien, das sich normalerweise von nichts sonderlich beeindrucken ließ, oder das zumindest nicht wirklich zeigte. Hier und jetzt jedoch schien sie vollkommen von der Erzählung ergriffen zu sein, fasziniert starrte sie Mom an, ihre Hand die die Gabel hielt war nach unten gesunken und die Metallzinken schwebten knapp über dem Berg aus Reis.

Mom lächelte. „Ich bin es gar nicht gewohnt, dass ihr mir so gebannt zuhört, wenn ich etwas erzähle! Aber gut, dann weiter! Es dauerte nicht lange, bis Victoria verschwand, das älteste Kind der Familie. Ihr Verschwinden fiel früher auf, da sie sich öfters mit einer Tochter der Nachbarn traf und sie gemeinsam zur Kirche gingen. Zwar erzählten die Eltern ihr, Victoria sei krank, doch wirklich glauben konnte die Nachbarstochter das nicht. Allerdings glaubte niemand ihren Vermutungen, die Crichtons haben nach Michael nun auch ihr ältestes Kind getötet. Nicht einmal diejenigen, die den Crichtons die Ermordung von Michael zugetraut hätten, konnten sich vorstellen dass sie einen weiteren Mord begehen würden, schon gar nicht an der lieben, frommen Victoria, die bei allen im Ort beliebt war, regelmäßig zur Kirche ging und betete… ein Vorzeigekind der damaligen Zeit eben, ganz im Gegensatz zu Michael, der öfters in Schlägereien verwickelt gewesen war und sich allgemein oft aufmüpfig verhalten hatte. Heute wäre sein Verhalten wahrscheinlich vollkommen normal für einen vierzehnjährigen Jungen gewesen. Damals allerdings sah man so jemanden als Belastung.“

„So viel zum Thema, früher war alles besser…“, murmelte Eddie, nur um gleich darauf aufzuschreien, als Lilith ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein trat und „Klappe!“, zischte.Mom grinste derweil und zuckte mit den Schultern. „Nun, ich würde sagen, das ist Ansichtssache! …nein, ernsthaft. Ich hätte nicht in der damaligen Zeit leben wollen, schon gar nicht anstelle der Crichtons, die weiterhin bedenklich nah am Abgrund des Hungertods entlang balancierten. Jedenfalls, Victorias Verschwinden fiel zumindest auf. Zur gleichen Zeit verhielt sich auch Felicia immer seltsamer, sie war gereizt, nervös, und teilweise aggressiv. Insbesondere wenn sie auf ichre Tochter angesprochen wurde wurde sie sehr wütend, wobei sie an ihrer Geschichte festhielt, Victoria sei schwer erkrankt und würde möglicherweise sterben. Besuch von Gemeindemitgliedern, die am Krankenbett für Victorias Genesung beten wollten, lehnte sie jedoch ab. Konsequenzen gab es jedoch keine, keiner hielt es für nötig, die Polizei zu verständigen, warum auch - Felicia verhielt sich vielleicht seltsam, aber trotzdem glaubte niemand ernsthaft daran, dass sie wirklich ein Verbrechen begangen haben könnte. Viele waren auch der Ansicht, ihr Verhalten wäre wohl verständlich für eine Mutter, die grade drohte ein Kind zu verlieren, und dann noch ein solch vorbildliches wie Victoria… man merkt vielleicht, dass für die Leute damals nicht alle Menschen gleich viel wert waren, oder viel mehr dass es nicht um alle gleich schade wäre, wenn sie verschwanden. Und wäre Felicia nicht so beliebt gewesen in der Gemeinde, so gottesfürchtig und angepasst an das Frauenbild der damaligen Gesellschaft - die Leute wären wohl viel eher ernsthaft misstrauisch geworden. So jedoch akzeptierten sie Felicias Zurückweisungen und ihre Behauptung, Victoria wäre schwer krank. Von da an zog sich Felicia jedoch immer mehr zurück, angeblich, um sich ganz der Pflege ihrer Tochter zu kümmern. Besuchern, die mit Brot oder anderen Speisen vorbeikam, ließ sie von ihrer zweitältesten Tochter Abigail ausrichten, dass sie leider nicht hereinkommen könnten. Die Speisen allerdings nahm die Familie gerne an. Natürlich ging es aber nicht ewig so weiter, die Besuche wurden weniger, und der Hunger der Familie stieg wieder an. Und, es wird euch wohl kaum überraschen: Mitte Dezember schien das dritte Kind der Crichtons wie vom Erdboden verschluckt. Richard. Diesmal meldete Phillip seinen Sohn selbst als vermisst. Er behauptete, Richard habe nach Michael suchen wollen - es war ja nie mit Sicherheit geklärt worden, dass Michael wirklich verstorben war. Und von dieser Suche sei Richard nicht zurückgekehrt. Es wurden Suchtrupps gebildet, die den Wald und die Ufer des Silversteam Rivers nach dem Jungen durchkämmten. Ohne Erfolg. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Gerüchte lauter. Verschiedene Leute tuschelten darüber, dass das Ganze doch reichlich verdächtig wäre - zwei Kinder verschwunden, eines angeblich krank, doch auch schon seit Wochen nicht mehr gesehen worden, und das alles innerhalb eines knappen Monats. Die meisten Leute jedoch nahmen diese Gerüchte noch immer nicht ernst. Viel mehr hatten sie Mitleid mit den Crichtons, denen so viele Schicksalsschläge in solch kurzer Zeit widerfuhren. Einige waren allerdings auch der Meinung, dass die Crichtons wohl irgendetwas getan hätten, um dieses Grauen zu verdienen. Felicia sei fremdgegangen, meinten einige, und das sei nun eben die gerechte Strafe Gottes. Aber dass die Crichtons Mörder seien, die sich vom Fleisch ihrer eigenen Kinder ernährten um nicht zu verhungern, das konnte sich niemand ernsthaft vorstellen.



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