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Liebe, Lüge, Wahrheit

von

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Vertrautes Gefühl

Das Innere des Anwesens der de Jarjayes hatte Augustin bei seiner Ankunft nur kurz bewundern können. Jetzt zeigte François ihm sein Zimmer, wo er ab heute auch nächtigen würde. Es war schon seltsam, neben seinem Bruder zu stehen und ihm einen neuen Fechtpartner zu mimen. Aber das würde bestimmt bald vergehen. Sein Großvater hatte zu ihm gesagt, dass er sich in der ersten Zeit womöglich eigenartig fühlen würde, aber er würde sich schon daran gewöhnen. Augustin versuchte daran zu glauben.

 

„Jetzt zeige ich dir die Küche und stelle dich den anderen vor.“ François machte die Tür seines Zimmers zu und führte ihn in die besagte Küche, um ihn allen dort vorzustellen. „Rosalie, Madame Glacé, darf ich euch meinen Fechtpartner Augustin vorstellen?“

 

„Wir haben ihn kurz gesehen, aber kommt gerne herein.“ Rosalie saß am Tisch und fütterte ein Mädchen auf ihrem Schoß mit Brei.

 

„Das sind Madame Glacé, Mademoiselle Rosalie und Marguerite.“, erklärte François. „Marguerite wurde übrigens auch gefunden.“

 

Wieso erzählte François ihm das? „Sehr angenehm.“, murmelte Augustin in die Runde und betrachtete das kleine Mädchen mit braunem Haar und der blauen Augenfarbe. Das war also seine Schwester, die er noch nicht gesehen hatte. Unwillkürlich musste er dabei an seine einzige Freundin Anna aus dem Dorf denken. Was machte sie gerade? Wie ging es ihr? Und dachte sie auch manchmal an ihn?

 

„Man könnte meinen, ihr seid Brüder!“, rief Sophie bei Betrachtung der beiden Jungen verzückt. „Ihr seht euch so ähnlich!“ Bis auf das Haar und Augenfarbe sahen sie sich wirklich ähnlich.

 

Wir sind Brüder, lag es Augustin auf der Zunge, aber er fand stattdessen eine Ausrede: „Mir wurde gesagt, dass jeder Mensch einen Doppelgänger hat.“ Das hatte ihm Graf de Girodel beigebracht zu sagen, falls die Frage nach der Ähnlichkeit zwischen ihm und François gestellt würde.

 

„Nicht jeder Mensch hat einen Doppelgänger, aber es gibt natürlich Zufälle und Ausnahmen. Das sieht man gerade an euch beiden.“, redete Sophie, während sie die Kräuter für den Gänsebraten aussuchte. „Aber wie dem auch sei. Hast du Hunger, Augustin?“

 

„Nein, ich habe schon gegessen.“ Augustin wollte nicht mehr länger in der Küche bleiben. Die Großmutter seines Vaters behagte ihm irgendwie nicht. Sie schaute so streng aus.

 

„Dann zeige ich dir den Garten.“, schlug François vor.

 

„Genau, geht in den Garten und spielt dort!“, stimmte Sophie zu und die beiden verließen die Küche und dann das Haus durch die Hintertür.

 

François zeigte seinem neuen Freund gerne den Garten. Wobei das „Freund“ war noch zu schnell gesagt. Er kannte ihn nicht einmal eine halbe Stunde! Nun, vielleicht hätte er anders reagiert, wenn er zu Augustin nicht dieses vertraute Gefühl hätte. Ihm kam es so vor, als würde er ihn schon sein Leben lang kennen. Woher kam das nur?

 

Der Garten war groß. Bäume und Rosensträucher mit roten und weißen Rosenblüten schmückten die passierbaren Pfade von beiden Seiten und Augustin betrachtete besonders die weißen Rosen sehr interessiert. Bis sie vor einer alten Eiche stehen blieben und er François sprechen hörte: „Hier haben meine Eltern einen Schatz vergraben, als sie kleine Kinder waren.“

 

Seine Eltern? Augustin warf überrascht den Blick auf seinen Zwillingsbruder. „Deine Eltern?“ Bedeutete das etwa, dass François die Wahrheit über seine Zieheltern wusste? Wenn ja, dann könnte er sich ihm vielleicht auch anvertrauen? Aber würde das nicht seinen Großvater erzürnen?

 

Die Antworten auf die Fragen erübrigten sich, als François sagte: „Ich darf sie eigentlich nicht so nennen, aber sie haben es mir erlaubt.“

 

Das verstand Augustin nicht. „Warum haben sie es dir erlaubt?“ Vielleicht würden sie es ihm auch erlauben? So würde es ihm leichter fallen, die Anordnung seines Großvaters zu erfüllen.

 

„Weil François erst ein paar Tage alt war, als wir ihn gefunden haben.“, meinte eine Männerstimme hinter ihnen und beide Jungen drehten sich um.

 

François lächelte gleich. „Papa, Mama, ich habe ihm über euren Schatz erzählt, den ihr als Kinder hier vergraben habt.“ Er zeigte dabei auf die heraustretenden, dicken Wurzeln der alten Eiche. Ob dies genau die Stelle war, wusste er natürlich nicht, aber irgendwo hier würde es schon sein.

 

„Das ist in Ordnung.“ Oscar schaute zu Augustin und schon wieder bekam sie dieses unwohle, beinahe schmerzliche Gefühl, als schulde sie diesem Jungen etwas. Aber warum nur? „Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt. Mein Name ist Oscar François de Jarjayes und das ist André Grandier. Er ist mein Freund, wir sind zusammen aufgewachsen und François ist unser Ziehsohn.“

 

Ihre himmelblauen Augen schienen Augustin hier draußen noch schöner zu sein, als im Kontor seines Großvaters. Allerdings zeigten sie keine Wärme oder Mutterliebe ihm gegenüber. Kühl und eindringlich durchbohrte ihn ihr Blick, dass es ihm ein wenig fröstelte. François dagegen hatte sie viel liebevoller angeschaut. Nun, sie wusste ja, dass François ihr Sohn war. Von ihrem zweiten Sohn allerdings wusste sie nichts. Das schmerzte Augustin. Jedoch verlor er nicht seine gerade Haltung und festen Ton in seiner Stimme. „Sehr angenehm.“

 

„Mama wurde wie ein Mann erzogen und ist Kommandant in der königlichen Garde.“, erzählte François euphorisch und strahlte dabei stolz übers ganze Gesicht. „Deshalb trägt sie Männerkleider und Uniform. Du wirst sehen, sie sieht schön darin aus!“

 

„François!“, ermahnte Oscar ihn. Sie mochte keine Lobpreisungen zu ihrer Person und das auch noch vor einem fremden Jungen, den er nicht einmal kannte. Fremden Jungen? Irgendwie kam es Oscar so vor, als wäre das nicht richtig. Denn ein vertrautes Gefühl herrschte in ihr, seit sie Augustin im Kontor ihres Vaters gesehen hatte.

 

„Lass ihn doch, er hat doch nichts Schlimmes gesagt.“ André fühlte sich ebenfalls unbehaglich, als er länger auf Augustin schaute. Wer war er wirklich? Wieso kam er ihm so vertraut vor? Und dieses vertraute Gefühl hatte nichts mit der äußeren Ähnlichkeit mit François zu tun. „Und wie gefällt es dir hier?“, fragte er den neuen Spielkamerad seines Sohnes.

 

Augustin zuckte mit seinen Schultern. „Schön.“ Der Blick der grünen Augen seines Vaters wirkte etwas wärmer. Aber das geschah bestimmt nur, weil er freundlich sein wollte und nicht, weil er ihn gern hatte. Auch diese Erkenntnis schmerzte Augustin und er wäre am liebsten weggelaufen. Jedoch rührte er sich nicht von der Stelle. Denn sein Großvater würde solch ein Verhalten ganz sicher nicht gutheißen und ihn womöglich in das Dorf des Grauens zurückschicken, wo ihn nichts als Leid erwartete. Nein, das durfte nicht passieren und das hieß, weiter schweigen und nichts verraten! Aber was sollte er antworten, wenn er danach gefragt werden würde?

 

Kaum dass Augustin das gedacht hatte, stellte Oscar ihm genau die Frage, die er eigentlich vermeiden wollte zu beantworten. „Du wurdest also von Graf de Girodel von der Straße geholt und von ihm auf Geheiß meines Vaters erzogen?“

 

Augustin bejahte mit einem stummen Nicken. Es fiel ihm schwer darauf zu antworten. Besonders wenn ein dicker Kloß in seiner Kehle entstand und sein Mund sich wie ausgetrocknet fühlte.

 

„Wo hast du früher gelebt?“, wollte Oscar von ihm als nächstes wissen und Augustin suchte schnell nach einer Antwort. Denn auf diese Frage war es unmöglich mit einem Nicken zu beantworten.

 

„Waisenhaus.“, fiel es ihm wieder ein. Sein Großvater hatte ihm gesagt, dass er so antworten sollte, wenn er nach seiner Herkunft gefragt würde.

 

Waisenhaus also. Oscar beschlich jedoch der Verdacht, dass der Junge nicht ganz ehrlich war. Aber vielleicht bildete sie sich das nur ein. Denn es war ihr Vater, der das Kind hierher gebracht hatte und sie sollte eigentlich ihm ihr Misstrauen schenken, als dem Jungen. Augustin konnte bestimmt nichts dafür, wenn General Reynier de Jarjayes ihn als Fechtpartner für François auserkoren hatte. Oscar beschaute Augustin von Kopf bis Fuß und als sie ein Holzschwert an seinem Gurt befestigt entdeckte, milderte sie ihren Tonfall. „Und hat dir Graf de Girodel das Fechten beigebracht?“

 

Hier konnte Augustin wieder zustimmend nicken, ohne eine laute Antwort geben zu müssen.

 

„Also gut, dann zeig was du kannst.“ Oscar zwinkerte sogleich François zu. „Jetzt kannst du dich beweisen, was wir dir beigebracht haben.“

 

François trug auch ein Holzschwert, das um seine Hüfte mit einem Gurt befestigt war. Das war ein sehr guter Vorschlag seiner Mutter und er freute sich sehr, sich mit seinem neuen Fechtpartner messen zu können. Auch Augustin war nicht abgeneigt. Denn der Übungskampf würde ihn bestimmt von den unwohlen Gefühlen ablenken, die er gerade oder gar die ganze Zeit wegen seinen Eltern empfand. Er ging etwas mit François weg, holte sein Holzschwert raus und stellte sich auf die Kampfposition. François ließ nicht lange auf sich warten und verübte als erster den Angriff. Augustin parierte geschickt und schlug gleich darauf mit gleichmäßigen Hieben zu. François duckte sich und wich dem Hieb aus. Es dauerte nicht lange, bis die beiden Spaß daran fanden und die Umgebung um sich herum vergaßen.

 

Oscar und André verfolgten das Fechten der beiden mit Argusaugen und André sagte in kürze genau das, was auch im Kopf von Oscar herging. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber Augustin erinnert mich an dich.“

 

„So wie François mich an dich erinnert.“, seufzte Oscar und das vertraute Gefühl mit Gewissensbissen gegenüber Augustin verstärkte sich.

 

Auch André seufzte. „Das ist schon merkwürdig. Wir sehen ihn zum ersten Mal und haben das Gefühl, als kennen wir ihn schon seit langem.“

 

„Allerdings.“ Woher das kam und warum sie sich so fühlten, würde wohl ein Rätsel bleiben.

 

 

 

Später, als die Nacht hereinbrach und die Kinder bereits schliefen, genoss Oscar die Zweisamkeit in den Armen ihres Geliebten. „Ich hoffe, François und Augustin werden sich gut verstehen.“, sagte sie nach einem langen und berauschenden Kuss.

 

„Auf jeden Fall scheint er ein netter Junge zu sein.“, meinte André und ließ seine Geliebte aus den Armen frei. Denn Oscar wollte noch eine schöne Melodie für ihn spielen.

 

„Wir werden sehen.“ Oscar ging zu ihrem Klavier und setzte sich auf den Hocker hin. „Was soll ich heute spielen?“

 

„Etwas Schnelleres.“ André stellte sich ans Klavier und Oscar begann das zu spielen, was ihr gerade im Kopf schwebte. „Mir fällt ein: Hast du schon gehört, dass England die Unabhängigkeit Amerikas anerkannt hat?“, fragte er.

 

„Ja, habe ich.“ In Versailles brachten die Boten fast jeden Tag solche Nachrichten aus dem Land, das sich irgendwo am Ende der Welt befand.

 

André sprach schon weiter: „Die ersten französischen Soldaten sind inzwischen schon nach Paris zurückgekehrt.“

 

Auch davon hatte Oscar schon gehört. „Das freut mich für die Soldaten und ihren Familien.“

 

Oscar wirkte etwas desinteressiert. Oder war das nur eine Täuschung? Das konnte man Oscar niemals ansehen und André gab nach. „Ich dachte nur, das könnte dich vielleicht interessieren, aber wenn du schon alles weißt...“

 

„André, mich lässt der Gedanke nicht los, dass sich in Versailles immer mehr Adligen von Ihrer Majestät abwenden.“, wechselte Oscar das Thema. Immer mehr musste sie die aufmüpfigen Höflinge des Hofes verweisen, weil die Königin noch immer in ihrem Schlösschen Trianon weilte und nicht bereit war, zu ihren königlichen Pflichten zurückzukehren. „Ich werde morgen nach Trianon reiten und die Königin bitten, ihre Audienzen wieder aufzunehmen. Das halte ich für wichtig, sonst wird der Graben zwischen ihr und dem Adel noch tiefer und das hätte dann böse Folgen. Du aber, fahre bitte mit François und Augustin morgen nach Paris zum Schneider. François wächst zu schnell und braucht wieder neue Kleidung. Augustin ist genauso groß wie er und braucht sicherlich auch neue Kleider. Ach ja, und nimm auch Rosalie als Begleitung für die Jungen mit.“

 

„Das ist eine gute Idee.“ André verstand und massierte seiner Liebsten die Schulter. Sie wirkte ein wenig angespannt. Womöglich durch die Themen über die Königin und den Jungen Namens Augustin, vermutete André. „Lass uns ins Bett gehen.“, schlug er vor und ihm kamen sogleich lüsterne Gedanken in den Kopf.

 

„Ich habe aber nicht einmal das Lied zur Hälfte gespielt.“ Oscar schmunzelte. Sie wollte André noch etwas ärgern. Denn umso mehr und stärker würde dann die Leidenschaft sein, die sie beide jedes Mal verlebten, als wären sie ausgehungert.

 

„Willst du etwa zu Ende spielen?“ Die Vorstellung noch länger zu warten, behagte André nicht. Aber wenn seine Oscar die Melodie zu Ende spielen wollte, dann würde er es ihr gewähren.

 

„Ja, das will ich.“, bestätigte Oscar mit noch breiterem Lächeln und André verdrehte die Augen. Also gut, dann würde er warten müssen, bis das Musikstück zu Ende war und erst danach seine Geliebte verführen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Tito
2020-10-25T14:34:58+00:00 25.10.2020 15:34
Da bin ich mal gespannt ob sie in Paris nicht Alain de Soisson dem Mann mit dem Roten Halstuch treffen, der könnet wenn er Augustin erkennt . Einiges erzählen.
Antwort von:  Saph_ira
23.12.2021 19:33
Huhu und es tut mir leid, dass ich erst jetzt antworte. Es war ein turbulentes Jahr, aber jetzt geht es weiter und ich bin wieder da. :-)


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