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Brothers

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallöchen, ihr Lieben!

Ich hoffe, ihr seid gut über den Jahreswechsel gekommen. Ich auf jeden Fall.
:)
Und wie ich ja zumindest Soichiro schon angekündigt hatte, gibt's dieses Wochenende auch wieder ein neues Kapitel. Wieder eins, bei dem ihr - zumindest zeitweilig - sicher Taschentücher brauchen werdet, das aber auch den einen oder anderen Lichtblick bietet - gerade zu Beginn.

Ich hoffe, ihr kommt beim Lesen auf eure Kosten.
*wieder ans Schreiben zuckel*

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Brüder unter sich

Es war schon deutlich nach der eigentlichen Zeit fürs Abendessen, als Yuugi endlich nach Hause kam. Von seinem Großvater aus hatte er seine Eltern angerufen und ihnen Bescheid gesagt, dass er zum Essen nicht da sein würde. Den eigentlichen Grund dafür – Rebecca – hatte er jedoch für sich behalten, denn er hatte keine Fragen von der Art beantworten wollen, die seine Mutter ganz sicher stellen würde, wenn sie erfuhr, dass er den Nachmittag nicht wie erwartet nur mit seinem Großvater, sondern mit einem Mädchen verbracht hatte.
 

Sie kannte Rebecca zwar auch, aber das würde sie ganz sicher nicht daran hindern, darüber zu spekulieren, was genau ihr jüngerer Sohn wohl tun würde, wenn er mit Rebecca alleine war. Und da sie sich mit Spekulationen bestimmt nicht dauerhaft aufhalten würde, würde sie garantiert irgendwann anfangen, ihn auszufragen. Und das wollte Yuugi nun auf gar keinen Fall riskieren.
 

Trotzdem wollte – musste – Yuugi ganz dringend mit jemandem reden, also huschte er, sobald er seine Eltern über seine Heimkehr informiert hatte, gleich hoch zum Zimmer seines Bruders. Er verschwendete keine Zeit damit, anzuklopfen, sondern öffnete einfach nur die Tür, quetschte sich eilig hindurch und schob sie dann direkt hinter sich wieder zu. Und als er sich umdrehte, fand er sich wie erwartet auch gleich mit seinem großen Bruder konfrontiert, der ihn fragend ansah.
 

Yuugis Wangen, das fiel Yami sofort auf, wiesen hektische rote Flecken auf. Und auch sonst machte er den Eindruck, als wäre er völlig durch den Wind. "Ist irgendwas mit Opa?", erkundigte Yami sich daher besorgt, aber Yuugi schüttelte gleich heftig den Kopf. "Nein, Opa geht's gut. Sehr gut sogar. Hopkins-san ist bei ihm", beruhigte er seinen großen Bruder und ließ sich dann ganz unzeremoniell auf den Boden vor Yamis Bett fallen. "Mit … mit Rebecca", schob er noch hinterher und spürte zu seinem Entsetzen, wie ihm gleich noch mehr Blut ins Gesicht schoss.
 

"Becky-chan? Wie geht's ihr?", wollte Yami wissen, stutzte jedoch, als er bemerkte, dass Yuugis Gesichtsfarbe sich bei der Nennung von Rebeccas Namen gleich noch mehr verdunkelt hatte. "G-Gut", stammelte Yuugi und wich dem Blick seines Bruders aus, als könnte das verhindern, dass Yami eins und eins zusammenzählte und auf zwei als Ergebnis kam. "Wir … äh … wir waren heute Nachmittag zusammen in der Arkade. U-Und … Also, Hopkins-san und Rebecca sind jetzt für zwei Wochen bei Opa. Und Rebecca hat mich gefragt, ob ich morgen nach der Schule wieder vorbeikomme, damit wir noch mal zusammen ein paar Games spielen können. U-Und ich hab ja gesagt."
 

"Also deshalb warst du nicht mehr im Museum", vermutete Yami ganz richtig und verkniff sich ein Kichern, als sein kleiner Bruder gleich noch mehr errötete. Na, das ist doch mal interessant. Yuugi hatte ja früher schon immer sehr gerne Zeit mit Rebecca verbracht. Und wenn er sich recht erinnerte, sinnierte Yami, dann hatte sie irgendwann mal verkündet, dass sie vorhatte, Yuugi zu heiraten, wenn sie beide alt genug waren. Das war zwar inzwischen schon ein paar Jahre her, aber es sah ganz so aus, als wäre zumindest Yuugi … nun, sehr begeistert von Rebecca. Ob es ihr wohl mit Yuugi immer noch genauso ging?
 

"Ja, ich … Tut mir leid, Nii-chan", entschuldigte dieser sich gerade, aber Yami winkte einfach nur ab. Wenn er ganz ehrlich war, dann hatte er über seine Diskussionen mit Malik nicht mal gemerkt, dass Yuugi gar nicht wie versprochen nachgekommen war. Er hatte auch die Nachricht, die sein Bruder ihm bereits am Nachmittag geschickt hatte, erst bemerkt, als er schon längst wieder zu Hause gewesen war. Er war so sehr auf seine Übersetzung und seine Streitereien mit Malik konzentriert gewesen, dass er zwischenzeitlich sogar völlig vergessen gehabt hatte, dass Ishizu auch noch da gewesen war. Aber das war etwas, was Yami seinem Bruder lieber nicht unbedingt auf die Nase binden wollte.
 

"Das muss dir nicht leid tun, Yuugi. Die Hauptsache ist doch, dass ihr beide euren Spaß hattet." Yuugi schluckte. "Ha-Hatten wir. Also … glaube ich jedenfalls." Ganz sicher war er sich dessen nicht. Ja, sicher, Rebecca hatte gesagt, sie wollte morgen wieder mit ihm in die Arkade, aber was, wenn sie sich da doch langweilte? Wenn ihr das vielleicht doch keinen Spaß machte und sie nur mitging, weil sie sich dazu verpflichtet fühlte? Was dann?
 

Oh Mann. Yami unterdrückte mühsam ein Kichern. Sein kleines Wiesnäschen, das gestern noch so altklug getan hatte, jetzt auf einmal so verlegen und durcheinander vor sich zu sehen war regelrecht niedlich. Aber das behielt Yami lieber für sich. Yuugi wollte ganz sicher nicht niedlich sein. "Wenn du dir nicht sicher bist, ob ihr das wirklich Spaß gemacht hat, dann frag sie doch morgen einfach", schlug Yami seinem Bruder vor und als dieser aufblickte, sah er genau das sanfte, aufmunternde Lächeln, auf das er gehofft hatte. Genau deshalb war er direkt zu seinem großen Bruder gekommen. Yami wusste einfach am allerbesten, wie man solche Achterbahnfahrten unbeschadet überstand.
 

"Und was mache ich, wenn sie sagt, dass sie doch keinen Spaß hatte?", erkundigte Yuugi sich daher und seufzte zufrieden, als sein Bruder ihm durch die Haare wuschelte. "Dann fragst du sie, was sie stattdessen gerne machen möchte. Ihr findet sicher etwas, womit ihr beide auf eure Kosten kommt. Und wenn sie doch die Wahrheit gesagt hat und ihr die Arcade Games wirklich Spaß gemacht haben, umso besser. Dann weißt du doch schon, was ihr morgen Nachmittag zusammen unternehmen könnt." Was, fand Yami, eigentlich wie ein guter Plan klang.
 

Wer hätte gedacht, dass Yuugi der Erste von uns beiden ist, der jemals ein richtiges Date haben würde?, sinnierte er bei sich. Denn das, was Yuugi ihm erzählt hatte, klang für ihn schon recht eindeutig. Allerdings wollte er seinen kleinen Bruder auf keinen Fall überfordern oder unter Druck setzen, also sprach er ihn nicht darauf an und neckte ihn auch nicht mit seinem bevorstehenden ›Date‹. Das konnte er auch morgen noch tun, wenn er erst mal wusste, wie es gelaufen war und ob Becky-chan wirklich noch auf diese Art an seinem kleinen Wiesnäschen interessiert war oder nicht. Aber das würde er vor morgen Abend wohl nicht erfahren, also, beschloss Yami, würde er geduldig sein.
 

"Übrigens hatte ich doch Recht mit meiner Übersetzung. Das meinte auch Ishizu. Du hättest Maliks Gesicht sehen sollen!", bemühte er sich daher erst einmal um Ablenkung und registrierte mit einem Schmunzeln Yuugis Erleichterung, als sich nicht mehr alles um ihn und Rebecca und den Nachmittag, der vor ihm lag, drehte. "War doch logisch. Opa weiß eben ganz genau, was er tut." Gut, manchmal war ihr Großvater schon ein bisschen sonderlich, aber wenn es um seinen früheren Job ging, dann bewies er immer wieder, dass er geistig eben doch noch voll und ganz auf der Höhe war.
 

Yuugi grinste seinen großen Bruder breit an. Ein bisschen bedauerte er zugegebenermaßen ja schon, dass er nicht dabei gewesen war, als Malik seine Niederlage hatte eingestehen müssen. Aber wenn er ganz ehrlich war, dann musste Yuugi zugeben, dass er den vergangenen Nachmittag für nichts in der Welt eintauschen wollte. Und morgen nach der Schule würde er Rebecca direkt schon wiedersehen! Yuugi war so aufgeregt, dass er sich nicht sicher war, ob er in der Nacht überhaupt Schlaf finden würde.
 

"Ich glaube, wir sollten uns beide langsam ins Bett verziehen", schlug Yami in diesem Augenblick vor und Yuugi rappelte sich etwas mühsam wieder vom Boden auf. "Du hast Recht", stimmte er zu und zog eine Grimasse. "Ist es eigentlich normal, so nervös zu sein, nur weil ich mich morgen wieder mit … mit Rebecca treffe?", wollte er dann wissen und Yami nickte einfach nur. "Sicher ist das normal", beruhigte er seinem Bruder und zerzauste dessen dreifarbige Haarpracht noch ein bisschen mehr, ging aber mit keiner Silbe darauf ein, warum diese Nervosität seiner Meinung nach normal war. Dass es Yuugi direkt auf den ersten Blick voll erwischt hatte, hätte auch noch ein Blinder gesehen, aber der arme Junge war auch so schon nervös und hibbelig genug. Er musste es ja nicht noch schlimmer machen.
 

"Schlaf gut, Yuugi. Und viel Spaß morgen. Grüß Becky-chan von mir, okay?" Es fiel ihm nicht gerade leicht, aber Yuugi rang sich dennoch ein Nicken ab. Er war immer noch ganz kribbelig beim Gedanken an den bevorstehenden Nachmittag, aber, beschloss er, es reichte ja eigentlich auch, wenn er sich morgen früh, wenn er ausgeschlafen war, weiter verrückt machte.
 

"Mach ich. Gute Nacht, Nii-chan", wünschte er seinem großen Bruder und machte sich auf den Weg in sein eigenes Zimmer. Eigentlich war er viel zu aufgekratzt, um auch nur an Schlaf zu denken, aber er wollte es wenigstens versuchen. Nicht auszudenken, wenn er morgen total matschig und unausgeschlafen wäre, wenn er sich mit Rebecca traf! Nein, das ging auf keinen Fall.
 

Yami, der seinem kleinen Bruder seine Gedankengänge förmlich an der Nasenspitze hatte ansehen können, kicherte leise vor sich hin, sobald er wieder alleine war. Sein kleines Wiesnäschen hatte sich Hals über Kopf verknallt! Und das auch noch ausgerechnet in Becky-chan, die Enkelin eines früheren Arbeitskollegen und alten Freundes ihres Großvaters. Yami konnte nichts dagegen tun, dass er seinem Bruder die Daumen drückte. Yuugi und Becky-chan waren als Kinder schon niedlich anzusehen gewesen, wenn sie gemeinsam mit ihrem Großvater zu Besuch gewesen war.
 

Wie, fragte Yami sich unwillkürlich, mochte sie sich wohl verändert haben in den letzten Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten? Er erinnerte sich noch lebhaft an ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen, Brille, Sommersprossen und ihrem allgegenwärtigen Teddybären, das schon immer eine unübersehbare Schwäche für Yuugi gehabt hatte. Und er konnte nicht umhin, sich zu wünschen, dass die Gefühle, die sein Wiesnäschen offenbar hatte, erwidert werden würden. Yuugi hatte alles Glück der Welt verdient, wenn es nach seinem großen Bruder ging.
 

Zufrieden vor sich hin summend machte Yami sich fertig fürs Bett, kroch unter seine Decke und schloss die Augen, doch an Schlaf war noch nicht zu denken. Ein wenig, das gab er vor sich selbst durchaus zu, hätte er am kommenden Nachmittag nur zu gerne Mäuschen gespielt, wenn Yuugi sich mit Rebecca traf. Da er sich allerdings für den nächsten Tag bereits anderweitig verabredet hatte, fiel das aus und er würde, wenn er sie auch wiedersehen wollte, wohl einfach in den nächsten Tagen mal bei seinem Großvater vorbeischneien müssen. Und so hat Yuugi dann noch ein Alibi, wenn er sich nicht traut, alleine hinzugehen. Doch, fand Yami, während er langsam in den Schlaf dämmerte, das klang eindeutig wie eine gute Idee.
 

oOo
 

Der Flug, der insgesamt knapp neuneinhalb Stunden dauerte, rauschte an Ryuuji vorbei, ohne dass er wirklich etwas davon mitbekam, wie die Zeit verging. Sein Zeitgefühl hatte er vollkommen verloren und obwohl er die ganze Zeit aus dem Fenster starrte, nahmen seine Augen nichts von dem wahr, was draußen vor sich ging. In seinem Kopf überschlugen sich Bilder, Gedanken und Erinnerungen, aber er bemühte sich nach Kräften, sich auf nichts davon wirklich einzulassen. Er wollte nicht denken – weder an das, was vor ihm lag, noch an das, was er für die nächsten Tage hinter sich gelassen hatte.
 

Ryuuji wurde erst wieder aus der Trance gerissen, in die ihn der Flug versetzt hatte, als die Maschine etwas holprig auf der Landebahn aufsetzte. Frisco. Home, sweet home, dachte Ryuuji bei sich und schluckte, denn der Gedanke hatte einen ungewohnt bitteren Beigeschmack. Ist das jetzt überhaupt noch mein Zuhause?, fragte er sich, schüttelte diesen Gedanken aber schnell wieder ab. Das waren Dinge, über die er auch später noch nachdenken konnte. Jetzt hatte er erst mal genug anders zu tun.
 

Die Maschine und auch den Flughafen zu verlassen kostete Ryuuji alles in allem etwas mehr als eine halbe Stunde. Draußen winkte er sich eins der zahlreichen Taxis heran, nannte seine Adresse und ließ sich, nachdem sein Koffer verstaut war, auf den Beifahrersitz fallen. Den Smalltalkversuch des Taxifahrers blendete er komplett aus, bezahlte diesen an seinem Ziel angekommen noch kurz und fand sich keine fünf Minuten später auch schon in dem Haus wieder, in dem er gut die Hälfte der letzten zehn Jahre seines Lebens verbracht hatte.
 

Sieht alles noch genauso aus, wie ich's verlassen hab. Ryuuji wusste nicht genau, was er erwartet hatte, aber das war es definitiv nicht gewesen. Die abgewetzte dunkelbraune Lederjacke, die sein Vater in seiner Freizeit so gerne getragen hatte, hing wie immer an der Garderobe und dieser Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Alles sah ganz genau so aus, als könnte sein Vater jederzeit einfach so wieder zur Vordertür hereinspazieren, aber Ryuuji wusste es besser. Sein Dad würde nicht einfach so wiederkommen. Nicht mehr. Nie wieder.
 

Wie lange er einfach nur im Flur gestanden und, den Koffer neben sich, die Lederjacke angestarrt hatte, hätte Ryuuji nicht zu sagen gewusst. Es kostete ihn beinahe unmenschliche Anstrengung, sich von dem Anblick loszureißen, seinen Koffer hochzuwuchten und durch den Flur nach hinten zu seinem Zimmer zu gehen. Der Koffer landete dort erst mal in der Ecke neben seinem Bett, während Ryuuji einfach nur stehenblieb und sich im Raum umsah, als sähe er ihn zum allerersten Mal. Alles hier war ihm so vertraut – die Möbel, die Fotos an den Wänden, selbst die Kleiderschranktür, die sich schon seit Jahren nicht mehr komplett schließen ließ – und doch kam ihm alles gleichzeitig auch unglaublich fremd vor. Es war, als gehörte er hierher und als wäre er gleichzeitig auch ein Fremdkörper, der hier eigentlich gar nichts zu suchen hatte.
 

Unwillig, darüber nachzudenken, wandte Ryuuji sich ab und ging hinüber ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand. Er hatte Gozaburo-san versprochen, dass er sich nach der Landung melden würde. So machte er es ja eigentlich auch immer dann, wenn er von einem Elternteil zum anderen pendelte. Wenn er zu seinem Dad flog, rief er seine Mutter immer gleich an, sobald er bei diesem zu Hause war, und seinem Vater schrieb er jedes Mal nach seiner Rückkehr nach Japan gleich eine Nachricht, da das Telefonieren nicht immer klappte, wenn sein Dad im Einsatz war.
 

Für einen Moment verharrten Ryuujis Finger in der Schwebe über dem Telefon. Ab jetzt war alles anders. Er würde seinem Dad nie wieder eine Nachricht schicken müssen, wenn er nach Japan flog. Und überhaupt, würde er eigentlich überhaupt noch mal nach Frisco zurückfliegen, wenn sein halbes Jahr mit seiner Mutter abgelaufen war? Ryuuji wusste es einfach nicht. Aber das ist doch jetzt auch nicht so wichtig. Darüber kann ich mir auch später noch den Kopf zerbrechen, beschloss er, schnappte sich doch endlich das Telefon und wählte die Nummer, die seine Mutter ihm bereits vor der Hochzeit hatte zukommen lassen für den Fall, dass er sie mal an ihrer neuen Adresse erreichen musste.
 

Während er dem Freizeichen lauschte, warf Ryuuji einen Blick auf die Uhr. Es war knapp fünf Uhr morgens, also war es in Tokio gerade kurz vor zehn Uhr abends. Nicht mehr unbedingt wirklich früh, aber da er versprochen hatte, sich zu melden, würde er das auch tun. Seine Mutter kannte den Zeitunterschied ebenso gut wie er, hatte sie doch selbst auch eine Weile in den Staaten gelebt, bevor sie im Zuge der Scheidung in ihre Heimat Japan zurückgekehrt war.
 

Sämtliche dieser Gedanken verflüchtigten sich umgehend, als sich nach längerem Klingeln die inzwischen seltsam vertraute Stimme von Gozaburo-sans Assistenten meldete. Für eine Sekunde fragte Ryuuji sich, warum Isono-san um diese Zeit immer noch in der Villa war, aber das war ja eigentlich gar nicht so wichtig. "Isono-san? Würden Sie meiner Mutter bitte ausrichten, dass ich gut angekommen bin?", wandte Ryuuji sich an seinen Gesprächspartner, ohne sich die Mühe zu machen, sich vorher mit seinem Namen zu melden. Wer außer ihm würde wohl sonst um diese Uhrzeit noch anrufen?
 

"Ich melde mich noch mal, wenn ich weiß, wann ich wieder nach Hause komme", schob er noch hinterher, verabschiedete sich knapp und legte auf, ohne Isono-san die Möglichkeit zu einer Erwiderung zu lassen. Er wollte auf gar keinen Fall, dass dieser jetzt noch seine Mutter ans Telefon holte, denn mit ihr zu sprechen hätte alles nur noch schmerzhafter gemacht. Ganz bestimmt hätte seine Mutter wieder geweint, wenn sie seine Stimme gehört hätte, und das war etwas, was Ryuuji aktuell ganz und gar nicht gebrauchen konnte.
 

Abgrundtief seufzend stellt er das Telefon zurück und blieb einen Moment lang unschlüssig stehen, ehe er sich einen Ruck gab und in die Küche ging. Das auf so unglückliche Art und Weise verkürzte Frühstück lag immerhin schon ein paar Stunden zurück und auch wenn er sich nicht wirklich gut fühlte, Hunger hatte er trotzdem. Einen Moment lang zögerte er vor dem Kühlschrank, dann schalt er sich selbst einen Narren, öffnete die Tür und war in den nächsten zehn Minuten erst mal damit beschäftigt, sich ein paar Sandwiches herzurichten.
 

Mit einem Teller voller Sandwiches und einer Flasche Wasser verließ Ryuuji die Küche wieder, ging aber nicht zurück in sein Zimmer, sondern trat stattdessen auf die hinter dem Haus gelegene Terrasse. Der Blick runter zum Strand und über den Ozean raubte ihm wie jedes Mal kurz den Atem, aber jetzt hatte das Essen erst mal Vorrang. Aus diesem Grund ließ Ryuuji sich in einen der gemütlichen Korbsessel fallen, deponierte seine Mahlzeit auf dem Tischchen, das dazu gehörte, und gönnte sich erst mal einen ersten Bissen von seinem Sandwich. Und erst jetzt merkte er, wie hungrig er eigentlich gewesen war. Seinem Körper war es offensichtlich vollkommen egal, was in seinem Leben gerade alles im Argen lag. Er verlangte vehement nach Nahrung, so dass Ryuuji sich schlussendlich auch noch ein zweites Sandwich genehmigte, das er eigentlich für später vorbereitet hatte.
 

Sobald er fürs Erste gesättigt war, ließ Ryuuji sich in dem bequemen Korbsessel ein bisschen nach hinten kippen und streckte die Beine aus. Inzwischen war die Sonne vollständig aufgegangen und brachte die Schaumkronen der Wellen, die sich am Strand brachen, zum Leuchten. Ideales Wetter zum Surfen, ging es ihm durch den Kopf und um ein Haar hätte er aufgelacht. Wenn Dad jetzt hier wäre und das sehen könnte, würde er sich sofort sein Surfbrett schnappen und sich in die Fluten stürzen. Und er würde seinen Sohn auffordern, ihm zu folgen – etwas, was dieser, wie üblich, einfach ignorieren würde. Surfen war noch nie seine Welt gewesen. Sein Dad hatte das Surfen immer geliebt, aber für ihn selbst war das einfach nichts. Das Talent und die Liebe seines Vaters für diesen Sport hatten da leider ganz und gar nicht auf ihn abgefärbt.
 

Nicht, dass sein Vater nicht immer wieder versucht hätte, ihm das Surfen doch noch schmackhaft zu machen. Die Erinnerung daran entlockte Ryuuji ein Seufzen. Wenn er denn mal frei gehabt hatte und die Wellen so groß und nahezu perfekt gewesen waren wie jetzt gerade, dann hatte sein Dad ihn immer wieder nach draußen zum Strand geschleift. Und während sein Vater sich den Wellen gewidmet hatte, hatte er, Ryuuji, meistens einfach im Sand gesessen und ihn beobachtet – jedenfalls dann, wenn sie nicht gerade mal wieder Streit gehabt hatten. Denn dann war er meistens einfach nur gegangen, um sich seine Zeit anderswo zu vertreiben.
 

Und sein Dad war jedes Mal aufs Neue wütend und enttäuscht gewesen, aber das hatte ihn damals nicht gekümmert. Immerhin war er selbst auch oft genug wütend auf und enttäuscht von seinem Dad gewesen. Und trotzdem hätte Ryuuji in diesem Moment alles und noch mehr dafür gegeben, noch ein einziges Mal etwas Zeit mit seinem Vater verbringen zu können, ohne sich gleich wieder mit ihm über irgendwelche Nichtigkeiten zu streiten.
 

"I miss you, Dad." Ryuuji bemerkte durchaus noch, wie seine Sicht zu verschwimmen begann, aber dieses Mal unternahm er nichts gegen die Tränen, die ihm in die Augen stiegen. Jetzt und hier war er ganz alleine und niemand konnte ihn so sehen, also konnte er sich endlich gehen lassen und dem Schmerz darüber, dass er seinen Vater wirklich verloren hatte und ihn nie wiedersehen, nie wieder seine Stimme hören würde, freien Lauf lassen.
 

oOo
 

Nachdem das Gespräch mit dem Stiefsohn seines Arbeitgebers beendet war, stellte Isono mit einem lautlosen Seufzen das Telefon wieder zurück und machte sich auf den Weg zu Yukiko-sans Zimmer, in dem, wie er wusste, Gozaburo-san, seine Frau und seine beiden Söhne nach einem kurzen Mittagessen und einem ebenso knappen Abendessen bereits seit mehreren Stunden wieder gemeinsam saßen.
 

"Ryuuji-san hat soeben angerufen. Er lässt ausrichten, dass er gut angekommen ist und sich noch mal melden wird, wenn er nähere Informationen bezüglich des genauen Termins für seinen Rückflug hat", gab er das Telefonat wieder, nachdem er sich kurz geräuspert hatte, und zog sich nach einer kurzen Verbeugung gleich wieder zurück. Auf keinen Fall wollte er die Familie Kaiba jetzt noch weiter stören. Und außerdem war es auch für ihn langsam wirklich an der Zeit, sich schlafen zu legen; der Montag würde wie üblich sehr früh beginnen.
 

Yukiko, die die Ablenkung, die Mokuba, Seto und auch Gozaburo ihr in den letzten Stunden geboten hatten, wirklich genossen hatte, schluckte hart und blinzelte mühsam gegen die Tränen an, die ihr gleich wieder in die Augen steigen wollten. Zu wissen, dass ihr Junge jetzt gerade ganz allein in dem Haus war, in dem er sonst immer mit seinem Vater zusammengelebt hatte, war schwer. Nur zu gerne wäre sie jetzt bei ihm. Vielleicht hätte sie, seiner Ablehnung zum Trotz, doch lieber mitfliegen sollen. Wie hatte sie ihr Kind nur ganz allein lassen können? Ryuuji war doch erst siebzehn! Was war sie nur für eine schreckliche Mutter? Wie konnte sie hier sitzen, alte Fotos ansehen und lachen, während ihr Sohn gerade mit dem Verlust seines Vaters kämpfte?
 

Mokuba rückte sofort näher zu seiner Stiefmutter und legte einen Arm um ihre Schultern, nachdem Isono wieder gegangen war. Er hatte zwar höchstens eine ungefähre Ahnung, was genau Yukiko gerade durch den Kopf ging, aber trotzdem wollte er nicht, dass es ihr schlecht ging – auch wenn sein eigener Magen sich gerade anfühlte wie ein eisiger Klumpen. Er konnte sich nicht mal annähernd vorstellen, wie es Ryuuji wohl gerade ging, aber wenn sein Verhalten vor seinem Abflug am Morgen ein Indiz dafür war, dann fühlte er sich im Moment ganz sicher absolut grauenhaft.
 

Unwillkürlich tastete Mokuba nach der Hand seines großen Bruders und warf diesem einen kurzen Blick zu. Setos Finger waren eiskalt, also, schlussfolgerte Mokuba, ließ ihn das Ganze auch nicht unberührt. Ob es dabei allerdings wirklich um Ryuujis Vater ging oder ob sein großer Bruder wieder an ihre Mutter dachte, wusste Mokuba nicht, aber das war im Moment auch nicht so wichtig. Er wollte einfach nur irgendwas tun, wollte Seto und auch Yukiko und seinen Vater wenigstens ein bisschen trösten, also drückte er Setos Hand und auf seinen Lippen erschien ein winziges, trauriges Lächeln, als Seto den Druck schwach erwiderte. Vielleicht, nur vielleicht, war er ja doch nicht ganz so nutzlos, wie er sich vorkam.
 

Seto wusste ganz und gar nicht, wie er sich fühlen sollte, nachdem Isono ihnen Ryuujis Botschaft ausgerichtet hatte. So ließ er einfach nur zu, dass Mokuba sich an seiner Hand festhielt. Es war merkwürdig, aber auch seltsam tröstlich, dass sein Bruder, obwohl er schwer damit beschäftigt war, Yukiko zu trösten, ihn nicht ganz aus den Augen verlor. Es tat gut, dass Mokuba seine Hand hielt, auch wenn Seto zugeben musste, dass seine Gedanken im Moment nicht bei seinem Bruder oder bei seiner Stiefmutter weilten. Er dachte auch ausnahmsweise nicht an seine eigene Mutter, sondern fragte sich stattdessen, wie es Ryuuji wohl gehen mochte. Wie mochte er sich jetzt fühlen – ganz allein in dem Haus, in dem er bis zu seiner Ankunft in Japan mit seinem Vater gelebt hatte? Ob es ihn tröstete, all die vertrauten Dinge zu sehen, oder ob es alles wohl noch schmerzhafter machte?
 

Er selbst, erinnerte Seto sich, hatte es nach dem Tod seiner Mutter mehr als vier Monate lang nicht über sich gebracht, ihr Zimmer zu betreten. Erst als er irgendwann auf der Suche nach seinem Bruder gewesen und diesen total verheult und schlafend in ihrem Bett vorgefunden hatte, war er zum ersten Mal wieder in diesem Raum gewesen. Und damals hatte er sich neben Mokuba auf das Bett gelegt, ihn in seine Arme gezogen und dann zum allerersten Mal wirklich die Tränen vergossen, die sich vorher über Monate in seinem Inneren aufgestaut hatten. Genau so, das wusste Seto auch heute noch, hatte ihr Vater sie beide schließlich gefunden, als er nach Hause gekommen war. Und er hatte ohne Umschweife seine beiden Söhne – Mokuba war inzwischen auch wieder wachgeworden und hatte ebenso geweint wie sein großer Bruder – in die Arme genommen und getröstet.
 

Setos Blick irrte zu seinem Vater, der, das entging ihm nicht, auch deutlich mitgenommen wirkte. Es musste hart für ihn sein, sinnierte Seto, so etwas noch einmal durchzumachen. Zwar hatte er Yukikos Exmann nicht persönlich gekannt, aber ihm war trotzdem anzusehen, wie nahe es ihm ging, dass die Frau, die er liebte, so litt und er nichts tun konnte, um ihren Schmerz zu lindern.
 

Einen Augenblick schwieg Seto noch, dann drückte er Mokubas Hand noch einmal und als dieser ihn daraufhin fragend ansah, deutete Seto ein Nicken in Richtung der Zimmertür an. "Vielleicht sollten wir beide langsam schlafen gehen", sagte er leise, denn inzwischen war es schon fast halb elf und die Schule würde definitiv nicht auf sie warten. Und vielleicht war es auch an der Zeit, dass ihr Vater sich in Ruhe wieder um seine Frau kümmern konnte. Er wirkte auf Seto ganz so, als wollte er genau das tun, aber gleichzeitig wollte er ihr scheinbar auch den Trost, den Mokuba ihr spendete, nicht vorenthalten.
 

"Du hast Recht, Nii-san." Nur widerstrebend löste Mokuba sich von seiner Stiefmutter. Und noch ehe er so recht wusste, was er da eigentlich tat, hatte er sich auch schon zu ihr gebeugt und ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt – ganz so, wie er es bei Ryuuji inzwischen schon so oft gesehen hatte. Die Überraschung in Yukikos Blick ließ ihn für einen Moment unsicher werden, aber als sie ihn trotz der Tränen, die in ihren Augen schwammen, dankbar anlächelte und ihm sanft über die Wange strich, wich diese Unsicherheit dem Gefühl, wohl doch nichts falsch gemacht zu haben.
 

"Danke, Mokuba. Und auch dir, Seto." Das Lächeln fiel Yukiko nicht unbedingt leicht, aber als auch der ältere ihrer beiden Stiefsöhne ihr zunickte und sie mit etwas bedachte, das einem Lächeln zumindest ähnelte, auch wenn es in Anbetracht der Umstände zu einem richtigen Lächeln nicht reichte, mische sich eine winzige Spur Erleichterung in ihre Schuldgefühle. "Gute Nacht, ihr Zwei", wünschte sie ihnen daher und ließ zu, dass Gozaburo den Platz seines Jüngsten einnahm, kaum dass dieser gemeinsam mit seinem Bruder aufgestanden war.
 

"Euch auch eine gute Nacht", erwiderte Seto leise, während Mokuba nur stumm nickte. Noch immer hielt er die Hand seines Bruders fest und sobald dieser die Tür zu Yukikos Zimmer hinter ihnen geschlossen hatte, sah er ihn fragend an. Eigentlich war er mit fünfzehn ja schon viel zu alt dafür, noch bei seinem großen Bruder unterzukriechen, aber nach allem, was heute passiert war, wollte er jetzt einfach nicht alleine in seinem Zimmer sein.
 

"Kann ich … Kann ich bei dir schlafen, Seto? Nur heute?" Die unerwartete Bitte seines Bruders ließ Seto, der sich gerade von Mokuba lösen und sich auf den Weg in sein Zimmer machen wollte, innehalten. Einerseits überraschten ihn die Worte schon sehr, aber auf der anderen Seite auch wieder nicht. Er verstand nur zu gut, dass sein Bruder sich nicht sicher war, ob er alleine überhaupt Schlaf finden würde. Ihm selbst ging es ja nicht viel anders, wenn er ehrlich war. "Selbstverständlich", beantwortete Seto daher die Frage und auf Mokubas Lippen erschien ein Lächeln, das irgendwo zwischen unsicher und erleichtert schwankte.
 

"Okay, dann … geh ich mich jetzt eben umziehen und komm dann rüber, okay, Nii-san?", fragte Mokuba leise und sobald sein Bruder genickt hatte, ließ er etwas widerwillig Setos Hand los. "Dann bis gleich", verabschiedete er sich und beeilte sich, in sein Zimmer zu kommen, um in seinem Bad zu verschwinden und danach seinen Pyjama anzuziehen. Nur knapp zehn Minuten später stand er mit seinem Kissen unter dem Arm im Zimmer seines älteren Bruders und dieser schmunzelte unwillkürlich. Früher, als Mokuba noch jünger gewesen war, hatte er sich auch immer zu ihm geflüchtet, wenn er nachts mal schlecht geträumt hatte. Und auch damals hatte er schon immer sein eigenes Kissen mitgebracht.
 

"Leg dich ruhig schon mal hin, otouto." Dieser Aufforderung seines Bruders hätte es eigentlich gar nicht bedurft. Während Seto noch kurz in seinem eigenen Badezimmer verschwand, krabbelte Mokuba schon mal in das Bett des Älteren, schob dessen Kissen ein Stück beiseite, um Platz für sein eigenes zu machen, und kuschelte sich dann unter die Decke. Das hier, sinnierte er dabei, hatte er schon seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gemacht. Aber jetzt gerade war ihm der Gedanke, ganz allein mit seinen Grübeleien in seinem eigenen Bett zu liegen, so dermaßen zuwider, dass er froh war, dass Seto nicht abgelehnt, sondern zugestimmt hatte, ihn hier bei sich schlafen zu lassen. Alleine, dessen war Mokuba sich ziemlich sicher, würde er in dieser Nacht wohl bestimmt keinen Schlaf finden.
 

Während sein Bruder bereits in seinem Bett herumwühlte, starrte Seto im Badezimmer sein Spiegelbild an, als könnte dieses ihm die Antwort auf all die Fragen geben, die ihn im Moment beschäftigten – und auch auf die Fragen, die er sich selbst noch nicht zu stellen gewagt hatte. Es war wirklich alles andere als einfach, zumindest nach außen hin so zu wirken, als wüsste er, was er tat. Aber das tat er nicht. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Er fühlte sich hilflos, denn das, was geschehen war, hatte so viel wieder aufgewühlt, dass er einfach nicht wusste, wie er seine Gefühle wieder unter Kontrolle bringen sollte.
 

Allerdings waren es dieses Mal, sehr zu Setos Überraschung, nicht die Gedanken an seine Mutter, die ihn so sehr beschäftigten. Nein, es war Ryuuji, an den er ständig denken musste – selbst dann, wenn er sich an seine Mutter erinnerte. Er dachte nicht wie sonst darüber nach, wie sehr sie ihm fehlte, sondern fragte sich vielmehr, ob es Ryuuji jetzt gerade auch so ging. Was mochte er gerade tun? Wie ging es ihm? Ob er inzwischen – Seto schluckte schwer – doch endlich seinem Schmerz nachgegeben und seinen Tränen freien Lauf gelassen hatte?
 

Allein die Möglichkeit, dass es so sein könnte, versetzte Seto in Unruhe und er ertappte sich selbst dabei, sich zu wünschen, jetzt bei Ryuuji sein zu können. Er wollte ihn in den Arm nehmen, ihn trösten, für ihn da sein – und das, obwohl er doch wusste dass Ryuuji das nicht wollte. Aber trotzdem konnte er nichts gegen den Drang tun, jetzt in seiner Nähe sein zu wollen.
 

Das Wissen, dass Ryuuji ganz alleine war, gefiel ihm gar nicht. Niemand, absolut niemand, sollte so etwas wie das, was der Schwarzhaarige gerade fühlte, alleine durchmachen müssen. Er selbst hatte damals seinen Vater, Isono und, in deutlich geringerem Maße, auch Mokuba gehabt. Und wen hatte Ryuuji? Keine Menschenseele. Seine Mutter war hier, ebenso wie der Rest seiner neuen Familie. Wir hätten ihn nicht alleine fliegen lassen dürfen. Ganz egal, ob Ryuuji das so gewollt hatte oder nicht, irgendeiner von ihnen hätte ihn begleiten müssen. Wie hatten sie ihn bloß ganz alleine fliegen lassen können?
 

Unwillig schüttelte Seto den Kopf, aber egal, was er auch versuchte, diese Gedanken konnte er einfach nicht abstellen. Allerdings war es jetzt schon lange zu spät. Ryuuji war längst wieder in San Francisco angekommen, wie Isono ihnen ja vorhin mitgeteilt hatte. Und er selbst war immer noch hier. Er konnte Ryuuji jetzt nicht helfen, auch wenn er es nur zu gerne getan hätte.
 

Aber da war ja auch noch Mokuba. Sein kleiner Bruder, der extra zu ihm gekommen war, weil er seine Hilfe brauchte. Seto stieß sich vom Waschbecken ab, straffte sich und ging hinüber in sein Zimmer. Wie erwartet lag Mokuba bereits im Bett, aber der verunsicherte Blick aus den großen blauen Augen seines Bruders machte Seto deutlich, dass an Schlaf für sie beide vorerst noch nicht zu denken war. Aber das machte nichts. Wenn Mokuba ihn brauchte, dann würde er da sein – zum Reden, zum Trösten, für was auch immer er gebraucht wurde.
 

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf löschte Seto das Licht in seinem Zimmer und schlüpfte zu seinem Bruder unter die Decke. Dieser zögerte nur einen winzigen Moment, ehe er näherrutschte und sich dann mit einem abgrundtiefen Seufzen, in dem sich Zufriedenheit und Sorge mischten, an ihn schmiegte. Setos Hand fand ohne Umschweife ihren Weg in Mokubas wilde schwarze Mähne und diesem entkam ein weiteres, dieses Mal deutlich zufriedener klingendes Seufzen.
 

"Was meinst du, wann Ryuuji wiederkommt?", wollte Mokuba nach einer kleinen Ewigkeit des Schweigens, in der er nur das sanfte Streicheln seines Bruders genossen hatte, leise wissen. "Ich weiß es nicht, otouto. Ich weiß es wirklich nicht", gab Seto ebenso leise zu und verbiss sich mühsam ein eigenes Seufzen. Es war nicht zu überhören, dass Mokuba sich Sorgen um ihren Stiefbruder machte, aber dieses eine Mal störte Seto sich nicht daran. Ihm selbst ging es ja nicht anders. Er machte sich auch Sorgen um ihn.
 

Wann mochte Ryuuji wohl wieder nach Hause kommen? Und was würde wohl aus dem frech-spöttischen Grinsen und dem schelmischen Funkeln in seinen grünen Katzenaugen werden? Ob sie, fragte Seto sich, das wohl überhaupt in nächster Zeit zu sehen bekommen würden? Nun, er könnte es Ryuuji keinesfalls verdenken, wenn es nicht so wäre. Aber er konnte auch nicht leugnen, dass der Gedanke daran, den Schwarzhaarigen noch mal so gebrochen wie am Morgen sehen zu müssen, ihm ganz und gar nicht gefiel.
 

Nein, sinnierte Seto, es wäre ihm tausend Mal lieber, Ryuuji wieder lachen zu sehen – auch wenn er selbst wohl kaum der richtige Mensch dafür war, um ihn zum Lachen zu bringen. Aber notfalls, wenn das Ryuuji half, dann würde er sogar den Köter hier in der Villa dulden. Wenn Jounouchi nur Ryuujis Lachen zurückbringen konnte, dann würde er seine eigene Abneigung gegen den Blonden hintenan stellen. Er würde, dachte Seto schläfrig, wirklich alles für Ryuuji tun.
 

Mokuba seufzte leise, als Setos Streicheln durch seine Haare irgendwann aufhörte. Ein kurzer Blick ins Dunkel zeigte ihm, dass sein großer Bruder tatsächlich bereits eingeschlafen war, aber er selbst war noch viel zu aufgewühlt, um ebenfalls schon schlafen zu können. So drehte er sich nur vorsichtig ein wenig herum, damit er sich besser an seinen Bruder kuscheln konnte, und schlang diesem unter der Decke einen Arm um den Bauch. Es tat gut, jetzt nicht alleine zu sein, auch wenn Seto nicht mehr wach war.
 

Trotzdem war Mokuba froh, dass er hier hatte unterkriechen können. Ein bisschen wie früher, wenn ich nicht schlafen konnte, erinnerte er sich und lächelte etwas wehmütig. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit waren sein großer Bruder und er sich nicht mehr so nah gewesen. Es hatte gut getan, am Vortag auch mit Seto über alles zu reden, was ihn derzeit so beschäftigte. Und es war wirklich ein bisschen wie früher, jetzt in Setos Bett zu liegen. Früher war er zwar immer als erstes eingeschlafen, aber Mokuba war seinem Bruder nicht böse, dass er dieses Mal zuerst Opfer seiner Müdigkeit geworden war. Es war immerhin nicht zu übersehen gewesen, dass das, was beim Frühstück passiert war, Seto ganz schön aufgewühlt hatte. Er hatte sich seinen Schlaf also redlich verdient.
 

Über diese Gedankengänge spürte Mokuba, wie er selbst auch langsam müder wurde. Wieder und wieder fielen ihm die Augen zu und schlussendlich gab er den Kampf gegen den Schlaf auf, kuschelte sich noch etwas näher an die so tröstliche Wärme seines großen Bruders und ließ sich von dessen ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen einlullen und ins Reich der Träume ziehen. Dennoch galt sein letzter Gedanke vor dem endgültigen Einschlafen nicht dem Bruder, der gerade neben ihm lag, sondern eher demjenigen, der gerade eine halbe Welt von ihm entfernt mit Dingen zu kämpfen hatte, die, wenn es nach ihm ginge, eigentlich niemand durchleiden sollte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, das war's für diese Woche dan auch wieder. Wann genau es das nächste Kapitel gibt, weiß ich noch nicht. Ihr werdet es erleben.
;)

Würde mich - wie immer - freuen, wenn ihr mir eure Meinung dalasst.
:)

Man liest sich!

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Soichiro
2020-01-06T15:22:39+00:00 06.01.2020 16:22
Ich könnte Yuugi gerade stundenlang knuddeln... Himmel ist er niedlich xD
Und es ist Yami sehr hoch anzurechnen, dass er ihn nicht einmal für ene Sekunde aufgezogen hat. So etwas ist ja bei kleinen Geschwistern immer sehr verlockend ;)
Und ich kann es voll verstehen, dass Yami durchaus neugierig ist und sich das die Tage auch mal selbst ansehen will!
Natürlich drücke ich, wie Yami, Yuugi ganz fest die Daumen :)

Ryuuji könnte ich auch knuddeln...aber aus ganz anderen Gründen ><
Er tut mir so unglaublich leid!
Man konnte sich zu gut vorstellen, wie es für ihn sein muss das Haus zu betreten.
Es wäre ihm wirklich zu wünschen, dass er jemand hätte, der ihm beistehen könnte.
Und man hofft von ganzem Herzen, dass Seto es über sich bringt einen Schritt auf ihn zu zugehen, wenn Ryuuji wieder Zuhause ist.
Es ist ja mehr als nur deutlich, wie sehr das alles auch Seto aufwühlt. Doch dass er in erster Linie an Ryuuji denkt und eben nicht an seinen eigenen Verlust, spricht tatsächlich Bände.
Ich rechne zwar damit, dass da noch einige harte Momente auf sie warten, aber genau deswegen würde mich schon ein ganz kleiner Schritt freuen.
Aber gut, ich werde es ja noch sehen ;)

Und ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet jetzt daran denken muss, aber ich frag mich wie Katsuya reagieren wird, wenn Seto mit ihm spricht!
Er wird sicherlich geschockt sein.
Es wird ihm sicherlich auch sehr wehtun, dass er jetzt nicht für seinen besten Freund da sein kann.
Antwort von: Karma
06.01.2020 20:43
*wink*
Hi und danke für den Kommentar.
:)

Hach ja, Yuugi ... den möchte ich auch einfach nur puscheln und liebhaben und ihm die Frisur zerwühlen, weil er so niedlich ist.
<3
Mein Wiesnäschen! Echt, ich hab so viel Spaß an dem kleinen Schatz.
*____*
Und das hab ich für den Rest des Kapitels auch echt gebraucht.
>.<

Mir tut Ryuuji auch wahnsinnig leid, das kannst du mir glauben. Und Seto genauso. Aber da müssen die beiden nun mal leider durch, ob sie wollen oder nicht. Ich bin halt fies.
^^°
Inwieweit Ryuuji tatsächlich in Frisco alleine bleibt ... Du wirst es erfahren. Früher oder später.
;)
Allerdings spoilere ich jetzt lieber noch nicht, sondern spanne dich und alle anderen weiter auf die Folter.
*muahaha*

*hrrhrrhrr*
Ooooh ja, Katsuya ... Die Reaktion hab ich inzwischen schon geschrieben, also weiß ich ganz genau, wie die aussieht.
*mir schnell den Mund zukleb, um nicht doch noch zu spoilern*

Mit dem Heimkommen wird's bei Ryuuji noch etwas dauern; ich bin gerade in Kapitel 32 und dafür ist das geplant. Mal schauen, ob die Planung und die Realität am Ende auch zusammenpassen. Aber vorher wird erst mal noch einiges passieren. Du kannst also weiterhin gespannt sein - und dir schon mal Wurfgeschosse fürs nächste Kapitel besorgen; möglicherweise wirst du mich dann mit Tomaten oder ähnlichem bewerfen wollen.
;D

*wieder zum Schreiben zuckel*

Bis zum nächsten Mal!

Karma
Von:  night-blue-dragon
2020-01-05T20:07:23+00:00 05.01.2020 21:07
Hi,

ein Kapitel zum dahin schmelzen und ja... ich bin auf meine Kosten gekommen.

Yuugi schwer verliebt - wirklich Zucker pur.^^ Bin ja mal gespannt, wann Amor bei Yami voll zuschlägt, noch ist er ja
gelassen, was den hübschen Ägypter angeht.

Ryuuji möchte ich einfach nur in den Arm nehmen. Ich kann es ihm sehr gut nach fühlen, wie es ist ein gemeinsames Haus zu betreten, wo alles so ist, als würde der Verstorbene gleich wieder zur Tür rein kommen. Vielleicht hat er Freunde da, die ihm beistehen und wenn es nur ist, nicht allein zu sein. Seto wäre natürlich zu wünschen, aber dieser wird wohl kaum hinter her fliegen, um ihn einfach nur in den Arm zu nehmen.

Seto hat ganz schön mit seinen Emotionen zu kämpfen. Es ist schön, dass er Mokuba nicht abgewiesen hat, er hat sich seit der Ankunft seines Stiefbruders schon ziemlich verändert - finde ich zumindest. Wäre auch echt schade, wenn nicht.
Eins zeigt die Tragödie in jedem Fall, es hat die Familie schneller näher gebracht, bzw schneller zusammenwachsen lassen - hatte ich glaub ich schon mal erwähnt.
Ich wünsche mir wirklich, dass das Verhältnis zwischen Seto und Ryuuji, bei dessen Rückkehr, besser wird und die beiden nicht mehr so sehr leiden müssen. (Ich weiß ja inzwischen, dass du das nur zu gerne tust... sie leiden lassen.*seufz*)

So, genug gelabert. Ich freue mich auf das nächste Kapitel, was wohl ziemlich traurig werden dürfte, wenn dann schon die Beerdigung sein sollte. Egal... ich freu mich drauf.

glg night-blue-dragon

Antwort von: Karma
05.01.2020 21:28
Hi!

Freut mich, dass du deinen Spaß hattest beim Lesen.
:)

Ja, der verliebte Yuugi ... das zu schreiben hat mir unheimlich viel Spaß gemacht.
<3
Der kleine Schatz ist aber auch so niedlich.
*ihn puschel*
Wie es da weitergeht - und auch wie es bei Yami und Malik weitergeht - wird sich so nach und nach zeigen.
;)
Ich verrate mal lieber noch nix.

Oh ja, Ryuuji.
*schnüff*
Ich muss gestehen, dass ich beim Schreiben der Szenen mit ihm streckenweise pausieren musste, weil ich einfach nicht aufhören konnte zu heulen. Ich bin einfach zu nah am Wasser gebaut. Wobei ... eigentlich bin ich, was so was betrifft, ein Hausboot. Überall um mich rum nur Wasser.
*blubb*
Im nächsten Kapitel wirst du erfahren, wie's bei ihm weitergeht. Ob das allerdings das ist, womit du gerechnet hast ... Ich lass mich überraschen. Würde mich aber stark wundern.
*mir schnell den Mund zukleb, um nicht zu viel zu spoilern*
Und inwieweit er alleine bleibt ... nun, du wirst es sehen.
;)

Seto zu schreiben macht mir auch eine Menge Spaß hier, auch wenn - oder vielleicht gerade weil - ich ihn so leiden lasse. Aber ich finde gut, dass es auffällt, dass er sich verändert. Vielleicht nicht für alle ersichtlich, aber für die Menschen, die ihn gut kennen, fällt es doch auf. Er öffnet sich zumindest ein bisschen mehr. Gerade auch gegenüber Mokuba. Das hat mir persönlich am meisten Spaß gemacht - zu schreiben, wie die beiden sich nach so langer Zeit endlich wieder annähern.
:)
Was die Rückkehr und das Verhältnis von Ryuuji und Seto angeht, musst du dich leider noch gedulden. Es kommt noch einiges dazwischen und ich bin schreibtechnisch auch noch nicht da angekommen. Aber ich hab schon einige Pläne. Mal kucken, ob die sich auch wirklich so umsetzen lassen, wie ich das gerne hätte, oder ob's wieder ganz anders läuft.
^^°

Wie gesagt, freut mich, dass es dir gefallen hat, und bis zum nächsten Mal!

Karma


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