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Die Farbe Grau

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Disclaimer: alles nicht mir bis auf die Ideen zur Geschichte. Komplett anzeigen

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Familie und andere Katastrophen

„Gib das her, das habe ich mir ausgesucht!“

„Wüsste ich aber, du lahmarschige Schnecke. Das gehört jetzt mir.“

„Im Leben nicht! Du willst es doch nur, weil ich es habe! Nimm deine übergriffigen Finger von mir!“
 

Crawford atmete tief ein und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es das gegnerische Team überhaupt bis hierhin lebend geschafft hatte ohne sich wegen irgendeiner Lappalie umzubringen. So wie jetzt zum Beispiel.

Siobhan hatte ihnen nach ihrem Einkauf Eis mitgebracht, das sie, gerecht wie sie war, auf den Tisch gestellt hatte. Gerecht…dass er nicht lachte. Die Telepathin hätte gut und gerne für jeden das mitbringen können, was er mochte, doch sie hatte sich dafür entschieden, die Sache ein wenig spannender zu gestalten.
 

Wie in seiner Kindheit auch.
 

Eine alte Masche, in doppelter Hinsicht. Natürlich verfolgte sie damit ihren ganz persönlichen Spaß zu Lasten seines Gehörganges und seiner Nerven. Darüber hinaus jedoch versuchte sie die unterschwellige Anspannung zu mildern, die seit dem Frühstück auf dem anwesenden Gefüge lastete, nicht zuletzt ihm selbst geschuldet, der seiner Mutter weder in die Augen sehen konnte noch mit ihr interagieren wollte. Was auf einer subtilen Ebene durch den Rest der Anwesenden wahrgenommen worden war. Zusätzlich dazu, dass die offensichtliche Frage von gestern immer noch keine Antwort gefunden hatte und die fragenden Blicke immer eindringlicher wurden.

Nicht zuletzt war das Eis ein Besänftigungsversuch in seine Richtung.
 

Crawford ignorierte diesen jetzt wie er auch alle vorherigen die letzten Stunden über ignoriert hatte. Lieber stellte er sich dem unsinnigen Gekebbel Hidakas und Kudous, die sich um ein simples Eis am Stiel die Köpfe einschlugen. Nicht, dass sein Team da besser war, hatten doch Schuldig und Jei ihren Kampf bereits auf nonverbaler Ebene geführt. Nur Nagi hatte in diesem ganzen, unsinnigen Spektakel seinen eindeutigen Vorteil genutzt und sich das Eis, was er wollte, außerhalb der Reichweite von allen anderen geholt.
 

Die Einzigen, die sich aus diesem infantilen Gehabe heraushielten, waren Tsukiyono, der, wie Schuldig ihm mit einem Augenrollen mental zur Kenntnis gegeben hatte, nicht wählerisch war, Fujimiya, der keine Vorliebe für Eis besaß und er selbst, der sich weigerte, seiner Mutter in die Karten zu spielen.
 

„Können wir weitermachen?“, fragte er langsam in die Runde und die Lautstärke auf der anderen Seite des Tisches wurde auf ein erträgliches Maß heruntergeregelt.

„Nagi, Tsukiyono, wenn ich bitten dürfte.“

Der blonde Weiß maß ihn kurz und biss von seinem Eis ab, bevor seine Augen zu seinem Tablet zurückkehrten, auf dem sich die Notizen befanden, die, so wussten sie beide, Tsukiyono nicht wirklich brauchte. Der Junge hatte ein hervorragendes Gedächtnis, auch nach Schuldigs doppeltem Eingreifen noch.

„Bei dem Durchforsten meiner Gedanken haben wir insgesamt sechs Areale ausfindig gemacht, die in Frage kommen könnten. Bei einem Abgleich mit den Lieferorten des Kunsthändlers sind wir auf einen Mittelsmann gestoßen, der drei dieser Areale beliefert hat. Die Polizei hat noch keines dieser Areale für sich identifiziert und durchsucht, das heißt die Möglichkeit, dass sich Lasgo dort befindet, könnte gegeben sein. Manx lässt gerade die Aufnahmen von entsprechenden Verkehrskameras von vertrauenswürdigem Personal auswerten um dort Anhaltspunkte zu finden.“
 

Der Ausdruck in Tsukiyonos Augen erwartete von Crawford eine präkognitive Antwort, die er nicht erhalten würde – ganz zum Unbill des Orakels selbst. Seine Gabe schwieg beharrlich zum Erfolg oder Misserfolg eines solchen Vorhabens und er grollte innerlich.
 

Wozu hatte er dann Fujimiya in seinem Bett toleriert, wenn es ihm keinen Vorteil brachte? Warum hatte er ihn nicht hochkant aus seinem Zimmer geworfen, als er wach geworden war und festgestellt hatte, dass das Gefühl der Hand auf seinem Unterarm nicht Nagis Verdienst war, sondern dass er nicht alleine in seinem Bett war.

Ein schrecklicher Moment war das gewesen, der seinen Herzschlag für einen Augenblick ins Unermessliche gesteigert hatte. Nur langsam war er abgeflacht und wieder zur Ruhe gekommen.
 

Dieses Mal hatte er Fujimiya nicht lange genug für Lasgo gehalten um ihn anzugreifen. Nein, dafür war die Situation viel zu absurd gewesen. Der Weiß, wie er neben ihm saß, das Kinn auf die Brust gefallen, in seinem Schlafanzug, mit einer Hand auf Crawfords Unterarm.

Wer könnte ihm da verdenken, dass er minutenlang Zeit benötigt hatte um zu begreifen, was er dort sah und was geschehen sein mochte, um solch eine Situation hervorzurufen. Wer dafür verantwortlich war, denn Fujimiya war sicherlich nicht alleine auf diese absurde Idee gekommen, sich freiwillig in seine Nähe zu begeben.
 

Mit dem Begreifen war auch die Verwunderung über sich selbst gekommen. Er hatte keine Angst vor Fujimiya. Der Weiß mit samt seiner Hand machte ihn nach dem ersten Erschrecken noch nicht einmal unsicher, seine schlechten Erinnerungen blieben am Grund seines Geistes. Anstelle dessen hatte Fujimiya ihm Ruhe vermittelt und er hatte sich zum ersten Mal wirklich ernsthafte Gedanken um das Thema Muse gemacht. Zum ersten Mal hatte er sie soweit zugelassen um zu analysieren, was es für ihn und für Fujimiya bedeuten würde, wenn eine derartige Bindung entstünde.
 

Seine Mutter war an Perser gebunden. Das war eine Katastrophe, was ihre Sicherheit anbelangte, denn sie musste mit allen Mitteln gewährleisten, dass ihre Muse überlebte, da es sonst aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem irreparablen Schaden ihrer Gabe kommen würde, der in einem vollständigen Verschwinden der Telepathie münden würde.

Wenn er tatsächlich Fujimiya als seine Muse annahm, dann würde er sich in die gleiche Abhängigkeit begeben wie seine Mutter auch. Dann hatte er dafür zu sorgen, dass Fujimiya am Leben blieb. Ihn in einen Keller sperren, schloss sich leider aus, da er dafür sorgen musste, dass der andere Mann seinen Lebenswillen behielt. Er würde Fujimiya öfter sehen oder mit ihm sprechen müssen.
 

Ihre Feindschaft würde ein Problem werden oder ganz verschwinden. Vermutlich. Das war lästig und eine Schwäche.
 

Zum ersten Mal hatte sich Crawford erlaubt, ihrer beider positive Vergangenheit Revue passieren zu lassen. Es war nicht viel, aber es gab etwas und er konnte nicht sagen, dass es ihm missfiel. Fujimiya spielt gerne und gut Schach, er forderte ihn mit seiner chaotischen Art zu spielen über das normale Maß hinaus. Die Ruhe des Mannes ließ auch ihn zur Ruhe kommen. Der Mann hatte ihn tatsächlich erregt, wo er gedacht hatte, dass Lasgo ihm jedwedes Intimitätsgefühl genommen hatte. Fujimiya hatte Humor, auch wenn Crawford sich in der Vergangenheit redlich darum bemüht hatte, diesen durch sein Verhalten abzutöten. Was nicht bedeutete, dass er den Humor letzten Endes nicht zu schätzen wusste.

Zumal Fujimiya in seiner ganzen Art respektlos genug war um ihm die Stirn zu bieten.
 

Was ihn mehr reizte, als er zuzugeben bereit war. Eben weil Fujimiya nicht Schuldig war, der ihn bis aufs Blut reizte. Weder geistig noch körperlich waren die beiden Männer gleich und so zögerlich, wie Crawford in den letzten Tagen gelernt hatte, den Telepathen zu akzeptieren und ihm auch mit seinen Gedanken zu vertrauen, so wenig attraktiv war Schuldig von jeher für ihn gewesen. Keines der körperlichen Attribute des Telepathen sprach ihn an, im Gegensatz zum Weiß.

~Das trifft mich aber tief.~
 

Schuldigs mentale Stimme riss Crawford aus seinen Gedanken und blinzelnd tauchte er aus eben jenen wieder auf. Auf dem Weg zurück in das Gespräch, verfing er sich in Tsukiyonos Gesichtsausdruck und den großen, blauen Augen, die ihn geweitet anstarrten, die Wangen des Weiß ebenso feuerrot, wie sie es am gestrigen Tag gewesen waren. Crawford runzelte die Stirn. Wenn Schuldig es tatsächlich gewagt haben sollte, auch nur einen seiner Gedanken an dieses Gefüge hier weiter zu geben…

~Nein, habe ich nicht. Genaugenommen ist das alleine deine Schuld.~

~Ich wüsste nicht, warum.~

~Ich schon. Schau her, oh großer, unwissender Anführer.~ Und schon präsentierte Schuldig ihm die Erinnerung Tsukiyonos, die Crawford zeigte, wie er mit starrem Blick auf den jüngsten Weiß mit einem Mal lächelte. Nicht kühl oder arrogant oder überlegen, nein. Er lächelte zufrieden und der gegnerische Taktiker starb beinahe.
 

Das Orakel grollte.
 

„Wenn sie nach Auffälligkeiten suchen, sollen sie die Aufnahmen auf SUVs überprüfen. Weinrot und dunkelblau. Takatori lässt sich in den klassischen Limousinen fahren.“

„Haben Takatoris Wagen Peilsender?“, fragte Fujimiya und Crawford schüttelte selbstironisch den Kopf.

„Das war bisher nie notwendig gewesen.“

„Naoe ist mit mir die Gewohnheiten und den bisherigen Tagesablauf eures ehemaligen Auftraggebers durchgegangen“, zog Tsukiyono die Aufmerksamkeit auf sich, „und wir sind dabei, mithilfe dieser Angaben und meiner Erinnerungen ein Bewegungsprofil zu erstellen.“

Crawford nickte. „Gut. Wir sollten die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass sich Takatori in der Nähe unserer Zielperson und seinen Männern befindet. Dies scheint wahrscheinlich in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei einem oder mehreren Männern unserer Zielperson um PSI handelt.“

„Ist es das, was Schuldig gestern in meinen Gedanken gefunden hat?“

Crawford nickte knapp. Der jüngste Weiß war ein talentierter Stratege, natürlich kam er alleine auf den Schluss, der soviel neue Unwegbarkeiten mit sich brachte.
 

„Ist es der Empath, der Birman und Aya beeinflusst hat?“, stieg auch Hidaka in die durchaus intelligente Fragerunde mit ein und überraschte Crawford damit. Hidaka war nicht der Typ für schnelle Schlüsse, wenn man Kritikers Akten Glauben schenken konnte, hatte er andere Qualitäten, die für ein neurotisches Team wie es Weiß war, vonnöten waren. Neben seinem nützlichen Drang zur Gerechtigkeit war er auch derjenige, welcher sich um den Zusammenhalt des Teams kümmerte und darum, dass diejenigen, die eine gewisse Instabilität aufwiesen, mit dieser nicht das Team gefährdeten.

„Aller Wahrscheinlichkeit nach ja.“

„Was sagt die Voraussicht?“

Crawford schnaubte. „Nichts. Was den Verdacht nahelegt, dass noch eine andere Gabe im Spiel ist. Unter PSI gibt es Negierende. Darunter versteht man die Fähigkeit, andere Gaben zu unterdrücken. Das Fehlen meiner Voraussicht könnte darin begründet liegen.“

„Noch ein PSI in Lasgos Diensten?“

„So scheint es.“

~Das würde auch die Situation in deiner Kaffeebar erklären. Oder warum du Lasgos Tun nicht vorausgesehen hast~, mutmaßte Schuldig.

~In der Tat.~

~Wie wahrscheinlich ist es, dass zwei PSI unter Rosenkreuz‘ Nase als Schläfer eingeschmuggelt wurden?~

~So wahrscheinlich, wie es uns unwahrscheinlich schien, dass es einen unklassifizierten PSI in Japan gibt oder dass es sich dabei nur um eine Person handelt.~
 

„Was ändern die PSI an unserem Vorgehen?“

Das war eine gute Frage. Ein Negierender und ein Empath konnten erheblichen Schaden anrichten. Eigentlich war das ein Fall für eines ihrer Krisenreaktionsteams, doch Crawford sah mit einem Blick in die Zukunft, dass Rosenkreuz aufgrund der besonderen Situation die Verantwortung auf sie zurückdelegieren würde. Eine weitere Prüfung, um sie versagen zu lassen, unter dem Deckmantel der Strafe.

Alleine der Gedanke rief schon Widerstand in Crawford hervor. Er würde nicht zulassen, dass er wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wurde, dass sein Team neutralisiert wurde. Wenn seine Organisation beschlossen hatte, ihn für etwas zu strafen, was ihm aufgezwungen worden war, dann würde er ihnen zeigen, dass er nicht umsonst der Kronprinz war. Wenn der Rat beschlossen hatte, unsachgemäßen Erwägungen zu folgen, dann würde er ihnen beweisen, dass sie falsch lagen. Er würde ihnen eben jene Beweise vorlegen, die keinen anderen Schluss zulassen würden.
 

Und wenn es das Letzte war, was er tat.
 

Crawford sah auf und lächelte dunkel, in seinen Augen, das wusste er, stand Mordlust. „Auch ein Negierender und ein Empath sind nicht immun gegen mundane Kugeln aus einer Schusswaffe. Oder gegen die Klinge eines Messer oder Katanas, das Gift von Pfeilen, den Draht eine Garotte oder gegen scharfe, metallene Klauen.“
 

~~**~~
 

„Bradley.“
 

Er ignorierte sie, während er seine Krawatte anlegte und sie mit geübten Bewegungen einschlug und richtete. Noch trug er nur Hemd und Hose, Schuhe und Sakko hatte er zugunsten der eigenen Bequemlichkeit noch nicht angelegt. Selbst das Hemd war ihm in diesem Moment zu steif und es umschloss seinen Hals zu unangenehm eng, als dass er sich nicht unwillkürlich an das metallene Halsband erinnert fühlte, das Lasgo ihn aufgezwungen hatte.

Siobhan seufzte lautlos. Es war eine vergängliche, kurze Erinnerung, die keinen Flashback hervorrief, so konzentrierte sie sich auf das Positive daran. Ihr Sohn hatte das Legere für sich entdeckt. Er war entspannter geworden, weniger förmlich und steif, wie auch immer er sich dazu hatte entwickeln können. Von ihr oder ihrem Mann hatte er das definitiv nicht. Aber waren nicht alle Hellseher so?
 

Sie rollte mit den Augen – ebenfalls innerlich. Natürlich waren sie alle steif und verbissen in ihre Aufgabe, das hatte sie auch schon zu dem Zeitpunkt gewusst, als man seine Gabe festgestellt hatte. Steif und verbissen hatte er sein Team erhalten und geführt und erst in den letzten Jahren hatte es sich etwas gegeben. Ihr Sohn hatte tatsächlich gelernt, zusammen mit Schuldig, Nagi und Jei zu lachen. Er hatte sie an seinem Humor teilhaben lassen, was Siobhan als erheblichen Fortschritt gewertet hatte, nachdem Thomas sie darauf aufmerksam gemacht hatte.
 

Mit Spannung hatten sie den Weg des Teams verfolgt, das ihnen den Durchbruch in Japan verschaffen würde. Ratsherr Leonard hatte vorausgesehen, dass die unterschiedlichen, wenig kompatiblen Talente ihren Weg gehen würden, auch wenn es nicht so aussah. Siobhan persönlich hatte an keinem von ihnen einzeln gezweifelt, jedoch an ihrer Gesamtheit. Schuldig und Bradley hassten sich schon auf der Schule, Jei war mit seiner unbezwingbaren Wildheit eine stündliche Herausforderung, die eine Mission in einem bisher unabgedeckten Land unnötig erschweren würde. Nagi, ein nicht geschulter Telekinet, ein tödlicher, desillusionierter Junge voller Angst und Wut auf die Welt, dessen Gabe jedes Haus problemlos in Schutt und Asche legen würde.
 

Doch Ratsherr Leonard sollte Recht behalten. Trotz aller Widrigkeiten hatte sich dieses Team gefunden und war zu einer Einheit geworden, die Rosenkreuz‘ Ideale in die Welt hinaustrug und sich nichts zu Schulden kommen ließ. Sie liefen perfekt, über Jahre hinweg. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem dieses verachtenswerte Stück menschliches, unnützes Fleisch sich an ihrem Sohn vergangen hatte.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sich daran gemacht hatte, ihren Sohn zu zerstören. Ihr eigen Fleisch und Blut, das sie zu einem stolzen, unbeugsamen Mann großgezogen hatte. Wenn sie die Erlaubnis dazu hätte, würde sie diese ganze, verfluchte Insel auf der Suche nach dem Bastard dem Erdboden gleichmachen. Hatte sie aber nicht, denn es lag in der Zuständigkeit des entsprechenden Teams, begangene Fehler wieder gut zu machen und so verständlich die Handlungen ihres traumatisierten Sprösslings auch gewesen waren, so wenig hatte er jedoch all jenes beachtet und respektiert, das zu den Regeln ihrer Organisation gehörte.
 

Bei Gott, die gefälschten Berichte waren noch nicht einmal das, was den Rat am Wütendsten gestimmt hatte. Die Verletzung des Vertrages mit Kritiker, die Gefährdung ihrer Aufgabe hier in Japan sowie das Misstrauen ihren eigenen Ärzten gegenüber hatten den Rat äußerst ungnädig auf eine zweite Chance für Schwarz reagieren lassen.

Doch sie hatte sie von einer solchen überzeugen können und war hierhin entsendet worden, mit der Maßgabe, den Erfolg zu überwachen und den Misserfolg mit aller gebotenen Härte zu strafen. Eine weitere Verletzung ihrer Statuten stand dabei nicht zur Diskussion und sie würde jeden Ansatz im Keim ersticken.
 

So auch gestern. Egal, was diesen Akt des unnötigen Rebellierens hervorgerufen hatte. Sie würde nicht zulassen, dass Schwarz ihre Neutralisierung herausforderten.
 

„Mutter.“ Die kaum verhohlene Wut in seiner Stimme zeugte davon, dass Bradley das ganz und gar nicht so sah wie sie und Siobhan hob die Augenbraue. Besser so, als wenn sie ihn jetzt schon nach Wien begleiten musste.
 

„Wie geht es dir?“ Die Frage war unnötig, wie ihr seine Gedanken mitteilten. Er hatte den ganzen Tag über Kopfschmerzen und gelegentliche Schwindelanfälle als Nachwirkungen ihres Eingriffs gehabt. Der gestern aufgekommene Verdacht belastete ihn wie er ihn gleichermaßen auch wütend machte.

„Ich konzentriere mich auf die vor mir liegende Aufgabe. Aber deswegen bist du nicht hier, Mutter. Halten wir uns nicht mit Smalltalk auf.“

Er flüchtete sich in seine biedere Geschäftsmäßigkeit, wie er es vor Jahren mit seinem Team getan hatte. Sie trat einen Schritt näher und er zuckte im ersten Moment zurück, ganz zu ihrem Unbill.

„Es ist vorbei“, murmelte Siobhan und ihr Sohn schnaubte. Abrupt drehte er sich vom Spiegel weg und wandte sich ihr vollständig zu. Spannend, sein Körper automatisch versuchte, sie mit seiner Größe einzuschüchtern. Ein unnötiges Unterfangen, wie sie beide wussten.

„Für ein „es ist vorbei“ kommst du nicht unangekündigt in mein Zimmer und schließt die Tür hinter dir. Was möchtest du, Mutter?“
 

Siobhan trat einen weiteren Schritt nach vorne und lächelte. Bradley mochte es momentan noch nicht so sehen, doch er war stark und nichts hatte ihn brechen können, auch Lasgo nicht. Er würde nicht versagen.

„Du weißt, dass es notwendig war.“

„Das habe ich zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt.“

~Ich bin nicht gegen dich.~

~Du erfüllst deine Aufgabe hier, Thanatos. Du strafst die, die gegen Rosenkreuz stehen und Unruhe in unsere Organisation bringen.~

Einstudierte Worte, waren es, die seine Gedanken verließen. Worte ohne Bedeutung in diesem Moment. Natürlich hörte sie den Vorwurf dahinter. Die Frist der sechs Wochen, die drohende Neutralisierung. Der dadurch implizierte Vorwurf, dass das Verhalten und Handeln ihres Sohnes zum Schaden von Rosenkreuz sein würden.

~Nicht nur Thanatos ist hier, Bradley. Ich sorge mich um dich.~

~Warum solltest du?~

Nun war es an ihr zu schnauben. ~Weil ich hier als deine Mutter vor dir stehe.~

~Mir geht es gut. Es gibt keinen Grund zur Sorge.~

~Soll ich dir jetzt wirklich alle Punkte aufzählen, die mich zur Sorge veranlassen oder bist du klug genug, sie dir selbst einzugestehen.~
 

Ein tiefes, unzufriedenes Seufzen entkam seinen Lippen. Er ging an ihr vorbei und strebte das Bad an, das sich an sein Schlafzimmer anschloss. Beinahe schon erwartete sie, dass Bradley ihr die Tür vor der Nase zuschlug, doch das tat er nicht. Mit dem Aftershave in der Hand hielt er inne und maß sie wieder durch den Spiegel, als könne das ihre Verbindung zueinander abschwächen.

~Was willst du, Mutter? Mit meine eigene Schwächen unter die Nase reiben? Das kann ich schon selbst gut.~

Siobhan seufzte. ~Ihr könnt ihn nicht des Verrates bezichtigen, Bradley. Das widerspricht allem, was unsere Organisation ausmacht~, ging sie nicht auf seine allzu bitteren Gedanken ein. ~Das, was ihr jedoch tun könnt, ist Beweise zu sammeln.~
 

Wie es schien, war sie immer noch in der Lage, ihren hauseigenen Präkognitionsrevoluzzer zu überraschen und das machte Siobhan doch sehr stolz. So wie Bradley nun zu ihr herumfuhr und sie anstarrte, als hätte sie den Verrat ausgesprochen. So wie sich seine Gedanken überschlugen, aber nicht in der Lage waren, eine klare Frage zu formulieren, dafür aber umso mehr Visionen triggerten, die sich mit den kommenden Aufträgen befassten.

Siobhan wartete, bis er all diese Visionen durchlebt und für später katalogisiert hatte, bevor sie sich räusperte und die Stimme erhob.

„Du weißt, was heute Abend und heute Nacht auf dem Spiel steht. Versage nicht.“
 

Bradley schnaubte. „Natürlich nicht, Mutter.“ Prüfend warf er einen Blick auf den dicken Umschlag, den sie bis jetzt in der Hand gehalten hatte und Siobhan streckte ihm ihn entgegen.

„Was ist das?“

„Du bist der Hellseher, sag du es mir.“

Seine Augen und seine Gedanken teilten ihr mit, was er davon hielt – und auch, dass Ran Fujimiya exakt das Gleiche zum ersten Mal zu ihm gesagt hatte, als die beiden Männer sich bei Lasgo befunden hatten. Die Erinnerung war ebenso unwillkommen, wie sie mit bitterem Humor unterlegt war und wurde schneller als gedacht von der Überraschung abgelöst, die mit den Dokumenten, die Bradley nun hervorzog, einherging.
 

„Adoptionspapiere?“, wiederholte er zweifelnd das, was auf dem Deckblatt geschrieben stand und Siobhan nickte.

„Für dich und Nagi, gültig nach britischem und japanischen Recht. Es ist soweit alles vorbereitet, du und Nagi müssen nur noch unterschreiben. Der Rat hat dem ebenfalls bereits zugestimmt.“
 

Für eine lange Zeit dachte und sagte Bradley rein gar nichts dazu. Blind starrte er auf die Dokumente, die er in der Hand hielt und die ihm das möglich machten, was schon vor Jahren hätte passieren sollen. Es würde Nagi und ihrem Sohn gut tun und ihr den lange ersehnten Enkel verschaffen. Letzteres war natürlich nur Nebensache, doch Siobhan konnte mit Fug und Recht behaupten, dass es eine schöne Nebensache war, insbesondere vor dem Hintergrund, dass ihr Ältester sich nicht dazu bequemte, sich eine Frau zu nehmen.
 

Der Blick, der sie traf, hatte jedoch nichts Frohes und die Gedanken, die mit einem Mal zurückkehrten, waren schier außer sich vor Zorn. Überrascht von der Wucht eben jener sah Siobhan stumm zu, wie er die Blätter auf sein Bett warf, wo sie sich wild und chaotisch verstreuten. Auf den Zorn in Bradleys hellen Augen war sie nicht im Geringsten vorbereitet gewesen.

„Möchtest du, dass ich das noch schnell vor meiner Neutralisierung unterschreibe, damit du einen neuen Sohn im Haus hast, der mich ersetzen kann?“, fragte ihr Sohn mit einer Schärfe in der Stimme, die ihr zunächst den Atem nahm. Dann war es Wut, die in ihre eiserne Faust in ihr ballte, bodenlose, zerstörerische Wut. Das, was er ihr hier deutlich vorwarf, war unerhört und so falsch, dass es sie anwiderte.

Schneller, als sie es sich versah, hatte sie ihre Hand zum Schlag erhoben. Bradleys Augen fixierten sich ruhig darauf und seine Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln, mit dem er auf sie herabstarrte.

„Zu nah an der Wahrheit, Mutter, als dass es genehm ist?“, fragte er mit Hohn in der Stimme und mit aller gebotenen Disziplin senkte sie ihre Hand. Nein, sie würde ihn nicht schlagen. Weder mit ihrer Hand noch mit ihrer Gabe. Dazu ließ sie sich nicht provozieren.
 

~Glaubst du das wirklich?~, fragte sie anstelle dessen lauernd und er schnaubte abwertend. ~Glaubst du, ich würde dich durch ihn ersetzen wollen, damit ich etwas zum Kümmern habe, wenn du wie ein Geist deiner zukünftigen Aufgabe nachkommst?~ Er wollte antworten, doch sie hielt ihn mit einem warnenden Aufflammen ihrer Gabe davon ab. Nein… ihr war nicht danach, ihn nicht an ihrer Wut teilhaben zu lassen. Ihr war nicht danach, ihn weiter diesen Unsinn denken zu lassen.

~Du denkst, ich warte nur darauf, dass der Rat dich zur Neutralisierung freigibt und damit mir der Abschiedsschmerz nicht so schwer fällt, ich mir Nagi ins Haus hole?~
 

Ruckartig trat sie einen Schritt nach vorne und legte den Kopf in den Nacken, starrte ihm in die hellen, kalten Augen, die er von seinem Großvater geerbt hatte.

~Ich liebe dich schon seitdem ich das erste Mal erfahren habe, dass ich schwanger bin. Du bist mein ganzer Stolz und ich werde nicht müde, deine Taten und Entscheidungen zu verfolgen, mit denen du Unmögliches möglich machst. Niemals im Leben würde ich dich ersetzen wollen. Niemals im Leben würde ich nicht um dich trauern, sollte es wirklich soweit kommen, Bradley. Niemals im Leben würde ich dich vergessen oder aufhören, mir Vorwürfe zu machen.~

Sie sah Zweifel auf seinem Gesicht. ~Mutter, du…~
 

Unwirsch grollte sie, schnitt ihm mit einer rüden Geste das Wort ab, noch nicht bereit dazu aufzuhören. ~Was glaubst du eigentlich, wie ich mich fühle? Was glaubst du eigentlich, was es mit mir macht, dich so gesehen zu haben und darum bangen zu müssen, dass ich dich schlussendlich vielleicht aufgeben muss? Erinnere dich. Du hast alles vor uns verborgen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem es nicht mehr ging. Jei meldet sich bei mir und erklärt mir, was geschehen ist, doch das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich in deinen Gedanken gelesen habe, als ich hier in Japan ankommen bin und du bewusstlos in dem Krankenhaus gelegen hast, in das sie dich gebracht haben, nachdem Lasgo dich ein zweites Mal überwältigt hat. Ein zweites Mal! Ich sehe meinen eigenen Sohn in Ketten, ich sehe ihn unter Schmerzen und vor Verzweiflung suizidal. Ich sehe, wie sich ein einfacher Mensch an ihm vergreift, wie er es wagt, Hand an ihn zu legen und du glaubst, dass ich das einfach so hinnehme? Du glaubst, dass ich mir keine Sorgen um dich mache und mein Herz jedes Mal blutet, wenn dich deine Erinnerungen überkommen oder dein Leid in Gedanken anderer auftaucht?~
 

Dass sie ihn sprachlos gemacht hatte, sah sie nur zu gut. Wie immer, wenn er nicht in der Lage war, auf etwas sofort eine Antwort zu finden, verschloss sich seine Mimik und wurde zu Stein, als könne niemand eben diesen durchdringen. Reichlich zwecklos bei ihr, das wussten sie beide.
 

Siobhan lächelte schmerzlich und legte ihm vorsichtig ihre Hand auf die Wange. Unter ihren Fingern zuckte ein Muskel, sonst hielt er jedoch still und sie strich sanft über die glattrasierte Haut dort.

~Du bist immer noch mein Junge. Du wirst es immer sein. Hinterfrage das nicht, Bradley. Niemals.~

Er blinzelte und sah auf die Hand hinunter. Für einen Moment sah es so aus, als würde er sich ihr entziehen, doch dann entspannte er sich. Der Druck, der bisher auf seinen Schultern lastete, fiel mit einem Mal ab und seine gesamte Gestalt verlor ihre Anspannung.

~Komm.~ Sie lockte ihn mit Sanftheit und legte die Hand auf seinen Hinterkopf. Wortlos umarmte sie ihn und zog ihn an sich.
 

~Ich möchte nicht vergessen~, murmelte Bradley schließlich, auch in Gedanken beinahe unhörbar. Es ließ sie seufzen.

~Das wirst du auch nicht. Dafür bist du viel zu stur und zu erfolgreich in dem, was du tust. Du hast einen wilden PSI-Flohzirkus dazu gebracht, dich als Anführer zu achten und zu lieben, auch wenn du letzteres sicherlich nicht im Sinn hattest und dir das Konzept dessen auch heute noch Kopfschmerzen bereitet. Der Rest ist ein Kinderspiel.~

Bradley löste sich von ihr und sah auf sie herunter. Er trat einen Schritt zurück, dann noch einen und warf schließlich einen Blick auf das Bett, wo die Dokumente lagen.
 

„Ich überlege es mir.“
 

Siobhan strahlte und setzte ihm erneut nach. Überschwänglich drückte sie ihm einen feuchten Kuss auf die Wange, genau so, wie er es so abgrundtief hasste.

„Siobhan“, knurrte er wütend und lachend entfernte sie sich aus seiner Reichweite, bevor er sich dafür rächen konnte. Da war er wieder, ihr stetig missgelaunter Hellsehersohn. „Lass das.“

Als wenn. Sie zuckte mit den Schultern. „Sieh’s beim nächsten Mal voraus und triff Vorkehrungen“, konterte sie mit einem ihrer wirklich alten Argumente.

Amüsant fand ihr Sohn das nicht, ganz und gar nicht. „Schmor in der Hölle, du Biest.“

Ein Charmeur wie er im Buche stand. Sie grinste abgrundtief böse.

„Schmor du erstmal in deinem Bett. Zusammen mit Fujimiya.“
 

Über seine mentalen Flüche lachend verließ sie nun endgültig sein Zimmer.
 

~~**~~
 

Es war, als wäre all die Hoffnungslosigkeit, die sinnlose Gewalt gegeneinander und die aus Angst falsch getroffenen Entscheidungen niemals geschehen. So schien es ihm, als das vor ihnen liegende Areal mit all dem, was es Widerwärtiges ausspuckte, in Schmerzensschreien, Blut und Asche versank. Vergänglich waren sie, die bisher nichtsahnenden Menschenleben, die in Klauen, Klingen, Darts, Drähten, Kugeln und in der Gabe ihres Technikjungen untergingen. Mehr als einmal musste er den Klauenmann davor warnen, die ihm selbst zustehenden Leben zu nehmen. Nach der dritten Warnung hatte der Weiß verstanden, was offensichtlich war und hielt sich fern von seinen eigenen Herausforderungen.
 

Ganz im Gegensatz zu dem Technikjungen, der das nicht mitbekommen hatte und erst durch ein eindeutig warnendes Zischen seinerseits seine Finger von den feigen, viel zu weit fliegenden Darts nahm. Auch wenn ihr Zukunftsseher auf die Hilfe des blumenliebenden Teams angewiesen war, so galt dies nicht für ihn.
 

Garantiert nicht. Seine Beute, ihre Seelen, ihre Ängste, ihre Tode gehörten ihm und nur ihm.
 

Jei ließ sich auf die Knie wieder und betrachtete den vor ihm sterbenden Mann mit wohliger Ruhe. Auf dessen Röcheln und Wimmern lauschend legte er den Kopf schief. Zu lange schon hatte er ohne dieses Vergnügen ausgeharrt, als dass es ihn jetzt nicht berauschen würde. Zu lange war er sanft gewesen, vernünftig, mitdenkend, ruhig, als dass er jetzt nicht jede Sekunde der Verderbnis in sich aufsaugen würde.

Menschliches Leid erregte ihn auf so vielfältige Art und Weise, dass er jede einzelne seiner sonst abgestorbenen Zellen in seinem Körper spüren konnte. Sie setzten ihn unter Strom und alles schien in diesem Moment, in dieser exakten Sekunde einen Sinn zu ergeben. Jeder Faden, dessen Ende er in seinen tauben Fingern hielt, hatte seinen Sinn. Alles Wahrscheinliche und Unwahrscheinliche hatte eine Bedeutung, zusammengepresst in dem Stück Fleisch, das vor ihm lag und krepierte.
 

Er grub seine Finger in die Wunde, die er verursacht hatte, um zu fühlen und eins zu sein mit dem sterbenden Puls. Lächelnd schloss er die Augen und begleitete das Leid auf seinem letzten Weg hinein in die Unbedeutung. Nichts würde übrig bleiben, so würde er zum Nächsten gehen und davon zum Nächsten und wieder zum Nächsten.
 

Wie gut, dass die sieben Milliarden Menschen auf diesem tagtäglich sterbenden Stück Weltraumgestein eine fast unerschöpfliche Quelle waren.
 

~~**~~
 

„Bombay, Achtung!“
 

Omi fuhr ruckartig herum, gerade rechtzeitig genug um den Wachmann abzuwehren, der anscheinend ihren ersten Angriff überlebt hatte und es sich nun zum Ziel gesetzt hatte, seinen Rückzug zu blockieren.

Er trug ein Messer bei sich, wie er erkannte, als dessen Klinge schmerzhaft, aber oberflächlich in seine Haut schnitt. Omi schlug sie weg und nutzte das ungehobelte, brutale Momentum des größeren Mannes für sich um ihn damit von sich zu stoßen, während er selbst zu seinen Darts griff. Naoe befand sich damit hinter ihm, das tat aber seiner Gabe keinen Abbruch, die das Genick des Wachmannes mit einem lauten, knirschenden Knacken absurd und tödlich verdrehte.
 

Omi schauderte und drehte sich abrupt zu Naoe um, der noch mit erhobener Hand hinter ihm stand und ihn nun schweigend musterte. Erst nach ein paar Momenten senkte er seine Hand und kam langsam näher, den Blick auf die blutende Wunde gerichtet.

„Hat er dich schwer verletzt?“, fragte der Schwarz nach und Omi folgte Naoes Aufmerksamkeit. Nach dem ersten Schock begann es zu schmerzen, doch auch das hielt sich in Grenzen.

„Nein, es ist oberflächlich. Die Wunde muss lediglich gereinigt und verbunden werden.“

Naoe nickte zögerlich, die Lippen so unwirsch verzogen, dass Omi sich unwillkürlich fragte, warum das Missfallen des Schwarz groß genug schien, dass es sich offen bemerkbar machte. „Ich kümmere mich darum, sobald wir die rote Zone verlassen hatten“, bot der Schwarz an und Omi hob die Augenbraue. Er konnte die Wunde auch selbst versorgen. Das war eines der ersten Dinge, die ihm Birman beigebracht hatte, als er seine Aufgabe als Auftragsmörder angenommen hatte: nicht tödliche Wunden selbst versorgen um Ressourcen ihrer Organisation zu schonen und nicht in einem zivilen Krankenhaus auf sich aufmerksam zu machen, wenn sie außerhalb von Kritikers Einzugsbereich operierten. Nähen gehörte ebenfalls dazu, auch wenn er nicht wirklich scharf darauf war, seine eigene Haut zu durchstechen oder zu kleben.
 

Der Gedanke an Birman belastete ihn, so kehrte er zurück zu Naoes Vorschlag. Omi war sich nicht sicher, ob er die Gabe des Anderen auf seinem Körper freiwillig akzeptieren konnte. Viel zu negativ hatten sich Erinnerungen an dessen Heilung in ihn gebrannt, als dass er sich wohl damit fühlen würde. Ganz im Gegenteil. Auch jetzt noch war das, was ihm das Leben gerettet hatte letzten Endes, ein stetiger Quell an Alpträumen.
 

Irgendetwas in seinem Gesicht musste seine Gedanken verraten haben, so schnell, wie sich ihm Naoes bisher offene Mimik verschloss, der Schwarz sich aufrichtete und den Blick von der Wunde abwandte, als hätte er sich verbrannt. Die unwillkommenen Klauen eines schlechten Gewissens bohrten sich in Omi und er verfluchte sich dafür. Er hatte keinen Grund dazu, sich schlecht zu fühlen, wenn Naoe sich schlecht fühlte. Es war nicht seine Schuld gewesen, dass er überhaupt in dem Keller gelandet war. Es war nicht seine Schuld, dass Schuldig und Crawford ihn gefoltert hatten.
 

Dennoch.
 

Omi seufzte lautlos. Es war nur eine oberflächliche Wunde. Er konnte es jederzeit abbrechen. Und es hatte den Vorteil, dass er sich seinen Ängsten stellen konnte. Er konnte es nicht zulassen, dass sie sein Leben bestimmten. Das hatte er in der Vergangenheit nicht getan und das tat er auch heute nicht. „Okay. In Ordnung. Aber du hörst auf, wenn es nicht gehen sollte.“ Wenn es zuviel werden sollte.

Naoe maß ihn überrascht und nickte dann. „Wir sollten gehen, Abyssinian hat die Bomben bereits angebracht und wartet auf unser Go.“
 

Omi nickte und gemeinsam verließen sie das Hauptgebäude des ersten Areals, das nachweislich noch durch Lasgo genutzt worden war, bevor sie gekommen waren. Sie hatten den Mann zwar nicht dingfest machen können, dafür hatte Schuldig in den Gedanken der Wachmänner aber eindeutige Spuren ihrer Zielperson gefunden. Letzte Woche hatte er diesem Areal einen Besuch abgestattet, in Begleitung des Vernarbten und Takatoris. Sie waren also auf der richtigen Spur, dank der Informationen von Kritiker und dank ihrer eigenen Rückschlüsse. Die Möglichkeit, dass sie den korrupten Politiker nun endlich zur Strecke bringen konnte, rückte also in greifbare Nähe.
 

Ein Ding der Unmöglichkeit, noch vor ein paar Wochen und nun? Nun ging das Areal in der Nähe von Nagato in Feuer und Asche unter, das Lasgo als Umschlagszentrum für seinen Menschenhandel nach Korea gedient hatte. Omi warf einen letzten, verächtlichen Blick auf die Gebäude und Lagerhallen, die so vielen Unschuldigen Leid gebracht hatten. Vor zwei Wochen war die letzte Fuhre an Menschen verschifft worden, wie sie den Unterlagen hatten entnehmen können. Mit grimmiger Genugtuung lächelte Omi. Es war die Letzte gewesen und den Rest dieser widerlichen Infrastruktur würden sie ebenfalls vernichten.

Wenn sie Lasgo und Takatori vernichtet hatten, dann würden sie sich seinen Kunden widmen, das schwor er sich… hatte er schon geschworen, als sie den ersten Käfigen ansichtig geworden waren, in denen Lasgos Männer Menschen wie Tiere gehalten hatten.
 

Der Rest ihres Gefüges hatte sich bereits versammelt und Omi hob die Augenbraue, als er den über und über mit Blut beschmierten Iren sah.

„Keine Sorge, ist nicht seins“, grinste Schuldig und machte es damit nicht wirklich besser. Alleine der hungrige Ausdruck auf dem Gesicht des gerade mal gar nicht mehr so weißhaarigen Mannes schickte Omi einen Schauer über den Rücken. Da war er, Berserker, den sie für seine Unberechenbarkeit so sehr fürchteten.

„Wird er Probleme machen?“, richtete er an Crawford, der mit erhobener Augenbraue schmunzelte.

„Nein.“ In der Verneinung lag jedoch etwas, das Omi nicht zu deuten wusste.
 

Zumindest solange nicht, bis sie zurückfuhren, hinter ihnen die brennende Liegenschaft, vor ihnen das Auto mit den Schwarz, das nach zwei Stunden Fahrt abrupt anhielt und einen fluchenden, über und über blutigen Telepathen ausspuckte. Omi ahnte, dass auch das Blut nicht das eigene war, sondern generös von dem Iren weitergegeben worden war.
 

~~**~~
 

Fujimiya war mit im Raum.
 

Das war nicht gut und vor allen Dingen auch nicht geplant. Wieso befand sich der Anführer von Weiß nicht mit seinem eigenen Anführer im Missionsdebriefing? Nagi stand unschlüssig an der Tür, sich nicht sicher, ob er Tsukiyono jetzt noch wirklich helfen sollte.

Es dauerte seine Zeit, bis die beiden ihn bemerkten und Tsukiyono in seinem Tun innehielt. Unsicher hielt Nagi der Musterung der blauen Augen stand und war drauf und dran zu gehen. Sicherlich konnte sich der Weiß auch selbst versorgen, als es ausgerechnet der Anführer von Weiß war, der sich mit einem Blick auf Tsukiyono auf ihn zubewegte, aus dem Zimmer heraus. Mit einem kurzen Blick auf den Weiß trat Nagi zur Seite.
 

„Ich bin unten, wenn du etwas brauchst, Omi“, sagte Fujimiya mit warnendem Blick in Nagis Richtung. Der Schwarz schnaubte innerlich. Was glaubte er denn, würde er Tsukiyono antun? Ihn foltern? Vermutlich aber genau das. Als wenn. Er kannte den Vertrag und er hatte keinen Auftrag dazu.
 

„Kommst du rein?“

Anscheinend hatte er zu lange gestarrt und sah sich nun einer zögerlichen Frage ausgesetzt, der er unter anderen Umständen in einem anderen Kontext mit einem Lächeln begegnet wäre. Nun jedoch war er mit einem Mal ebenso zögerlich wie der Fragesteller auch. Trotzdem kam er in das Zimmer und lehnte nach einer kurzen Überlegung die Tür an. Er schloss sie nicht, weil er Tsukiyono nicht das Gefühl geben wollte, mit ihm eingesperrt zu sein und anscheinend war es genug. Er wurde zwar aufmerksam, aber nicht ängstlich betrachtet.
 

Nicht, dass es ihm gerade jetzt weiterhalf, als er zweifelnd in dem Raum stand, ebenso wie der Weiß selbst, der seine infantile Kluft, die ihn um Jahre jünger machte, gegen normale Kleidung eingetauscht hatte. Die Sommerhose und das bequeme Shirt standen ihm gut und betonten seinen Körper. Es sah gut und entspannt aus und Nagi hätte im Leben nicht gedacht, dass er den Weiß jemals so sehen würde. Oder dass sie zusammen Konsolenspiele spielen würden, wenn er gerade dabei war. Crawford hatte es ihm nicht verboten, also nahm Nagi an, dass sein Anführer diese Verbindung und diese Tätigkeiten tolerierte.
 

Zumal ihn genau dieser Kontakt ablenkte und damit auch beruhigte. So sehr Schuldig nachts seine Alpträume in Schach halten musste, so zuverlässig konnte er sich übertags davon lösen, sich auf seine Aufgabe konzentrieren und sich eben manchmal auf der Couch mit dem Weiß schlagen.

„Am Besten setzt du dich hin“, sagte er und Tsukiyono ließ sich vorsichtig auf das Bett nieder, der Blick immer noch auf ihn gerichtet, als würde er ihm die gleichen Schmerzen wir im Schlachthaus zufügen.

Nagi trat langsam auf ihn zu und ließ sich unweit von ihm nieder. Auffordernd streckte er seine Hand aus und unsicher reichte ihm der Weiß den verwundeten Arm. Eigentlich musste Nagi noch nicht einmal danach greifen, jedoch hatte er das Gefühl, dass Tsukiyono sich damit wohler fühlen würde, wenn er nicht nur durch eine unsichtbare Kraft berührt würde.
 

Zumal ihre Nähe zueinander auch den Geruch des Weiß mit sich brachte, was Nagi egoistischerweise durchaus schätzte.
 

Als er damals in das Zimmer des Weiß eingestiegen war und dort auf ihn gewartet hatte, hatte er es sich nicht nehmen lassen, an dessen Kissen zu riechen und sich vorzustellen, morgens mit dessem Geruch aufzuwachen. Damals hatte er es in dem Wissen getan, dass diese Wunschvorstellung niemals Realität werden würde. Heute schien das nicht ganz so abwegig, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass der Weiß sich ihm auf die gewünschte Art und Weise nähern würde, immer noch sehr gering war.
 

„Du starrst.“
 

Nagi blinzelte. Das tat er und es machte den Weiß nervös. Er räusperte sich und nahm nun auch seine zweite Hand hinzu. Seine Gabe folgte ihm ohne zu zögern und legte sich erst einmal auf den Arm Tsukiyonos, damit dieser sich daran gewöhnen konnte. Das Zurückzucken war nur natürlich, befand Nagi und sah hoch, in geweitete, blaue Augen in einem viel zu bleichen Gesicht.

„Es wird nicht so schmerzen wie in dem Keller“, entschloss sich Nagi für das vielleicht Zuversichtlichste, was er sagen konnte und lächelte schief. Tsukiyono lächelte schief und pointiert warf er einen Blick auf seinen Arm, gab Nagi somit das nonverbale Zeichen, dass er beginnen konnte.
 

Im Gegensatz zu der zeitkritischen, dafür aber abrupten und schmerzhaften Heilung, hatte er nun die Ruhe, es langsam angehen lassen zu können. Was nicht bedeutete, dass er nicht seine volle Konzentration brauchte. Das Räuspern des Weiß konnte er daher ebenso wenig gebrauchen wie dessen Frage nach der Herkunft seiner Gabe.

Nagi schnaubte. Beinahe schon war er versucht, dem Weiß erneut den Mund zuzuhalten. Das wäre mit Sicherheit aber kontraproduktiv. „Still. Lass mich meine Arbeit machen, ansonsten wächst dir ein zweiter Arm aus der Wunde.“

„Was?!“

Nagi wartete einen Moment und genoss den überrascht-entsetzten Ausdruck in Tsukiyonos Gesicht, bevor er den armen Weiß vor sich erlöste und kurz ehrlich amüsiert lachte.

„Natürlich wird das nicht passieren. Aber ich möchte dennoch nicht, dass es zu einer Fehlheilung kommt, also halte still.“
 

Wie durch ein Wunder wurde seinem Befehl Folge geleistet und er arbeitet konzentriert an der Säuberung und Heilung des Schnittes, bis er mit dem Endergebnis zufrieden war. Erst dann sah er wieder hoch und stockte, als er sah, dass Tsukiyono seine Lider fest zusammengepresst hatte und am ganzen Körper zitterte. Unwillkürlich verfluchte Nagi sich für seine Worte. Natürlich hatte Tsukiyono die Zeit im Keller noch klar vor Augen. Natürlich hatte er nichts gesagt, aus Angst. Und nun würde sich der Weiß wieder von ihm fernhalten, aus Angst vor seinen Erinnerungen und dem Trauma, das er erlitten hatte.
 

Wortlos löste Nagi seine Gabe vom Arm des Anderen und strich mit seinen Fingern über die nunmehr verheilende Wunde, die nicht mehr aufklaffte.

„Es ist vorbei“, murmelte er und löste den Weiß langsam auf seiner Starre. Die angespannten Schultern sanken wieder in eine normale Position und die Augen öffneten sich. Das tat dem Zittern zwar keinen Abbruch, aber zumindest traute Tsukiyono es sich, ihm in die Augen zu sehen.
 

„Sicherlich bleibt keine Narbe zurück“, mutmaßte Nagi, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte und strich mit seinem Finger an der sich glättenden Wulst entlang, erzeugte damit eine punktuelle Gänsehaut.

Der Weiß schluckte hörbar. „Woher kannst du das? Wie ist das möglich?“, wiederholte er seine Eingangsfrage und Nagi erkannte darin den Wunsch, zu seiner Kontrolle und seinem Pragmatismus zurück zu finden. Warum nicht? Das Wissen, was er bereitstellen würde, würde ihm nicht schaden. Und wenn doch, ließ er Schuldig Tsukiyonos Gedanken löschen.

~Das glaubst auch nur du.~

Wenn man vom Teufel sprach.

~Das ist dein kleines Betthäschen in spe und damit auch dein Problem. Nicht meins. Und damit werde ich auch gar nichts löschen, was du ihm zuflüsterst um ihn romantisch zu beruhigen. Hach, junge Liebe.~

~Besser junge Liebe als gar keine Liebe.~

Schuldig schnaubte mental, erwiderte darauf aber nichts mehr.
 

„Es ist eine Ausformung der Telekinese. Sie ist selten, aber sie kommt vor.“

„Das hätte ich nicht gedacht. Es schien mir immer, als wäre deine Gabe eher etwas für‘s Grobe.“

Nagi schnaubte und hob die Augenbraue. Er zog ein Bein zu sich auf die Matratze und legte seine Hände darauf, die er nur widerwillig von Tsukiyono gelöst hatte. „Für das Grobe?“

Der Weiß zog seinen Arm ebenfalls zu sich und betrachtete ihn nachdenklich. Schließlich zuckte er mit den Schultern.

„Wie wenig wir eigentlich über euch wissen, haben wir erst jetzt erkannt, glaube ich.“

Nagi hob die Augenbrauen. „Du willst mehr wissen.“

„Natürlich.“

„Um es gegen uns zu verwenden?“

„Vielleicht irgendwann. Aber jetzt ist es erst einmal Neugier.“

Er schnaubte. „Immer der Taktiker.“

„Selber.“
 

Ein irritierter Laut verließ Nagis Lippen, bevor er sich davon abhalten konnte. Was war das denn für ein Argument? So etwas hatte er noch nicht einmal als Kind…

Ein Blick auf den Weiß sagte ihm, dass es der ironische Versuch eines Scherzes war. Nagi grollte, über sich selbst frustriert, dass er das nicht sofort erkannt hatte. Mal wieder nicht. „Du warst auch schonmal witziger.“

Überrascht hob Tsukiyono die Augenbrauen und nun war es tatsächlich ein ehrliches Lächeln, das auf seinen Lippen lag.

„War ich? Wann?“

Das brachte Nagi nun in die Bedrängung, sich erklären zu müssen. Wenn er zugab, dass er den Weiß beobachtet hatte, dann würde er sich damit eine Blöße geben, die er nicht gebrauchen konnte.

„Irgendwann sicherlich“, erwiderte er recht lahm und erhob sich. Er brauchte irgendetwas, um den Weiß von seiner Spur abzulenken. „Glaubst du, dass es wieder an der Zeit ist für eine Runde?“

Tsukiyono sah an ihm hoch und maß ihn mit humordurchtränkter Abschätzigkeit. „Du willst also wieder gegen mich verlieren und das zu so später Stunde?“ Es war ein Uhr nachts und die letzten Male, in denen sie gegeneinander gespielt hatten, waren nicht wirklich von kurzer Dauer gewesen.

„Ich habe das letzte Mal nicht gegen dich verloren. Außerdem war es dein Anführer, der beschlossen hat, erst morgen Mittag weiter zu machen.“

„Nachdem deiner es ihm vorgeschlagen hat, aus präkognitiven Gründen, die nur ihm geläufig sind.“
 

Nun seufzten sie beide und Tsukiyono erhob sich. „Los, komm mit, Schwarz.“

„Ich habe auch einen Namen, Weiß.“

„Natürlich, Prodigy.“

„Wirklich, Tsukiyono?“

„Wäre dir Nagi-kun lieber?

„Bei weitem, Omi-chan.“
 

Nagi beschloss, dass er nicht nur insgeheim über das empörte Aufblitzen im Gesicht des Weiß lachen würde, dass es aber angebracht wäre, während sie nach unten gingen, einen Sicherheitsabstand zu Tsukiyono zu halten, der ihn schnellstmöglich aus der Reichweite des Anderen brachte, falls dieser versuchen sollte, sich dafür zu rächen.
 

Was auch ohne hellseherische Fähigkeiten einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht entbehrte.
 

~~**~~
 

Dass der Junge, der nun in seinem Arbeitszimmer stand, dunkle Augenringe vorzuweisen hatte, verwunderte Crawford wirklich nicht. Das kam davon, wenn man bis zum Sonnenaufgang gegen einen bestimmten Weiß Konsolenspiele spielte. Sein amüsiertes Lächeln darüber konnte und wollte er nicht verstecken, sehr zum peinlich berührten Leidwesen Nagis, der mit gesenktem Kopf und geröteten Wangen vor ihm stand, die Verbindung zu ihm im stetigen Wechsel lockernd und verfestigend.

Crawford selbst hatte die Nacht mit Schlafen und den frühen Morgen mit Nachdenken verbracht und war zu einem Schluss gekommen, der noch vor Wochen undenkbar gewesen war. Wie so vieles Anderes auch.
 

Mit einem letzten Blick aus dem Fenster, an dem er stand, straffte Crawford seine Haltung und machte sich für das bereit, was für ihn ganz und gar nicht einfach war.

„Siobhan wünscht sich einen Enkel“, eröffnete er schließlich eben diesen Schluss und Nagi sah unverständig hoch. Der Junge konnte ganz und gar nichts damit anfangen, was Crawford ihm gerade gesagt hatte und das zeigte sich in seinem Gesicht.

„Ich verstehe nicht, es tut mir leid…“, begann Nagi elendig und Crawford mochte wetten, dass der Junge es als Ausfluss seiner Übernächtigung ansah. Dass seine Mutter den vollkommen abstrusen Gedankengang hatte, ihn zu ihrem ersten Enkel zu machen, daran dachte Nagi vermutlich noch nicht einmal im Schlaf.

„Ihr Auge ist auf dich gefallen“, erlöste Crawford ihn, auch wenn er sich nicht sicher war, ob man da von erlösen sprechen konnte. Nagi war nicht klar, worauf der ältere Mann hinauswollte mit seinen Worten, war er doch in keiner Weise verwandt mit ihr.
 

„Sie hat den Wunsch geäußert, dass ich dich adoptiere, so du denn einverstanden bist.“
 

Anscheinend zog Crawford Nagi mit diesem einzigen Satz den Boden unter den Füßen weg, so wie der Junge ihn anstarrte. Es war, als würde sich für den Jungen gerade in diesem Moment die Welt aufhören zu drehen und ihn aus seiner geordneten Bahn werfen, unnachgiebig und nachdrücklicher, als sie es jemals getan hatte, mit allem, was Crawford jemals getan hatte. Selbst aus ihrer momentanen Entfernung heraus konnte Crawford sehen, dass der Puls des Telekineten raste.
 

Ohne ihm eine Antwort darauf zu geben, starrte Nagi ihn an und wartete anscheinend darauf, dass Crawford erläuterte, was er damit meinte und vielleicht auch erläuterte, wie wenig er von dem Vorschlag seiner Mutter hielt, hatte er doch in der Vergangenheit kein einziges Mal dieses Thema zwischen ihnen aufgebracht, eher im Gegenteil. Insbesondere in den letzten Wochen hatte er den Jungen, den er von der Straße aufgelesen hatte, nicht wie einen Sohn behandelt, ganz und gar nicht.
 

„Ich möchte, dass du darüber nachdenkst und mir beizeiten eine ehrliche Antwort gibst“, erläuterte er, als das Schweigen anhielt und Nagi nickte abgehackt, mit immer noch vor Schreck geweiteten Augen.

„Ja“, presste er dann schnell hervor und nun war es an Crawford, ihm Zustimmung zu signalisieren. Wortlos wandte er sich erneut zum Fenster. Doch dort, wo er erwartet hatte, dass Nagi sein Büro verlassen würde, war es nun ein gepeinigter Laut, der ihn gerade rechtzeitig aufsehen ließ, um zu sehen, wie Nagi ihn mithilfe seiner Gabe zu sich herumdrehte und seinen Unterarm in einem eisernen Griff hielt. Crawford ließ es geschehen und Nagi starrte mit großen Augen in seine.

„Nein…bitte“, begann der Telekinet hastig und verstummte abrupt, als er sich an ihrer beider obersten Grundsatz der zielgerichteten Kommunikation erinnerte. „Ich meine ja. Ja, ich will, ich meine, ich würde das wollen. Wenn du willst. Wenn du überhaupt… nachdem, was ich…“
 

Crawford lauschte den überhastet gesprochenen Worten und sezierte sie und die Handlungen des Jungen, ebenso, wie den unsichtbaren Griff um sein Handgelenk, der sich an ihn klammerte, als wäre er eine Rettungsleine. Ziehvater, so hatte Schuldig ihn genannt. Ziehsohn, so hatte Lasgo Nagi genannt. Zynisch, dazu gedacht, ihn zu verletzen und zu demütigen. Und doch befand sich kein zu kleines Körnchen Wahrheit in den Worten. Crawford hatte Nagi vor Rosenkreuz‘ Zugriff geschützt und hatte den Jungen selbst ausgebildet. Er hatte sich um die Erziehung des Kleinen gekümmert und, wenn er es sich ehrlich eingestand, hatte er es gerne getan.
 

„Ich würde es bevorzugen, dass du mir nicht die Elle brichst“, richtete er ernst an den Jungen, alleine schon, um sich nicht seinen Gedanken an die Vergangenheit stellen zu müssen, die soviel Gutes wie auch Schlechtes beherbergten.

Abrupt löste sich Nagi von Crawford.

„Entschuldigung“, murmelte der Junge beinahe unhörbar und Crawford nickte. Er seufzte erneut und vergrub beide Hände in den Taschen. „Die Formalitäten nach britischem und japanischen Recht sind soweit vorbereitet, sodass es nur noch deiner und meiner Zustimmung bedarf. Ebenso wird es unumgänglich sein, dass ich dich der Familie vorstelle, was wiederum in langwierigen Treffen ausartet mit Menschen, deren Gesellschaft im besten Fall als fragwürdig zu bezeichnen ist-“
 

Abrupt verstummte Crawford, als Nagi ihn in eine schraubstockartige Umarmung zog und ihn eisern umschlungen hielt, den Kopf an seiner Brust vergraben.

„Ist mir egal“, murmelte der Telekinet so frech und widerspenstig, wie Crawford ihn noch nie erlebt hatte. Trotzdem ließ ihn eben dieser Ton, der Schuldigs beinahe schon beängstigend ähnlich war, durchaus schmunzeln. „Ist mir vollkommen egal. Ich nehme alles. Nichts kann langweilig oder fragwürdig sein. Niemals.“

Schicksalsergeben atmete Crawford ein und langsam wieder aus.
 

„Hast du eine Ahnung…“
 

~~~~~~~~~

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Kommentare und Kritik sind immer gerne gesehen. Ansonsten...schauen wir mal, was Nagi und Omi da so treiben... ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Meggal
2019-09-15T19:12:45+00:00 15.09.2019 21:12
Hm.. okay.
Wow. Was eine Achterbahn das Kapitel!
Hat mir sehr gut gefallen, vorallem die zwischenmenschlichen/familiären Entwicklungen zwischen/innerhalb den/der Teams!
Und Brad wird Papa^^'

Nur eine Sache hat mir ein wenige gefehlt: mich hätte es interessiert, was mit den Menschen passiert ist, die von Lasgo gefangen wurden... waren da keine mehr, wurden die freigelassen und ihrer Erinnerung beraubt oder sind die mitgestorben beim Brand?

Ansonsten: ich freu mich wie immer aufs nächste Mal :)
Antwort von:  Cocos
15.09.2019 22:42
"Hm okay"? Das klingt mäßig begeistert... o.O

Ich sollte vielleicht Achterbahndesignerin werden, wenn ich mir das so anschaue. Ächäm.
Ja, Brad wird Papa und Siobhan Oma. Auch wenn ich mir fast sicher bin, dass man sie so nicht nennen sollte. Und Brad Papa auch nicht... :D

Was die Menschen angeht, so habe ich tatsächlich einen Satz nicht niedergeschrieben, der für mich klar war, den ich aber nicht hätte vergessen dürfen. Danke dir für den Hinweis. Ich habe die entsprechende Textpassage um Folgendes ergänzt:

"Vor zwei Wochen war die letzte Fuhre an Menschen verschifft worden, wie sie den Unterlagen hatten entnehmen können. Mit grimmiger Genugtuung lächelte Omi. Es war die Letzte gewesen und den Rest dieser widerlichen Infrastruktur würden sie ebenfalls vernichten."

Dadurch sollte es klarer werden, was mit den Leuten passiert ist. Wäre ich nicht gerade auf dem Weg zu einer anderen Konfliktlösung mit den Herren, dann wäre das ein schöner Ansatz gewesen... so glaube ich, dass das zuviel des Guten gewesen wäre, wenn es da jetzt noch zu einem Meinungskonflikt gekommen wäre.

Danke dir nochmals für den Hinweis und deinen Kommentar :)


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