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Last verse of dawn

von

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10

Auf dem Weg zum Bahnhof komme ich nicht umhin, meinen Weggefährten zu mustern. Ich tue es öfter, flüchtend, mir einbildend, dass er es nicht bemerkt, da seine Augen ihrer Gewohnheit, sich ausschließlich auf das Ziel zu richten, nicht untreu werden.

Die Hand hin und wieder in der Tüte versenkend, kaue ich und tarne damit meine Schweigsamkeit. Es bleibt Zeit, die richtigen Worte zu suchen und zurechtzulegen. Zeit, daran zu glauben, dass es sie wirklich gibt.

Beiläufig reiche ich Tim einen Donut und spüre sofort, wie er meinen Fingern entgleitet, bevor sich das Flattern über meinen Kopf erhebt.

Was wir bieten, ist kein unnormales Bild, denn wir gehören nicht zu den Menschen, die das Wort dem Gedanken vorziehen. In der gemeinsamen Abgeschiedenheit meiden wir Gespräche nicht, aber bringen sie auch nicht hervor, um das Schweigen zu beenden.

Als ich hinter Kanda die angenehm kühle Bahnhofshalle betrete, ist Jerrys Proviant schon aufgebraucht und jeder Hunger gestillt. Raschelnd rutscht die Tüte in einen Mülleimer, bevor wir uns verschlingen lassen von den Geräuschen und Bewegungen dieses Ortes. Dampf kriecht zischend aus den Kurbeln eines ankommenden Zuges und über den steinernen Boden, über den wir ziehen. Reisende eilen vorbei und kurz lasse ich mich ablenken vom laut schallenden Flügelschlag einer Taube.

Diese Gleise zu erreichen löst bis heute ein seltsames Gefühl in mir aus, eine Mischung aus Fernweh und bedrohlicher Ungewissheit, die ich nicht näher zu definieren weiß.

Neben mir regt sich Kanda. Er vertiefte sich in den Fahrplan, späht flüchtig an mir vorbei und wie aufmerksam mustere ich ihn, wie erwartungsvoll das Driften seiner Augen verfolgend und kurz darauf, wie sie zu mir finden. Er sieht mich nicht an, schenkt lediglich meiner Uniform ein flüchtiges, missmutiges Interesse, dann erreicht mich seine Hand, dann spüre ich ihre flüchtigen Berührungen auf meiner Schulter und sehe, wie so einige Krümel von ihr rutschen.

Ein angedeutetes Kopfschütteln bietet er mir noch, bevor er an mir vorbeizieht. „Komm.“

„Jawohl.“ Ich schüttle meinen Arm und befreie den Ärmel von ähnlichen Mitbringseln, folge Kanda durch eine Gruppe ankommender Fahrgäste und genieße die Stille des Zuges, den wir kurz darauf betreten. Nur wenige Augen und Stimmen sind es, die uns erreichen, auch ein freies Abteil ist sofort gefunden und dann sitzen wir uns gegenüber. Tim schlägt auf meinem Schoß mit den Flügeln, während sich Kanda erneut in die Missionsmappe vertieft.

Er bietet ein vertrautes Bild, auch die vertraute Verhaltensweise, jede Einzelheit wissen zu wollen, bevor er sein Ziel erreicht. Seine Augen driften über jedes Wort, betrachten sich auch die Karte eine ganze Weile. Der Zug setzte sich längst in Bewegung. Auf der anderen Seite des Fensters zieht die Welt an uns vorbei, doch er beachtet sie ebenso wenig wie ich.

Meine Hände erreichten Tim, betteten sich auf ihm und erforschen ihn nun blind, während meine Augen auf mein Gegenüber gerichtet sind. Mein Interesse gilt Kandas Gesicht und stört sich nicht an der offensiven, annähernd provokanten Intensität, auf die er nicht eingeht. Er könnte meinen Blick erwidern und somit auch die Provokation, das auszusprechen, was ich verschweige. Es fühlt sich an wie eine Befürchtung, so haltlos, als wäre sie aus der Luft gegriffen und dennoch lässt sie mich nicht los. Ich fühle mich, als wäre er mir längst auf die Schliche gekommen. Selbst wenn ich gekonnt so täte, als würden wir uns im Alltag bewegen, in der Normalität, ohne dass etwas Unausgesprochenes über uns schwebt, ich befürchte, seine erbarmungslosen Sinne würden mir in den Rücken fallen, wäre ich mir meiner Deckung zu sicher.
 

Als wir am nächsten Tag in den Mittagsstunden eine abgelegene Haltestelle in der Nähe Ljusdals erreichen, trennt uns eine graue Mauer aus Regen von der Welt. In unserem Kern erreichen uns nur das laute Rauschen und die vor Feuchtigkeit geschwängerte Sommerluft. Es bleibt genug Zeit. Der Fußweg nach Faltning wird sich auf wenige Stunden beschränken und so tauchen wir ein in den Schutz der altersgrauen Überdachung und sinken auf die Holzbank. Hinter uns ein verschwommenes Feld, vor uns die leeren Gleisen und eine Wiese, die sich bis zum Horizont erstreckt.

Unter einem tiefen Atemzug lehne ich mich gegen das Holz, strecke die Beine, kreuze sie und atme abermals die erfrischende Luft. Der Himmel über uns ist grau, von weitem erreicht uns sogar ein dumpfes Grollen. Das Gestein unter unseren Füßen ist ebenso farblos und trist und doch denke ich mir unweigerlich, wie ich diese Situation liebe. Die Welt um uns herum könnte nicht schöner sein in diesen Momenten. Es wirkt friedlich, dieses Unwetter.

Flüchtig streift mich Kandas Schulter. Er verschränkt die Arme, lehnt sich ebenso an und so sitzen wir nebeneinander und blicken in den Regen, in dem sich Tim flatternd bewegt.

„Ich mag solche Missionen nicht“, seufze ich irgendwann, fast unwillkürlich, als hätte sich der Gedanke seinen Weg in die Freiheit erkämpft. „Missionen, in die Menschen involviert sind. Angelegenheiten, unter denen Menschen leiden.“

Ich spüre, wie Kandas Augen zu mir finden. Er mustert mich, während ich Tim beobachte.

„Mit Akuma umzugehen, ist leichter“, fahre ich fort. „Da sind die Fronten klarer. Als wäre es ihr Schicksal, durch unsere Hand vernichtet zu werden.“

Kanda wendet sich wieder dem Regen zu.

„Wir kriegen in letzter Zeit viele solcher Fälle.“ Ich seufze. „Der Broker in Bangkok, der Priester in Bingen, jetzt das. Ich hoffe, der Finder hat sich geirrt.“

„Auf mich wirken die Fakten eindeutig“, erreicht mich Kandas Stimme.

„Eindeutig, ja.“ Ich rümpfe die Nase. „Hoffst du nie darauf, dass die Fakten manchmal täuschen?“

Neben mir lässt sich Tim auf die Bank sinken. Der Regen rinnt von seinem Körper, während Kanda ein undefinierbares Brummen von sich gibt. Seine Hand findet zu seiner Wange und reibt sie, bevor sie sich zum Kragen der Uniform senkt. Er macht den Eindruck zu grübeln aber es ist nicht die Antwort, die er abwägt.

„Mit Hoffnung beschäftige ich mich nicht“, liefert er sie mir. „Es ist leichter, die Tatsachen abzuwarten und dann auf sie zu reagieren. Das Bild ist immer klar und eindeutig. Man wird nie enttäuscht.“

„So weit bin ich noch nicht“, murmle ich.

Erneut bricht das Grollen durch die dicke Wolkendecke. Das Gewitter scheint sich zu nähern.

„Ich denke“, seufze ich, „dieser Zug ist typisch menschlich. Verstehst du, gerade unsympathische Situationen deutet man doch gern anders. Vielleicht sind sie nicht so schlimm, wie sie im ersten Moment wirken? Vielleicht täuschen sie auch komplett?“ Ich blähe die Wangen auf, schüttle den Kopf. „Die Fähigkeit, die du dir da angeeignet hast, ist so abartig wie sie bewundernswert ist.“

Wieder spüre ich eine Regung neben mir, gefolgt von einer Berührung, der ich gedankenlos nachgebe. Kandas Arm senkt sich in meinen Nacken, übt einen nur zu erahnenden Druck auf mich aus und wie ächze ich, als ich diese Stütze nutze und mich um ein Stück zu ihm lehne.

„Vermutlich macht es das wirklich leichter.“ Ich kreuze die Beine neu, bette den Hinterkopf auf seinem Arm. „Vielleicht sollte ich weniger nachdenken, sondern die Geduld entwickeln, die Dinge abzuwarten.“

„Dazu wärst du nicht in der Lage.“

„Denkst du?“

„So ein Mensch bist du nicht.“

Ich wende den Kopf zu ihm, sehe ihn an. Seine schwarzen Augen erforschen noch immer die graue Mauer vor uns. Und keine Regung seiner Miene, kein Zucken seiner Lippen. Nichts, das mir einen Hinweis geben könnte. Still ruht sein Arm auf meinen Schultern und eine Weile ist es nur das Rauschen und Grollen, das den Raum zwischen uns füllt. Ich spüre die Regungen seines Körpers unter jedem Atemzug, sehe ihn irgendwann blinzeln und den Blick zum Boden senken.

„Aber vielleicht“, erreicht mich dann seine Stimme, „ist deine Fähigkeit genauso bewundernswert.“

„Vielleicht.“ Absent beginne ich mich mit meinen Händen zu befassen, mit den Fingerkuppen über die schwarze Haut der linken zu gleiten. Die reine Luft scheint meinen Kopf klar und leicht zu machen. Die Gedanken sind sichtbarer, lassen sich ebenso leichter führen und letztendlich fällt es mir nicht schwer, erneut das Wort zu ergreifen. „Fällt es dir dadurch leichter, mit den Erlebnissen umzugehen?“

Als bestünde seine Haut aus glattem Stahl, kommt es mir in den Sinn, und als wären all die Dinge, die er sieht und erfährt, nichts weiter als Regen, der an dieser Oberfläche abperlt. Als könnte kein Wind ihn zum Straucheln bringen.

Vielleicht würde ich dieses Bild akzeptieren, wenn Marie mich mit seinen Worten nicht gebeten hätte, die Eindeutigkeit der Dinge anzuzweifeln. Eine stählerne Haut ist undurchdringlich, sie lässt nichts hinein aber auch nichts hinaus. Es ist als hätte Marie etwas in Kandas Stimme gehört, wofür meine Ohren zu taub sind.

Er schweigt zu meiner Frage, tut es lange und natürlich suche ich nach dem Grund.

Kennt er die Antwort oder missfällt sie ihm?

Missfällt ihm schon die Frage oder sucht er wiederum nach meinem Grund, sie ihm zu stellen?

„Was spielt das für eine Rolle?“, murmelt er irgendwann. Seine Finger beginnen absent den Stoff meiner Uniform zu erforschen. „Den Erlebnissen ist unsere Reaktion egal. Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit ihnen umzugehen.“

Ich atme tief ein, tief aus, nicht sicher, ob ich mit dieser Antwort zufrieden bin.

Seine Offenheit ist stets gut getarnt und teilweise der Interpretation überlassen.

„Wir haben viel seltener die Wahl, als wir denken“, sagt er noch, bevor er seinem alten Schweigen verfällt.

Doch wieviel Raum bildet diese Ansicht in ihm?

Genug, um sie mit all den Grausamkeiten zu füllen, ohne dass sie die Oberfläche erreichen?

Ich presse die Lippen aufeinander, noch immer auf meine Hände starrend. Für den Bruchteil einer Sekunde wird die Welt in ein kaltes Licht gehüllt, als ein Blitz über den Himmel zuckt und dann verfolge ich das träge Treiben der Wolkendecke. Kandas Hand verharrt mittlerweile wieder reglos.

Der Regen verliert nicht an Stärke, auch das Grollen erstreckt sich bald darauf direkt über uns, doch ich habe es ohnehin nicht eilig, den Weg fortzusetzen.

„Ein heißer Kakao wäre jetzt toll“, seufze ich. „Was hättest du gerne?“

„Besseres Wetter.“

„Wir haben Zeit.“ Träge taste ich in meiner Gürteltasche und ziehe eine kleine Uhr hervor. Wir könnten weitere Stunden hier sitzen und würden es trotzdem pünktlich schaffen. Ich rümpfe die Nase. „Oder willst du nur weiter, weil du Hunger hast?“

„Ich will weiter, um mit den Recherchen zu beginnen.“ Er achtet nicht auf mein resigniertes Stöhnen. „Warum sollten wir erst damit beginnen, nachdem wir den Finder getroffen haben?“

„Ja, warum?“, antworte ich. „Und warum sollten wir nicht erst etwas essen, bevor wir Recherchen beginnen oder den Finder treffen?“

„Du kannst dich in der Stadt gern auf den erstbesten Stand stürzen und nachkommen, sobald du in der Lage bist, nützlich zu sein.“

„Wenn ich dir so zuhöre, frage ich mich wirklich, wieso sich alle so darum reißen, mit dir auf Mission zu gehen.“ Erschrocken halte ich inne. „Oh, Verzeihung, ich habe dich verwechselt. Keiner reißt sich darum. Ich frage mich wieso.“

„Mm.“ Es ist ihm egal und naserümpfend werde ich meiner alten Betrachtung wieder treu.

Es lässt sich aushalten, denke ich mir bald darauf, denn Momente wie dieser sind selten.

Diese Bank, mitten im Nirgendwo, gehört uns. Ich spüre das Gewicht seines Armes im Nacken, wenn ich mich konzentriere sogar die leichten Bewegungen seiner Rippen unter den entspannten Atemzügen und den Rest der Wartezeit verbringen wir überwiegend schweigend.

Während das Gewitter über uns hinwegdriftet, der Regen an Kraft verliert und als das letzte Wasser von der Überdachung rinnt und plätschernd den tristen Boden erreicht, lösen wir uns schlussendlich von dieser Situation und kommen auf die Beine. Endlos wäre ich sitzen geblieben, würden Zeit und Hunger keine Rolle spielen, doch als wir uns dann einen Weg durch das grüne Nichts bahnen, denke ich mir, dass weitere Gelegenheiten kommen werden.

Schließlich ist er bei mir und stets in einer Nähe, in der ich ihn erreiche.

Unter uns einen matschigen Boden, über uns noch immer den grauen Himmel, nähern wir uns Faltning und wie unbeschwert fühle ich mich, wie selten harmonisch bis in meinen tiefsten Kern. Ich atme die Luft des Augenblickes und als wir die Kleinstadt erreichen, empfinde ich selbst sie als hell und warm. Als wäre der Himmel blau. Als würde die Sonne scheinen.

So tauchen wir ein in ein neues Gedränge aus unbekannten Menschen, in ein Meer aus Eindrücken und Gerüchen und als würde Kanda meine leichte Stimmung teilen, lässt er eine kurze Wartezeit über sich ergehen, bis ich mir etwas Essbares besorgt habe. Zwei Stunden trennen uns noch von dem Treffen mit dem Finder und wie gleichmütig folge ich meinem Kameraden, als er seine Androhung umsetzt.

Kaum setzt er den Fuß auf diesen unbekannten Boden, fixiert sich alles in ihm auf die Suche nach Informationen. Als wären die Aussagen des Finders schlicht und ergreifend nicht relevant oder die Fragen, die er den Anwohnern bisher stellte, durch und durch sinnlos.

Die Hand in einer Papiertüte voll warmem Gebäck werde ich zu einem bequemen Teil des Geschehens. Zwar anwesend, doch sicher vor jedem Aufwand. Kanda kauft eine Zeitung, bei der Gelegenheit wird gleich der Straßenverkäufer befragt. Er stellt sich als sehr gesprächig heraus und während Kanda seine Worte auf das Wesentliche zu beschränken versucht, leere ich die Tüte und werde auf eine Uhr aufmerksam. Selbst die Zeit scheint mir zuzuspielen, denn sie verging schnell und beendet vorerst unsere Wege, die kreuz und quer durch die Stadt führten.

Am Horizont lässt sich die beginnende Dämmerung vermuten, als wir den Treffpunkt nahe des Stadtrandes erreichen. Der Hinterhof einer Bäckerei wirkt annähernd verschwörerisch verlassen, doch es ist angenehm still, nachdem die Geschäfte schlossen. Die Fenster in der Nähe trennen uns von dunklen, unbeleuchteten Räumen, nur in der Ferne sehen wir Lichter und sogar die Bürger scheint es nicht übermäßig hierher zu verschlagen. Nur selten sehen oder hören wir Menschen, die zu dieser Stunde noch Beschäftigungen nachgehen oder einem Spaziergang.

Im Dickicht eines nahen Baumes stimmt ein Nachtvogel seinen Gesang an und wie seufze ich, als ich mich auf das Dach eines großen Schuppens sinken lasse und die Beine von mir streckte. Von diesem Punkt haben wir die Umgebung gut im Blick, während wir in unseren schwarzen Roben unscheinbar verblassen.

Gemütlich ziehe ich eine weitere Verpackung hervor und öffne sie. Ein Stand in der Nähe machte es mir unmöglich, unbehelligt vorbeizuziehen und wie genüsslich atme ich den Duft der frischen Teigtaschen, während Kanda endlich den Eifer von sich streift und sich neben mich setzt.

„Die Herberge auf dem Marktplatz sah gut aus“, erinnere ich mich kauend und halte Tim von meinem Mitbringsel fern. „Ich hoffe, du hast nicht vor, die ganze Nacht herumzuziehen.“

Neben mir entfaltet Kanda die Zeitung. Ihr Rascheln verbindet sich mit dem meiner Tüte und ich kaue weiterhin, während er sich in die Artikel vertieft. Er scheint zu suchen und blättert um, während Tim über uns flattert.

„Vier Kinder und drei Mütter“, höre ich Kanda irgendwann murmeln und lasse die Teigtasche kurz vor meinem Mund sinken. Er befeuchtet seine Fingerkuppen mit der Zunge, wendet eines der großen Blätter. „Ich halte Zeitungsverkäufer für die besten Informanten und ich finde es seltsam, dass er nur von zwei gestorbenen Kindern und zwei verschwundenen Müttern wusste.“ Als er mir einen Artikel offenbart, lehne ich mich etwas zu ihm und vertiefe mich in die Schrift. „Der Verkäufer wirkte etwas schwachköpfig, deshalb wollte ich mich nicht auf seine Worte verlassen aber etwas anderes steht hier auch nicht.“

„Mm.“ Ich sauge an meinen Zähnen, versuche sie vom Spinat zu befreien. Es ist tatsächlich bizarr.

„Welche Gründe hätte man, zwei Todesfälle und einen Vermisstenfall unter den Teppich zu kehren, wenn vier publik gemacht wurden?“ Ich runzle die Stirn. „Tröstlich ist es dadurch auf keinen Fall.“

Unter einem tiefen Durchatmen lässt Kanda die Zeitung sinken. Seine Augen driften ziellos durch die aufsteigende Dunkelheit, die uns umgibt.

Es klingt ebenso wenig nach einem fehlerhaften Informationsfluss, denn tote und vermisste Menschen gelten nicht als kleines Detail, das überhört werden kann. Komui sagte uns, was man ihm zutrug, doch hier treffen wir auf eine unerwartete Lücke.

„Aber wenn es nicht tröstlich ist“, murmle ich nachdenklich, die Teigtasche zwischen den Fingern wendend, „dann wurden die Fälle vielleicht nicht veröffentlicht, weil die Einzelheiten zu grausam waren. Ich denke, die Grenze zwischen dem, was Menschen ertragen und der Eskalation ist dünn. Lynchjustiz, Massenpanik, Verfolgungswahn. Vermutlich ist das Maß längst voll, weshalb man den Bürgern nicht mehr zumuten wollte.“

Kanda bleibt seiner Betrachtung absent treu. Er reagiert nicht, deutet nicht einmal ein Nicken an und ich lasse ihn driften und versenke die Teigtasche im Mund.

„Der Finder wird es wissen“, sage ich noch und schneide eine Grimasse, als sich ein seltsamer Geschmack in meinem Mund ausbreitet. In dieser Teigtasche lauerte eine unpassende süßlich scharfe Füllung und widerwillig kaue ich die Masse, bis ich sie schlucken kann. „Das war übel.“

Während ich säuerlich in die Tüte starre, erwacht Kanda neben mir zum Leben. Er faltet die Zeitung zusammen, wirft sie neben sich und lehnt ab, als ich ihm eine Teigtasche anbiete.

„Er verspätet sich“, stellt er stattdessen fest und flüchtig spähe ich zu der kleinen Taschenuhr.

„Ja, um zwei Minuten.“ Kopfschüttelnd postiere ich die Tüte neben mir auf dem Dach. „Dafür wird er sicher gute Gründe haben.“

Kanda kommt auf die Beine. Er saß beeindruckend lange neben mir, für seine Verhältnisse recht untätig, doch nun endet der Moment und seufzend befreie ich meine Hände von den letzten Krümeln.

„Bleib doch einfach hier und warte. Iss eine Teigtasche.“

„Ich will keine.“ Nicht zuletzt seine Stimme zeugt vom drohenden Absturz seiner Laune.

Wieder atmet er tief durch, stemmt die Hände in die Hüften und starrt in die Finsternis, als erwarte er, sie mit der richtigen Entschlossenheit durchdringen zu können. Der ruhige Tagesausklang in der Herberge scheint sich weiterhin zu entfernen. Viel bleibt mir nicht übrig, denn auch Kandas Stimmung wird sich nur retten lassen durch Resultate und Fortschritte, also bleibe ich sitzen und lausche den Geräuschen der Umwelt.

Der Nachtvogel ist verstummt, fällt mir auf, doch das Gras der nahen Wiese raschelt unter den sanften Brisen. Irgendwo in der Nähe glaube ich das Plätschern eines seichten Flusses zu hören. Es ist beruhigend und bald darauf schließe ich die Augen.

Noch immer Tims Flügelschläge über mir und die lautlos Präsenz Kandas an meiner Seite, verharre ich reglos, nur darauf wartend, sich nähernde Schritte zu hören. Komui informierte den Finder über unsere Ankunft, denke ich mir und komme nicht um ein Schmunzeln. Und normalerweise würde kein Finder so leichtsinnig sein, sich bei einem Treffen mit Kanda zu verspäten. Dem Beginn der Mission wird es an Harmonie fehlen, befürchte ich, doch bin gespannt auf die Kreativität des Finders, sich eine Erklärung einfallen zu lassen.

Noch immer schmunzle ich, als aus der friedlichen Geräuschkulisse der Nacht ein scharfes Zischen hervorsticht. Kaum erwacht der Laut zum Leben, scheint er bereits an uns vorbeigezogen zu sein.

Nur eine Sekunde, eingenommen von meiner intuitivsten Reaktion und ich öffne die Augen und fahre herum, als die Hausfassade hinter uns ein dumpfes Knacken offenbart.

Etwas scheint in das Gestein eingeschlagen zu sein, doch das Bild bleibt undeutlich in der fortgeschrittenen Dunkelheit. Ich erkenne Teile des Putzes, die sich lösen, reiße mich los von dem Bild, um auf die Beine zu kommen, drehe mich um, um die Dunkelheit auszukundschaften, doch erstarre für einen Moment, als Kanda plötzlich haltlos neben mir zusammenbricht.

Seine Knie geben nach, sein gesamter Körper scheint komplett zu erschlaffen und meine Hand erreicht ihn nicht, bevor er dumpf auf dem Dach aufschlägt. Kein Abstemmen, kein Abrollen. Sein Kopf trifft auf die Ziegel, als wäre er eine Marionette, deren Fäden rissen und ich habe mich kaum geregt, als das pfeilschnelle Zischen erneut aus der Nacht heraus nach uns sticht. Nur undeutlich mischt es sich unter den ersten geräuschvollen Atemzug, nach dem ich ringe, unter dem ich mich in die Höhe stemme und wie laut brechen diesmal die Ziegel des Daches.

Das Surren endet, peitscht nicht an uns vorbei. Ich höre das Klirren des Lehms, doch bemerke nur, wie Kandas regloser Körper zu rutschen beginnt. Seine Hand wirkt leblos, als sie über die Ziegel driftet und erneut versuche ich sie zu erreichen, ihn vor dem Sturz zu retten, doch bin kaum zu einer Bewegung fähig.

So wie ich mich nach vorn stemme, so reißt es mich zurück und wie entsetzt dringt das eigene Stöhnen an meine Ohren, als ich im Halbdunkel das Gebilde erkenne, das meinen Oberschenkel durchschlug und sich tief hineinbohrte in die darunterliegenden Ziegel.

Kaum erwacht der dumpfe Schmerz in mir zum Leben, da zuckt meine schwarze Hand zu meinem Bein und schließt sich um die riesige, schwarze Nadel, die mich pfählt.

Die Zeit scheint zu rasen. Surrend driften Sekunden an mir vorbei.

Jedes Stöhnen, jeder Atemzug, jeder schmerzbetäubte Moment scheint heraufzubeschwören, was endgültig ist und wie rast das Herz in meiner Brust, als ich mich aufrichte, die Nadel fester umklammere und aus dem Dach und meinem Bein reiße.

„Tim!“ Meine Stimme bricht, als ich ihn rufe, die Nadel zur Seite schmetternd und die Betäubung durch die Schmerzen durchbrechend. „Verschwinde!“

Flüchtig rutsche ich aus im eigenen Blut, bevor ich mich über den First ziehe und mich auf der anderen Seite des Daches hinabschlittern lasse. Abermals das Surren. Wie zucke ich zusammen, als es über mich hinwegpeitscht, doch meine Hand streckte sich bereits und schlägt sich um Kandas Arm. Noch immer rutscht er, sofort zieht er mich hinab und nur beiläufig nehme ich wahr, wie Tim, von einer Wucht getroffen, an die nahe Hausfassade genagelt wird. Eine Nadel bohrte sich durch ihn, riss ihn aus der Luft und fixiert ihn an der Mauer.

Im letzten Moment aktiviere ich mein Innocence, ziehe mich zu Kanda und umklammere ihn, bevor wir gemeinsam über die Dachrinne schlittern. Gleißend schließt sich der weiße Mantel um uns, bildet eine schützende Hülle und ich spüre den Sturz, jedoch nicht den Aufprall auf dem Boden. Allein mein rasender Atem erhebt sich in dem behüteten Kern, in dem ich Kanda noch immer umklammere und nur stockend öffne ich dann die Augen.

Schmerz durchpeitscht meinen gesamten Körper, als ich mich rege, Kanda zu Boden sinken lasse und sein Gesicht zu mir wende. Sein Kopf ergibt sich dem leichten Druck meiner Hand. Keine Spannung scheint es in ihm zu geben und zitternd folgen meine Finger dem dünnen Rinnsal aus Blut, das sich seinen Weg über sein Gesicht bahnte. Seine Haut wirkt umso blasser durch die schwarzen Formen der Pentagramme, die sich wie ein Fluch über sie ziehen. Keine Mimik formt seine Züge. Seine Augen sind geschlossen und selbst mein Atem bebt, als ich eilig das Haar aus seiner Stirn streiche.

„Oh Gott.“ Meine Stimme ist nicht mehr als ein tonloses Hauchen, als ich die Wunde auf seiner Stirn erkenne.

Die erste Nadel durchschlug seinen Kopf und im Schutz meines Innocence sinke ich auf ihn und bette das Ohr auf seinem Mund. Kein Atem dringt über seine Lippen, keine Wärme erreicht meine Haut und wie beiße ich die Zähne zusammen und stemme mich in die Höhe.

Was auch immer in den letzten Sekunden geschah, ich überstand es als konfuses, entsetztes Fragment und ringe noch immer um Orientierung und Begreifen. Leblos liegt Kanda bei mir, ebenso regungslos bleibt Tim an die Fassade gepfählt. Mit einem Mal bin ich der einzige der sich regt, der einzige der atmet.

Verbittert klammere ich mich in den zerrissenen Stoff meiner Hose. Ich darf hier nicht bleiben, muss uns in Sicherheit bringen, doch wie kalt und stechend scheint das Akuma-Gift bereits meinen gesamten Körper zu durchströmen. Ich sehe die dunklen Gebilde auf meiner rechten Hand, spüre sie auf meinem ganzen Leib sowie ich dessen sofortigen Widerstand wahrnehme.

Das Gift wird mich ebenso wenig töten wie die Schmerzen, auch geschützt bin ich in diesen Momenten, doch letztendlich nicht vielmehr als eine verschreckte Beute in einem panisch gewählten Unterschlupf.

Die schmale Gasse ist nicht besser als die freie Flur, die es meinem Feind freistellt, die Richtung zu wählen und wie konzentriert driften meine Augen an Kanda vorbei, bevor ein Teil des Mantels von mir gleitet und ich eilig die Umgebung mustere.

Ich darf ihn nicht ansehen. Nicht hier und jetzt. Auch nicht daran denken, dass er tot ist.

Ich muss fassen, was konfus und ziellos in mir vorgeht, muss mich bewegen, zurückziehen und einen Ort finden, der mir das Ausharren ermöglicht.

Kein einziges Mal sah ich, was uns angriff. Es schien sich die Finsternis zum Freund gemacht zu haben und auch jetzt fühle ich, wie es lauert. Darauf, dass sich der Vorhang hebt und es sein Werk beenden kann.

Noch immer umgibt mich die Welt still. Noch immer schweigt der Singvogel, doch die Brisen des Windes sind so zärtlich wie zuvor. Durch einen kleinen Spalt zwischen zwei nahen Häusern erkenne ich abermals das ferne Licht hinter einem fernen Fenster und wie schwarz wirkt hingegen der Ort, an dem ich kaure. Verwunschen und hoffnungslos. Dabei waren wir so entspannt, nur wenige Augenblicke zuvor.

Erschöpft versenke ich die Finger in Kandas Uniform und ziehe ihn ein Stück zur Seite. Näher an die Mauer des Schuppens, ihn stetig einhüllend in den gleißenden Schutz.

Wo wären wir sicher, frage ich mich, als meine Augen die Umgebung abtasten.

Kein Akuma begegnet meinem Blick, mein Auge reagiert nicht und wie unbewusst klammere ich mich noch immer an Kanda, als ich zur anderen Seite spähe. Ein Keller, kommt es mir in den Sinn. Ein überschaubarer Ort mit überschaubarem Eingang wäre das Beste in dieser Situation und unweigerlich halte ich inne und lausche erneut in die Stille.

Das Plätschern, das ich auf dem Dach hörte, scheint mit einem Mal näher und sofort folge ich den Geräuschen. Vorsichtig löse ich mich von der Wand, lehne mich in die Gasse und wie makaber wirkt es, dass das Schicksal mir zumindest diesen einen erbärmlichen Wunsch, uns erfolgreich verkriechen zu können, zu erfüllen scheint.
 

-tbc-



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Otogi
2017-12-18T13:03:39+00:00 18.12.2017 14:03
Hallihallo :)

Also erstmal hab ich mich super gefreut, als ich gesehen habe, dass ein neues Kapitel draußen ist und es war auch wieder wunderschön zum lesen.
Kanda merkt doch sicher schon längst, dass Allen ihm irgendwas verschweigt, aber ich mag es, mit welchen Worten er an die Sache rangeht. Und Kanda hat ja auch recht mit dem, was er sagt. Es ändert letzendlich ja nichts an dem Geschehen, da wäre ich wohl seiner Meinung. Ich bin mir sowieso sicher, dass er seine Gefühle wieder nicht zeigt, sollte Allen ihm etwas sagen. Schade eigentlich, weil er sich Allen bestimmt öffnen könnte, ohne, dass Allen sich ein Urteil darüber bildet, das ist ja eigentlich auch das Schöne an ihrer Beziehung.

Kommt es mir nur so vor, oder habe ich das Gefühl, dass sie unvorsichtiger werden, wenn sie zu zusammen unterwegs sind? Oder der Feind war einfach nur geschickter diesmal, ich bin ja sehr gespannt, was los ist.

Und zu der Seme-Uke Thematik. Ich finde deine Einstellung für mich auch absolut logisch. Natürlich mag ich diese Rollenverteilung der Beiden, weil es zu ihnen passt und ich sie ja auch genauso sehe~
Allerdings kann ich mir Allen auch als Seme vorstellen. Einfach, weil er letztenendlich auch ein Mann ist und sicher auch mal kann, wenn er es will. Aber ich sehe das bei jedem Yaoi-Pärchen so, das hat weniger was mit den Charakteren an sich zu tun, sondern an meiner persönlichen Interpretation, darum hinterfrage ich immer die Rollenverteilung ^^.
Im Grunde wollte ich nur sichergehen, dass ich in deiner FF nichts falsch verstehe und es macht dem ja auch gar keinen Abruch, im Gegenteil ;) Ich mag es ja, wenn Kanda Seme ist~

Und ja, das mit dem Schreiben für sich selbt kenne ich sehr gut. Ich schreibe auch sehr viel für mich selbst und entscheide mich nur dann, es hochzuladen, wenn ich sicher bin, dass es ein Ende hat, weil ich ungern etwas unvollständiges hochladen möchte. Ansonsten schreibe ich viele einzelne Szenen, manchmal überkommt es einen einfach :)

Nunja, vielmehr hab ich nicht zu sagen.
Ich liebe deine FF und sie inspiriert mich zu so einigen Dingen, wenn ich sie lese :D
In dem Sinne, weiter so, es ist großartig :3
Von:  lula-chan
2017-12-04T15:19:39+00:00 04.12.2017 16:19
Tolles Kapitel.
Wieder mal sehr gut geschrieben. Allens Gefühle werden wirklich gut dargestellt.
Oh, Gott! Kanda darf nicht tot sein. Das darf er einfach nicht. Hoffentlich wirken seine Regenerationsfähigkeiten und retten ihm das Leben.
Allen muss sie jetzt erstmal an einem sicheren Weg bringen. Zum Glück scheint er aber schon den passenden Ort gefunden zu haben.
Ich bin schon richtig gespannt, wie es weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG


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