Zum Inhalt der Seite

Last verse of dawn

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

8

Abermals ist es still geworden in dem großen Raum, in dem stets Chaos und Geräusche herrschen. Hinter mir höre ich Rivers Atemzüge und realisiere nicht sofort, dass meine ausbleiben. Ich mustere Komui und ich mustere ihn lange, als wäre ich ein vollendeter Narr, der darauf hofft, die Realität hätte ihn an der Nase herumgeführt. Dabei ist es kein Material für einen Witz und auch sonst fehlt jede Möglichkeit, daraus ein Missverständnis zu kreieren. Meine Lippen sind trocken, während sich vor mir mit einem Mal ein fassungsloses Ausmaß offenbart. Eine Gegebenheit, so immens, dass ich sie in diesem Moment nicht annähernd begreifen kann.

Lavi schweigt, auch River lässt die Stille gewähren und ich suche nach Worten und bin nicht sicher, welche die richtigen wären.

Es ist ein leises, undefinierbares Geräusch, das mich kurz darauf aus meiner Starre befreit und auf das mein Bewusstsein reagiert wie ein aufgeschrecktes Tier. Mein Körper dreht sich um und dann starre ich auf die Tür, als hätte ich befürchtet, sie würde sich öffnen. Als hätte das Schicksal in seiner Gnadenlosigkeit ausgerechnet Kanda hierhergeschickt.

Doch die Tür bewegt sich nicht.

Meine Schultern heben und senken sich unter einem gedrungenen Durchatmen und so wende ich mich wieder an Komui und beende das Schweigen mit einem zögerlichen Räuspern. Die Kontrolle kehrt zurück, da ich sie gewaltsam an mich reiße und wie beiläufig taste ich nach der Karte und falte sie zusammen.

„Du hast Finder geschickt.“

„Mm.“ Komui deutet das Nicken nur an.

„Du sagtest ‚alle‘. Die Kinder?“

„Mm“, raunt Komui, den Blick zum Boden gesenkt.

Absent betaste ich die Karte. Nach außen hin ist sie nur noch ein weißes Papier, das keine Besonderheiten birgt. Ich bewege sie zwischen den Händen, fühle ihre raue Struktur und versuche mich an das Gesicht des Kindes zu erinnern, das ich am Fuße der roten Statue ansprach.

Waren seine Haare blond oder schwarz?

Nicht einmal seine Augen sehe ich vor mir.

Das einzige, wessen ich mir sicher bin, ist die Leere, die in ihnen lag.

„Allen.“ Schwerfällig richtet sich Komui auf. „Vielleicht hat ihre Religion so ein Verhalten vorgeschrieben für den Fall, der eingetreten ist. Es wäre nicht unüblich. Sie haben sich davor schon geopfert.“

Nicht die Kinder starben auf dem Friedhof, denke ich mir und will schmunzeln und mich gleichzeitig abgrundtief verdammen, da Komui tatsächlich versucht, die Schuld in all ihrem Gewicht woanders abzulegen.

„Ihr konntet es nicht wissen“, fährt er fort, doch verstummt, als ich die Hand hebe und ihn darum bitte.

Keine weiteren Worte. Wer sucht, findet sogar die kläglichsten Auswege.

Ich spüre, wie Rivers Aufmerksamkeit mich streift. Der Ausgang in Bingen war ein Thema, von dem nur Kanda, Komui und ich wussten. Aus einer offiziellen Mission wurde ein Geheimnis und vermutlich hätte nie jemand nachgefragt. Nun jedenfalls hebt sich der Vorhang und nicht nur River genießt mit einem Mal freie Sicht auf die Wahrheit. Auch Lavi tut es.

Sie alle hören, was ich zu sagen habe, doch es kümmert mich nicht. Seit ich dieses Wort erfasste inmitten all des Papiers, fokussierte sich mein Denken und Fühlen in eine einzige Richtung. Im Moment geht es auch nicht um Fragen der Schuld, denn es ist offensichtlich, wer sie trägt, also keine Verschwendung von Zeit und Worten. Was für mich hier und jetzt eine Rolle spielt, ist eine einzige Begebenheit.

„Kanda darf nicht davon erfahren.“

Komui neigt sich zur Seite, reibt sich den Mund. Es ist ein Widerspruch, den er hinter seiner Hand versteckt und erneut fühle ich mich wie ein geblendeter Bengel, der von zu hohen Zielen träumt. Dennoch strecke ich mich diesem Licht entgegen, strecke mich auch durch Maries Worte und unser Bündnis, Kanda einen Schutz zu gewähren, nach dem er niemals selbst suchen würde.

„Er wird fragen“, dringt Komuis leise Stimme zu mir. „Und er wird wissen, wenn ich ihm etwas verheimliche. Und wenn ihm diese Antwort nicht reicht, wird er sich selbst überzeugen.“

„Ich weiß“, würge ich hervor und wünschte, die Worte wieder hinabschlucken zu können, auf dass sie sich zersetzen und mir meinen Glauben lassen. Ich zische auf, reibe meinen Nacken und verberge nicht, was an Nervosität in mir aufsteigt.

Und wie könnte ich davon ausgehen, dass es mir anders erginge als Komui?

Im Gegensatz zu ihm bin ich nicht immer so aufrichtig, wie ich wirke, und der Meinung, diese Kunst annähernd gemeistert zu haben. Kanda fiel es damals jedenfalls spielend leicht, mich von meinem Thron zu ziehen und mir vor Augen zu führen, dass meine Masken für ihn annähernd unsichtbar waren. So wird er nicht nur Komui durchschauen, sondern bei mir nicht viel mehr Kraft einbüßen, um dasselbe Resultat zu erzielen.

Nur ein Zögern, nur ein flüchtender Blick und er wird wissen, wo er den Hebel anzusetzen hat, damit ich ihm unbewusst alles verrate, was er glaubt, wissen zu wollen.

Ich senke den Kopf. Noch immer klammert sich meine Hand in den Nacken und dann stehe ich dort, mit geschlossenen Augen die eigenen Gedanken jagend, konzentriert und angespannt, als ginge es um ein Leben und dessen Ende.

„Er wird bestimmt bald wieder aufbrechen wollen“, sage ich und muss mich begnügen mit dieser vorläufigen Lösung. „Gib ihm eine Mission und übersteh die wenigen Minuten, damit ihm kein Verdacht kommt. Und schick mich woanders hin, damit ich Zeit habe, um nachzudenken.“

Somit gelange ich an einen Punkt, von dem ich nicht einmal glaubte, er würde existieren.

Ich bitte Komui darum, nicht an Kandas Seite sein zu müssen.

Vermutlich gäbe es noch andere Gedanken in mir, würde ich mich nicht so fürchten vor der Gründlichkeit der annähernd schwarzen Augen.

Komuis Hand erreicht vereinzelte Missionsmappen. Wortlos streift er die obere zur Seite und blättert in einer anderen. Natürlich weiß er, dass wir aus der Not heraus handeln und gedankenlos wie ein Tier, das sich verzweifelt aus einer Falle zu befreien versucht.

Sich das Bein abzubeißen, ist derzeit wohl das klügste.

„Ich hätte euch morgen früh nach Schweden geschickt“, murmelt Komui in den Text vertieft. „Stattdessen wird Crowley ihn begleiten und du übernimmst seine Mission.“

Ich nicke, akzeptiere jeden Weg, der sich zur Flucht eignet und selbst vor dieser Situation ziehe ich mich rasch zurück. Ein letztes Nicken sende ich in Komuis Richtung, bevor ich mich abwende und gehe. Es ist eine Geste, die zu erbaulichen Entschlüssen passt und zur Lösung eines Rätsels. Als hätten wir eine Antwort gefunden, mit der sich arbeiten lässt, doch als ich mich abwende klafft hinter mir dasselbe schwarze Loch.

Nach einem kurzen Zögern folgt mir Lavi und wie schweigend halten wir uns nebeneinander, als wir die Alltäglichkeit der Wissenschaftsabteilung hinter uns lassen. Dieselben Geräusche und Stimmen formen hier einen Alltag, den nur das Holz einer Tür von grausamen Tatsachen trennt.

Als die kühle Luft des Flures mich erreicht, machen sich meine Zähne absent an meinem Daumen zu schaffen. Meine Augen bieten mir das Bild des Bodens und erst als ich die Intensität eines Blickes spüre und die erwartungsvolle Leere, die gefüllt werden will, erinnere ich mich an Lavis Gegenwart. Die Hände in die Hüften gestemmt, steht er neben mir und eine Weile sehe ich ihn nur schweigend an.

Ihn von dieser Wahrheit abzuschneiden, wäre unmöglich gewesen. Ihre bloße Gegenwart wiegt schwer genug und so atme ich tief durch und bitte ihn mit einer knappen Kopfbewegung, mir zu folgen.
 

Leer und lautlos erstreckt sich die Trainingshalle um uns, nachdem wir auf eine der Bänke sanken und während ich mich umsehe, erinnere ich mich unweigerlich daran, wie wir alle Zeit an diesem Ort verbrachten. Es ist noch nicht lange her, dass wir hier eine seltene Gemeinschaft und ebenso seltene Freude fanden und wie bizarr ist die Tatsache, dass mich eine einzige Neuigkeit so endlos weit von diesen Gefühlen entfernt. Ich spähe zu einem der Sandsäcke, auch zu den bereits leicht abgenutzten Matten, auf denen Kanda sich bewegte und dann atme ich tief durch, straffe die Schultern und schöpfe tiefen Atem. Lavi schweigt noch immer, denn von ihm werden keine Worte erwartet.

Der Zufall führte ihn zu dieser Angelegenheit und ließ ihn ein Teil von ihr werden. Durch seine bloße Gegenwart scheint er selbst mit einem Mal infiziert mit der Dunkelheit von Bingen. Als hätte ein minimaler Kontakt gereicht mit dieser widerwärtigen, hochansteckenden Begebenheit.

Doch es ist in Ordnung, schätze ich. Wenn auch nur durch den Vergleich mit der ausschlaggebenden Problematik, die jeder anderen die Schwere nimmt.

Vielleicht ist Lavi derzeit der beste Mitwisser, denke ich mir, abermals an meinem Daumen zugange, denn hinter seinen unüberlegten, von Sorglosigkeit zeugenden Worten und Witzen, erstreckt sich eine absolut durchdachte Tiefe, die ich hin und wieder aus den Augen verliere.

Zu manchen Zeiten wird sie zum Feind, der mich durchschaut, in die Irre führt und eiskalt erwischt, doch überwiegend empfinde ich die verborgene Reife Lavis als treuen Verbündeten. Also beginne ich irgendwann zu erzählen und Lavi zu eröffnen, was in Bingen geschah und was Kanda und ich taten, da wir es für das Richtige hielten.

Es ist kein Material für lange Ausschweifungen. Die Geschichte bleibt kurz und in dieser Fassung möglicherweise gnadenlos und Lavi regt sich nicht, während er zuhört. Sein Auge durchdriftet konzentriert die Umgebung, scheinbar ohne etwas zu erfassen und er deutet das Nicken nur an, als ich verstumme.

Flüchtig mustere ich ihn, doch sein Kopf scheint noch beschäftigt, als würde er jede Tatsache in ihre Einzelteile zersetzen und durchdenken. Letztendlich sagte ich ihm die Wahrheit wohl nicht nur, weil er sie verdient und ohnehin eingefordert hätte.

Vielleicht kommt es mir auch gelegen, die Ansicht eines Menschen zu hören, der weitaus weniger involviert ist, ob nun mit Bingen selbst oder mit Kanda.

„Mm.“ Unter einem unschlüssigen Brummen erwacht Lavi kurz darauf zum Leben.

Er atmet tief durch, reibt sich die Wange und flüchtig begegnen sich unsere Blicke, bevor ich ein Zucken an seinem Mundwinkel wahrnehme. Es lässt sich nicht definieren, erlischt binnen eines Augenblickes und ernüchtert erinnere ich mich an die Tatsache, dass auch Lavi sich nicht durchschauen lässt, wenn er es nicht möchte.

„Heikel, solche Angelegenheiten“, murmelt er kurz darauf, als würde er mit sich selbst sprechen. „Heikel in dem Sinne, dass es keine Antworten gibt, wenn man Fragen stellt, sondern nur weitere Fragen.“

Als ich zu ihm spähe, lehnt er sich zurück, als würde er nach Bequemlichkeit suchen.

„Haben die Menschen daran geglaubt, weil sie es wirklich wollten oder allein durch die Drogen? Und wenn sie den Glauben tatsächlich für sich annahmen, ist es nicht ihr Recht, sich für ihn das Leben zu nehmen? Waren die Kinder unschuldig oder nur die unausgereifte Version der großen Fanatiker? Hätte der erste Finder sich nicht einmischen dürfen?“ Er erwidert meinen Blick annähernd unbeteiligt. „Habt ihr richtig gehandelt? Hätte ich dasselbe getan?“

Seine Schultern heben und senken sich unter einem tiefen Durchatmen, bevor er gegen die Rückenlehne der Bank sinkt.

„Allen“, seufzt er dann. „Ich weiß es nicht und könnte es auch nie, weil ich Spekulation nicht ausstehen kann. Ihr wart dort, ihr habt die Atmosphäre gespürt und die Menschen gesehen. Dann habt ihr reagiert. Nach bestem Wissen und Gewissen. Hättet ihr ahnen können, dass es jetzt dazu kommt? Lassen wir die Fragen. Das einzige, was ich mit Gewissheit sagen kann, ist Folgendes. Ihr habt euch keinen einfachen Weg ausgesucht, denn niemand kann euch Absolution erteilen. Vielleicht ist es sogar der schwerste, denn die einzigen, die euch begnadigen können, seid ihr selbst und genau da liegt die Hürde, denn der Weg führt geradewegs bergab, wenn Selbstbelügung im Spiel ist.“ Er juckt sich das Kinn, während ich ihn nur ansehe.

„Vielleicht solltet ihr nicht zu viele Faktoren einbeziehen. Seht die Situation nüchtern, seht die Fakten und akzeptiert, was euch euer Gefühl sagt. Ist euer Gewissen leicht, dann macht es nicht schwerer. Und wenn ihr tatsächlich einen Fehler begangen haben solltet, dann müsst ihr lernen, mit ihm zu leben.“ Er begegnet meinem Blick und deutet ein Lächeln an. „Keiner von uns kann dieses Leben führen, ohne Fehler zu machen. Das wäre zu viel verlangt, denkst du nicht?“

Die leisen Flügelschläge Tims nähern sich mir und reglos verfolge ich, wie sich der Golem auf meinem Schoß niederlässt. Wieder und unweigerlich beneide ich ihn um seine emotionslosen Schaltkreise.

Neben mir streckt sich Lavi. Er gähnt, streckt auch die Beine und kreuzt sie.

„Und was unseren holden Herrn angeht“, fährt er dort. „Ob ihr es vor ihm verheimlichen könnt, spielt meiner Meinung nach keine Rolle. Auch nicht, ob er die Wahrheit erfahren sollte. Aber wenn du sie für dich behältst, geht vermutlich das ganze Gewicht auf dich über und macht es dir noch schwerer, eine ehrliche Antwort zu finden. Das ist das, was ich denke. Der Rest geschieht schon von selbst.“

Noch immer betrachte ich mir Tim.

Auf mein Gefühl hören, sagt Lavi, dabei weiß er nicht, wie zerrüttet das Land meiner Empfindungen ist.

Manchmal ist es zu dunkel, um sich zu orientieren. Man kann sich nicht nach einem Licht richten, wenn es dieses nicht gibt.

In den nächsten Momenten grüble ich über seine Antwort. Auch darüber, ob ich zufrieden mit ihr bin oder ob eine schwache, kindische Ader in mir darauf hoffte, von ihm freigesprochen zu werden. Ein weiteres Mal agiert er erwachsener, als es mir lieb ist.

Er tätschelt meine Schulter und wir wechseln nicht mehr viele Worte, bevor Lavi sich auf die Suche nach Bookman macht. Auch er hat seine Angelegenheiten. Er mustert mich ein letztes Mal, wohl um sicherzugehen, dass er mich wirklich alleine lassen kann, doch ich lächle und nehme ihm die Verantwortung und setze kurz darauf alleine in der Halle. Die Hand auf Tim gebettet verliere ich mich wieder in der Betrachtung der Leere, die mich umgibt.

Vermutlich hat Lavi Recht. Die Gedanken darauf zu fixieren, die Angelegenheit vor Kanda zu verheimlichen, kommt einer Verschwendung gleich. Es endet alleine in einem Hinauszögern und wenn der Moment kommt, werde ich keine Lösung kennen und keine Möglichkeit haben, mich an den Schwur zu halten, den ich mit Marie beschloss. Ein weiteres Mal wird sich ein Gewicht auf Kanda senken, ohne dass wir ihn beschützen konnten und wie bitter stößt mir der Gedanke auf, es beim nächsten Mal besser zu machen.

Damit ist es nicht getan.

Vielleicht sollte ich mit Marie sprechen, denke ich, als ich irgendwann aufstehe und die Halle verlasse, doch letztendlich handelt es sich wohl auch bei dieser Sehnsucht nur um eine Sehnsucht nach einer leichten Lösung.

Was könnte er schon sagen und welchen neuen Weg eröffnen?
 

Die Abendstunden verbringe ich alleine, teile die Zeit nur mit endlosen Grübeleien und vermeide jeden Schritt, der mich zu Kanda führen könnte. Ich bat Komui nicht um Distanz, um mich ihm auszuliefern und auch diese Tatsache nagt an mir, denn es geschah nicht oft in letzter Zeit, dass wir gemeinsam hier waren und genug Gelegenheiten zur Verfügung standen. Stünden die Dinge anders, wäre ich an seiner Seite, pausenlos und jeder Sekunde mit Dankbarkeit huldigend.

Stattdessen sitze ich in meinem Zimmer, reglos wie ein Schatten und auf die Wand starrend. Als es dämmert, trete ich in den Speiseraum und das nicht sehr zufällig zu einer Zeit, zu der Kanda nichts mehr zu sich nimmt. Ich esse lustlos und ungestört und sehe anschließend wieder diese Wand vor mir und die Dunkelheit auf der anderen Seite meines Fensters.

So kaure ich auf der Bettkante, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt und wieder bewege ich mich nicht, während mich hin und wieder Tims Flügel streift.

Gedanken verändern sich nicht, wie man sie auch dreht und wendet. Sie können es auch gar nicht, wenn frischer Wind von außen fehlt und das einzige, worauf ich irgendwann treffe, ist der nüchterne Boden der Tatsachen, den ich in all den Stunden nicht sehen wollte. Unter einem tiefen Durchatmen schließe ich die Augen und bette die Stirn auf meinen Händen.

Wenn ich die Situation häute, gnadenlos Schicht um Schicht abtrage und mich dem stelle, was sie unter sich verbargen, dann bleibt eine einzige Frage übrig.

Wen schütze ich mit dieser Distanz?

Mich oder ihn?

Ich presse die Lippen aufeinander. Selbstlosigkeit lässt sich schnell vergessen, wenn man glaubt, einer Sache nicht gewachsen zu sein und unter einem ernüchterten Kopfschütteln komme ich auf die Beine und verlasse mein Zimmer. Ich bewege mich sicher und zielstrebig, denn der Weg vor mir offenbarte sich. Es ist der schwere Pfad, den ich beschreite.

Schwer, da er richtig ist.

So betrete ich die Wissenschaftsabteilung, grüße meine teilweise wachen Freunde mit einem flüchtigen Lächeln und stehle mich ohne ein Wort in Komuis Büro. Er gehört nicht zu den letzten Überlebenden, wie mir sein leises Schnarchen verrät. Es verbirgt sich hinter der Rückenlehne des Sofas, lässt sich nicht stören durch das Rascheln des Papiers, als ich näher trete und dann stehe ich dort und bemitleide ihn, da er es aus diversen Gründen wieder einmal nicht bis in sein Bett schaffte. Seine Haltung sieht ungemütlich aus. Aus Erfahrung weiß ich auch, dass die Armlehne sich nicht als Kopfkissen eignet.

Und ich zögere nicht. Ihn schlafen zu lassen, wäre eine demütigende Entschuldigung, um von meinem Weg abzukommen, also rüttle ich an ihm.

„Komui.“ Ich tätschle seine Schulter und bin eine Weile an ihm zugange, bis er zum Leben erwacht, bis er sich zu regen beginnt und seine müden Augen mich erfassen. Er braucht einen Moment, um die Wirklichkeit zu erreichen und ich stelle sicher, dass er es tut.

„Ich bin wach“, ächzt er, als ich erneut an ihm rüttle und dann rappelt er sich auf. Flüchtig betastet er seinen Kopf, doch das Barrett rutschte zu Boden und beiläufig hebe ich es auf. Unter meiner konzentrierten Fixierung nimmt er es entgegen. „Wie spät ist es?“

„Zu spät“, sage ich nur und spähe flüchtig zum Schreibtisch und zu den Missionsakten. „Komui, hör zu. Bist du wach? Es ist wichtig.“

„Ich bin wach“, versichert er mir abermals, offenbar ein Gähnen unterdrückend. „Was ist los?“

„Ich nehme die Mission mit Kanda“, antworte ich und sehe, wie er perplex das Gesicht verzieht. „Morgen. Ich gehe mit ihm nach Schweden und Crowley behält seine Mission. Es bleibt, wie es war.“

„Was?“ Er reibt sich die Augen, die Stirn. „Bist du sicher?“

„Ich bin sicher. Mehr wollte ich gar nicht.“ Somit tätschle ich seine Schulter. „Geh ins Bett, Komui.“
 

In der kühlen Luft der steinernen Gänge bin ich zu einem tiefen Durchatmen imstande. Der erste Schritt ist getan und das Gefühl so, wie ich es erwartete.

Diverse Geschehnisse sind uns bereits zu Füßen gelegt, denke ich, während ich mich von meinen Beinen tragen lasse. Wir werden ihnen begegnen und die einzige Wahl, die uns bleibt, besteht daraus, wie wir es tun.

Ob die Tatsachen uns eiskalt erwischen, da wir die Augen vor ihnen verschlossen oder ob wir sie kampfbereit erwarten.

Wenn die Tatsachen Kanda erreichen, ihn möglicherweise eiskalt erwischen, da er nicht von ihnen wusste, werde ich wenigstens an seiner Seite sein und kampfbereit.

Ich reibe meine Augen, gleite mit den Händen in meinen Nacken und erfasse die Tür, der ich mich nähere.

Was mich erwartet, das weiß ich nicht, doch mit Selbstvorwürfen im Nachhinein bin ich vertraut und niemals wäre ich in der Lage, Kandas Seele in die Waagschale zu legen für einen weiteren Versuch, das Schicksal zu hintergehen.

So greife ich nach der Klinke, so öffne ich die Tür und lasse Tim mit durch den Spalt schlüpfen, bevor ich die Pforte hinter mir schließe. Die Luft, die ich mit einem Mal atme und auch die annähernd lautlosen Atemzüge meines schlafenden Freundes scheinen mich zu begrüßen, mich fast zu liebkosen, als wollten sie mir danken für die Entscheidung, die mich hierherzog.

Ein Lächeln zuckt an meinem Mundwinkel, als ich zu dem Bett trete, mich beiläufig von meiner dünnen Jacke befreiend und aus den Schuhen schlüpfend. Die Dunkelheit mit den Augen erforschend, streife ich von mir, was ich nicht benötige und nur flüchtig spüre ich, wie mir sein Blick begegnet. Mich anzuschleichen, gelang mir noch nie, doch es bleibt nur ein Moment, bevor sich seine Lider wieder senken. Sein ausgestreckter Arm gibt einen Teil der Matratze frei und er scheint bereits zurück zu driften, als ich in den warmen, behüteten Kern eintauche, die Decke über mich streife und sofort Bequemlichkeit finde.

Ich bette den Kopf auf dem Kissen, nur darauf wartend, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen und so lichtet sie sich Stück für Stück und lässt mich ihn erkennen. Dass er auf dem Bauch liegt und sein Gesicht mir zugewendet ist. Selbst die langen Strähnen seines Haares figuriere ich bald aus der Finsternis heraus und ich zögere nicht, bevor ich eine von ihnen mit den Fingern erreiche und zurückstreife. Sie störte meine Betrachtung, wiegte sich vor seinem Mund unter jedem Atemzug und wie absent ergebe ich mich der Versuchung, ein weiteres Mal durch seinen Schopf zu streichen. Wie Seide gleiten seine Strähnen über meine Haut und unter der dezenten Wärme seines Atems schließe ich irgendwann die Augen.

Hier an diesem Ort und mit dieser Nähe ist das, was hinter mir liegt, kaum noch nachvollziehbar.

Dass ich tatsächlich nach Distanz suchte und mich aus dieser Wärme stehlen wollte, die wie ein beruhigender, inniger Strom jede Faser meines Körpers zu durchfluten scheint. Es gibt keine Momente in meinem Leben, in denen ich mich wohler fühle und als handle es sich um eine seltsame Gunst, fällt es mir schwer, in den Schlaf zu finden. Zu fixiert bin ich auf diese Wärme, zu intensiv spüre ich das Kitzeln seines Atems auf meinem Gesicht und Stunden um Stunden scheinen bereits an uns vorbeigezogen zu sein, als ich abermals die Augen öffne.

Eine Bewegung erfasste mich, auch die Atemzüge verloren ihre Gleichmäßigkeit und wie lange verfolge ich das unscheinbare Zucken seiner Lider. Seine Finger regten sich, strichen ziellos über den Stoff des Lakens und auch seine Lippen formen bald stumme Worte, die mich nicht erreichen.

Wieder begegnen ihm Bilder in einer Welt, in die ich nicht gelange. Es geschieht nicht selten, dass plötzliche Unruhe ihn ausfüllt. Auch nicht selten, dass ich zum Beobachter werde, doch nicht zu einem, der es akzeptiert, unbeteiligt zu bleiben.

Wie blind findet meine Hand zu seinem Rücken und bettet sich auf dem dünnen Stoff, der unsere Haut voneinander trennt. Dennoch spüre ich das Leben und das abrupte, leichte Zucken der Muskeln. Permanent, während meine Hand höherstreicht und zu seinem Kreuz, auf dem ich beruhigende Kreise zu ziehen beginne.

So dünn das Band auch ist, ich glaube ihn zu erreichen und wie lange berühre ich ihn, wie lange streiche ich über seinen Rücken, bis er sich unter meiner Hand und unter einem tiefen Durchatmen hebt und senkt.

Nur im Schlaf scheint er die Fähigkeit zu besitzen, sich wirklich fallen zu lassen.

Die alte Ruhe fließt zurück in seinen Körper, auf dem meine Hand bald darauf reglos gebettet liegt und so wie er zurückdriftet in die alte Tiefe, scheine ich ihm zu folgen. Ich werde schwer und verliere das Gefühl für alles, was ich liebe.
 

-tbc-



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  lula-chan
2017-09-10T18:11:08+00:00 10.09.2017 20:11
Ein schönes Kapitel.
Ich habe mir irgendwie schon gedacht, dass Allen so reagiert. Lavi hat schon recht mit dem, was er gesagt hat. Allen lädt sich einfach immer viel zu viel auf seine Schultern.
Ich frage mich schon, wie es mit Allen und Kanda weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG


Zurück