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Über Katzen und Krähen

Oneshot-Sammlung
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich hatte diesen Oneshot ursprünglich mal für einen WB der Schreifalter angefangen und ihn dann nicht rechtzeitig fertig bekommen. Da ich jetzt wieder auf einem frischen Haikyuu!!-Trip bin, hab ich beschlossen, dass ich den Anfang zu sehr mochte, um sie liegen zu lassen. Komplett anzeigen

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Sommernachts(alp)träume

...oder: wie man Iwaizumi Hajime erfolgreich um den Finger wickeln kann
 

Iwaizumi hätte beim besten Willen nicht sagen können, wann genau es passiert war, dass er sich in Oikawa Tooru verknallt hatte. Oikawa Tooru aka der größte Holzkopf aller Zeiten aka der arroganteste Mistsack unter der Sonne aka sein bester Freund aus Kindheitstagen. Er wusste es einfach nicht mehr. Wenn er auf die Stunden und Tage und Monate zurückblickte, die er mit Oikawa verbracht hatte, gab es nicht diesen einen Augenblick, an dem er es hätte festmachen können. Viele Leute sprachen von diesen Dingen, als wäre es wie eine plötzliche Explosion im Gehirn, ein Schlag ins Gesicht oder vielleicht ein Wimpernschlag, nach dem Die Welt plötzlich bunter und schöner und heller war.
 

Iwaizumi konnte all das nicht bestätigen. Er hatte irgendwann vor einiger Zeit ein Zitat gelesen, das sehr viel besser beschrieb, wie er sich fühlte. Es ging darum, dass man sich verliebte so wie man einschlief. Erst langsam und dann ganz schnell auf einmal. Wahrscheinlich war es bei ihm so langsam gewesen, dass er den Übergang von langsam zu ganz schnell überhaupt nicht mehr wahrgenommen hatte. Tatsache war jedenfalls, dass es jetzt schon seit Ewigkeiten so ging. Es hätte der Moment sein können, als er Oikawa hatte weinen sehen, nachdem er den Preis für den besten Setter gewonnen hatte. Es hätte sein können, als sie zusammen einen ausgesetzten Welpen gerettet hatten, der an Oikawas Nase genuckelt hatte, als wäre es die Zitze seiner Mutter. Es hätte sein können, als sie im Hochsommer nach einem besonders langen Training keuchend im Gras gelegen und über irgendeinen dummen Witz gelacht hatten, den Oikawa gemacht hatte.
 

Iwaizumi hatte keine Ahnung.
 

In Oikawa Tooru verliebt zu sein, war wie ein Spießrutenlauf mit Landminen überall auf der Strecke verteilt, während von oben herab irgendjemand bei peinlich schmalzigem Gesang Blütenblätter auf jemanden herabsegeln ließ. Es war wie über einen winzigen Stein stolpern, während alle hinsahen. Es fühlte sich an wie eine Riesenradfahrt mit Höhenangst, wie ein schmelzendes Wassereis bei 30 Grad. Iwaizumi hatte schon so viele Vergleiche über seinen Gefühlszustand herangezogen, dass man ihn gut und gerne als miserablen Poeten hätte bezeichnen können und er hätte es nicht einmal abgestritten. Er war ein absolut hoffnungsloser Fall.
 

Er hatte sich sogar beinahe daran gewöhnt, sich in Oikawas Nähe aufzuhalten, zu beobachten, wie alle Mädchen ihn anschmachteten und wie er ihnen all seine Aufmerksamkeit schenkte und wie es sich anfühlte, wenn seine Gefühle seit gefühlten hundert Jahren kein bisschen erwidert wurden. Beinahe.
 

»Iwa-chan, hörst du mir eigentlich zu?«
 

»Nein.«
 

»Iwa-chan! Du bist grausam!«
 

Wie konnte das nur passieren? Wie um alles in der Welt hatte er sich in diesen arroganten, unsicheren, talentierten, viel zu hart arbeitenden, idiotischen, wunderbaren, hübschen Armleuchter verknallen können? Es war zum Mäusemelken.
 

»Ich sagte, wir sollten in den Sommerferien dringend Urlaub machen!«
 

»Ich fahr ganz sicher nicht mit dir in den Urlaub«, entgegnete Iwaizumi entgeistert und musterte Oikawas gespielt verletztes Gesicht. Er hatte dieses Funkeln in den Augen, das Iwaizumis Magen dauernd dazu brachte, einen Salto zu schlagen. Er hasste sein Leben.
 

»Aber Iwa-chan! Ich hab ja auch nicht davon geredet, dass wir allein in den Urlaub fahren sollen, sondern mit der Mannschaft! Nichts stärkt den Teamgeist so sehr wie gemeinsam Freizeit zu verbringen, meinst du nicht auch?«
 

Oikawa strahlte ihn an und Iwaizumi dachte über all seine Lebensentscheidungen nach, die dazu geführt hatten, dass er nun mit Oikawa Tooru auf dem Schuldach hockte, die Sonne auf seinen dunklen Haaren brennen spürte und bedächtig sein Bento verspeiste. Es war kurz vor den Sommerferien und der Himmel über ihnen war so strahlend blau, dass es beinahe in den Augen schmerzte, wenn man hinauf blickte. Ein leichter Wind fuhr ihnen durchs Gesicht und weiter unten auf dem Schulhof hörte man die entfernten Stimmen und das gedämpfte Lachen ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen.
 

»Mir war nicht klar, dass unser Teamgeist gestärkt werden muss«, murrte Iwaizumi unzufrieden mit sich selbst und der Gesamtsituation. Ab und an dachte er darüber nach, was Oikawa tun würde, wenn er wüsste, was Iwaizumi für ihn fühlte. Meistens führten diese Überlegungen dazu, dass er vor lauter Angstschweiß und Herzklopfen nicht einschlafen konnte. Ein absoluter Alptraum wäre es, wenn Oikawa ihn überheblich und selbstzufrieden angrinsen würde und mit seiner sanften, schnurrenden Stimme sagen würde »Ah, Iwa-chan, ich wusste ja schon immer, dass du eine Schwäche für mich hast.«.
 

Oikawas Miene verfinsterte sich ein wenig. Sein Blick wanderte hinauf zum Himmel und Iwaizumi wusste, dass Oikawa an ihre knappe Niederlage gegen Shiratorizawa dachte. Er seufzte und tadelte sich selbst für seine mangelnde Disziplin, wenn es um Oikawa ging. Wenn Oikawa unzufrieden oder unglücklich war, hatte Iwaizumi sofort das dringende Bedürfnis, dies zu ändern. Er konnte ihre Niederlage nicht rückgängig machen, aber wenn so ein Urlaub Oikawa dabei half, darüber hinweg zu kommen, dann…
 

»Na schön«, brummte er, noch bevor Oikawa erklärt hatte, worum es eigentlich ging. Als wäre das nötig gewesen. Niemand kannte Oikawa so gut wie Iwaizumi. »Aber auf keinen Fall länger als eine Woche! Und ich will mit der Organisation nichts am Hut haben!«
 

Oikawa senkte den Kopf und eine Sekunde lang sah er ernsthaft überrascht aus, was Iwaizumis Herz einen ungehörig großen Satz machen ließ. Dann breitete sich erneut dieses leuchtende Strahlen auf dem Gesicht seines besten Freundes aus und Iwaizumi räusperte sich, ehe er den Blick abwandte. Er schob sich sein letztes Stück Reisbällchen in den Mund und kaute bedächtig.
 

»Iwa-chan, das ist ja großartig! Wie wäre es, wenn wir ans Meer fahren? Wir könnten auch–«
 

»Ist mir egal, aber dreh nicht völlig durch und buch irgendeinen Luxusschuppen!«
 

»Onsen…?«
 

»Oikawa!«
 

»Ok, ok! Nichts Extravagantes!«
 

*
 

Iwaizumi war erstaunt darüber, dass Oikawa sich tatsächlich an seine Anweisung hielt und nicht vollkommen durchdrehte. Er verkündete seiner Mannschaft nur drei Tage nach ihrem Gespräch auf dem Schuldach, dass sie alle gemeinsam in den Urlaub fahren würden. Die nervöse Stille, die folgte, ließ Iwaizumi innerlich seufzen.
 

»Wer hat in den Ferien schon andere Dinge vor?«, fragte er resigniert. Oikawa blinzelte erstaunt, als hätte er überhaupt nicht daran gedacht, dass seine Teammitglieder ein eigenes Leben haben könnten. Iwaizumi war nicht besonders überrascht darüber. In Oikawas Kopf drehte sich die Welt um ihn und die Tatsache, dass ihre Mitspieler nicht die ganze Zeit nur darauf gewartet hatten, von Oikawa einen Urlaubstermin genannt zu kriegen, war für Iwaizumi keinesfalls bahnbrechend. Oikawa jedoch schien ernsthaft verwirrt, als bis auf zwei Erstklässler alle ihre Hände hoben.
 

Verschiedene Pläne wurden gemurmelt offenbart.
 

»Ich fahr mit meinen Eltern nach Osaka, wir besuchen meine Tante…«
 

»Ich hab den ganzen Sommer Nachhilfe…«
 

»Mein Bruder kommt zu Besuch und wir sehen ihn so selten…«
 

Oikawa blickte in die Runde und wenn Iwaizumi nicht gewusst hätte, dass sein bester Freund zu stolz für so einen emotionalen Auftritt war, hätte man meinen können, er würde jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.

»Aber du fährst doch mit mir, nicht wahr, Iwa-chan?«, sagte Oikawa und wandte sich ihm zu, seine braunen Hundeaugen und die abstehenden Haare und sogar die vereinzelten Sommersprossen auf seiner geraden Nase sahen eindringlich bettelnd aus.
 

Iwaizumi seufzte sehr laut. Er spürte alle Blicke auf sich ruhen und ihm wurde ausgesprochen unwohl zumute.

»Na schön«, brummte er. Oikawa jubelte. Iwaizumi fragte sich, ob dieser Urlaub wirklich etwas mit der Stärkung des Teamgeistes zu tun hatte, wenn sie nun ohne das gesamte Team fahren würden. Aber Oikawa schien zufrieden zu sein… Kunimi und Kindaichi warfen sich einen vielsagenden Blick zu, von dem Iwaizumi keine Ahnung hatte, was er bedeuten sollte.
 

Iwaizumis Leben war zu Ende. Wie hatte er es nur soweit kommen lassen können?
 

*
 

Er war sich nicht sicher, was er eine ganze Woche mit Oikawa anstellen sollte, aber Oikawa schien sich darüber keine Gedanken zu machen, als sie gemeinsam im Shinkansen saßen und ihrem Urlaubsziel entgegen fuhren. Oikawa plapperte freudig darüber, wie er – den Göttern sei Dank – die Reservierung hatte abändern können, ohne extra zahlen zu müssen. Iwaizumi musterte seine Reisetasche und ließ Oikawas muntere Erzählung über sich hinwegschwappen wie eine lauwarme Brandung. Manchmal passierte das. Sein bester Freund hatte immer derartig viel zu reden, dass Iwaizumi kaum Zeit hatte, seinen eigenen Gedanken zu lauschen, einfach weil sie viel zu viel Zeit miteinander verbrachten.
 

»Immer, wenn du mir nicht zuhörst, kriegst du diese konzentrierte Falte zwischen den Augenbrauen, Iwa-chan«, sagte Oikawas Stimme direkt neben ihm und Iwaizumi zuckte zusammen. Er richtete seine Augen auf Oikawa. Wann immer er diesen sanften Ton in der Stimme hatte, würde Iwaizumi ihm am liebsten den Hals umdrehen.
 

»Hör auf mich zu beobachten, das ist gruselig«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Oikawa lachte leise und holte gerade Luft, um zu antworten, als er von der Seite angesprochen wurde.

»Entschuldigung? Bist du Oikawa Tooru?«
 

Iwaizumi verdrehte die Augen und seufzte lautlos. Wenn es den gesamten Urlaub so gehen würde, musste er sich womöglich ins Meer stürzen und diese Welt verlassen. Er hätte absagen sollen. Wieso um alles in der Welt hatte er auch nicht jede Menge Pläne für die Sommerferien gemacht? Er hatte sich eine Auszeit verdient! Und nicht eine Woche lang angespannte Nerven und hämmerndes Herz und Explosionen in seinem Gehirn, die immer dann losgingen, wenn Oikawa ihn direkt ansah.
 

»Der bin ich in der Tat, meine Damen.«
 

Gekicher brach los, gefolgt von einer Erklärung darüber, dass die Mädchen Oikawa offenbar in irgendeinem Sportmagazin gesehen und wieder erkannt hatten. Sie alle waren selbst auch in einem Volleyball-Club und wollten wissen, ob »Tooru-kun« irgendwelche Tips für sie hätte. Iwaizumi erwog ernsthaft, die Notbremse des Zuges zu ziehen und sich aus der nächstbesten Tür zu stürzen.

»Und wer ist dein Freund, Tooru-kun?«, fragte eines der Mädchen und schenkte Iwaizumi ein desinteressiertes Lächeln. Iwaizumi war sich sicher, dass es an seiner Frisur lag. Und an der steilen Falte zwischen seinen Augenbrauen, die jedem, der ihn ansah, verkündete, dass mit ihm im Zweifelsfall nicht gut Kirschen essen war.
 

»Das ist Iwa-chan, mein guter Freund und Ass unserer Mannschaft«, erklärte Oikawa mit einem Lächeln und deutete mit einer lässigen Handbewegung auf Iwaizumi. Iwaizumi hob kurz die Hand und versuchte so auszusehen, als würde er nicht gerade sein eigenes Ende planen.

»Du bist nicht das Ass in eurer Mannschaft, Tooru-kun? Das hätte ich nicht gedacht!«
 

»Aber du bist der Kapitän, nicht wahr?«
 

»Ach, das ist keine große Sache«, sagte Oikawa, während er sich am Hinterkopf kratzte und gespielt bescheiden lächelte.
 

»Können wir ein Foto mit dir machen, Tooru-kun?«
 

»Aber klar!«
 

Iwaizumi stopfte seine Hände in die Hosentaschen und starrte konzentriert aus dem Fenster. Die Landschaft flog in einem Schleier aus Grün und Braun an ihnen vorbei und der Himmel war so azurblau wie an dem Tag, an dem sie auf dem Schuldach gesessen hatten. Als Oikawa diesen absurden Urlaubsplan vorgetragen hatte. Neben ihm räusperte sich jemand. Iwaizumi wandte den Kopf und schaute in die braunen, mandelförmigen Augen eines recht hübschen und schüchtern wirkenden Mädchens, in dessen Haaren zwei kleine rote Haarspangen hingen. Sie hatte die Hände ineinander verschlungen und die braune Haut unter ihren Sommersprossen schimmerte ein wenig rötlich.
 

»Iwaizumi-kun«, sagte sie und klang ein wenig piepsig, »darf ich ein Foto mit dir machen?«
 

Sie starrten sich an und Iwaizumi fiel erst ein paar Sekunden später auf, dass neben ihm eine dröhnende Stille eingetreten war. Er wandte den Kopf und blickte direkt in Oikawas Augen. Sein bester Freund sah so überrascht und verwirrt aus, dass Iwaizumi unweigerlich sauer wurde. Wieso sollte man so überrascht darüber sein, dass Mädchen auch mal ein Foto mit ihm machen wollten? Er schnaubte leise und wandte sich wieder zurück.
 

»Sicher, warum nicht«, brummte er und das Mädchen strahlte ihn mit hochroten Wangen an. Sie kramte hastig ihr Handy aus der Handtasche und rutschte ein Stück zu ihm herüber. Oikawa war ein Vollidiot. Und auch, wenn Iwaizumi eigentlich kein Interesse an dem Mädchen hatte – sie wirkte sehr nett und war sehr hübsch, aber er konnte seine Gefühle für Oikawa schließlich nicht einfach abstellen – speicherte er bereitwillig seine Handynummer in ihr Telefonbuch ein. Einfach nur, weil Oikawa ihn so erstaunt angeschaut hatte. Er sah schließlich nicht übel aus – zumindest hatte er noch nie etwas Gegenteiliges gehört – und er war gut in der Schule und beim Volleyball. Ha!
 

Nachdem die Mädchen ausgestiegen waren, hockte Oikawa schweigend neben ihm. Es kam nur selten vor, dass Oikawa ihn nicht ununterbrochen vollplapperte und meistens passierte es beim Volleyball. Iwaizumi stierte entschlossen weiter aus dem Fenster und fragte sich, wie um alles in der Welt er diese Woche überleben sollte, ohne komplett durchzudrehen.
 

*
 

Entgegen aller Erwartungen, die Iwaizumi an ihr Urlaubsziel gehabt hatte – die sich alle danach richteten, wie er Oikawa einschätzte – war das winzige Hotel ein abgelegener und idyllischer Ort inmitten einer beeindruckenden Parkanlage mit japanischem Garten, Springbrunnen und traditionell gestalteten Räumlichkeiten. Iwaizumi erwartete hinter jeder Tür dröhnende Musik, Feiern, noch mehr kichernde Mädchen oder eine geheime unterirdische Karaokebar, aber nichts dergleichen tat sich auf. Oikawa hatte ihn vollkommen überrumpelt und Iwaizumi mochte dieses Gefühl wirklich nicht besonders gut leiden.
 

Sie wurden von einer kleinen, rundlichen Frau mit strengem Dutt begrüßt, die sie freundlich zu ihrem Zimmer führte. Einzahl. Ein Zimmer. Für sie beide. Gemeinsam.

»Wieso haben wir ein Doppelzimmer?«, fragte Iwaizumi misstrauisch, während Oikawa zufrieden seufzend seinen Koffer auf den Tatamimatten abstellte, die den Boden bedeckten, und sich erst einmal streckte. Sein bester Freund sah ihn mit großen Unschuldsaugen an, die kein Mensch dieser Welt für voll nehmen konnte.
 

»Es war viel billiger als zwei Einzelzimmer, Iwa-chan! Stell dich nicht so an, wir schlafen ja auf getrennten Futons!«
 

Wie auf ein geheimes Kommando kam die Besitzerin des Hotels zu ihnen herein und begann mit geschickter Routine, zwei Futonbetten für sie im Raum auszuklappen und ihnen frische Bettwäsche zu beziehen. Iwaizumi fühlte sich dabei ein wenig fehl am Platze und trat an eins der großen Fenster, die zur Parkanlage hinausführten. Die Bäume wiegten sich sanft im Wind und man konnte das verheißungsvolle Rauschen erahnen, das ihre Blätter verursachten. Der Himmel war hier und da mit einigen Schäfchenwolken übersät und Iwaizumi dachte stumm, dass dies hier das Paradies sein könnte… wenn er nicht mit seinem besten Freund, in den er nun einmal unglücklicherweise seit einer halben Ewigkeit verschossen war, allein hier gestrandet wäre.
 

»Es gibt sogar eine Sauna«, verkündete Oikawa bestens gelaunt und öffnete seinen Koffer, um damit anzufangen, seine Sachen auszupacken und in den rustikal wirkenden Kleiderschrank neben der Tür einzusortieren. Iwaizumi brauchte nur einen flüchtigen Blick auf die schiere Unmenge an Kleidung in dem Koffer zu werfen, um zu wissen, dass er am Ende für seine sehr viel spärlicher gepackten Klamotten kaum noch Platz haben würde. Für wen wollte Oikawa sich hier in der Einöde aufmöbeln? Für die Hotelbesitzerin?
 

»Ich glaube, außer uns wohnt noch ein altes Ehepaar hier«, sagte Oikawa munter und Iwaizumi musste unweigerlich daran denken, wie Kunimi einmal in seiner Gegenwart gemurmelt hatte, dass Iwaizumi und Oikawa sich wie ein altes Ehepaar verhalten würden. Iwaizumi war sich sicher gewesen, dass dies nicht unbedingt für seine Ohren bestimmt gewesen war, aber er hatte es trotzdem gehört. Sein erster Impuls war gewesen, sich lauthals zu empören. Dann hatte er gespürt, wie seine Ohren heiß wurden und er brummte stattdessen einfach nur ungehalten und stapfte unter die Dusche.
 

»Super, dann könnt ihr ja zu dritt in die Sauna gehen«, sagte Iwaizumi mit hochgezogenen Augenbrauen. Oikawa blickte ihn strafend an.

»Warum willst du nicht mit mir in die Sauna gehen?«, fragte Oikawa und schob auf diese beknackte Art seine Unterlippe vor, die ihm das Aussehen eines Fünfjährigen gab, der von seiner Mutter keinen weiteren Lolli mehr bekommen hatte. Iwaizumi schwankte zwischen dem Bedürfnis, Oikawa eine reinzuhauen und ihn zu küssen.
 

»Ich steh nicht so auf Sauna«, sagte Iwaizumi schulterzuckend und verheimlichte dabei galant, dass ihn der Anblick von Oikawas nacktem Körper womöglich an den Rand der Verzweiflung treiben würde. Ein Hoch darauf, dass Oikawa nicht in seinen Kopf sehen konnte.

»Dann solltest du aber definitiv mit mir zu einem der Onsen hier in der Nähe gehen!«
 

»Ich dachte es gibt keinen hier.«
 

»Nicht hier direkt im Hotel! Aber vier Kilometer weiter gibt’s ein entsprechendes Badehaus! Ich hab alles genau geplant!«
 

Iwaizumi seufzte ergeben und zuckte mit den Schultern.
 

»Von mir aus. Dann eben Onsen.«
 

*
 

Iwaizumi konnte nicht schlafen. Der Tag war überraschend entspannt gewesen, dafür, dass seine Nerven wie Drahtseile gespannt gewesen waren angesichts der Tatsache, dass er nun für einige Zeit mit Oikawa allein in dieser Einöde hocken würde. Sie hatten sich viel unterhalten – ausnahmsweise nur zu 50 Prozent über Volleyball – und hatten ein wenig den Park erkundet, in dem man zu Oikawas Begeisterung auch genug Platz zwischen den Bäumen hatte, um ein wenig Volleyball zu trainieren. Iwaizumi hatte sich schon gedacht, dass auch eine Woche Urlaub Oikawa nicht davon abhalten konnte, sich mit Sport zu beschäftigen, aber ihn juckte es auch oftmals in den Fingerspitzen, wenn er länger nicht gespielt hatte.
 

Sie hatten ein ausgesprochen leckeres Abendessen bekommen und Iwaizumi hatte sich tatsächlich ein wenig überfressen, was ihn am Abend dazu veranlasste wie ein Käfer auf dem Rücken in ihrem Zimmer zu liegen und ab und an einmal ein wehleidiges Geräusch von sich zu geben. Oikawa hatte seine Bewegungslosigkeit ausgenutzt und ihm aus einem Sportmagazin vorgelesen, das er mitgebracht hatte und in dem ein Artikel über ihn stand. Wie ein Mensch, der solche Minderwertigkeitskomplexe hatte wie Oikawa, gleichzeitig auch so selbstverliebt sein konnte, würde Iwaizumi vermutlich nie verstehen.
 

Jetzt lagen sie beide unter ihrer Bettdecke auf ihrem Futon im Dunkeln und Iwaizumi lauschte Oikawas Atem. Ihre Futons lagen mit nur wenigen Zentimetern Abstand auseinander auf dem Boden und Iwaizumi stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie ein Pärchen wären. Dann würden sie sich vielleicht einen Futon teilen. Vielleicht würden sie genauso liegen wie jetzt, aber mit ineinander verhakten Fingern. Er würde es niemals jemandem sagen, wie sein Herz hüpfte, wenn er an solche Dinge dachte. Er schob probehalber seine Hand unter der Bettdecke hervor und platzierte sie auf der Tatamimatte zwischen ihren Futons.
 

Reiß dich zusammen, Hajime, tadelte er sich und seufzte leise in die Dunkelheit hinein. Dann schloss er die Augen und bemühte sich erneut, einzuschlafen.
 

*
 

Er träumte, dass Oikawa nachts tatsächlich seine Hand fand und sie sacht drückte.
 

*
 

Als Iwaizumi am nächsten Morgen aufwachte, wurde ihm klar, dass er das nicht nur geträumt hatte, sondern dass es tatsächlich passiert war, denn Oikawa lag neben ihm, sein Gesicht ein wenig geknautscht, weil er sich auf die Seite gedreht hatte, und ihre Hände waren ineinander verhakt. Iwaizumi musste sich sehr zusammenreißen, um seine Hand nicht aus Oikawas zu reißen, aufzuspringen und sich hastig unter eine kalte Dusche zu stellen. Was um alles in der Welt war denn nun los? Die einzige Erklärung war, dass Oikawa unterbewusst im Schlaf gedacht hatte, Iwaizumi sei eine seiner zahllosen Exfreundinnen oder Verehrerinnen. Er starrte auf ihre Finger und versuchte sein Herz davon abzuhalten, einen sofortigen Stillstand zu erleiden.
 

Draußen schien die Sonne. Also bestes Wetter, um ein wenig Volleyball zu spielen und dann abends zur Entspannung in eine heiße Quelle zu steigen. Denk an die heißen Quellen, Hajime, dachte er bei sich und kniff die Augen zusammen. Denk nicht daran, wie Oikawas Augen leuchten, wenn er in einem besonders guten Trainingsmatch jeden Pass perfekt zeitlich abgestimmt hat. Oder daran wie weich seine Haare sich anfühlten, wenn man ihm einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste. Und denk schon gar nicht daran, dass eure Finger fast eine ganze Nacht lang hier miteinander verhakt herumgelegen haben, als wärt ihr sowas wie ein Pärchen.
 

In diesem Augenblick drehte Oikawa sich auf die andere Seite und zog seine Hand zurück. Iwaizumi spürte ein heftiges Kribbeln in seinen Fingerspitzen, dann atmete er erleichtert aus und schälte sich aus seiner nach Waschmittel riechenden Bettdecke, um sich ins Bad zu schleichen.
 

Nach einer kleinen Ewigkeit unter der Dusche betrat Iwaizumi mit einem Handtuch um die Hüften erneut das Zimmer. Er fand Oikawa verschlafen gähnend auf seinem Futon sitzend.

»Guten Morgen«, nuschelte Oikawa. Er sah aus, als hätte er in eine Steckdose gefasst, ein starker Kontrast im Gegensatz zu seinem sonst immer perfekt sitzendem Haar.

»Na, gut geschlafen?«, fragte er beiläufig, so als hätten sie nicht noch vor zwanzig Minuten schlafend Händchen gehalten. Iwaizumis Leben war ein Witz und Oikawa war definitiv die Pointe.
 

*
 

Das Trainieren im Park war genau das Richtige, um Iwaizumi davon abzulenken, was heute Morgen passiert war. Er genoss die frische Luft, die sattgrünen Blätter und das leichte Brennen auf seinen Handinnenflächen, das durch den Volleyball hervorgerufen wurde, wenn er lang genug spielte. Oikawa war in bester Stimmung. Er konnte hier draußen zwar nicht seinen Aufschlag üben, weil der Ball ihnen dann vermutlich irgendwo in der Parkanlage verloren gehen würde. Aber sie passten sich gegenseitig zu, übten ein paar Schmetterbälle und Annahmen und gingen anschließend noch ein paar gemächliche Runden joggen. Das Ganze verlief beinahe ausschließlich schweigend.
 

Es war wahrscheinlich einer der Gründe, warum Iwaizumi letztendlich doch so gut mit Oikawa auskam – auch wenn er der ganzen Welt gern erzählte, dass er Oikawa anstrengend fand und ihm am liebsten regelmäßig Backsteine gegen den Kopf werfen wollte. Sie konnten sich gut unterhalten und sie konnten auch gut gemeinsam schweigen, etwas, das Iwaizumi mit anderen Leuten sehr häufig nicht konnte. Stille war mit vielen anderen Menschen eher unangenehm und zwang ihn dazu, sich über belangloses Zeug zu unterhalten. Aber er und Oikawa konnten gemeinsam Hausaufgaben machen oder Mittag essen oder Volleyball spielen, ohne dass einer von ihnen sprach und das Gefühl hatte, dass diese Stille gefüllt werden musste.
 

Iwaizumi beobachtete Oikawa auch gerne beim Volleyball, weil Oikawa dann meistens so konzentriert war, dass er vergaß, seine Maskerade zu veranstalten. Selbst wenn man eng mit Oikawa befreundet war, war dieses Getue oftmals trotzdem vorhanden, auch wenn Iwaizumi natürlich wusste, dass es nicht echt war. Aber es zeugte davon, wie wenig Oikawa anderen Menschen vertraute. Umso beeindruckender, dass er so ein guter Volleyballspieler war.
 

»Wie kommen wir zu diesem Onsen hin?«, erkundigte Iwaizumi sich am Ende ihrer letzten Joggingrunde, als sie anfingen, sich noch einmal zu dehnen, damit sie nicht zu schnell auskühlten.

»Frau Onikawa hat gesagt, dass ihr Ehemann uns hinfahren kann. Mit dem Auto«, erklärte Oikawa zufrieden grinsend. Iwaizumi zuckte mit den Schultern und beugte sich dann hinunter, um mit seinen Fingerspitzen seine Turnschuhe zu berühren.
 

»Ich wär auch zu Fuß hingegangen. Dann müssen wir niemandem Umstände machen«, sagte Iwaizumi. Oikawa strahlte.
 

»Ach, Iwa-chan! Du bist immer so rücksichtsvoll.«
 

»Red keinen Scheiß, Oikawa.«
 

Vielleicht sollten sie einfach noch ein bisschen länger schweigen.
 

*
 

Sie gingen tatsächlich zu Fuß. Es war ein lauer Sommerabend und um sie herum zwitscherten Vögel. Mücken sirrten und ab und an wehte eine angenehme Brise durch ihre Haare. Sie hatten sich nach dem Sport mit ein paar Kartenspielen die Zeit vertrieben und Iwaizumi hatte darüber nachgedacht, dass dieser Urlaub vielleicht doch ganz nett war. Es war wirklich schön in diesem abgelegenen Hotel und einmal abgesehen davon, dass Oikawa der letzte Mensch war, mit dem er auf so engem Raum hocken wollte – aufgrund dieser gewissen Problemlage mit all den unterdrückten Gefühlen – war ihm doch eigentlich klar, dass Oikawa auch der einzige Mensch war, mit dem er so einen trauten Zweierurlaub überhaupt machen würde. Mit wem sollte er sonst fahren? Er dachte an Harry Potter und den vierten Band und daran, dass Oikawa garantiert in diesem See gelandet wäre, wenn Iwaizumi der trimagische Champion gewesen wäre. Oikawa wusste nicht, dass Iwaizumi Harry Potter gelesen hatte. Sonst würde er ihn vermutlich auf ewig damit aufziehen.
 

Iwaizumis Handy gab ein leises Piepsen von sich und er fischte es aus der Hosentasche. Eine ihm unbekannte Nummer hatte ihm eine Nachricht geschrieben und einen Augenblick lang war er verwirrt, weil er keine Person namens Keiko kannte, aber dann wurde ihm klar, dass es das Mädchen aus dem Zug sein musste, das ihm schrieb. Er hatte ihr schließlich seine Nummer gegeben, einfach nur um Oikawa eine reinzuwürgen.
 

»Hallo Iwaizumi-kun! Wie ist euer Urlaub? Und was macht ihr gerade? Ich hoffe, du hast eine schöne Zeit. Keiko«
 

Iwaizumi stöhnte. Wieso um alles in der Welt hatte er einem fremden Mädchen seine Handynummer gegeben? Um Oikawa zu beweisen, dass Mädchen ihn auch mal gut finden konnten. Was für ein dummer Grund. Und jetzt hatte er eine SMS-Unterhaltung mit einem Mädchen am Hacken, das natürlich sehr nett war, ihn aber leider kein Stück interessierte. Wie sollte er aus diesem Schlamassel wieder herauskommen?
 

»Oikawa? Wie machst du das mit all diesen Mädchen, die dich immerzu anhimmeln?«, wollte er wissen und starrte im Gehen weiterhin auf das Display seines Handys.
 

»Ich hätte nicht gedacht, dass dich meine romantischen Strategien interessieren, Iwa-chan.«
 

»Ich interessiere mich nicht für deine romantischen Strategien! Ich meine nur! Es sind so viele und sie wollen dauernd alle um dich herum sein und deine Aufmerksamkeit haben…«
 

Er blickte auf und sah, dass Oikawas Augen auf Iwaizumis Handy gerichtet waren.
 

»Hat deine Freundin dir geschrieben?«, wollte Oikawa beiläufig wissen und richtete seinen Blick wieder nach vorn. Er hatte eine Karte von der Umgebung in seinen Rucksack gesteckt und Iwaizumi wäre es lieb gewesen, wenn er ab und an mal darauf geschaut hätte, damit sie sich auch auf keinen Fall verliefen. Aber Oikawa schien ganz sicher zu sein, dass dies der richtige Weg war.
 

»Sie ist nicht meine Freundin!«, sagte Iwaizumi aufbrausend und stopfte sein Handy zurück in die Hosentasche. Oikawa lachte leise und zuckte mit den Schultern.

»Das Geheimnis ist, allen Mädchen das Gefühl zu geben, dass sie etwas Besonderes sind, auch wenn man sich nicht wirklich ihre Namen merken kann«, erläuterte Oikawa sachlich und lächelte Iwaizumi verschlagen an. Iwaizumi schnaubte verächtlich.
 

»Das ist ein ziemlich arschiger Schachzug«, sagte er unbeeindruckt. Oikawa lachte erneut.
 

»Vielleicht ein bisschen. Aber die Mädchen wollen es ja auch glauben! Ich bin sicher, wenn ich irgendwann mal jemanden so richtig mag, wird diese Masche ohnehin nicht funktionieren…«
 

Iwaizumi schluckte die empörte Tirade, die er auf der Zunge liegen hatte, herunter und musterte seinen besten Freund von der Seite. Oikawa hatte den Kopf gehoben und schaute hoch zum Himmel. Die ein oder andere Schäfchenwolke ließ sich am Himmel blicken und schob sich ab und an vor die orangene Abendsonne. Es war ein ziemlich schöner Spaziergang, dachte Iwaizumi bei sich und stopfte seine Hände dem Handy hinterher in die Hosentaschen.
 

»Wenn ich irgendwann mal jemanden so richtig mag…«
 

Iwaizumi räusperte sich und sein Herz hämmerte in seiner Brust wie eine Dampflok.
 

»Heißt das, dass du noch nie irgendwen richtig mochtest?«, wollte er wissen und er war beeindruckt von sich selbst, weil seine Stimme nicht zittrig klang. Er hörte sich an wie ein bester Kumpel, der einfach mal mit seinem besten Freund über Mädchen reden wollte. Kein Problem.
 

Oikawa kicherte leise.
 

»Doch, schon. Aber du weißt ja, wie das ist, Iwa-chan. Ein Gentleman genießt und schweigt.«
 

Tatsächlich fand Iwaizumi den Umstand merkwürdig, dass Oikawa diese Gelegenheit nicht zum Prahlen nutzte. Aber vielleicht bedeutete das, dass Oikawa doch noch einen Funken Anstand in sich hatte.
 

»Gentleman…«, murmelte Iwaizumi verächtlich und boxte seinen besten Freund auf den Oberarm.
 

»Au! Iwa-chan! Womit hab ich das verdient?«
 

»Das weißt du ganz genau!«
 

Oikawa beschloss anscheinend, dass er lieber nicht weiter darauf eingehen wollte. Er deutete begeistert strahlend nach vorn.
 

»Schau mal! Wir sind da!«
 

Iwaizumi versuchte vor sich selbst zu verleugnen, dass er enttäuscht war, weil Oikawa ihm nichts über eine aktuelle oder vergangene Flamme erzählt hatte.
 

*
 

Das heiße Wasser war wirklich eine Wohltat für seine Muskeln. Wenn man mehrmals die Woche trainierte und dann auch noch für die Schule ackern musste, dann vergaß man manchmal, was es eigentlich hieß, sich so richtig zu entspannen. Eigentlich sollte er viel öfter etwas für seinen Körper tun, aber wie es nun einmal war, hatte er einfach nie Zeit dafür. Umso mehr genoss er nun das Gefühl von sich lösenden Knoten in seinen Muskeln und von dem Gefühl, wie eine Pfütze in die heiße Quelle hineinzufließen. Er hatte seine Augen dabei vehement geschlossen, denn sonst hätte er sich mit Oikawas nacktem Oberkörper auseinandersetzen müssen. Nicht, dass sie sich nicht dauernd gemeinsam umziehen würden, allerdings hatte Iwaizumi da noch andere Teammitglieder, auf die er sich im Zweifelsfall konzentrieren konnte. Hier gab es tatsächlich nur sie beide. Er fragte sich dumpf, ob dieses Badehaus immer so mager besucht war.
 

»Wir sollten öfter zusammen in den Urlaub fahren, Iwa-chan«, murmelte Oikawa irgendwo ziemlich nah rechts neben ihm, aber Iwaizumi hielt die Augen weiter geschlossen und atmete die warmen Dämpfe der Quelle ein.

»Wir gehen bald studieren. Wer weiß, wo wir landen«, murmelte Iwaizumi abwesend und seufzte zufrieden. Oikawa hatte wirklich einen guten Ort ausgesucht. Das musste er dem aufgeblasenen Windbeutel ja nicht sagen. Nur zur Sicherheit, damit sein Ego nicht explodierte.
 

Als Oikawa eine ganze Weile lang nichts erwidert hatte, öffnete Iwaizumi probehalber ein Auge und drehte den Kopf ein wenig nach rechts. Oikawa starrte ihn an. Iwaizumis Herz tat einen dieser Sprünge, bei denen er immer Angst hatte, dass er jeden Moment an einem Herzinfarkt sterben würde.

»Was denn?«, wollte er wissen und wagte es, beide Augen zu öffnen. Oikawa seufzte und schüttelte den Kopf.
 

»Iwa-chan…«
 

»Was?«
 

»Du redest selten Unsinn, aber wenn es doch mal vorkommt, dann ist es immer besonders großer Unsinn.«
 

Iwaizumi hatte keine Ahnung, was Oikawa damit meinte, aber angesichts der Tatsache, dass Oikawa eine Sekunde später mit dem Kopf unter Wasser tauchte, hatte er keine Möglichkeit, weitere Fragen zu stellen. Seltsam.
 

*
 

Selbstverständlich verliefen sie sich auf dem Rückweg.
 

»In der Dämmerung sieht alles anders aus! AU!«
 

*
 

Am nächsten Tag erinnerte sich Iwaizumi daran, dass er Keiko noch nicht auf ihre SMS geantwortet hatte und er tigerte ein wenig im Zimmer auf und ab, wobei Oikawa ihn aufmerksam und mit einem unleserlichen Schmunzeln beobachtete. Letztendlich beantwortete er ihr recht knapp die Fragen, die sie gestellt hatte, und erklärte, sie würden jetzt Volleyball spielen gehen. Dann schaltete er sein Handy aus und warf es in seine Reisetasche. Dieses ganze Romantik-Business war einfach nicht sein Ding.
 

Das Abendessen, das Frau Onikawa ihnen servierte, war an ihrem Ankunftstag bereits hervorragend gewesen, aber es schien ganz so, als würde sie sich jeden Tag übertreffen wollen und Iwaizumi aß schon wieder viel zu viel, was Oikawa erneut ausnutzte, indem er ihm ausschweifend davon berichtete, wie er mit verschiedenen Mädchen auf verschiedene Art und Weise umging und wie das Ganze wirklich nicht viel anders als Volleyball sei, was Iwaizumi mit einem verächtlichen Schnauben quittierte. Allerdings war er wieder zu vollgefressen, um aufzustehen und Oikawa eine zu kleben, was dieser zweifellos wusste.

Schamloser Bastard.
 

Morgen Abend würde Iwaizumi nicht so viel essen und dann würde Oikawa ja sehen, was er von seinem blöden Gefasel hatte.
 

»Sag Mal, Iwa-chan«, meinte Oikawa, nachdem er seinen Vortrag über Mädchen und Volleyball beendet hatte, »du willst doch zum Studieren nach Tokyo gehen, oder nicht?«
 

Iwaizumi erinnerte sich an Oikawas komische Reaktion im Badehaus und drehte den Kopf, um seinen besten Freund anzuschauen. Vielleicht war dies die Chance zu erfahren, was Oikawa gemeint hatte.
 

»Ja, ich denk schon. Wenn ich den Aufnahmetest bestehe. Sonst vielleicht Kyoto«, erklärte er und betrachtete Oikawa kopfüber. Iwaizumi lag auf seinem Futon, Oikawa hockte auf einem Stuhl direkt neben einem der offenen Fenster. Er musste seinen Kopf ganz in den Nacken drücken, um Oikawa sehen zu können.
 

»Ok«, sagte Oikawa strahlend und Iwaizumi grummelte ungehalten. Doch bevor er etwas sagen konnte, war Oikawa aufgesprungen und verkündete bestens gelaunt:
 

»Während du rumliegst wie ein Walross, werd ich noch eine Runde joggen gehen!«
 

»Du sollst es mit dem Trainieren nicht übertreiben! Denk an dein Knie.«
 

»Iwa-chan, du bist immer noch nicht meine Mutter!«
 

Und weg war er.
 

Iwaizumi machte sich eine mentale Notiz, dass er Oikawa mindestens für die Bemerkung mit dem Walross später eine klatschen musste.
 

*
 

Als Iwaizumi in dieser Nacht aufwachte, hielt Oikawa wieder seine Hand und schnarchte leise. Nachdem er das bemerkt hatte, lag er über eine Stunde wach und starrte im matten Mondlicht, das in ihr Zimmer fiel, auf ihre miteinander verhakten Finger. Was um alles in der Welt war eigentlich los?
 

*
 

Am nächsten Morgen stand Oikawa vor ihm auf und ging wieder joggen. Iwaizumi lag wach auf seinem Futon und dachte über sein verkorkstes Leben nach. Es war ihr vierter Tag und Iwaizumi war fast ein wenig wehmütig darüber, dass morgen der letzte Tag war, bevor sie am übernächsten Morgen wieder heim fahren würden. Womöglich brauchte er öfter Urlaub. Vielleicht konnte er ja auch irgendwann mal alleine irgendwohin fahren, wo niemand ihn störte und er stundenlang das machen konnte, was ihn erfreute. Womöglich brauchte er für so einen Urlaub auch ein Onsen in der Nähe.
 

Er fragte sich, ob Keiko ihm noch einmal auf seine eher knappe SMS geantwortet hatte, aber er wollte sein Handy nicht anschalten, um es herauszufinden. Als würde ihre Nachricht einfach verschwinden, wenn er sein Handy nur lang genug ausgeschaltet ließ. Iwaizumi kam sich vor wie ein Trottel. Und ein Feigling. Er sollte ihr einfach sagen, dass er kein Interesse an ihr hatte. Nachdem er ungefähr fünf Minuten darüber nachgegrübelt hatte, wie er Keiko am besten sanft abblitzen lassen könnte, stand er schließlich auf und ging duschen. Vielleicht musste er Oikawa noch einmal um Rat bitten, auch wenn dieser ihn dann vermutlich bis ans Ende seines Lebens damit piesacken würde.
 

Allerdings stellte es sich als schwierig heraus, Oikawa um diesen peinlichen Rat zu bitten, denn er war nach zwei Stunden immer noch nicht ins Hotel zurück gekehrt. Iwaizumi dachte kurz darüber nach, ob er besorgt sein sollte, aber dann beschloss er, dass Oikawa wahrscheinlich auf seinem Weg zurück zum Hotel ein paar Mädchen getroffen hatte und deswegen so lange wegblieb. Allerdings war er nach dreieinhalb Stunden immer noch nicht wieder da.
 

Iwaizumi fluchte leise in sich hinein und dann wurde ihm klar, dass mit seinem ausgeschalteten Handy nicht nur Keiko ihn nicht erreichen konnte, sondern auch Oikawa. Er kramte es hastig hervor und wartete ungeduldig, bis es sich eingeschaltet hatte. Dann starrte er aufs Display. Drei verpasste Anrufe und zwei neue Nachrichten. Einer der Anrufe war von seiner Mutter, die anderen beiden waren von Oikawa. Eine der Nachrichten war tatsächlich von Keiko, aber er öffnete sie nicht. Die zweite war von Oikawa.
 

»Ich könnte womöglich deine Hilfe gebrauchen, Iwa-chan (。•́︿•̀。)«
 

Iwaizumi verdrehte kurz die Augen angesichts dieses Emojis, – Oikawa beendete fast jede SMS mit einem dieser Dinger und wenn er gute Laune hatte, dann konnten auch durchaus drei oder vier in einer Textnachricht vorkommen – dann wurde ihm klar, was die Nachricht bedeutete. Sie war vor anderthalb Stunden auf seinem Handy angekommen. Iwaizumi stopfte das Handy in seine Hosentasche und verließ Hals über Kopf das Hotel. Er hatte keine Ahnung, wo Oikawa sich aufhielt, also kramte er das Handy wieder hervor und wählte Oikawas Nummer.
 

»Hallo, Iwa-chan«, sagte Oikawas Stimme am anderen Ende. Iwaizumi hörte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Oikawa hatte diese übertrieben fröhliche Stimme aufgesetzt, zu der er neigte, wenn er seine wahren Absichten und Gedanken verschleiern wollte. Eigentlich müsste Oikawa wissen, dass er seinen besten Freund nicht damit reinlegen konnte – immerhin war Iwaizumi beim Entstehungsprozess dieser Fassade anwesend gewesen. Er hatte sie quasi in Zeitlupe entstehen sehen. Iwaizumi kannte alle von Oikawas Tricks. Ha!
 

»Was ist los? Wo steckst du?«
 

Iwaizumi war sehr bemüht seine Stimme unter Kontrolle zu halten, aber es fiel ihm schwer. Meistens war es ihm unmöglich seine Beherrschung zu wahren, wenn es um Oikawa ging. Wahrscheinlich hörte Oikawa die Besorgnis in seiner Stimme – denn wem wollte Iwaizumi etwas vormachen, Oikawa kannte ihn eben auch sehr gut – denn er lachte leise.
 

»Ach, es ist nicht so schlimm. Ich weiß ehrlich gesagt nicht so richtig, wo ich bin. Irgendwo nördlich vom Hotel, denke ich«, sagte Oikawa und Iwaizumi konnte sich hervorragend vorstellen, wie Oikawa sich planlos in der Gegend umsah und nichts anderes entdeckte als Bäume, Büsche und vielleicht den ein oder anderen Hasen.
 

»Nicht so schlimm? Was genau ist ‚nicht so schlimm‘?«, wollte Iwaizumi misstrauisch wissen.
 

»Ähm…«
 

»Oikawa!«
 

»Ok, ok! Vielleicht hab ich mir den Fuß verstaucht. Oder das Knie verdreht. Eventuell auch beides. Man kann es nicht genau sagen.«
 

»Verfluchter Drecksmist, Oikawa! Ich hab dir gesagt, dass du es nicht übertreiben sollst! Du Volltrottel!«
 

Ein paar Vögel flogen hektisch über ihm aus einem Baum auf, als er etwas zu laut in sein Handy brüllte.
 

»Tut mir leid, Iwa-chan. Da war ein Loch im Boden, das ich nicht gesehen habe.«
 

Iwaizumi verstummte in seinen Tiraden und biss sich auf die Unterlippe.
 

»Tut es sehr weh?«, fragte er leise.
 

»Ach, kaum nennenswert, Iwa-chan.«
 

»Oikawa!«
 

»Ja, es tut schon ziemlich weh…«
 

Iwaizumi beschleunigte seine Schritte. Er hatte keine Ahnung, wie er Oikawa finden sollte. Keiner von ihnen kannte sich in diesem riesigen Park aus. Immerhin hatte Iwaizumi Empfang auf seinem Handy, es hätte gerade noch gefehlt, dass gerade jetzt die Kontaktaufnahme zu Oikawa scheiterte.
 

»Wo bist du denn lang gelaufen, als du losgerannt bist?«
 

Oikawa versuchte ihm zu beschreiben, wie er gelaufen war. Iwaizumi war sich nicht sicher, ob diese Beschreibungen ihm helfen würden und er fragte sich dumpf, wie Oikawa überhaupt geplant hatte, zum Hotel zurück zu finden – allerdings hatte er es am Vortag auch geschafft. Ohne wirklich zu registrieren, was er tat, fing er an zu laufen, während Oikawa am anderen Ende der Leitung hockte und weiterhin bemüht war, ihm die grüne Landschaft zu beschreiben, die ihn umgab. Iwaizumi hatte das Gefühl, dass Oikawas Stimme immer leiser wurde. Vielleicht hatte er wirklich große Schmerzen. Mist.
 

»Ich werd dich schon finden, Oikawa.«
 

Eine Stille folgte am anderen Ende und Iwaizumis Herz bollerte ungewöhnlich doll, selbst dafür, dass er rannte.
 

»Danke, Iwa-chan.«
 

Iwaizumi rannte eine halbe Stunde mit seinem Handy am Ohr, bevor er Oikawa endlich sitzend gegen einen Baum gelehnt fand. Sein Knöchel sah ziemlich blau und angeschwollen aus und Oikawas Haar klebte verschwitzt an seiner Stirn. Wahrscheinlich würde er eine dicke Erkältung bekommen, weil er hier draußen so schnell ausgekühlt war. Iwaizumi ging auf ihn zu und dachte darüber nach, ob er ihn umarmen oder treten und weiter beschimpfen wollte. Aber Oikawa lächelte ihm so bemüht tapfer entgegen, dass Iwaizumi spürte, wie beinahe jeder Funke Wut aus ihm verpuffte.
 

Und dann tat Iwaizumis Körper unter Ausschluss seines Gehirns etwas ganz anderes als seinen besten Freund zu umarmen, zu treten oder zu beschimpfen. Er ging vor ihm im Gras auf die Knie, packte Oikawa bei den Schultern und presste seine Lippen auf Oikawas Mund. Oikawa gab ein Geräusch von sich, das zwischen einem überraschten Schnaufen und einem sehnsüchtigen Stöhnen schwankte und Iwaizumis Herz dazu brachte, einen sehr rasanten Tango zu tanzen. Es war gut, dass sein Gehirn sich ausgeschaltet hatte, sonst wäre er womöglich einfach vor sich selbst und seinem Wahnwitz davon gelaufen.
 

Zu seiner vollkommenen Verblüffung schlang Oikawa seine Arme um Iwaizumi und presste ihn so dicht an sich, dass Iwaizumi beinahe das Gleichgewicht verlor. Und dann erwiderte er den Kuss, als würde sein Leben davon abhängen. Iwaizumi war nicht wirklich überrascht darüber, wie gut Oikawa küssen konnte. Wahrscheinlich hatte er es schon hundert Mal getan. Iwaizumi spürte, wie sich ein heftiges Kribbeln überall in seinem Körper ausbreitete, während ihre Lippen sich gegeneinander bewegten und Oikawas Hände sich hinten in Iwaizumis Shirt vergruben, um Halt zu finden. Überraschenderweise wirkte Oikawa bei weitem nicht so dominant, wie Iwaizumi es sich in einigen geheimen Nächten vorgestellt hatte. Und diese kleinen, wohligen Geräusche, die Oikawa machte, würden Iwaizumi jeden Augenblick um den Verstand bringen.
 

Er küsste Oikawa Tooru.
 

Iwaizumi war sehr viel heißer, als die Außentemperatur oder das Laufen es hätten hervorrufen können und er wollte sehr dringend noch viel näher bei Oikawa sein und ihn monatelang nur küssen, küssen, küssen. Aber er erinnerte sich daran, dass Oikawa einen verstauchten Knöchel und ein verdrehtes Knie hatte und mit einem kolossalen Bedauern löste er seine Lippen von Oikawas, was dieser mit einem enttäuschten Seufzen quittierte.
 

»Iwa-chan…«
 

Er wusste, dass er knallrot im Gesicht war. Seine Kehle war so trocken, dass er kein Wort hervor brachte und er schaffte es ganz bestimmt nicht, Oikawa anzuschauen. Mit einem peinlich berührten Grummeln drehte er sich um, sodass er nun mit dem Rücken zu Oikawa gewandt vor ihm kniete.
 

»Steig auf«, krächzte er und war fest entschlossen nicht darüber zu sprechen, was gerade eben passiert war. Oikawa hatte eindeutig andere Pläne.
 

»Du hast mich geküsst.«
 

»Steig auf!«
 

»Iwa-chan, du hast mich gek–«
 

»Steig auf, verdammte Axt!«
 

Oikawa stieß ein schmerzerfülltes Zischen aus, als er sich bewegte, doch er schaffte es, seine Arme um Iwaizumis Schultern zu legen und mit einem Bein sein Gewicht hochzustemmen, als Iwaizumi aufstand, um Oikawa Huckepack zu nehmen und ihn zu tragen.
 

Es ging nur sehr langsam voran, da Iwaizumi erschöpft vom Laufen war und er aufpassen musste, wo er hin trat. Außerdem war Oikawa größer als er und wog nicht gerade wenig. Er betete inständig, dass Oikawa nicht wieder von diesem Kuss anfangen würde – es wäre ihm einfach viel zu peinlich darüber zu reden – aber natürlich tat sein bester Freund ihm diesem Gefallen nicht.
 

»Iwa-chan«, sagte Oikawa sehr leise und sanft, was Iwaizumi einen Schauer den Rücken hinunter schickte, »du hast mich geküsst.«
 

Oikawas Atem streifte sein Ohr und Iwaizumi musste sich sehr zusammen reißen, Oikawa nicht vor lauter Aufregung fallen zu lassen. Seine Arme schmerzten von dem Gewicht und er fragte sich, ob er nach der ganzen Strecke bis hin zum Hotel einen krummen Rücken haben würde.
 

»Ach wirklich?«, knurrte er und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum.
 

»Ja, wirklich.«
 

Iwaizumi rang mit sich. Er hatte keine Ahnung von all diesen Dingen, aber es ließ sich nicht bestreiten, dass Oikawa zurück geküsst hatte. Und er hatte kleine, wohlige Geräusche gemacht und sich an Iwaizumi festgeklammert, als würde die Welt untergehen. Er räusperte sich probehalber, um zu sehen, ob seine Stimme ihn vielleicht praktischerweise vollkommen verlassen hatte. Hatte sie allerdings nicht.
 

»Du hast mich zurück geküsst«, entgegnete Iwaizumi und er merkte selbst, wie trotzig er klang, als er das sagte. Oikawa lachte leise und sein Atem streifte Iwaizumis Ohr, was ihm eine heftige Gänsehaut auf den Unterarmen bescherte.
 

»Aber Iwa-chan, natürlich hab ich dich zurück geküsst.«
 

»Was soll das heißen, natürlich?«
 

»Das soll heißen, dass ich schon ewig drauf warte, dich zu küssen und nicht gedacht hätte, dass du mich auch küssen willst, du Dummkopf.«
 

Iwaizumi konnte aus seiner Lage heraus leider Gottes keine Schläge verteilen, deswegen begnügte er sich mit einem ungnädigen Brummen, was Oikawa erneut zum Lachen brachte. Es klang ausgelassen und sehr glücklich. Ein Lachen, das man nur sehr selten von Oikawa hörte. Es bescherte Iwaizumi einen riesigen Schwarm Schmetterlinge im Bauch und verpasste ihm einen Adrenalinschub, der ihn noch einen halben Kilometer weitergehen ließ. Dann musste er Oikawa erst einmal absetzen und sich ins Gras legen.
 

»Soll das heißen, dass du mich auch schon lange küssen willst, Iwa-chan?«, erkundigte sich Oikawa scheinheilig, aber Iwaizumi konnte an seiner Stimme hören, dass Oikawa dringend Bestätigung brauchte. Sein Ego war eben doch nicht immer so groß, wie er vorgab. Iwaizumi drehte den Kopf und schaute seinen besten Freund an. Sein Herz schnürte ihm die Kehle zu, so heftig wummerte es in seinem Brustkorb. Vielleicht würde es ihm gleich ein paar Rippen brechen.
 

»Schon ewig«, grummelte er schließlich und wusste ganz genau, dass seine Ohren aussahen wie überreife Tomaten.
 

Oikawa betrachtete ihn lächelnd. Dann verwandelte sich sein Lächeln in ein breites Grinsen.
 

»Heißt das, wir können heute Nacht auf demselben Futon schlafen und offiziell Händchen halten?«
 

»Offiziell?«
 

»Und heißt das, dass wir uns jetzt noch sehr viel öfter küssen können?«
 

»Meinst du mit offiziell etwa, dass du wach warst, als du meine Hand genommen hast?«
 

Oikawa schmunzelte spitzbübisch und Iwaizumi betrachtete ihn streng.
 

»Willst du mir sonst noch irgendwelche Geheimnisse erzählen?«
 

Oikawa wiegte grübelnd den Kopf hin und her, dann zog er die Schultern hoch.
 

»Ich hab allen anderen gesagt, dass sie Alibis für die Sommerferien erfinden sollen, damit ich mit dir allein in den Urlaub fahren kann.«
 

»WAS?«
 

Aber Oikawa antwortete nicht mehr. Stattdessen küsste er Iwaizumi einfach und Iwaizumi hatte den beunruhigenden Eindruck, dass dies eine hervorragende Methode für Oikawa sein könnte, ihm den Mund zu verbieten. Er schloss die Augen. Aber nun ja, so schlecht waren all diese neuen Erkenntnisse auch nicht. Immerhin wusste er jetzt, wen Oikawa Tooru tatsächlich sehr mochte und warum seine üblichen Maschen bei diesem Jemand niemals funktioniert hätten. Es stimmte, dachte Iwaizumi bei sich, während sie sich im Gras unter der Sonne ein zweites Mal küssten, bei mir braucht er überhaupt keine Maschen, um mich dazu zu bringen, in ihn verliebt zu sein.

Von Schuluniformen, Erdbeerkuchen und Fakten

Es gab fünf Menschen, die Tsukishima Keis Handynummer besaßen. Seine Eltern, sein Bruder, Yamaguchi und Daichi-san, für den Fall, dass das Training ausfiel oder ein extra Training angesetzt wurde. Tsukishima hütete seine Nummer wie seinen Augapfel und es würde ihm im Traum nicht einfallen, sie irgendeinem unterbelichteten Armleuchter wie Kageyama oder Tanaka zu geben.
 

Am allerwenigsten von allen Menschen – vielleicht sogar weniger als Kageyama, denn der konnte vermutlich ohnehin keine SMS schreiben – würde er seine Nummer Kuroo Tetsuro geben. Und trotz dieser unbestreitbaren Tatsache war eine Nachricht von Kuroo auf seinem Handy gelandet. Sie lautete:
 

»Na? Immer noch schlecht im Blocken, Brille-kun?«
 

Zuerst hatte Tsukishima keine Ahnung gehabt, von wem diese SMS stammte, da er die Nummer nicht kannte. Es musste irgendjemand sein, mit dem er Volleyball gespielt hatte oder immer noch spielte und jemand, der ihm einen derartig dummen Spitznamen aufdrücken würde. Dumpf erinnerte er sich daran, dass Fukurodanis Bokuto ihn so genannt hatte…
 

»Wer ist da? Und woher hast du diese Nummer?«
 

Eine Viertelstunde lang geschah nichts und Tsukishima drehte die Musik lauter, die er über Kopfhörer hörte, während er sich mit seinen Englisch-Hausaufgaben herumschlug.
 

»Ich habe Daichi erpresst und mir von ihm deine Nummer geben lassen.«
 

Bokuto wirkte nicht wie der Typ, der irgendjemanden erpressen würde. Womit auch? Daichi-san wirkte wie ein verlässlicher, bodenständiger Typ ohne schmutzige Geheimnisse. Allerdings hatte er wem-auch-immer diese Nummer gegeben, also musste der merkwürdige Schreiber etwas wissen, das wirklich für eine Erpressung geeignet war.
 

Tsukishima lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Nein, Bokuto war wirklich nicht der Typ für eine Erpressung. Ein grinsendes Gesicht schob sich vor sein inneres Auge, wachsame Blicke und ein verschlagenes Funkeln…
 

»Kuroo-san, wieso wolltest du meine Nummer von Daichi-san?«
 

Wieder zwanzig Minuten keine Antwort.
 

»Ich wusste schon, wieso ich dich unter meine Obhut genommen habe :-D Du bist schlauer als du aussiehst!«
 

Tsukishima stöhnte und verdrehte die Augen, schob sein Handy beiseite und widmete sich wieder seinen Hausaufgaben. Er hatte keine Zeit für irgendwelche Späße und er würde sicherlich nicht Kuroos Zeitvertreib sein, nur weil sich Nekomas Captain langweilte oder jemanden zum Spielen brauchte. Nekoma hatte genügend Mitglieder, die Kuroo ärgern konnte. Tsukishima weigerte sich, auf diese albernen Spielchen einzugehen. Er war zu erwachsen für so etwas.
 

*

Leider Gottes war Kuroo nicht besonders empfänglich für eisernes Schweigen. Es wirkte ganz so, als würde sich Nekomas Captain kein bisschen davon stören lassen, dass Tsukishima auf keine seiner absolut unnötigen, nichtssagenden und ausgesprochen lächerlichen Nachrichten antwortete.
 

»Wusstest du, dass Schildkröten durch ihren Hintern atmen können? Haha!«
 

»Ich habe heute zehn von zehn Schmetterbällen von Bokuto geblockt und danach war er so niedergeschlagen, dass ich ihn zu einem Eis einladen musste. Weichei.«
 

»Vielleicht sollte ich dich auch mal auf ein Eis einladen, damit du aufhörst zu schmollen?«
 

»Heute schon jemanden geblockt?«
 

»Wie nennt man einen Keks im Wald unter einem Baum? Ein schattiges Plätzchen! :-D«
 

»Spielverderber!«
 

Tsukishima hatte noch nie in seinem Leben so oft auf sein Handy geschaut und die Augen verdreht. Meistens, wenn er Nachrichten bekam, waren es Bitten seiner Eltern »Bring bitte Tempura mit, wir haben keins mehr!« oder irgendwelche Ankündigungen von Yamaguchi »Ich komm zehn Minuten später, ich hab die Metro verpasst! Sry!«. Tsukishima antwortete beinahe niemals auf SMS, weil die meisten, die er bekam, keine Fragen oder Inhalte enthielten, auf die man antworten musste. Er kaufte Tempura wenn seine Eltern ihn darum baten und er wartete zehn Minuten länger in seinem Zimmer auf Yamaguchi, wenn dieser sich verspätete.
 

Tsukishima war nicht der Typ für belanglose Kurznachrichtengespräche, in denen sich Menschen berichteten, dass sie gerade besonders leckeres Teriyaki gegessen oder neues Katzenfutter gekauft hatten. Wieso sollte er seine Zeit mit solchen Dingen vergeuden? Und wen interessierten solche Sachen?
 

Manchmal, wenn er nach der Schule und den Clubaktivitäten nach Hause kam, hatte er jetzt auf einmal sieben neue Textnachrichten, allesamt von Kuroo. Hatte der Kerl kein Leben?
 

»Habe gerade Kenma bei Mario Kart geschlagen, ich glaube, er will mir die Freundschaft kündigen.«
 

»Yamamoto wurde heute von einem Mädchen angesprochen und ist fast ohnmächtig geworden.«
 

»Immer noch eifersüchtig auf euren Chibi-kun?«
 

»Was fliegt durch die Luft und mach Mus Mus? Eine Biene im Rückwärtsgang!«
 

Zwei Wochen nachdem Kuroo nicht die geringsten Anstalten gemacht hatte, mit diesen Lächerlichkeiten aufzuhören, beschloss Tsukishima dass die Taktik der kalten Schulter offenbar keine Wirkung zeigte.
 

»Man muss fast Mitleid mit dir haben, Kuroo-san. Offensichtlich hast du weder Freunde noch ein Privatleben, sonst wüsstest du dich anders zu beschäftigen als mir mit deinen Nachrichten auf den Geist zu gehen.«
 

Kuroo ließ sich von Tsukishimas Gehässigkeit kein bisschen abschrecken. In der Tat ging er kein bisschen darauf ein.
 

»Aha! Du willst dich also doch mit mir unterhalten!«
 

Tsukishima verstand wirklich nicht, wie man seine Worte so verdrehen konnte. Kuroo hatte nicht unbedingt wie der dümmste Mensch gewirkt, dem Tsukishima jemals begegnet war, aber vielleicht musste er seine Meinung revidieren und beizeiten Hinata gratulieren, dass er seinen ersten Platz auf dieser Liste nun für Kuroo räumen durfte.
 

Was antwortete man auf so einen unverhohlenen Blödsinn?
 

»Ja, du hast absolut Recht, Kuroo-san. Bitte erzähl mir alles über dich! Ich kann es kaum erwarten, nähere Informationen über dein Leben zu erhalten.«
 

Daraufhin kam erst einmal eine ganze Weile lang gar nichts, was Tsukishima beinahe in der Hoffnung ließ, dass er Kuroo nun abgewimmelt hatte. Natürlich war dem nicht so und nach einer halben Stunde flutete eine riesige Welle an Nachrichten Tsukishimas Handy, sodass er einen Augenblick lang versucht war, das verfluchte Ding einfach aus dem Fenster oder in sein Wasserglas zu schmeißen.
 

Er war gerade damit beschäftigt, sich einige Lieder einer neuen und vielversprechenden Band auf Youtube anzuschauen, als das wahnwitzige Dauervibrieren auf seinem Schreibtisch losging. Er fluchte so laut, dass seine Mutter den Kopf in sein Zimmer steckte und ihn fragte, ob alles in Ordnung sei. Meistens war Tsukishima nicht der Typ für laute Ausfälligkeiten, aber Kuroo brachte ihn dermaßen auf die Palme, dass er im Moment nicht einmal hätte sagen können, ob er schlimmer als der elende König und sein Flummi war.
 

»Ich bin sehr froh, dass du gefragt hast, Brille-kun. Nicht, dass ich nicht schon vorher gewusst hätte, dass du mich wahnsinnig spannend findest, aber dass du schüchterner, einsamer Wolf dich traust es auszusprechen, grenzt ja fast an ein Wunder!«
 

Schüchtern? Über den einsamen Wolf konnten sie ja vielleicht noch reden, aber schüchtern fühlte Tsukishima sich wirklich nicht. Er würde Daichi-san beim nächsten Training zur Rede stellen und anschließend seine Handynummer wechseln.
 

Tsukishima hätte die Lawine aus SMS einfach löschen können. Aber er tat es aus ihm selbst unerfindlichen Gründen nicht, sondern las alle 17 – und er konnte es nicht fassen, dass es wirklich so viele waren – Nachrichten von Kuroo Tetsuro, die dieser über sich selbst verfasst hatte.
 

»Ich habe am 17. November Geburtstag (Sternzeichen Skorpion, Blutgruppe A positiv). Leider bin ich Einzelkind geblieben, ich hätte einen ziemlich guten großen Bruder abgegeben…«
 

»Mein Lieblingsessen ist gegrillte Makrele, aber ich sage auch zu einer guten Portion Akashiyaki nicht nein.«
 

»Traurigerweise haben Katzen Angst vor mir. Ich versteh überhaupt nicht warum.«
 

»Ich hab ein Problem mit Laktose und Wespenstichen.«
 

»Ich schlafe immer auf dem Bauch mit zwei Kissen auf dem Kopf, was zu meiner immer perfekt sitzenden Frisur führt!«
 

Und so ging es für noch zwölf weitere Nachrichten weiter. Tsukishima nahm sich vor, alles wieder zu vergessen, was er in den SMS gelesen hatte und löschte sie allesamt. Bis auf eine.
 

»Ich steh auf Jungs und Mädchen und fahre total auf Brillen und schöne Hände und kurze Röcke ab.«
 

*
 

»Daichi-san, kann ich kurz mit dir sprechen?«
 

»Aber klar, Tsukishima. Was gibt’s?«
 

»Wieso hast du Kuroo-san meine Handynummer gegeben?«
 

»…«
 

»Daichi-san?«
 

»Tja, Tsukishima… es ist folgendermaßen…«
 

»SAWAMURA! TSUKISHIMA! SCHWINGT EURE HINTERN HIER RÜBER, WIR WOLLEN ANNAHMEN ÜBEN!«
 

»Jawohl, Coach!«
 

»Ähm, Daichi-san…?«
 

*
 

Tsukishima antwortete ganze fünf Tage nicht mehr auf Kuroos Nachrichten, auch wenn Kuroo weiterhin so hartnäckig wie eh und je Nachrichten an ihn schickte. Tsukishima kannte mittlerweile so viele dumme Witze, dass er sich wünschte, er könnte einen Tafelschwamm für sein Gehirn haben. Dauernd in der Schule oder beim Training fielen ihm diese blöden Witze oder sinnlosen Fakten ein.
 

»Tsukki, du schaust in letzter Zeit echt oft auf dein Handy.«
 

»Sei ruhig, Yamaguchi.«
 

»Ok! Sorry, Tsukki!«
 

Er hatte seine Handynummer immer noch nicht gewechselt oder Kuroos Nummer geblockt. Tsukishima hatte keine Ahnung, wieso eigentlich und es ärgerte ihn über alle Maßen. Und dass Kuroo nach fünf Tagen Schweigen von Tsukishimas Seite immer noch nicht aufgab, löste in Tsukishima ein merkwürdiges Ziehen in der Magengegend aus, über das er sich lieber keine Gedanken machen wollte.
 

»Hey, Brille-kun! Schau mal aus dem Fenster!«
 

Tsukishima weigerte sich zehn Minuten lang von seinem Bett aufzustehen, dann tat er es doch. Von seinem Fenster aus konnte er eine sternklare Nacht sehen und mitten im dunklen Himmel thronte ein weißer, schimmernder Vollmond. Tsukishima weigerte sich, das Stolpern seines Herzens anzuerkennen.
 

»Du weißt schon, dass ich nicht Brille-kun heiße, oder?«
 

»Ach nein? Wie soll ich dich denn sonst nennen, Brille-kun?«
 

»Tsukishima wäre angemessen.«
 

»Ok, Tsukishima. Schlaf gut!«
 

*
 

»Oi, Tsukishima! Was ist dein Lieblingsessen?«
 

»Mir ist Essen ziemlich egal… Aber ich mag Erdbeerkuchen.«
 

»Ist dir irgendwas nicht egal? :-D«
 

Tsukishima antwortete nicht.
 

*
 

Drei Tage nach diesem kurzen Austausch über Erdbeerkuchen rief Tsukishimas Mutter ihn nach unten.
 

»Es hat jemand ein Päckchen für dich abgegeben«, erklärte seine Mutter und reichte ihm eine kleine Pappschachtel in hellgrün, die Tsukishima verwirrt entgegen nahm.
 

»Wer denn?«, wollte er wissen und musterte das Päckchen von allen Seiten, als könnte er so einen Hinweis auf den Absender bekommen. Es stand nichts außer seinem eigenen Namen auf der Schachtel und es war keine Karte beigelegt.
 

»Weiß ich nicht. Das Päckchen stand vor unserer Tür, als ich gerade die Post holen wollte.«
 

Tsukishima dachte kurz darüber nach, ob er das Päckchen nicht vielleicht lieber mit auf sein Zimmer nehmen sollte, falls es irgendetwas Peinliches war, aber dann entschied er sich dagegen und hob den Deckel. Darin war ein ziemlich lecker aussehender, kleiner Erdbeerkuchen.
 

»Oh! Das ist ja entzückend! Wer hat dir den denn vorbei gebracht? Hast du etwa eine heimliche Verehrerin, Kei?«
 

Wenn er eine hätte, dachte Tsukishima fassungslos, während er den Kuchen anstarrte, dann würde sie in Tokyo leben und hätte keine Möglichkeit, mir einfach so einen Kuchen vor die Tür zu stellen. Und außerdem ist sie ein er.
 

Er teilte den Kuchen in zwei Hälften und ließ eine Hälfte für seine Eltern in der Küche stehen. Die andere Hälfte trug Tsukishima nach oben in sein Zimmer und verspeiste sie langsam und sehr nachdenklich über seinen Japanisch-Hausaufgaben, auf denen ein paar Krümel landeten. Dann kramte er sein Handy hervor. Es war das erste Mal, dass er Kuroo zuerst eine Nachricht schickte.
 

»Wie hast du einen Erdbeerkuchen vor meine Haustür gebracht und woher weißt du, wo ich wohne?«
 

»Für beides gilt: Ich habe Kontakte ;-)«
 

Tsukishima hatte genau Kuroos Gesichtsausdruck vor sich, als er diesen beknackten Smiley sah. Er dachte an die Worte seiner Mutter darüber, ob er wohl eine geheime Verehrerin hatte. Tsukishima hatte keine Ahnung von geheimer Verehrung und generell waren ihm Romantik und romantische Gefühle auch eher egal. Wie die meisten Dinge. Aber es war nicht zu leugnen, dass dieser beknackte Erdbeerkuchen verteufelt gut geschmeckt hatte und dass Tsukishimas Magen dieses bescheuerte Fallgefühl überhaupt nicht mehr loslassen wollte, seit er den Kuchen gesehen hatte.
 

Er tippte: »Erdbeerkuchen scheint mir nicht egal zu sein.«
 

Aber er schickte die Nachricht nicht ab und stopfte sein Handy zurück in seine Hosentasche.
 

*
 

»Oi, Yamaguchi.«
 

»Was gibt’s, Tsukki?«
 

»Warst du schon mal verknallt?«
 

»Eh…? Oh! Also… Yachi-san ist schon sehr niedlich.«
 

»Niedlich?«
 

»Naja, sie ist lieb und hilfsbereit und mutig und sie hat ein freundliches Lächeln und ist genauso ein nervöses Wrack wie ich.«
 

»Also bist du in Yachi-san verknallt?«
 

»V…vielleicht? Ich weiß es nicht. Aber… naja… mein Magen macht immer einen Salto, wenn ich sie sehe.«
 

»Verstehe. Lass uns was essen gehen.«
 

»Ok, Tsukki!«
 

*
 

Nach dem Sieg gegen Shiratorizawa fühlte Tsukishima sich so, wie er sich noch nie gefühlt hatte. So viel Enthusiasmus und Zufriedenheit und Triumph war noch nie auf einmal in ihm herum gewirbelt. Er neigte nicht zu Geschwätzigkeit, aber er wollte dringend allen Menschen, die er kannte, davon berichten, wie er es geschafft hatte Ushijima zu blocken. Tsukishima war stolz auf sich. Es fühlte sich sehr ungewohnt und ein wenig unangenehm an, so viel Begeisterung und Adrenalin durch seine Adern pumpen zu spüren, auch wenn er gleichzeitig vollkommen erschöpft von den Anstrengungen des Spiels war. Aber Ushijimas Gesicht war einfach königlich gewesen. Nicht, dass Tsukishima es wirklich zugeben wollte, aber es war genauso, wie Bokuto gesagt hatte.
 

Es gibt diesen Moment, der dich so richtig für Volleyball begeistern kann.
 

Der Augenblick, als er es zum ersten Mal geschafft hatte, Ushijima zu blocken, war offenbar dieser Moment für ihn gewesen. Wenn Bokuto das wüsste, würde er sich selbst garantiert mindestens drei Tage lang feiern und all seinen Teamkameraden damit auf den Keks gehen. Tsukishima dachte an ihr gemeinsames Trainingscamp und wie viel er gegen seinen Willen dort gelernt hatte. Bokuto und Kuroo hatten ihn – ob er es wollte oder nicht – unter ihre Fittiche genommen. Warum genau sie interessiert an ihm gewesen waren, war Tsukishima schleierhaft. Er war schließlich kein Genie wie Kageyama oder Hinata.
 

Tsukishima saß nun im Garten seiner Familie, den Rücken an einen Baum gelehnt, seine Kopfhörer über seinen Ohren und sein Handy im Schoß, während er nach und nach ein paar Mochi mit grünem Tee verspeiste.
 

Seine Finger spielten mit dem Handy. Akiteru hatte sich so sehr über Tsukishimas Erfolg gefreut und mit ihm gefeiert, dass es Tsukishima fast ein wenig übertrieben vorgekommen war. Dann wiederum war Akiteru schon immer eher derjenige von ihnen mit starken Emotionen gewesen. Tsukishima schob sich noch ein Mochi in den Mund und öffnete eine neue Nachricht.
 

»Ich habe Ushijima geblockt. Mehrfach«
 

Die Antwort kam so schnell, dass Tsukishima sich unweigerlich fragte, ob Kuroo sein Handy die ganze Zeit angestarrt und auf eine Nachricht von ihm gewartet hatte.
 

»YES! Ich wusste doch, dass du es in dir hast :-P Das heißt, wir sehen uns bei den nationals ;-)«
 

Tsukishimas Herz stotterte kurz und schlug dann doppelt so schnell weiter.
 

»Also habt ihr auch gewonnen.«
 

»Scharf kombiniert, Kei-chan.«
 

Tsukishima prustete beinahe den Rest seines Mochis quer über den Rasen, weil er so empört und überrascht war.
 

»Ich dachte, wir hatten uns auf Tsukishima geeinigt.«
 

»Tja, da sind durch den Siegesrausch wohl die Pferde mit mir durchgegangen. Ah, ich hätte gern Ushiwakas Gesicht gesehen, als du seinen Ball geblockt hast.«
 

»Er sah aus, als würde er mich gern erwürgen.«
 

»Wollte er wahrscheinlich wirklich. Aber es tut ihm auch mal ganz gut, ein wenig Bescheidenheit zu lernen.«
 

»Das sagt ja der Richtige…«
 

»Hey! Ich kann bescheiden sein!«
 

Tsukishima schnaubte verächtlich und legte sein Handy beiseite. Dann dachte er daran, dass Karasuno bei den Nationals gegen Nekoma spielen würde. Er hätte nicht ungern seinen Kopf so lange gegen den Baum hinter ihn geschlagen, bis sein Herz aufhörte einen Trommelwirbel nach dem nächsten zu vollführen. Wann genau war das passiert? Zwischen all den beknackten und ausgesprochen dummen Witzen und den dämlichen Anekdoten hatte Tsukishimas Gehirn offenbar beschlossen eine Sicherung durchbrennen zu lassen, die ihn jetzt zu einem kompletten Vollidioten reduzierte.
 

Seine erste Reaktion auf die SMS mit der Information darüber, worauf Kuroo stand, war gewesen kurz zu überlegen, ob er jemals in Erwägung ziehen würde, einen kurzen Rock anzuziehen. Da hätte er schon ahnen müssen, dass es mit ihm bergab ging. In seinem momentanen Zustand hätte es ihn nicht gewundert, wenn er kaum noch genervt von Hinata und seinem König gewesen wäre, aber Tsukishima stellte beim nächsten Training erleichtert fest, dass er soweit dann doch noch nicht gesunken war.
 

Gefühle waren was für Leute wie Tanaka und Hinata. Tsukishima hatte damit eindeutig nichts am Hut. Er würde also einfach warten, bis dieser bedauerliche Zustand sich wieder gelegt hatte. Hoffentlich passierte es noch, bevor sie Nekoma bei den Nationals gegenüber traten.
 

*
 

Die Erleuchtung darüber, wer ihm den Erdbeerkuchen vor die Tür gestellt hatte, kam ihm, als er Hinata lautstark über Kenma reden hörte. Tsukishima passte Hinata ab, bevor dieser aus der Umkleidekabine direkt in ein Wettrennen mit Kageyama verfallen konnte und starrte abfällig auf den Gartenzwerg hinunter. Hinata sah sichtlich nervös aus.
 

»Hast du einen Erdbeerkuchen vor meine Tür gestellt?«, fragte er. Wenn er falsch lag, wäre dies eine ausgesprochen bescheuerte Frage. Aber Hinata wurde prompt knallrot und es fehlte nur noch, dass ihm Rauchwölkchen aus den Ohren stoben.
 

»W…wie kommst du denn darauf?«
 

»Beantworte meine Frage!«
 

»Selbst wenn, ist es jawohl nicht illegal!«
 

Und mit einer seiner freakig-schnellen Bewegungen entwand sich Hinata dem Verhör und raste den Korridor entlang dem Ausgang entgegen. Tsukishima starrte ihm einen Augenblick lang nach und fragte sich, wie Menschen mit derartig hohem Adrenalinlevel zu jeder Tages- und Nachtzeit überhaupt älter als dreißig Jahre wurden.
 

*
 

»Weißt du noch, als ich dir erzählt hab, worauf ich stehe?«
 

»Nein.«
 

»Ach komm, du lügst doch, Kei-chan!«
 

»Tsukishima!«
 

»Ich nenn dich weiter Kei-chan, wenn du nicht zugibst, dass du dich daran erinnerst ;-)«
 

Tsukishima brummte leise und starrte sein Display in der Dunkelheit seines Zimmers an. Er hatte schon vor einer halben Stunde das Licht ausgemacht, aber konnte nicht schlafen und Kuroos bescheuerte SMS halfen ihm nicht unbedingt dabei. Dummerweise hatte Tsukishima ein ziemlich gutes Gedächtnis. Er erinnerte sich an sehr viele Dinge und unnötig viele Details, die er eigentlich lieber vergessen würde. Wenn es nach ihm ginge, würde er viel häufiger Erlebnisse verdrängen, dann müsste er sich nicht vorm Schlafengehen damit in seinem Kopf herumschlagen.
 

Tsukishima wog ab, was schlimmer war. Kei-chan von jemandem genannt zu werden, dem er eigentlich am liebsten den Kopf abreißen würde, oder aber zugeben zu müssen, dass er sehr wohl wusste, was Kuroo ihm einige Wochen zuvor per SMS geschickt hatte. Er drehte sich auf den Bauch und drückte sein Gesicht ins Kissen. Er dachte daran, wie er »Erdbeerkuchen scheint mir nicht egal zu sein.« getippt und nie abgeschickt hatte und daran, wie Yamaguchi aussah, wenn er an Yachi dachte.
 

»Ugh.«
 

Er drehte sich wieder auf den Rücken, griff nach seinem Handy und schrieb: »Ich werde auf keine SMS antworten, in der du mich Kei-chan nennst.«
 

»Also gibst du zu, dass du dich daran erinnerst!«
 

»Nein.«
 

»Kei-chan, sei nicht albern! Wir wissen beide, dass du im Rock meinem absoluten Idealbild entsprichst ;-)«
 

Tsukishima starrte die Nachricht an. Es vibrierte erneut.
 

»Abgesehen davon, dass du ein bisschen kleiner sein könntest. Ich mag es, wenn Leute zu mir aufsehen müssen.«
 

Tsukishima versuchte krampfhaft seine inneren Organe zu beruhigen, die einen wahnwitzigen Tango aufführten.
 

»Bist du noch da?«
 

»Hey, Kei-chan! Das ist der Moment in dem du zugibst, dass du mich auch unwiderstehlich heiß findest!«
 

»Sei kein Spielverderber!«
 

…dass du mich auch unwiderstehlich findest…
 

Tsukishima presste auf den Aus-Knopf, warf das Handy quer durchs Zimmer und hörte, wie es mit einem dumpfen Wummern gegen seinen Schreibtischstuhl krachte und dann zu Boden fiel.
 

Es dauerte noch anderthalb Stunden, bis er endlich eingeschlafen war.
 

*
 

Wer hätte je gedacht, dass das kleine Wort »auch« ihn jemals so aus der Fassung bringen würde.
 

»Tsukki, ist alles in Ordnung? Du siehst ein bisschen blass aus.«
 

»Halt die Klappe, Yamaguchi.«
 

»Ok, sorry, Tsukki!«
 

*
 

Tsukishima war beinahe dankbar für das emotionale Chaos in seinem Innern, da es ihm gestattete, Kuroos SMS ganze vier Tage, neunzehn Stunden und siebenundzwanzig Minuten zu ignorieren. Nicht, dass das Kuroo davon abhalten würde, ihm weiterhin Nachrichten zu schreiben, aber Tsukishima konnte immerhin so tun, als wäre er wirklich erhaben über dieses beknackte Spiel, das Kuroo für einigen Wochen begonnen hatte.
 

Die Nachrichten, die er geschickt bekam, waren wie üblich ein Mischmasch verschiedenster Dinge.
 

»Yaku hat Lev gerade im Schwitzkasten und wenn du weißt, dass Yaku ungefähr halb so groß ist wie Lev, kannst du dir vorstellen, wie ulkig das aussieht.«
 

Ein Foto wurde direkt hinterher geschickt.
 

»Mir ist langweilig. Geschichte ist das schlimmste Fach der Welt.«
 

»Glaubst du, Ushiwaka weint manchmal nachts in sein Kissen, weil er verloren hat?«
 

»Wenn ich drei Wünsche frei hätte, würde ich mir dich in Schulmädchenuniform wünschen.«
 

»Und vielleicht einige Millionen Yen.«
 

»Aber vor allem die Uniform. An dir.«
 

»Es ist noch ewig hin bis zu den Nationals, Brille-kun.«

Tsukishima war sich nicht sicher, was er davon halten sollte, nun doch wieder Brille-kun von Kuroo genannt zu werden. Er hockte draußen im Garten und hörte Musik, als seine Mutter den Kopf aus dem Haus steckte und ihm winkend bedeutete, dass er seine Kopfhörer abnehmen sollte.
 

»Du hast Besuch, Kei! Ich hab ihn schon mal nach oben geschickt. Wenn du willst, bringe ich euch was zu trinken nach oben!«
 

Tsukishima starrte seiner zufrieden lächelnden Mutter nach. Erstens stimmte es ihn ungnädig, dass seine Mutter jedes Mal vor Begeisterung beinahe hyperventilierte, wenn er soziale Kontakte hegte. Zweitens hatte er keine Ahnung, wer ihn besuchen würde. Wenn es Yamaguchi wäre, hätte seine Mutter gesagt »Tadashi-kun ist da, Kei« und sie hätte Yamaguchi einfach die Getränke in die Hand gedrückt.
 

»Wer…?«, fing er an, aber seine Mutter hörte ihn schon nicht mehr. Er schaltete seinen MP3-Player aus und rappelte sich auf. Während er die Treppen nach oben stieg, ging er im Kopf alle seine Mannschaftskameraden vom Volleyball und sämtliche Klassenkameraden durch, die ihn spontan besuchen würden, aber ihm fiel beim besten Willen niemand ein. Einen Augenblick lang dachte er, dass Hinata womöglich mit einem anderen Erdbeerkuchen vorbei gekommen war – ein absurder Gedanke, der allerdings sein Herz zum Stolpern brachte – aber wie es sich heraus stellte, war der Gast in seinem Zimmer weder Hinata, noch sonst jemand aus der Schule.
 

Kuroo drehte sich zu ihm herum, als Tsukishima die Zimmertür hinter sich schloss. Er stopfte seine Hände in die Hosentaschen und starrte Kuroo an, dessen schwarzes Haar noch unordentlicher aussah, als Tsukishima es in Erinnerung hatte. Ein schiefes Grinsen breitete sich auf Kuroos Gesicht aus und Tsukishima ignorierte die Hitzewelle, die in ihm aufstieg.
 

»Meine Güte, Kuroo-san«, sagte er mit einem höhnischen Schmunzeln und hob das Kinn, sodass er trotz des geringen Größenunterschieds auf Kuroo herab blicken konnte. »Mir war nicht klar, dass dein Sozialleben so erbärmlich ist, dass du den ganzen Weg aus Tokyo hier her kommst, um mit jemandem zu reden, der dich nicht leiden kann.«
 

»Immerhin habe ich ein Sozialleben«, sagte Kuroo zwinkernd und schien sich kein bisschen an Tsukishimas Unfreundlichkeit zu stören. Tsukishima hasste es, wenn Leute sich kein bisschen von ihm provozieren ließen. Hinata und Tanaka und Kageyama waren sehr berechenbar. Kuroo hingegen musterte ihn nur von oben bis unten wie ein besonders spannendes Ausstellungsstück und Tsukishima schluckte. Nicht, dass er es jemals in seinem Leben zugeben würde, aber wenn er jemals verstanden hatte, was manche Menschen unter einem hormongesteuerten Teenager verstanden, dann war es in diesem Moment.
 

Verfluchter Dreck.
 

»Du hast nicht zufällig irgendwo die Schuluniform hier rumliegen, die ich bestellt habe, oder?«, erkundigte Kuroo sich interessiert und ließ tatsächlich neugierig seinen Blick durchs Zimmer schweifen, als hätte Tsukishima nichts Besseres in seinem Leben zu tun, als sich nach Kuroos Fetischen zu richten.
 

In seiner Körpermitte kribbelte es.
 

»Wieso sollte ich? Ich bin der letzte Mensch, der für deine krankhaften Neigungen zuständig ist«, sagte Tsukishima so herablassend wie möglich und stellte zufrieden fest, dass seine Stimme noch funktionierte. Kuroo lachte leise.
 

»Ich bin beeindruckt. Wenn du dir das lange genug einredest, glaubst du’s vielleicht sogar«, entgegnete er mit einem breiten Grinsen und machte ein paar Schritte auf Tsukishima zu. Er würde nicht zurück weichen. Er würde jetzt auch definitiv nicht rot werden. Er würde nicht an kurze Röcke und Kuroos breite Schultern und das schiefe Grinsen denken und daran, dass Kuroo ihm einen verdammten Erdbeerkuchen vor die Tür hatte stellen lassen.
 

Definitiv nicht.
 

Warme, raue Finger schoben sich in Tsukishimas Nacken und ein diabolisches Schmunzeln machte sich auf Kuroos Gesicht breit, als Tsukishima zischend die Luft einsog und sich versteifte. Er schubste Kuroo nicht weg und er protestierte nicht, als ihre Gesichter sich gefährlich nahe kamen. So nah, dass Tsukishima Kuroos Atem auf seiner Haut spüren konnte.
 

Fakt: Kuroo hatte ihn unter seine Fittiche genommen und indirekt eine bislang unbekannte Begeisterung für Volleyball in ihm geweckt.
 

Fakt: Kuroo hatte sich unter erschwerten Bedingungen Tsukishimas Handynummer besorgt, um mit ihm Kontakt aufzunehmen.
 

Fakt: Kuroo hatte Tsukishima deutlich gesagt, dass er auf ihn stand.
 

Fakt: Kuroo hatte ihm einen Erdbeerkuchen geschenkt und er hatte nach mehreren Tagen Funkstille den sehr langen Weg von Tokyo hierher auf sich genommen, um mit Tsukishima zu reden.
 

Lässiges Verhalten hin oder her, unter dem lauten Rauschen in Tsukishimas Gehirn wurde ihm nach der Betrachtung all dieser Fakten klar, dass Kuroo womöglich – so unwahrscheinlich und abgefahren es auch war – tatsächlich Interesse an ihm hatte. Tsukishima schluckte.
 

Fakt: Kuroo Tetsuro küsste ihn auf den Mund.
 

Sein Gehirn stolperte über all seine Gedanken und verknotete sich nutzlos, sodass es ihm vollkommen unmöglich war zu denken. Er gab ein Geräusch von sich, dass durchaus auch von einem sterbenden Vogel hätte stammen können und eine Gänsehaut kroch seine Unterarme und seinen Nacken hinauf, als Kuroo leicht gegen seine Lippen lachte. Finger vergruben sich in Tsukishimas Haar, eine Hand legte sich beinahe behutsam auf seine Hüfte und nachdem er einen Schritt rückwärts gemacht hatte, stieß er gegen die geschlossene Tür.
 

Sein Körper fühlte sich an, als hätte man ihn unter Strom gesetzt.
 

Fakt: Dies war Tsukishima Keis erster Kuss.
 

Als Kuroo sich von ihm zurück zog, war Tsukishima sich nicht sicher, wie er am besten reagieren sollte. Ein Teil von ihm wollte einen gehässigen Kommentar über Kuroos Kussfertigkeiten machen, um sich davor zu bewahren zugeben zu müssen, dass es ihm gefallen hatte und er nichts gegen eine Wiederholung hatte. Aber seine Stimmbänder versagten ihm ihren Dienst und er räusperte sich lediglich, was selbst in seinen eigenen Ohren erbärmlich klang. Kuroo musterte ihn interessiert aus der Nähe und Tsukishima konnte förmlich sehen, wie er sich die beste Taktik für den weiteren Umgang mit Tsukishima überlegte. Tsukishima war beinahe gespannt darauf, zu welchem Ergebnis er kommen würde.
 

Kuroo steckte seine Hände in die Hosentaschen und trat einen Schritt zurück, sodass Tsukishima wieder atmen konnte. Zu Tsukishimas Ärger sah Kuroo kein bisschen rot im Gesicht oder auch nur einen Hauch atemlos aus, wohingegen er vermutlich dieselbe Farbe angenommen hatte wie eine reife Tomate.
 

»Ich hab noch drei Stunden Zeit bevor mein Zug zurück geht«, erklärte Kuroo mit schief gelegtem Kopf und einem halben Lächeln. Dann streckte er die Hand aus, pflückte Tsukishimas Kopfhörer von seinem Nacken und wedelte damit vor seinem Gesicht herum.
 

»Ich hab gehört, dass man dich kaum jemals ohne diese Dinger sieht«, sagte er schmunzelnd.
 

»Von wem hast du das gehört?«
 

»Du weißt doch, ich hab meine Quellen«, sagte Kuroo geringschätzig und drückte Tsukishima die Kopfhörer in die Hand. Tsukishimas Gehirn hatte sich noch nicht wieder vollständig entknotet.
 

»Aber es wäre zum Beispiel ideal, wenn ich aus erster Hand erfahren würde, was für Musik dauernd mit diesen Dingern gehört wird«, fuhr Kuroo fort und Tsukishima stand einen Augenblick da wie angewurzelt, während Kuroo sich beschwingt auf sein Bett fallen ließ und mit einem breiten Grinsen neben sich aufs Bett klopfte.
 

»Tsk.«
 

Tsukishima ging zum Bett hinüber, setzte sich neben Kuroo und kramte seinen MP3-Player hervor, um ihn einzuschalten.
 

»Du bist für drei Stunden hergekommen, um dir meine Musik anzuhören?«, murmelte Tsukishima und reichte Kuroo die Kopfhörer. Nicht mal Yamaguchi hatte seine Kopfhörer jemals aufgesetzt. Kuroo lachte leise.
 

»Nicht nur«, sagte er vage und Tsukishima ärgerte sich über sich selbst, weil er Neugier darüber verspürte, was in Kuroos Kopf vor sich ging. Aber dann setzte Kuroo seine Kopfhörer auf und Tsukishima hatte keine Gelegenheit mehr nachzufragen. Er startete das erste Lied und musterte Kuroo von der Seite, der mit geschlossenen Augen und diesem ätzenden halben Schmunzeln der Musik lauschte, die Tsukishima Tag ein und Tag aus hörte.
 

Kuroo ließ sich nach hinten sinken und da Tsukishima den MP3-Player hielt und Kuroo die Kopfhörer trug, war er gezwungen es ihm nachzutun, damit das Kabel sich nicht löste. Seine Innereien veranstalteten schon wieder hektische Purzelbäume. Kuroo drehte den Kopf zur Seite und schaute ihn an.
 

Fakt: Drei Stunden waren zu kurz und Tokyo war eindeutig zu weit entfernt.

Punkt 37

Yaku führte gerne Listen. Er schrieb Listen über alles Mögliche: Hausaufgaben To Do Listen, seine Volleyballziele für ein Schuljahr, Neuerscheinungen seiner Lieblingsband, für die er in einem Jahr sparen wollte… Er hatte früher schon einmal eine Liste darüber geführt, was ihm an Kuroo alles auf die Nerven ging – Kuroo hatte eben diese Liste gefunden, die damals über zwei Seiten in Yakus feinsäuberlicher Handschrift umfasst hatte.
 

Zuerst hatte Kuroo jeden Punkt abgearbeitet und mit einem Gegenpunkt darüber versehen, was er an Yaku nicht mochte. Anschließend hatten sie ziemlich heftig im Clubraum geknutscht. Eine Erinnerung, die Yaku immer noch die Röte ins Gesicht trieb und ihm vielleicht einen Hinweis darüber hätte vermitteln können, was es bedeutete, dass er in seinem Kopf angefangen hatte eine solche Liste über einen gewissen übergroßen Volltrottel zu führen.
 

Immerhin hatte Yaku aus seinen Fehlern mit Kuroo gelernt und erstellte Listen über Menschen nur noch zu Hause oder im Kopf, wo niemand sie finden konnte. Kuroo bezeichnete Yaku gern liebevoll als Neurotiker, woraufhin Yaku ihn einen kontrollgeilen Sadisten nannte und sie beide kurz an diesen einen Kuss dachten. Zu Yakus Ärgernis wurde Kuroo im Angesicht dieser Erinnerung nie rot.
 

Je nach Lust, Laune und Anlass hatten Yakus Listen auch Unterpunkte – wenn man von einem seiner besten Freunde und Team-Captain schon als Neurotiker bezeichnet wurde, dann sollte man diesem Ruf doch auch gerecht werden. Haibas Liste hatte zum Beispiel an mehreren Stellen Unterpunkte und manchmal war es für Yaku recht anspruchsvoll sich alle zu merken. Um allerdings eine Wiederholung des Kuroo-Dramas zu vermeiden, sollte er duese eine Liste besser nicht schriftlich festhalten.
 

Nachdem Haiba jedoch an einem regnerischen Dienstag beim Training dafür gesorgt hatte, dass Yaku von einem Ball im Gesicht getroffen wurde und davon heftiges Nasenbluten bekam und dann auch noch versuchte, Yaku aus lauter übertriebener Fürsorge im Brautstil zur Schulkrankenschwester zu tragen, war das Fass einfach übergelaufen. Am späten Nachmittag nach Erledigung seiner Hausaufgaben zückte Yaku einen Stift und ein Blatt Papier und fing an, sich seinen Frust über Haiba Lev von der Seele zu schreiben.
 

Er notierte die Überschrift »Dinge, die ich an Haiba Lev nicht ausstehen kann« und betrachtete sie einen Augenblick lang zufrieden, dann begann er mit der Auflistung.
 

1) Haibas Größe
 

Yaku war nicht einfach nur darüber empört, dass Haiba so unverschämt groß war und allein deswegen einen Vorteil in dem Sport hatte, an dem Yaku seit vielen Jahren hart arbeitete – nein. Yaku war auch empört, wie Haiba bei jeder sich bietenden Gelegenheit implizierte, wie viel größer als Yaku er war oder überhaupt wie klein Yaku war. Yaku machte sich sehr viel Mühe damit, mehrere Beispielgelegenheiten aufzulisten, an die er sich diesbezüglich erinnerte. Was Yaku auch direkt zu seinem nächsten Punkt führte:
 

2) Haiba hat definitiv nicht genug Respekt vor den älteren Schülern
 

Yaku bestand nicht unbedingt darauf, als ‚senpai‘ angesprochen zu werden, auch wenn er selbst es in den unteren Jahrgängen immer getan hatte. Aber Haibas Ton, sein dauerndes Dazwischengequatsche und seine mangelnde Aufmerksamkeit, wenn man ihm wichtige Dinge erklärte, brachten Yaku zur Weißglut. Es folgten mehrere Unterpunkte in Form von Beispielen. Zwischenzeitlich steckte seine Mutter den Kopf zur Tür herein und erkundigte sich, ob Yaku mit seinen Hausaufgaben fertig war und etwas essen wollte,
 

Aber Yaku hatte keinen Hunger.
 

Unweigerlich schob sich Kuroos grinsendes Gesicht vor Yakus inneres Auge und seine Lippen formten definitiv das Wort »besessen«. Yaku knurrte in die Stille seines Zimmers und wischte das Bild fort.
 

3) Haibas schlechte Haltung
 

Ja, auch über solche Dinge regte Yaku sich auf. Wenn Haiba abgesehen von seiner miserablen Haltung ein Mustermitspieler und Teamkamerad wäre, würde Yaku derartige Kleinigkeiten vermutlich nicht so streng beurteilen, aber wenn er vor Wut erst einmal richtig in Fahrt war, dann fielen ihm fünfhundert nervige Winzigkeiten auf, die er ansonsten vermutlich großzügig übersehen hätte. Kenma hatte beispielsweise ebenfalls eine grottenschlechte Haltung, aber Yaku störte sich in seinem Fall nicht daran. Dass Haiba wie ein Schluck Wasser in der Kurve in der Gegend herumstand – und das bei seiner Größe, siehe Punkt eins – machte Yaku wahnsinnig.
 

4) »Ich bin Nekomas Ace«/»Ich werde Nekomas Ace sein!«
 

Dieser Satz aus Haibas Mund war aus Haibas Mund eine Beleidigung für Yakus Ohren und er war ein direktes Resultat aus den folgenden beiden Punkten:
 

5) Haibas unbegründete, naive Arroganz
 

und
 

6) Talent statt harter Arbeit
 

Dass Haiba einfach durch schieres Glück, seine Größe und rohes angeborenes Talent einen festen Platz in der Startaufstellung ihres Teams ergattert hatte, fand Yaku ungerecht. Er wusste, dass sie Haiba brauchten, auch wenn er es im Leben nicht laut sagen würde – aber es war unfair, dass viele der Ersatzspieler so hart trainierten, Tipps umsetzten und verlässliche Teammitglieder waren und dann… Yaku selbst hatte sich seine Libero-Fähigkeiten schwer erarbeitet. Die Punkte vier und fünf waren besonders empörend, wenn man Punkt sieben bedachte:
 

7) Haiba verhunzt selbst die einfachsten Basics beim Spielen
 

und wenn er dann doch einmal etwas gut machte, was meistens nur durch Zufall zustande kam, dann führte Yaku das direkt zum nächsten Punkt.
 

8) Haiba muss dauernd wegen jeder Selbstverständlichkeit gelobt werden wie ein Hund
 

Yaku hatte sich ein paar Mal dazu herab gelassen, Haiba für etwas zu loben und es waren die schlechtesten Ideen seines Lebens gewesen. Nicht nur hatte er sich Kuroos dummes Grinsen ansehen müssen, das so zweideutig war, dass Yaku ihren Kapitän gerne ins Gesicht gesprungen wäre, nein. Wenn Yaku – oder sonst irgendjemand, Yaku achtete schließlich nicht ununterbrochen auf Haiba – Haiba lobte, dann passierte etwas ausgesprochen Scheußliches.
 

9) Haiba bekommt wegen Lob ein unerträgliches Funkeln in den Augen und grinst so dümmlich, dass es kaum zu ertragen ist
 

Yaku rief sich einen Augenblick das besagte Funkeln mitsamt dem Grinsen vor Augen, spürte prompt wie sein Gesicht scharlochrot anlief und heiß wurde und fluchte leise, ehe er sich hastig wieder über das Blatt beugte und noch weitere 27 Punkte hinzufügte, eingeschlossen der Art und Weise, wie Haiba aß und dem Unterpunkt, dass er oft mit vollem Mund redete und die Tatsache, dass er immer viel länger als nötig nur in Unterhose bekleidet in der Umkleide herumstand und allen davon erzählte, wie großartig er heute Bälle geschmettert hatte – mitsamt einem Unterpunkt darüber, dass diese Angeberei oftmals maßlos übertrieben war, denn Haiba traf nicht selten nur drei von zehn Bällen, die Kenma für ihn pritschte.
 

Er betrachtete sein Werk von 36 Punkten, die er an Haiba Lev nicht ausstehen konnte und haderte ganze zwei Minuten mit klopfendem Herzen, bevor Yaku beschloss, dass diese Liste ohnehin niemand zu Gesicht bekommen würde. Zögerlich setzte er den Stift auf und schrieb:
 

37) Ich bin peinlicherweise Hals über Kopf in Haiba Lev verknallt
 

Er strich den Satz peinlich berührt durch, allerdings nicht krakelig genug, als dass man ihn nicht mehr erkennen und lesen konnte und seufzte leise. Kuroos Lachen im Ohr schob er die Liste beiseite, stapelte seine fertigen Hausaufgaben darauf und stand von seinem Schreibtisch auf. Bald war sein letztes Schuljahr an der Nekoma High vorbei und dann würde er sich mit diesem peinlichen und unnötigen Gefühlen nicht mehr herumschlagen müssen.
 

*
 

Leider hatte Yaku nicht mit zwei Dinge gerechnet: Seiner eigenen Zerstreutheit am Morgen und Haibas unglaublicher Fähigkeit immer zur falschen Zeit am falschen Ort aufzutauchen (Punkt 29). Er hatte sich nach dem Matheunterricht mit ein paar Klassenkameraden auf den Weg zur Cafeteria gemacht, um sich ein Melonenbrötchen zu kaufen, als hinter ihm ein Gang ein lautstarkes »YAKU-SAN!« ertönte und Yaku zusammenzucken ließ. Er brauchte sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, wer da wie ein Wahnsinniger durch den halben Korridor dröhnte und er spürte sofort eine wütende Ader an seiner Schläfe pulsieren, die in den letzten Wochen und Monaten ausschließlich für Haiba reserviert zu sein schien.
 

Yaku wirbelte herum, um Haiba mit strengem Ton zur Ordnung zu rufen, doch in diesem Augenblick stand er schon ihm und Yaku stolperte einen Schritt zurück, verlor das Gleichgewicht und landete auf seinem Hintern. Sein erster Gedanke war, dass Haiba mit seinen drei Meter langen Beinen natürlich so schnell den Korridor durchquert hatte, dann wurde er zornig, weil Haiba ihn vor seinen Klassenkamerden zum Deppen gemacht hatte. Seine Schultasche war ihm von der Schulter gerutscht und seine Sachen hatten sich quer durch den Gang verteilt, er hörte Leute tuscheln und spürte sein Steißbein schmerzvoll pochen. Großartig.
 

»Das tut mir Leid, Yaku-san!«, sagte Haiba und fing emsig an, Yakus Sachen einzusammeln. Yaku rappelte sich hastig auf und bedeutete seinen Freunden, dass sie schon einmal ohne ihn vorgehen und ihm ein Melonenbrötchen ergattern sollten, dann stemmte er die Hände in die Hüften und holte tief Luft, um Haiba eine gepfefferte Standpauke zu halten. Bis ihm die gerade eingeatmete Luft entwich wie einem mit einer Nadel durchstochenen Ballon. Haiba hielt in einem Arm die zusammen gesammelten Schulsachen, in der anderen ein Stück Papier, das Yaku auf grauenerweckende Art bekannt vorkam.
 

Haiba hockte immer noch auf dem Boden und starrte nun auf die Liste, die Yaku in seinem Brausekopf mitsamt seinen erledigten Hausaufgaben in seine Schultasche gesteckt hatte. Obwohl Haiba kniete, war er immer noch unverschämt groß und Yakus Herz rutschte ihm in die Hose, als er Haibas ausdrucksloses Gesicht sah.
 

Unweigerlich dachte er daran, wie Kuroo damals angefangen hatte, Yaku zu beleidigen, aber Haiba schien kein bisschen motiviert, irgendetwas Negatives zu sagen. Er hockte einfach da wie ein verlorener Welpe im Regen und Yaku fühlte sich wie der schlechteste Mensch auf Erden. Als Haiba zu ihm aufsah, musste Yaku schlucken. Verfluchter Mist.
 

Haiba richtete sich auf und drückte Yaku seine Schulsachen in die Hand. Yaku spürte Panik in sich aufsteigen.
 

»Lies den letzten Punkt!«, blaffte er Haiba von unten herauf an und Haiba blinzelte verwirrt und sah aus, als wäre er nicht wirklich in der Stimmung, noch einen Punkt mehr darüber zu lesen, was Yaku an ihm unausstehlich fand. Yakus Herz hämmerte ihm ein Tattoo gegen die Innenseite seines Brustkorbs. Er war der Drittklässler, er sollte sich emotional überlegen fühlen und einen kühlen Kopf bewahren. Leider war er schon seit längerem nicht mehr wirklich in der Lage, rational zu denken, wenn ein gewissen bohnenstangiger Jemand vor ihm stand oder sich auch nur innerhalb eines 500m Umkreises in seiner Nähe aufhielt.
 

Haibas Augen huschten die Liste entlang.
 

»Nummer 36: Haibas Angewohnheit Trinkpäckchen unnötig lange auszusaugen und dabei ein ewiglanges Blubbern zu verursachen.«
 

Yaku war kurz davor, mit dem Fuß aufzustampfen.
 

»Den durchgestrichenen Punkt! Den danach!«, krächzte er und stopfte seine Schulsachen zurück in die Tasche. Leute tuschelten, während sie an ihnen vorbei gingen und Yaku hätte nicht ungerne seine Beine in die Hand genommen und wäre geflohen. Vielleicht konnte er Kuroo dazu überreden, ihn irgendwo im Schulgarten zu vergraben.
 

Haiba war sehr still geworden. Yaku war sich nicht einmal sicher, ob Haiba überhaupt noch atmete.
 

»Yaku-san…«
 

»Ja, schön. Her damit!«, motzte Yaku und entriss Haiba die Liste, knüllte sie zu einem Ball zusammen und rammte seine Hand mit dem zerknitterten Papier darin in seine Hosentasche. Knallrot im Gesicht und mit Beinen, die sich anfühlten wie Pudding, wandte er sich auf dem Absatz um und marschierte den Gang entlang, ohne einen Blick zurück zu werfen. Ihm hätte klar sein müssen, dass Haiba ihm folgen würde. Von wegen Löwe. Hund. Definitiv Hund.
 

»Yaku-senpai«, sagte Haiba, als er ihn eingeholt hatte.
 

Oh Gott.
 

Yaku spürte ein sehr eindeutiges Ziehen in der Magengegend. Sein Leben lag in Scherben.
 

»Eigentlich wollte ich fragen, ob es deiner Nase besser geht«, sagte Haiba erstaunlich leise und Yaku legte noch einen Zahn zu. Wenn er nur die Cafeteria erreichen könnte, dachte er, wäre er vielleicht in Sicherheit. Eine dumme Idee.
 

»Danke, meiner Nase geht es hervorragend«, brummte Yaku. Sein Gesicht glühte immer noch. Verflixter Mist.
 

»Yaku-senpai?«
 

»Hör auf mich so zu nennen!«
 

»Aber Punkt zwei…«
 

Yaku wusste nicht so recht, was in ihn gefahren war, aber er streckte hastig die Hand aus und legte sie Haiba auf den Mund, um ihn vom Sprechen abzuhalten. Seine Haut begann dort zu kribbeln, wo Haibas Lippen seine Handinnenfläche berührte. Haiba schaute ihn aus großen Augen an. Wenn Yaku sich jetzt spontan aus dem Fenster neben ihm stürzen würde, könnte er dieser schrecklich peinlichen Situation entkommen.
 

Allerdings ließ Haiba ihm keine Gelegenheit, aus dem Fenster zu springen. Er griff unerhört sanft nach Yakus Handgelenk, zog sich die Finger vom Mund und betrachtete sie einen Augenblick lang. Dann geschah etwas absolut Unerhörtes. Haiba küsste Yakus Handrücken. Yaku war sich sicher, dass sein Kopf gleich explodieren würde.
 

»Wenn du willst, höre ich auf in Trinkpäckchen zu blubbern, Yaku-senpai«, sagte Haiba mit ernster Miene und Yaku holte gerade Luft um zu antworten, als eine vertraute Stimme hinter ihm sagte:
 

»Na endlich! Das hat ja ewig gedauert! Hat er deine Liste gefunden? Ah, Yaku-san, manche Dinge ändern sich eben nie.«
 

»Sucht euch ein Zimmer!«, dröhnte Yamamotos Stimme und er, Kai, Kenma und Kuroo schritten an ihnen vorbei. Kuroos Gesichtsausdruck war so selbstzufrieden, dass Yaku ihn gerne erwürgt hätte. Haiba ließ Yakus Hand los und fuhr sich verlegen durch die Haare.
 

»Ich kann auch versuchen gerader zu stehen«, schlug Haiba vor. Yaku wischte sich mit der Handfläche über die Augen und stöhnte. Sein Herz war ungefähr auf die dreifache Größe angeschwollen und drückte eindeutig auf seine Stimmbänder, denn er brachte kein anständiges Wort heraus. Es klang mehr nach einem verzweifelten Gurgeln. Er fischte die Liste aus seiner Hosentasche und warf sie in den nächstbesten Papierkorb.
 

»Sprich einfach nie wieder über diese Liste«, wies er Haiba streng an. Haiba lächelte verschmitzt.
 

»Auch nicht über Punkt 37, Yaku-senpai?«
 

»Ganz besonders nicht über Punkt 37! Und hör auf mich so zu nennen!«
 

»Du bist süß, Yaku-senpai.«
 

»Gah!«

Operation: Tsukishima (Sequel zu Kapitel 2)

Schritt 1
 

Kuroo hielt sich selbst für einen ausgesprochen fairen und geradlinigen Menschen – auch wenn er sicher war, dass Kenma und Yaku ihm mehr oder weniger lautstark widersprechen würden – aber manche Dinge verlangten einfach nach einer guten alten Intrige. Abgesehen davon, dass er einen ganzen Berg großartiger Eigenschaften besaß, war Kuroo auch ein Meister der Beobachtung und der daraus resultierenden und möglich gemachten Manipulation. Selbstverständlich war er viel zu anständig, um diese Beobachtungsfähigkeiten zu niederen Zwecken einzusetzen, aber seine aktuelle Mission verlangte nach harten Maßnahmen.
 

»Oi, Sawamura«, sagte er am vorletzen Tag ihres gemeinsamen Trainingscamps zum Kapitän von Karasuno. Sawamura blickte ihn erwartungsvoll an. Viele Leute würden sicher sagen, dass Sawamura ein Fels in der Brandung war, unerschütterlich, verlässlich… Und natürlich hatten sie damit vollkommen Recht. Aber selbst ein Fels in der Brandung wurde irgendwann von eben jener Brandung abgetragen… oder konnte mit einem Hammer in der richtigen Größe zerschlagen werden.
 

»Hast du Brille-kuns Handynummer?«, fragte er lässig.
 

Sawamaru blinzelte verwirrt und seine Augen huschten automatisch durch die Halle, in der überall vollkommen erschöpfte Volleyballspieler herumstanden oder lagen. Die einzige Ausnahme waren selbstredend Hinata und Kageyama, die sich wegen irgendetwas – wahrscheinlich Volleyball, deduzierte Kuroo mit seiner einzigartigen Beobachtungsgabe – lautstark beharkten.
 

»Du meinst Tsukishima?«
 

Kuroo nickte und pustete sich eine Strähne Haar aus dem Gesicht. Sawamura runzelte die Stirn und Kuroo setzte sein gewinnendes Lächeln auf.
 

»Wenn du seine Nummer willst, solltest du ihn danach fragen«, gab Sawamura zurück. Kuroo notierte sich mental, dass seine Art von gewinnendem Lächeln bei Sawamura nicht anschlug. Umso besser, dass er wusste, welche Art von Lächeln Sawamura beeindruckte.
 

Er lehnte sich lässig gegen die Wand hinter ihnen und verschränkte die Arme im Nacken. Sein Blick suchte und fand einen gewissen Drittklässler, der sich gerade mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht wischte und einen großen Schluck Wasser trank.

»Du solltest es Sugawara einfach sagen«, meinte Kuroo beiläufig und beobachtete belustigt, wie Sawamuras Gebaren sich von null auf hundert veränderte. Er wirkte plötzlich nicht mehr besonders felsig, sondern sah eher panisch aus. Mehr wie ein Kaninchen vor der Schlange.
 

»Was?«
 

»Du weißt schon. Die Gefühle. Ihr werdet schließlich nicht ewig auf eine Schule gehen… es wäre so traurig, wenn ihr euch aus den Augen verliert«, sagte Kuroo und seufzte dramatisch. Sawamura sah aus, als hätte Kuroo ihm gerade ein Messer an die Kehle gehalten.

»Woher…?«, knurrte er sehr leise und Kuroo lachte leise.
 

»Ich bin einfach ein aufmerksamer Beobachter«, sagte Kuroo und bemühte sich bescheiden zu klingen, was ihm grandios misslang. Sawamura sah weniger beeindruckt und mehr missmutig aus.

»Wehe, du sagst ihm irgendwas!«, sagte Sawamura und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

Kuroo lachte und winkte ab.
 

»Ach! Ich würde niemals… aber du weißt ja, wie das ist. Im Eifer einer Abschlussfeier kann einem schon mal das ein oder andere rausrutschen. Ich hoffe natürlich, dass ich mich zusammenreißen kann.«
 

Sawamura starrte ihn eine ganze Minute fassungslos von der Seite an. Kuroo war klar, dass Sawamura gerade die Erleuchtung darüber aufging, dass er erpresst wurde, auch wenn erpressen so ein harten Wort war, dass Kuroo es eigentlich lieber nicht verwenden würde. Er gab Sawamura einen sanften Schubs in die richtige Richtung. Und diese Richtung hieß Tsukishima Kei.
 

»Na schön«, zischte Sawamura und stapfte zu seiner Sporttasche hinüber, kramte darin herum und holte sein Handy hervor. Kuroo – auf alles vorbereitet, wie üblich – hatte seines bereits zur Stelle und legte einen neuen Eintrag an. Brille-kun. Erwartungsvoll blickte er Sawamura an, der ihm einen sehr finsteren Blick zuwarf und dann anfing, ihm die Handynummer von Tsukishima zu diktieren.
 

Kuroo speicherte den neuen Eintrag zufrieden mit sich, der Welt und Sawamuras allzu offensichtlichen Gefühlen für Sugawara Koushi. Schritt eins der Operation Tsukishima Kei war erfolgreich abgeschlossen.
 

Schritt 2
 

»Oi, Kenma! Kann ich mir dein Handy ausleihen?«
 

Kenma sah nicht von seinem Nintendo auf.
 

»Nein.«
 

Kuroo fühlte sich sofort missverstanden und ungerecht behandelt. Er schnaubte.
 

»Aber wieso nicht? Vertraust du mir nicht?«, fragte er und wenn Kenmas Blick ihm mitteilte, dass er unnötigerweise schmollte, dann ignorierte er die Wahrheit dieser Botschaft geflissentlich.
 

»Nicht mit meinem Handy.«
 

Kuroo seufzte. Er kaute ein wenig auf seiner Unterlippe herum und verschränkte die Arme vor der Brust. Kenma drückte auf Pause und blickte ihn von der Seite an.
 

»Ist es wegen dieser Sache, die du mit diesem Tsukiyama am Laufen hast?«, fragte Kenma und klang genauso unbeteiligt wie immer, aber die Tatsache, dass er sein Spiel auf Pause gestellt hatte, verriet Kuroo, dass Kenma auf seine eigene verschwommene Weise Anteil an Kuroos Leben nahm. Er war augenblicklich gerührt von Kenmas Zuwendung.
 

»Tsukishima«, verbesserte er automatisch. Kenma zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Spiel zu.
 

»Tsukishima. Ist es wegen dem?«, wollte er wissen. Kuroo beugte sich zu Kenma herüber und schaute ihm eine Weile beim Spielen zu. Er würde ungern zugeben, dass seine SMS-Versuche bislang nicht so fruchtbar gewesen waren, wie er sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Natürlich war ihm eigentlich klar, dass Tsukishima eine harte Nuss war… aber so hart?
 

»Ja, ok. Es ist wegen Tsukishima«, gab Kuroo schließlich zu. Schließlich war Kenma einer seiner besten Freunde. Kenma antwortete mit etwas mehr Schweigen, dann drückte er erneut auf Pause, legte tatsächlich seinen Nintendo zur Seite und sah Kuroo hinter dem üblichen Vorhang seiner langen Haare an.
 

»Du bist verknallt.«
 

»Auf keinen Fall!«
 

Mehr Schweigen und ein leicht unfokussierter Blick. Kuroo schnaubte und verzog das Gesicht.
 

»Na schön.«
 

»Du solltest es ihm einfach sagen.«
 

»Bist du wahnsinnig? Außerdem hab ich es schon durch die Blume gesagt!«
 

Kenma schien einen Augenblick lang darüber nachzudenken, ob Kuroo Tsukishima wirkliche Blumen geschickt hatte. Dann seufzte er und seine Finger krochen schon wieder in Richtung Nintendo.
 

»Was wolltest du mit meinem Handy?«, fragte er schließlich. Kuroo brummte.
 

»Dem Chibi schreiben«, antwortete er pflichtschuldig. Kenma sah ihn für seine Verhältnisse beinahe streng an. Es erinnerte Kuroo an den resignierten Blick, den Kenma immer dann aufsetzte, wenn er für Haiba pritschen sollte und das gefiel Kuroo überhaupt nicht. Er hatte mit Haiba sehr definitiv nichts gemeinsam und stellte sich sicherlich auch nicht so blöd an, wie Haiba mit Schmetterbällen!
 

»Und was wolltest du Shoyo schreiben?«
 

Kuroo fragte sich, wann er Kenma das letzte Mal so viel am Stück hatte sprechen hören. Er war richtig gerührt angesichts all der Fürsorge. Allerdings wand er sich nun wegen der Antwort, die er geben musste. Kenmas Finger fanden seinen Nintendo.
 

»Ich will, dass der Chibi ihm einen Erdbeerkuchen vor die Tür stellt!«, platzte er schließlich heraus und Kenmas Finger hielten inne. Er sah Kuroo an und Kuroo hätte schwören können, dass er ein belustigtes Funkeln erkannte. Dann kramte Kenma tatsächlich sein Handy hervor und begann zu tippen. Kuroo wollte ihm über die Schulter schauen, aber Kenma hielt das Handy außer Reichweite. Dann steckte er es zurück in seine Hosentasche, griff nach seinem Nintendo und fuhr mit seinem Spiel fort.
 

»Der Erdbeerkuchen wird geliefert«, murmelte Kenma. Kuroo war erstaunt ein deutliches Ziehen in der Magengegend zu verspüren. Er wollte lieber nicht fragen, was Kenma Hinata geschrieben hatte. Immerhin hatte er – wenn auch nicht wie ursprünglich geplant – Schritt zwei der Operation erfolgreich beendet.
 

Schritt 3
 

»Warum genau willst du dir so einen Berg Yen von uns leihen?«
 

»Du hast doch hoffentlich nichts Kriminelles gemacht, Kuroo-san!«
 

»Natürlich nicht!«
 

»Kuroo braucht das Geld für ein Zugticket.«
 

»Kenma!«
 

»Was denn?«
 

»Wen genau willst du denn besuchen, Kuroo-san? Hast du etwa eine geheime Freundin, von der wir nichts wissen?«
 

»Sowas in der Art.«
 

»Er will sich mit Tsukishima-san von Karasuno treffen.«
 

»KENMA!«
 

»Was? Kuroo-san! So einen Kuhgeschmack hätte ich dir nie im Leben zugetraut! Dafür bezahl ich nichts!«
 

»Sei nicht bescheuert, Taketora-san! Du kriegst das Geld ja wieder!«
 

»Na schön…«
 

»Dann viel Glück, Kuroo-san.«
 

»Ja, tu nichts, was wir nicht auch tun würden!«
 

»…«

Erzrivalen küsst man nicht

Oikawa Tooru war schon immer ausgesprochen beliebt bei den Mädchen gewesen. Sie mochten sein liebenswürdiges Lächeln, seine sanfte Stimme, seine perfekt liegenden Haare und seine generelle Lässigkeit, die er beim Volleyballspielen und natürlich auch in allen sonstigen Bereichen des Lebens an den Tag legte. Eine Traube solcher ihn bewundernder Mädchen folgte ihm, wohin er auch ging, und viele dieser Mädchen waren wirklich sehr hübsch. Tooru hätte gerne behauptet, dass er den ersten Kuss seines Lebens von so einem hübschen Mädchen bekommen hatte. Er würde sogar gern behaupten können, dass er seinen ersten Kuss von Iwa-chan bekommen hatte – auch wenn Iwa-chan ihn dann sicherlich erwürgenwürde.
 

Nein, Oikawa Tooru hatte seinen ersten Kuss im Alter von zehn Jahren bekommen. Wenn er es recht bedachte, dann zählte es eigentlich gar nicht richtig, weil es ein unschuldiger Kinderkuss gewesen war, aber Tooru ärgerte sich trotzdem darüber. Er ärgerte sich außerdem darüber, dass er bislang noch keinen zweiten Kuss bekommen hatte, der den ersten irgendwie ungültig werden lassen könnte. Man mochte es bei seinem guten Aussehen kaum für möglich halten, dass er quasi ungeküsst war, aber wahrscheinlich waren die hübschen Mädchen, die ihn anhimmelten, letztendlich doch zu eingeschüchtert von seiner Großartigkeit.
 

Dieser gewisse Jemand, der nicht hübsch und nicht einmal ein Mädchen war und von dem Tooru seinen ersten Kuss bekommen hatte, war kein bisschen eingeschüchtert von Toorus Großartigkeit gewesen – die er womöglich mit zehn Jahren auch noch nicht unbedingt ausgestrahlt hatte, aber das spielte keine Rolle. Auch diese Tatsache ärgerte ihn gewaltig.
 

Kuroo Tetsurou war ein Junge mit vielen verärgernden Qualitäten und soweit Tooru wusste, hatten sich diese Eigenschaften im Alter nur noch gesteigert. Da half es nicht, dass Kuroo zu allem Übel auch noch gute drei Zentimeter größer war als Tooru. Es war selbstverständlich nicht so, als wäre Tooru ein weniger guter Volleyballspieler, nur weil er drei Zentimeter kleiner war als Kuroo, aber er musste zugeben, dass es durchaus angenehm wäre, zu Kuroo hinunterzuschauen. Das würde ihm eine ungesund große Befriedigung verschaffen.
 

Wahrscheinlich war das der Grund, warum er über Kuroos Leben erstaunlich gut Bescheid wusste – man musste immer bereit sein für den Moment, in dem man endlich erfuhr, dass Kuroo Tetsurou nicht mehr weiterwuchs und Tooru ihn endlich in einem Wachstumsschub überholt hatte. Und da war es auch nicht verwunderlich, dass Tooru all diese Dinge über Kuroo wusste, selbst wenn dieser – den Göttern sei Dank – im weit entfernten Tokyo lebte.
 

Tooru kannte alle wichtigen Eckdaten und alles, was mit der Nekoma High zu tun hatte und zu dieser gehörte Kuroo nun einmal dazu. Es war schließlich seine Aufgabe als Mannschaftskapitän von Seijoh, über gegnerische Mannschaften Bescheid zu wissen. Und dass er im Zuge dieser Recherche über potentielle, zukünftige Gegner auch Dinge über deren Kapitän lernte, war schlichtweg ein Kollateralschaden.
 

Es war schließlich nicht so, dass er irgendetwas über Kuroo wissen wollte. Das hatte er vor acht Jahren schon nicht gewollt, als seine Eltern ihn für ein Jahr nach Tokyo geschleift hatten, und es hatte sich seither kein bisschen geändert.
 

*
 

»Schau nicht so, Tooru-chan. Wir gehen ja wieder zurück! Es ist eine einmalige Chance für deinen Vat–«
 

»Ist mir egal!«
 

»Tooru!«
 

Tooru verschränkte die Arme vor der Brust und starrte aus dem Fenster des Autos. Die Arbeit seines Vaters war ihm egal. Eigentlich verabscheute er diese Arbeit sogar, weil sein Vater sich lieber mit ihr beschäftigte als mit seiner Familie. Deswegen wollte Tooru auch nicht einsehen, wieso er nach Tokyo gehen sollte. Sein Vater hätte auch alleine dorthin gehen können, es hätte keinerlei Unterschied gemacht.
 

Die Landschaft draußen vorm Auto flog vorbei und trug ihn immer weiter weg von seiner Schule, seinen Freunden, seinem Zimmer. Weg von Iwa-chan und Volleyballtraining.
 

»Ich schreib dir Briefe, Iwa-chan, ok?«, hatte er gesagt.
 

Aber wahrscheinlich gab es überhaupt nichts zu erzählen. Und mit wem sollte er jetzt Frösche fangen und Volleyball üben und Süßigkeiten vom Schrank in der Küche klauen, wenn nicht mit Iwa-chan? Tooru hatte sich bereits vorgenommen, dass er in Tokyo keine neuen Freunde finden würde. Und sei es nur, um seinen Eltern zu zeigen, dass er alles in Tokyo hasste. Jeden Menschen, der dort lebte, und jeden Zentimeter Straße und das neue Haus und jeden Frosch, den er nicht zusammen mit Iwa-chan fangen konnte.
 

»Hey«, sagte eine Stimme direkt neben ihm und Tooru drehte trotzig den Kopf zu seiner großen Schwester herum, die ihn strahlend anlächelte. »Es wird sicher aufregend, Tooru! Überleg doch mal, Tokyo!«
 

Natsumi freute sich schon auf Tokyo. Vielleicht sah die Welt anders aus, wenn man achtzehn war. Tooru liebte seine Schwester abgöttisch, aber dafür, dass sie ihn so verriet und ihn anstrahlte, als wäre Tokyo für sie alle der Goldtopf am Ende des Regenbogens, hasste er sie auch ein bisschen. Er warf Natsumi einen wütenden Blick zu und schob die Unterlippe vor und nahm sich fest vor, den Rest der Autofahrt keinen Ton mehr zu sagen. Sollte Natsumi sich doch auf das aufregende Leben in Tokyo freuen. Er überlegte jetzt schon, über was er sich in seinem ersten Brief an Iwa-chan alles beschweren könnte.
 

»Das da hinten ist unser neues Haus!«
 

Es war definitiv nicht so groß, wie Tooru es sich vorgestellt hatte, und es hatte natürlich auch nicht die Gitterstäbe vor den Fenstern, die er sich in den letzten Tagen vorm Einschlafen ausgemalt hatte. Er starrte das hell verputzte Haus feindselig an und ignorierte die freudigen Ausrufe seiner Schwester, die sich über »den traditionell japanischen« Stil des Hauses freute. Während seine Schwester und seine Mutter Toorus Leid komplett ignorierten, passierte etwas, mit dem Tooru nicht gerechnet hatte. Ein Volleyball rollte auf die Straße und ein schwarzhaariger Junge, der aussah, als hätte er sich seit mindestens vier Wochen nicht mehr gekämmt, rannte dem Ball hinterher auf die Straße. Tooru starrte ihn und den Volleyball an.
 

»Oh, schau mal, Tooru! Er ist ungefähr in deinem Alter! Und er spielt auch Volleyball, ist das nicht toll?«
 

Tooru brummte unzufrieden, wandte den Blick von dem Jungen ab und nahm sich fest vor, diesen Fremden genauso scheußlich zu finden, wie alles andere an Tokyo.
 

Sein Zimmer war definitiv zu groß, das Haus roch komisch, und Tooru konnte von seinem Fenster aus direkt in den Garten des schwarzhaarigen Jungen schauen, der vorhin den Volleyball gejagt hatte. Er spielte mit einem anderen Jungen, der allerdings nicht besonders gut war und auch nicht wirklich begeistert wirkte. Tooru konnte das verstehen. Vielleicht fand dieser Junge Tokyo genauso fürchterlich wie Tooru.
 

Er ignorierte die Stimmen seiner Schwester und seiner Mutter sowie all die Umzugskartons, die jetzt in seinem Zimmer standen, und kramte nach etwas Papier und einem Filzstift, ehe er sich an den vollkommen leeren Schreibtisch setzte, die Zunge zwischen die Lippen schob und anfing zu schreiben.
 

Lieber Iwa-chan,
 

Tokyo ist hässlich und das Haus riecht komisch. Im Haus nebenan wohnt ein Junge, der sich nie die Haare kämmt. Natsumi und Mama sind begeistert, aber ich will wieder nach Hause. Übst du weiter Volleyball? Denk daran, den Frosch zu füttern!
 

Tooru
 

Tooru las den Brief noch einmal durch. Er hatte noch nie in seinem Leben einen Brief an jemanden geschrieben, aber viel falsch machen konnte man wohl kaum. Vielleicht sollte er den Brief noch ein wenig aufheben und später etwas mehr dazu schreiben, auch wenn Tooru sich ziemlich sicher war, dass kaum neue Dinge hinzukommen würden, die er berichten konnte.
 

Während er über dem Brief brütete, gab es einen dumpfen Knall, und Tooru wäre beinahe vom Stuhl gefallen, so sehr erschreckte er sich. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass gerade etwas Großes gegen sein Fenster geknallt war, und er sprang vom Schreibtisch auf, um hinüber zu eilen und hinauszuschauen. Unten im Garten des Nachbarhauses stand der Junge mit den ungekämmten Haaren und spähte hinüber in ihren Garten. Tooru folgte seinem Blick und entdeckte den blau-gelb-weißen Volleyball im Gras liegen, der vorhin bereits auf die Straße gerollt war. Tooru schüttelte den Kopf. Die beiden waren wirklich miserabel im Volleyball, wenn ihnen der Ball erst auf die Straße rollte und dann gegen ein benachbartes Fenster und in einen fremden Garten flog.
 

Voller Missmut dachte Tooru daran, dass ihm und Iwa-chan so etwas noch nie passiert war. Er hastete aus dem Zimmer und die Treppe hinunter, wo Natsumi ihrer Mutter gerade half, all die Küchenutensilien aus den Kartons und in die Schränke zu räumen. Was für ein übertriebener Aufwand für ein Jahr.
 

»Tooru? Wo willst du hin?«
 

»In den Garten«, rief Tooru, dann hatte er auch schon die Tür aufgerissen und war um die Ecke des Hauses gehuscht. Da lag der Ball. Und als Tooru den Kopf hob schaute er direkt in zwei irgendwie beunruhigend dreinblickende Augen. Der Junge sah für einen Zehnjährigen irgendwie verschlagen aus. Tooru hob den Ball auf und stemmte eine Hand in die Hüfte.
 

»Das war mein Fenster, das du fast zerdeppert hättest!«, sagte er. Der Junge grinste schief und fuhr sich mit einer Hand durch die ohnehin schon so wild abstehenden Haare.
 

»War keine Absicht! Ich hab Schmetterbälle geübt«, antwortete der Fremde. Tooru schnaubte.
 

»Anscheinend bist du nicht besonders gut in Schmetterbällen.«
 

Die Miene des Jungen verfinsterte sich.
 

»Ach ja? Und du kannst es besser, was?«
 

»Ich hab jedenfalls noch nie fast ein Fenster kaputt gemacht!«
 

Der Nachbarsjunge musterte ihn abschätzig. Tooru starrte ihn wütend an.
 

»Also spielst du auch Volleyball?«, wollte der Wischmopp wissen. Tooru gratulierte sich innerlich zu diesem Vergleich und beschloss, ihn später noch seinem Brief an Iwa-chan hinzuzufügen.
 

»Ja«, sagte er stolz und reckte das Kinn. Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des anderen Jungen aus und Tooru blinzelte verwundert. Gerade hatte er noch so sauer ausgesehen.
 

»Ich bin Kuroo. Kuroo Tetsurou. Wenn du willst, darfst du mit uns trainieren!«
 

Tooru dachte still bei sich, dass mit ‚uns‘ wahrscheinlich der unmotivierte Junge mit den kinnlangen Haaren gemeint war, aber er wollte nicht zugeben, dass er die beiden aus dem Fenster heraus beobachtet hatte. Im ersten Moment wollte er »Ok!« rufen, seine Umzugskartons Umzugskartons sein lassen und mit Kuroo Tetsurou Volleyball üben. Aber dann erinnerte er sich daran, dass er sich vorgenommen hatte, alles an Tokyo zu hassen. Er warf den Ball über die niedrige Hecke und Kuroo fing ihn problemlos auf.
 

»Nein, danke. Mit so schlechten Spielern übe ich nicht«, sagte er, drehte sich auf dem Absatz um und stapfte zurück ins Haus.
 

*
 

Tooru befand sich gerade im Schwitzkasten von Iwaizumi, als der Coach sie zur Ordnung rief und Iwaizumi ihn endlich losließ, nachdem Tooru sich vorher über einen schiefgelaufenen Schmetterball lustig gemacht hatte. Er holte ein paar Mal tief Luft und fuhr sich durch die Haare, dann folgte er seinem Team, das sich um Coach Irihata versammelte. Iwa-chan warf ihm einen vernichtenden Blick zu und Tooru zeigte ihm lächelnd ein Peace-Zeichen mit Mittel- und Zeigefinger. Da der Coach ihnen seine volle Aufmerksamkeit schenkte, war Tooru erst einmal vor Iwaizumis Vergeltung in Sicherheit.
 

»Ich habe ein paar Trainingsspiele für euch an Land gezogen. Wenn wir Shiratorizawa schlagen wollen, sollten wir mit so vielen verschiedenen starken Mannschaften trainieren wie nur möglich.«
 

Es gab einige begeisterte Zustimmungsrufe vom Team und Tooru beschloss, dass er erst jubeln würde, wenn er gehört hatte, gegen welche Mannschaften sie antreten sollten. Neben sich spürte er Iwa-chans wütende Aura wabern, aber er beschloss, sie zu ignorieren.
 

»…Yukigaya, Hinodai und ich habe es geschafft, ein kleineres Trainingscamp mit einer Schule aus Tokyo zu vereinbaren, wo wir vier Tage in einer Herberge übernachten können…«
 

Tooru hob den Kopf. Er reagierte immer noch allergisch auf den Namen Tokyo, auch wenn das mit großer Wahrscheinlichkeit albern war. Nach acht Jahren sollte er sich nicht mehr so darüber aufregen, aber er konnte nichts dagegen tun. Während ein beeindrucktes Raunen durch die Mannschaft ging, überlegte Tooru, welche guten Mannschaften in Tokyo er kannte, die zu so einem kleinen Trainingscamp zustimmen würden, aber noch während er verschiedene Namen in seinem Kopf durchging, holte ihn die Stimme von Coach Irihata zurück in die Realität. Und zwar mit einem riesigen verbalen Hammer.
 

»…Nekoma.«
 

Tooru hätte beinahe lauthals protestiert, aber er biss sich stattdessen heftig auf die Unterlippe und ballte seine Hände zu Fäusten. Er konnte beinahe spüren, wie sich Iwa-chans Blick in Toorus rechte Gesichtshälfte bohrte, aber er starrte stattdessen voller Empörung ihren Coach an. Wusste dieser Einfaltspinsel denn nicht, dass Nekoma ein mittelmäßiges Team mit einem ganz und gar abscheulichen Kapitän war, das ihre Aufmerksamkeit in etwa so sehr verdiente wie ein Stück Kaugummi unter einer Schuhsohle? Oikawa atmete tief ein und aus. Vier Tage lang Training mit Nekoma. Die Götter oder das Schicksal oder wer auch immer für ihn verantwortlich war hatte beschlossen, ihm breit grinsend einen Mittelfinger zu zeigen und Tooru fühlte sich ausgesprochen schlecht behandelt.
 

Der Rest des Trainings verging in einem Schleier aus schlechter Laune und verschiedenen Vorstellungen darüber, wie er Kuroo begrüßen würde, wenn er ihn wiedersah. Es war nicht so, als hätten sie sich in den letzten Jahren nie gesehen. Tatsächlich hatte es bereits die ein oder andere Begegnung auf Volleyballfeldern gegeben und abgesehen davon, dass Kuroo eine absolut unausstehliche Persönlichkeit hatte, war sein Volleyballstil etwas, das Tooru regelmäßig auf die Palme brachte.
 

»Na? Meinst du, du schaffst es dieses Mal, Kuroo-san zu schlagen?«, erkundigte sich Iwa-chan beinahe scheinheilig bei ihm und Tooru schenkte ihm ein zuckersüßes, falsches Lächeln.
 

»Iwa-chan, meinst du, du schaffst es diesmal, ein paar Schmetterbälle an Kuroos Blocks vorbeizubekommen, oder sollen wir noch ein bisschen üben, bevor es losgeht?«
 

Es war vorhersehbar gewesen, dass er dafür direkt wieder im Schwitzkasten landete, aber Tooru war ohnehin viel zu sehr damit beschäftigt, sich Strategien auszudenken, um Nekoma endlich zu schlagen. Die Wahrheit war nämlich, dass Kuroo Tetsurou ganz und gar kein schlechter Volleyballspieler war, wie Tooru damals vor acht Jahren angenommen hatte. Vielleicht war er zu irgendeinem Zeitpunkt einmal schlecht gewesen. Aber mittlerweile war er genauso ein aufmerksamer Beobachter und Pläneschmieder geworden, wie Tooru es selbst war, und das ärgerte ihn maßlos. Und nicht nur das, auch der Setter von Nekoma – oder auch Puddingkopf, wie Tooru ihn gerne insgeheim nannte – war einer von diesen entnervend aufmerksamen Beobachtern, die dann Strategien entwickelten, um das andere Team in ihrer Spielweise zu untergraben.
 

Tooru spielte selbst gerne auf diese Art, aber wenn man plötzlich selbst mit einer solchen Technik konfrontiert wurde, machte es nur noch halb so viel Spaß. Er würde trainieren bis zum Umfallen und Kuroo sein beklopptes Grinsen aus dem Gesicht wischen.
 

*
 

Es schien ganz so, als wolle Kuroo Tetsurou ihn absichtlich auf die Palme bringen. Es flog kein einziger Volleyball mehr gegen Toorus Fenster, dafür aber regelmäßig kleinere Steinchen. Und immer, wenn Tooru das Fenster aufriss, um empört nach draußen zu rufen, dass Kuroo diesen Unfug sein lassen sollte, dann war er bereits verschwunden. Wahrscheinlich versteckte er sich einfach hinter der Hecke, die ihre Grundstücke trennte. Tooru hätte nicht übel Lust gehabt, auf irgendeine Art und Weise Vergeltung zu üben, aber ihm fiel nichts ein.
 

Lieber Iwa-chan,
 

ich habe heute einen Frosch im Garten gefunden, aber ich hatte keine Lust, ihn zu fangen. Mein Nachbar ist ein Alptraum, er wirft dauernd Steine gegen mein Fenster. Wahrscheinlich, weil ich ihm gesagt habe, dass er schlecht Volleyball spielt. Aber besser, er lernt das jetzt als später. Ich bin wahrscheinlich schon völlig aus der Übung geraten. Ich hab meinen Volleyball im Schrank versteckt. Mama fragt dauernd, ob ich nicht mit Kuroo spielen will. Aber mit dem spiele ich ganz bestimmt nicht. Wie läuft es mit deinem Training im Club?
 

Tooru
 

Tooru faltete den Brief und steckte ihn in einen Umschlag. Er hatte einen ganzen Vorrat an Briefumschlägen auf seinem Schreibtisch liegen. Bislang hatte er acht Briefe an Iwa-chan geschickt und Iwa-chan hatte ihm fünf Briefe zurückgesendet. Der letzte Brief, der aus seiner Heimat gekommen war, lag geöffnet auf dem Schreibtisch.
 

Lieber Tooru,
 

ich habe keine Frösche gefangen, seit du weg bist. Den letzten, den wir gefangen haben, hab ich freigelassen. Er sah ganz unglücklich aus in seinem Glas. Hast du mittlerweile all deine Umzugskartons ausgepackt? Ohne dich macht Volleyball keinen Spaß, auch wenn ich trotzdem weiter übe. Ich bin dem Volleyballclub an unserer Schule beigetreten. Dein Nachbar klingt bescheuert. Aber vielleicht kannst du trotzdem mit ihm Volleyball spielen. Ein bisschen Übung ist schließlich besser als keine Übung. Du musst ihn ja nicht mögen. Wenn du nicht übst, dann hänge ich dich ab!
 

Hajime
 

Tooru hatte den Brief drei Mal gelesen. Iwa-chan war einem Volleyballclub beigetreten. Es war nicht so, als könnte Tooru das hier nicht auch, aber dann wäre seine Mutter zufrieden und er wollte sie dafür bestrafen, dass er sie hierher geschleppt hatte. Mit Kuroo hingegen könnte er heimlich üben, ohne dass seine Mutter sich darüber freute. Wenn er sagte, dass er spazieren gehen wollte… Er wollte auf keinen Fall hinter Iwa-chan zurückbleiben. Also schnappte er den Brief, klebte eine Marke darauf – seine Mutter hatte ihm eine ganze Menge davon besorgt, und Tooru hatte dieses Versöhnungsgeschenk ohne Dank angenommen – und schlüpfte in seine Turnschuhe, um das Haus zu verlassen.
 

»Wo gehst du hin, Tooru?«
 

»Zum Briefkasten.«
 

»Bleib nicht zu lang draußen!«
 

Tooru ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und machte sich auf den Weg zum Briefkasten. Er dachte an den freigelassenen Frosch und den Volleyball in seinem Schrank und an die unausgepackten Umzugskartons und stopfte den Brief etwas heftiger als nötig in den Schlitz des Briefkastens, bevor er kehrtmachte und so schnell er konnte die Straße hinunter lief, die er gerade heraufgekommen war. Vorm Gartentor der Familie Kuroo blieb er stehen und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. Er hatte Kuroo beleidigt und ihm gesagt, dass er niemals mit ihm spielen würde. Wenn er es sich jetzt anders überlegte, dann müsste er eingestehen, dass er Unrecht gehabt hatte, und das wollte Tooru eigentlich nicht. Während er noch so dastand und nachdachte und die Haustür anstarrte, flog ein Volleyball auf ihn zu und traf ihn am Kopf.
 

»Au!«
 

Ein Lachen, das verdächtig nach dem einer Hyäne klang, ertönte und Tooru hielt sich seine blutende Nase. Wütend starrte er Kuroo an, der mit seinen ungekämmten Haaren neben der Hausecke stand und ihn und seine blutende Nase auslachte. Tooru hatte nicht übel Lust, ihn zu schlagen.
 

»Wenn du nicht übst, dann hänge ich dich ab.«
 

Tooru konnte Iwa-chans Stimme in seinem Kopf hören, auch wenn er den Satz eigentlich nur in einem Brief gelesen hatte. Tooru bückte sich und hob den Volleyball auf, wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und starrte Kuroo wütend an.
 

»Wetten, dass ich viel besser in Volleyball bin, als du?«
 

Kuroo grinste und streckte ihm die Zunge heraus.
 

»Wetten nicht?«
 

Tooru öffnete das Gartentor und ließ es hinter sich zufallen. Kuroo grinste immer noch, aber Tooru würde ihm das dämliche Grinsen schon vom Gesicht wischen. Warte nur, Iwa-chan, dachte er bei sich, ich bleibe ganz bestimmt nicht hinter dir zurück.
 

*
 

»Oikawa-san, du bist sogar noch gruseliger als sonst«, sagte Kunimi zu ihm. Sie trainierten seit zwei Stunden und morgen war der Tag, an dem ein Bus sie nach Tokyo bringen würde, damit sie mit Nekoma ein Trainingscamp abhalten konnten. Tooru hatte seit Tagen kaum etwas anderes gemacht, als seine Aufschläge zu trainieren, und Iwaizumi hatte ihn mehrmals aus der Halle schleifen müssen, um ihn von weiterem Training abzuhalten. Sein Knie war Iwa-chan vermutlich dankbar, aber Tooru hatte keine Zeit, von seinem besten Freund bemuttert zu werden, er musste seinen Aufschlag perfektionieren, um Kuroo sein dämliches Grinsen aus dem Gesicht zu schmettern.
 

»Das liegt daran, dass Shittykawa noch nicht einmal gegen Nekomas Kapitän gewonnen hat, und er ist verbittert deswegen«, erklärte Iwa-chan nüchtern und Kunimi und Kindaichi sahen vollkommen unnötigerweise beeindruckt aus, weil sie sich Kuroo als wahnsinnig guten Volleyballspieler vorstellten. Tooru wäre Iwa-chan am liebsten an die Gurgel gegangen. Er war nicht verbittert, er war angemessen motiviert, sich zu verbessern. Und Kuroo einen Schmetterball ins Gesicht zu hämmern. Da war nichts Verbittertes zu entdecken.
 

»Also ist Nekoma eine sehr gute Mannschaft?«, erkundigte sich Kindaichi.
 

»Nein!«, blaffte Tooru im selben Moment, wie Iwa-chan »Ja« sagte. Tooru hätte sich gerne die Haare gerauft. Aber dann würde seine Frisur am Ende noch aussehen wie die von Kuroo und das war definitiv das Letzte, was er wollte. Er starrte Iwa-chan finster an und wandte sich dann ab, um weiter seine Aufschläge zu üben. Nekoma waren Experten auf dem Gebiet der Annahmen und Tooru wollte ihnen die Parade verhageln.
 

Iwa-chan sagte, dass er besessen von Kuroo war, aber das war unsinnig. Es war schließlich nicht Toorus Schuld, dass Kuroo alle Menschen in seinem Umfeld so sauer machte. Mit seinem dummen Grinsen und seinen Haaren und seinen drei Zentimetern, die er größer war als Tooru. Tatsächlich verbrachte Tooru die halbe Nacht vor ihrer Abfahrt damit, sich über Kuroo zu ärgern, was dazu führte, dass er am nächsten Morgen unausgeschlafen und sogar noch missgelaunter war als am Tag zuvor. Er schlief stattdessen im Bus auf Iwa-chans Schulter und entging so all den Kritiken, die Iwa-chan zweifellos auf der Zunge lagen, nachdem er Toorus Augenringe gesehen hatte.
 

Tooru hatte bemerkt, dass seine Teamkollegen etwas nervös wirkten. Nachdem Iwa-chan verkündet hatte, dass Tooru noch nie gegen Kuroo gewonnen hatte, schienen sie alle zu denken, dass Nekoma ein unbesiegbarer Gegner war. Aber es waren immerhin nur ein paar Trainingsspiele und wenn sie sich irgendwann bei den Nationalmeisterschaften treffen würden, konnte sein Team sich heute ein gutes Bild davon machen, was sie erwartete. Nicht, dass Tooru glaubte, dass Nekoma gut genug für die Nationalmeisterschaften wäre.
 

Als sie aus dem Bus ausstiegen, wurden sie direkt von der gegnerischen Mannschaft begrüßt. Tooru, der ganz hinten im Bus gesessen hatte, stieg als Letzter aus und seine Augen fanden Kuroo sofort. Er war anscheinend nicht mehr der größte seines Teams, sondern wurde von einer schlaksigen Bohnenstange um gute zehn Zentimeter überragt. Das war allerdings auch das einzig Tröstliche an dem Bild, das sich ihm bot, denn Kuroos schiefes Grinsen war genauso empörend wie schon vor acht Jahren und sein Haar war vielleicht sogar noch ein wenig unordentlicher geworden. Er schaute Tooru an und zwinkerte ihm zu allem Überfluss auch noch zu.
 

Tooru strich sich mit einer lässigen Handbewegung die Haare aus dem Gesicht, reckte das Kinn und lächelte Kuroo so herablassend wie möglich an.
 

»Benimm dich«, knurrte Iwa-chan neben ihm und im nächsten Moment drückte Iwa-chan schon auf seinen Kopf und zwang Tooru so in eine Verbeugung.
 

»Danke für die Einladung!«, sagten seine Teamkollegen einstimmig und Tooru fühlte sich wie ein kleines Kind, das gerne strampeln und schreien wollte, weil es keine Karotten essen möchte. Er wollte sich nicht vor Kuroo verbeugen. Als er sich wieder aufrichtete, hatte Kuroo zu seiner grenzenlosen Empörung den Blick von ihm abgewandt und sprach mit Puddingkopf. Es würden lange vier Tage werden.
 

*
 

»Oi! Tooru! Willst du Schmetterbälle üben?«
 

Tooru wollte eigentlich gerne so tun, als hätte er die Stimme, die unten aus dem Garten zu seinem Fenster herauf schwebte, nicht gehört. Aber in seinen Fingern kribbelte es auch gewaltig. Er hatte seit mehreren Tagen kein Volleyball mehr gespielt. Seine Mutter hatte selbstverständlich längst mitbekommen, dass Tooru seit mehreren Monaten mit dem Nachbarsjungen »spielte«, da sie auf bestem Fuße mit Kuroos Mutter stand und die beiden sich regelmäßig zärtlich darüber ausließen, wie schön die beiden miteinander Volleyball übten. Tooru hatte vergeblich versucht, seine Bekanntschaft zu Kuroo geheim zu halten, aber es war ihm nicht gelungen.
 

Er zwang sich, auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben, und starrte auf das Papier, das er gerade beschrieb.
 

»Tooru! Ich weiß, dass du mich hören kannst! Oder hast du Angst, dass ich deine Schmetterbälle wieder blocke?«
 

Das war des Guten zu viel. Tooru stand abrupt auf, sodass sein Stuhl beinahe nach hinten über kippte, und er stürmte zum Fenster.
 

»Du hast überhaupt nicht alle meine Schmetterbälle geblockt!«, blaffte er aus dem Fenster. Kuroos breit grinsendes Gesicht mit den bescheuerten Haaren blickte ihm entgegen. Tooru hasste Tokyo immer noch.
 

»Kommst du runter?«, fragte Kuroo verschmitzt und Tooru fragte sich, wieso sein Nachbar so ein nerviger, eingebildeter Wischmopp sein musste. Er hatte Iwa-chan bereits in sechs Briefen alles von Kuroo berichtet, was ihm auf die Nerven ging, und Iwa-chan tat sein Bestes, um Tooru aufzumuntern, aber Kuroo war einfach zu nervig, als dass irgendjemand Tooru diesbezüglich hätte aufmuntern können. Lediglich das Wissen, dass Iwa-chan zu Hause ebenfalls weiter trainierte, brachte Tooru dazu, sich weiter mit Kuroo abzugeben.
 

Tooru antwortete nicht und machte das Fenster zu. Er zählte bis zwanzig und erst dann ging er so langsam wie möglich nach unten und hinaus in den Garten, wo Kuroo immer noch stand und angefangen hatte, sich die Zeit mit Pritsch-Übungen zu vertreiben.
 

»Wenn du beim Spielen auch so langsam bist, dann kriegst du nie einen Schmetterball an mir vorbei!«
 

Tooru schnappte Kuroo den Ball weg und stapfte an ihm vorbei in Richtung der Wäscheleine, die sie als Volleyballnetz benutzten. Kuroos Mutter hatte mehrere Tücher darüber gehängt, sodass klar ersichtlich war, ob der Ball über oder unter der Leine hindurch gegangen war. Tooru hätte gerne einmal auf einem richtigen Volleyballfeld trainiert, aber bis er wieder zurück zu Hause war, musste er sich wohl damit begnügen.
 

»Und? Hasst du Tokyo immer noch?«, wollte Kuroo wissen, während er seine Position auf der einen Seite der Wäscheleine einnahm. Tooru schnaubte. Irgendwo in der Nähe der Terrassentür hörte er leise Videospielmusik. Wahrscheinlich hockte Kenma wieder auf der Treppe und spielte mit seiner komischen Konsole. Meistens ließ er sie beide alleine Volleyball spielen und ließ sich nur selten von Kuroo dazu überreden, für sie Bälle zu werfen oder gar selbst mitzuspielen. Tatsächlich verstand Tooru nicht wirklich, wieso Kuroo mit Kenma befreundet war – und andersrum. Er wollte schließlich auch nicht wirklich mit Kuroo reden, also konnte er es Kenma nicht übel nehmen.
 

»Sicher. Es ist ja immer noch hässlich und zu groß«, murrte Tooru ungehalten. Kuroo warf ihm einen Ball zu und begab sich dann in Position zum Blocken. Er grinste breit über Toorus Antwort.
 

»Aber es muss ja auch ein paar gute Sachen geben.«
 

»Nein.«
 

»Volleyballspielen zum Beispiel.«
 

»Das würde ich lieber zu Hause machen. Mit Iwa-chan.«
 

»Kann Iwa-chan auch so gut blocken wie ich?«
 

»Er ist jedenfalls nicht so ein eingebildeter Wischmopp wie du!«
 

Kuroo lachte. Sein Lachen klang immer noch wie das einer Hyäne und Tooru schnaubte verächtlich. Der Ball kullerte davon, während Kuroo sich vor Lachen auf dem Gras wälzte, weil Tooru ihn einen Wischmopp genannt hatte. Eigentlich hatte das eine Beleidigung sein sollen, deswegen verschränkte Tooru schmollend die Arme vor der Brust und schob die Unterlippe vor, während er Kuroo beobachtete. Das Lachen war ansteckend, aber er wollte nicht mit Kuroo lachen.
 

Gegen seinen Willen spürte er, wie seine Mundwinkel sich nach oben bogen, und er biss sich sogar auf die Unterlippe, um es aufzuhalten, aber schließlich betrog ihn sein Körper und stieß ein unterdrücktes, schnaubendes Lachen aus, das Kuroo dazu brachte, ihn vom Boden herauf anzusehen. Er hatte Tränen in den Augen vor lauter Lachen und Tooru befand, dass er noch nie jemanden gesehen hatte, der blöder aussah als Kuroo.
 

»Du kannst ja doch lachen«, prustete Kuroo und Tooru hielt sich entschlossen den Mund zu, aber es half alles nichts. Nach fünf Minuten lagen sie nebeneinander im Gras und schauten hoch in den Himmel.
 

»Die Wolke da sieht aus wie ein Volleyball«, sagte Kuroo.
 

»Sie ist rund. Es könnte auch jede andere Ballsorte sein.«
 

»Sei kein Spielverderber. Oh, die da hinten sieht aus wie deine schmollende Unterlippe!«
 

»Hey! Ich schmolle nicht!«
 

»Tust du wohl!«
 

»Tja, die da sieht aus wie dein blöder Wischmoppkopf!«
 

Kuroo lachte wieder und Tooru beobachtete ihn von der Seite. Vielleicht hasste er Tokyo ein bisschen weniger als am Anfang. Nur ein bisschen.
 

*
 

»Man könnte fast meinen, dass ihr eure jeweiligen Spezialisierungen einander angepasst habt«, sagte Iwa-chan unbeeindruckt von Toorus schlechter Laune, als sie auf dem Volleyballfeld standen und Nekoma im ersten Set dieses Trainingscamps gegenüberstanden. Tooru beschloss, dass er diesen Kommentar nicht mit einer Antwort belohnen wollte, und drehte den Ball entschlossen in seinen Händen. Er hatte stundenlang, tagelang, wochenlang diesen Aufschlag geübt und ihn fast bis zur Perfektion gebracht und er würde jetzt feiern, sobald er Kuroos dummen Gesichtsausdruck sehen würde, wenn er ein Aufschlag-Ass schaffte. Und noch eines. Und noch eines.
 

Es stand 15 zu 12 für Seijoh.
 

Oikawa warf den Ball in die Höhe, nahm Anlauf und schmetterte ihn mit aller Kraft in Kuroos Richtung. Er hatte sich nicht einmal vorgenommen, Kuroo zu treffen, aber der Ausdruck auf seinem sonst so lässigen Gesicht, als der Ball gegen seine Unterarme schlug und vom Feld rollte, war unbezahlbar. Tooru grinste zufrieden und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
 

Auch Kuroo grinste jetzt. Es war immer noch das scheußlichste Grinsen, das Tooru jemals gesehen hatte. Womöglich nur, weil Ushiwaka niemals grinste, aber das waren definitiv Gedanken, die er sich jetzt nicht machen sollte. Er nahm den nächsten Ball, starrte Kuroo herausfordernd an, während er den Ball in den Händen drehte, und nahm erneut Anlauf.
 

Der Ball schoss erneut ins Aus, nachdem er Kuroos Arme berührt hatte, aber Kuroo hatte ihn dieses Mal bereits besser angenommen als beim ersten Mal. Tooru schnaubte verächtlich.
 

»Sorry!«, sagte Kuroo an seine Teamkollegen gerichtet und kratzte sich scheinbar verlegen den Hinterkopf. Als er Tooru wieder ansah, verpasste die freudige Erwartung in seinem Blick Tooru einen… Stich? Nein. Es fühlte sich mehr an wie das Gefühl, das man hatte, wenn man eine Stufe treppabwärts verpasste. Tooru war nicht bereit, sich näher damit zu beschäftigen, also versuchte er einfach, gar nichts zu denken, warf den dritten Ball in die Luft und ließ ihn über das Netz donnern – direkt auf Kuroo zu und der… trat rasch zur Seite.
 

»Aus!«, rief er. Tooru biss sich auf die Unterlippe.
 

»Kein Problem!«, riefen ihm seine Teamkollegen zu. Tooru fand, dass es durchaus ein Problem war – er hätte lieber noch zwei, drei mehr Punkte von Nekoma bekommen und Kuroo vor seiner Mannschaft blamiert. Kuroo war allerdings nicht das einzige Problem. Puddingkopf schien kein allzu schlechter Setter zu sein und Tooru hätte es der kleinen, schmächtigen Bohnenstange niemals zugetraut, aber es wirkte eindeutig so, als wäre seine Fähigkeit zu beobachten und Strategien zu entwerfen der von Tooru ebenbürtig. Was er selbstredend niemals laut sagen würde. Nekoma war eine höchst unangenehme Mannschaft.
 

Tooru war so verbissen darauf, zu gewinnen, dass all seine Anspannung letztendlich dazu führte, dass sie das erste Spiel zwei zu eins verloren. Kuroo war von seinen lachenden und zufriedenen Teamkameraden umgeben und tätschelte Kenmas Puddingkopf. Tooru hätte sie beide am liebsten gewürgt.
 

»Im nächsten Spiel kriegen wir sie!«, sagte Kindaichi. Tooru kommentierte diese optimistische Prognose nicht, vor allem da Kuroo gerade unter dem Netz hindurch und auf ihn zukam. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, was allerdings nicht verhinderte, dass Kuroo immer noch elende drei Zentimeter größer war als Tooru. Das Leben war doch ungerecht. Schlimmer wäre es nur noch, wenn Kuroo auch so ein verdammtes Genie gewesen wäre wie Kageyama Tobio. Aber immerhin davon war er verschont geblieben.
 

»Beeindruckender Aufschlag, Oikawa«, sagte Kuroo grinsend. Tooru stemmte die Hände in die Hüften und pustete sich so lässig und unbeeindruckt wie möglich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
 

»Nächstes Mal werd ich noch ein paar mehr Aufschlag-Asse machen, Kuroo-chan«, sagte er mit sanfter, herausfordernder Stimme. Er spürte förmlich, wie die Erstklässler im Team schluckten und ein wenig zurückwichen. Kuroo grinste lediglich sein dämliches Grinsen.
 

»Selbst wenn ich den Aufschlag nicht kriege… wir haben auch noch andere gute Mitglieder, musst du wissen.«
 

»Oh? Wenn du es mir nicht gesagt hättest, dann wäre es mir überhaupt nicht aufgefallen.«
 

Er spürte einen Schlag auf den Hinterkopf und rieb sich die schmerzende Stelle.
 

»Tut mir Leid, Kuroo, ich weiß nicht, ich glaube, er ist mit dem Hintern zuerst aufgestanden«, knirschte Iwa-chan, der fiese Verräter und presste Tooru eine Hand auf den Mund, bevor er etwas Schneidendes erwidern konnte. Kuroo winkte ab, als würde Tooru ihn vollkommen kalt lassen, was Tooru wiederum noch mehr zur Weißglut brachte.
 

»Kein Problem. Ich weiß ja, wie… empfindlich… er ist«, meinte Kuroo und stolzierte lachend davon, als Tooru sich von Iwa-chan losriss, um Kuroo den Hals umzudrehen. Er spürte alle Blicke auf sich und auch, dass er rot geworden war – eine Tatsache, die ihn ungeheuer ärgerte. Normalerweise war er derjenige, der andere Leute so lange stichelte und piesackte, bis sie wütend und unvorsichtig wurden, aber bei Kuroo hatte diese Strategie nie funktioniert. Im Gegenteil war Kuroo immer derjenige gewesen, der Tooru mit seiner Art auf die Palme gebracht hatte.
 

*
 

»Weißt du, Tooru…«
 

»Hm?«
 

»Eigentlich kann ich dich gut leiden.«
 

»Ich dich kein bisschen.«
 

»Ha! Lügner.«
 

*
 

Tooru hatte Kuroo selbstverständlich häufiger gesehen als nur während dieses einen Jahres in Tokyo. Seine Mutter und Kuroos Mutter waren immer noch gut befreundet und seine Mutter hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren Sohn jedes Mal mit nach Tokyo zu schleifen, solange er sich noch nicht dagegen wehren konnte. Und natürlich hatten sie einige Male Volleyball gegeneinander gespielt, aber noch nie in dieser Konstellation.
 

Von vier Spielen, die sie allein heute gespielt hatten, hatte Seijoh lediglich eines gewonnen. Wie Coach Irihata gesagt hatte, war Nekoma ein sehr ungünstiges Match für sie. Als hätte Tooru das nicht bereits selbst gemerkt. Das eine gewonnene Spiel hatte er kaum feiern können, auch wenn all seine Teamkollegen es als Erfolg verbucht hatten. Kuroo hockte vermutlich gerade irgendwo und lachte sich ins Fäustchen. Und dieser Libero… war beinahe so schlimm wie Nishinoya von Karasuno. Er war definitiv nicht so laut, was ihn sympathischer wirken ließ.
 

Tooru war auf dem Weg zu den Umkleiden, als er Licht am Ende des Ganges sah. Er war spät dran und hatte noch später als seine Teamkollegen seinen Aufschlag trainiert. Dass noch irgendjemand hier war, wunderte ihn.
 

»Warum genau muss ich dir Gesellschaft leisten, während du auf Oikawa-san wartest?«
 

Tooru blieb abrupt stehen und lehnte sich im Dunkeln an die nächste Wand. Lauschen war nicht unbedingt die feine Art, aber wenn schon einmal sein Name fiel, dann konnte er nicht widerstehen.
 

»Weil ich mich sonst langweile«, erwiderte Kuroo und Tooru konnte hören, wie Kuroo seine Stimme gleichgültig klingen lassen wollte. Interessant. Es war nicht unbedingt so, dass Tooru meinte, Kuroo gut zu kennen. Aber er war nun einmal ein guter Beobachter und in all den Jahren der kurzen und streitreichen Treffen hatte er Kuroo sehr genau beobachtet.
 

»Das ist mir eigentlich ziemlich egal«, sagte Kenma in seinem ruhigen, nuschelnden Ton. Tooru hörte das Klicken von Tasten und wusste, dass Kenma nebenbei eins seiner Spiele spielte.
 

»Ist es nicht auch egal, wo du Monsterhunter spielst? Es kann auch genauso gut hier sein.«
 

Tooru fragte sich gerade, wieso er eigentlich hier stand und die Luft anhielt und war gerade im Begriff, sich von der Wand zu lösen und kehrtzumachen, um zur Herberge zurückzukehren, als…
 

»Wenn du Oikawa-san sagst, dass du ihn magst, muss ich wirklich nicht hier sein und deine Hand halten. Ich warte jetzt schon seit zwei Jahren darauf, dass du dich endlich zusammenreißt.«
 

Tooru war sich nicht sicher, ob er Kenma jemals so viele Worte an einem Stück hatte reden hören, aber angesichts der Worte, die langsam aber sicher einen Sinn in seinem Kopf ergaben, verlor diese Frage rasant an Bedeutung.
 

»…dass du ihn magst…«
 

Tooru hörte durch ein peinlich heftiges Hämmern seines Herzens, wie Kenma aufstand und sich seine Tasche über die Schulter warf. Hastig sah Tooru sich nach einem Ort um, an dem er sich verstecken konnte, aber da war Kenma bereits in den dunklen Gang getreten und schaute ihn aus seinen leicht apathisch dreinblickenden Katzenaugen mit schief gelegtem Kopf an. Zu Toorus grenzenloser Erleichterung sagte er nichts, schob sich die Tasche ein wenig höher die Schulter hinauf und drehte sich um, um davonzugehen. Tooru wog seine Möglichkeiten ab. Er könnte in seinen Sportklamotten zurück zur Herberge laufen, sich dabei wahrscheinlich eine Erkältung einfangen und dann eine Erklärung erfinden müssen, wieso er sich nicht geduscht und umgezogen hatte. Außerdem würde Iwa-chan dann vermutlich sein geschwollenes Knie sehen, das er vielleicht oder auch sehr wahrscheinlich bei seinem Training zu stark beansprucht hatte.
 

Die andere Variante war, in die Umkleide zu gehen und so zu tun, als hätte er nichts gehört. Dann wiederum hatte er noch nie so sehr die Oberhand über Kuroo gehabt wie in diesem Moment. Eine Stimme, die sehr nach Iwa-chan klang, verkündete ihm schnaubend, dass dies das Mieseste sei, was Tooru jemals gedacht hatte, aber Tooru schob den Gedanken beiseite, atmete einmal tief durch und betrat die Umkleide.
 

Kuroo lehnte an einer der Wände und sah aus, als würde er sehr tiefgründig nachdenken. Als Tooru eintrat, blickte er auf und das übliche schiefe Grinsen machte sich auf seinem beknackten Gesicht breit. Als er allerdings Toorus Knie bemerkte, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck. Tooru beschloss, dass er Kuroo keine Gelegenheit dazu geben wollte, sich über seine Unvernunft auszulassen, also zog er kurzerhand sein Shirt über den Kopf und warf es in Richtung seiner Tasche. Wenn er nicht vorher gehört hätte, was Kuroo und Kenma besprochen hatten, dann wäre ihm das kurze Flackern in Kuroos Blick vielleicht entgangen.
 

Tooru beschloss, alle Karten offen auf den Tisch zu legen.
 

»Ich hab gehört, du wolltest mit mir sprechen?«, sagte er scheinheilig und fing an, in seiner Tasche herumzukramen. Stille antwortete ihm. Tooru riskierte einen Blick hinüber zu Kuroo, der immer noch an der Wand lehnte und den Kopf schief gelegt hatte.
 

»Gehört? Von wem?«, fragte Kuroo und seine Stimme war sehr sorgfältig gefüllt mit Gleichmut. Tooru hätte beinahe geschnaubt.
 

»Von dir und Kenma. Ich war gerade auf dem Weg hier rein, kurz bevor Kenma gegangen ist.«
 

Über Kuroos Gesicht wanderten verschiedene Gefühle und Tooru erfreute sich kurz daran, dass Kuroos Kontrolle ihn für ganze zwei Sekunden verlassen zu haben schien. Er schlüpfte aus seinen Shorts und verzog kurz das Gesicht angesichts des Schmerzes, der durch sein Knie zuckte.
 

»Du hast dein Knie nicht geschont«, kommentierte Kuroo. Tooru schnaubte. Er wollte nicht über sein Knie reden. Er wollte, dass Kuroo vor Verlegenheit und Scham im Boden versank, weil Tooru gehört hatte, was er und Kenma besprochen hatten.
 

»Verfluchtes Knie«, grollte er ungehalten. Kuroo stieß sich von der Wand ab und kam zu ihm herüber. Tooru bemerkte kaum, wie er den Atem anhielt, während er sehr konzentriert und unnötig lange in seiner Tasche herumwühlte, um seine Klamotten herauszuholen.
 

»Ehrlich gesagt macht es nichts, dass du das gehört hast«, sagte Kuroo im Plauderton und blieb neben ihm stehen. Tooru richtete sich auf und setzte ein zuckriges Lächeln auf.

»Ist das so?«, gab er zurück. Es hatte definitiv nicht nach egal ausgesehen, als Tooru es ausgesprochen hatte.
 

Kuroo antwortete nicht, sondern starrte Tooru an. Wieso konnte sein Körper ihm nicht besser gehorchen? Sein Knie puckerte vor Schmerz, sein Herz klopfte definitiv zu laut, und seine verräterischen Augen huschten hinunter zu Kuroos Mund. Warum zum Teufel musste er seinen ersten Kuss von Kuroo Tetsurou bekommen haben?
 

*
 

Lieber Iwa-chan,
 

Tokyo ist auch nach acht Monaten noch fürchterlich. Aber ich denke, Kuroo macht es ein bisschen weniger fürchterlich. Sag ihm bloß nicht, dass ich das gesagt habe, sonst wird er unausstehlich sein. Er ist definitiv eingebildet genug.
 

*
 

Kuroo machte einen weiteren Schritt auf ihn zu und Toorus Fuß verhakte sich bei dem Versuch, zurückzuweichen in dem Tragegurt seiner Tasche. Ein heftiges Stechen im Knie, ein sehr unelegantes Rudern mit den Armen, und zwei Hände, die ihn so fest packten, dass es vielleicht blaue Flecken geben würde.
 

»Wer hätte gedacht, dass Oikawa Tooru an Türen lauscht«, murmelte Kuroo und seine Hände verweilten einen Moment länger als nötig auf Toorus Armen, nachdem er ihm geholfen hatte, festen Fuß zu fassen. Tooru weigerte sich, sich auf eine der Banken sinken zu lassen, weil er dann zu Kuroo hätte aufsehen müssen. Iwa-chans Stimme in seinem Kopf motzte ihn ungehalten an, aber Tooru hatte es nun jahrelang trainiert, sie zu ignorieren.
 

Kuroo ließ ihn los. Wenn Tooru sich nicht täuschte, huschten die dunklen Augen hinunter zu seinem Mund. Ungefähr eine Sekunde lang wallte Trotz in Tooru auf, der lauthals schrie: »Ich will meinen zweiten Kuss nicht auch noch von Kuroo Tetsurou bekommen!«, aber als Kuroo sich abwandte und zur Tür hinüberging, spürte Tooru eine peinliche Woge von Enttäuschung in sich aufwallen.
 

*
 

»Und, kommst du mal wieder her, um Volleyball zu üben?«, fragte Kuroo, der beobachtete, wie Tooru seinen Rucksack und seine Sporttasche die Treppe hinunter und zum Auto schleifte.
 

»Ganz sicher nicht. Ich hasse Tokyo immer noch!«, entgegnete Tooru und grinste. Kuroo grinste zurück.
 

»Irgendwann werde ich so gut, dass du keinen Ball mehr an mir vorbei bekommst!«
 

»Pah! Ich werde auch besser!«
 

Kuroo lachte und boxte Tooru gegen den Oberarm. Ihre Mütter standen beim Auto und luden gemeinsam die letzten Sachen ein. Kuroos Gesicht wurde ernst und er musterte Tooru eingehend.
 

»Es wird langweilig sein. Ohne dich.«
 

Tooru fuhr sich durchs Haar und hob die Schultern.
 

»Vielleicht wird es ohne dich auch ein bisschen langweilig«, gab er zu, was Kuroo wieder zum Grinsen brachte. Dann, ohne Vorwarnung, beugte Kuroo sich vor und drückte Tooru einen recht feuchten Kuss auf den Mund, ehe er lachend davonstob. Tooru wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
 

Es wurde wirklich Zeit, dass sie losfuhren.
 

*
 

Sein eigentlicher, wahnwitziger Plan war es gewesen, Kuroo aufzuhalten. Was genau er danach hätte anstellen wollen, wusste Tooru selbst nicht so genau, deswegen war es womöglich gut, dass sein Knie sich ihm in den Weg stellte und er so unelegant wie nur möglich zu Boden ging, nachdem er zwei Schritte getan hatte. Was immerhin dazu führte, dass Kuroo sich wieder umdrehte. So hatte Tooru sich das allerdings nicht vorgestellt.
 

»Alles in Ordnung?«
 

Kuroo sollte definitiv nicht neben ihm hocken und Toorus mittlerweile geschwollenes Knie anschauen. Er sollte überhaupt nicht sehen, dass Tooru irgendeine wie auch immer geartete Form von Schwäche zeigte, denn Kuroo zeigte schließlich auch nie Schwäche. Während Tooru sich auf die Unterlippe biss und sein Knie verfluchte, fragte er sich, was genau an Kuroo ihn eigentlich so wütend machte. Vielleicht war es die Tatsache, dass Kuroo kein Genie war und allein durch viel Training und Erfahrung so gut geworden war, dass Tooru nicht mehr als zwei seiner wiederum hart trainierten Aufschläge auf Kuroos Seite des Feldes hauen konnte. Vielleicht lag es daran, dass Tooru es gewöhnt war, Leute zu provozieren und ihre Schwächen zu besticheln und dass Kuroo sich von diesen Taktiken kein bisschen beeindrucken ließ. Ganz im Gegenteil sogar.
 

Er war in diese Umkleide gekommen, um Kuroo zum ersten Mal so richtig unter dem Daumen zu haben. Kuroo hatte ihm ungewollt eine Schwäche offenbart – und ob diese Schwäche nun gewisse Gefühle für Tooru waren oder nicht, spielte dabei keine… oder vielleicht nur eine ganz untergeordnete Rolle – und Tooru hatte diese Schwäche ausnutzen wollen. Stattdessen war er nun wieder derjenige, der Schwäche zeigte. Kuroo konnte den Spieß umdrehen. Tooru hasste es, wenn Leute ihn wegen irgendetwas in der Hand hatten. Es war ein Kontrollverlust und er…
 

»Gib mir dein Handy, ich ruf euren Trainer an.«
 

»Auf keinen Fall!«
 

»Sei nicht albern! So kannst du nicht bis zur Herberge laufen.«
 

»Wenn er das mitkriegt, darf ich morgen nicht spielen«, presste Tooru zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und Kuroo verstummte. Dann seufzte er.
 

»Na schön, Bakakawa«, murmelte Kuroo und im nächsten Augenblick hatte Tooru seine Klamotten im Schoß und Kuroo hielt sein Handy in der Hand.
 

»Hey! Was–«
 

»Zieh dich an, du kannst bei mir pennen«, sagte Kuroo und klang so lässig dabei, dass Tooru ihn am liebsten erwürgt hätte. Leider konnte er nicht aufstehen, also fing er umständlich an, sich auf dem kalten Boden hockend anzuziehen. Kuroo tippte unterdessen auf Toorus Handy herum.
 

Als Tooru aus seinem Kapuzenpulli auftauchte, blinzelte er und blickte einer sich ihm anbietenden Hand entgegen. Er zögerte einen winzigen Moment, dann griff er danach. Kuroos Finger waren warm und etwas rau und er zog ihn mit überraschend viel Kraft auf die Beine, ehe er in einer fließenden Bewegung Toorus Arm um seine Schultern schlang und dann wortlos mit dem Kopf Richtung Ausgang ruckte. Toorus Trainingstasche baumelte über Kuroos Schulter, die nicht mit Tooru besetzt war.
 

Tooru hatte beinahe vergessen, dass Kuroos Haus nicht weit entfernt von hier lag. Und das, obwohl Tokyo so riesig und hässlich war, dachte er mit einem Hauch von Bitterkeit still bei sich. Sie sprachen kein Wort, während Tooru neben Kuroo her hinkte. Sein Knie schmerzte und fühlte sich an, als wäre es auf die doppelte Größe angeschwollen. Außerdem spürte er überdeutlich Kuuros warme Hände auf seiner Hüfte und an seinem Handgelenk und einen sehr festen, muskulösen Körper direkt neben seinem, da ihre momentane Position sie dicht aneinander drängte.
 

Kenmas Stimme hallte in seinem Hinterkopf wider.
 

»Wenn du Oikawa-san sagst, dass du ihn magst, muss ich wirklich nicht hier sein und deine Hand halten. Ich warte jetzt schon seit zwei Jahren darauf, dass du dich endlich zusammenreißt.«
 

Sein Herz machte mehrere sehr unwillkommene Saltos und Tooru war so abgelenkt, dass er zu heftig auftrat und sein Bein ihn nicht halten wollte. Er fluchte unterdrückt.
 

»Ok, das reicht, ich nehm dich Huckepack«, murmelte Kuroo und achtete kein bisschen auf Toorus Proteste, sondern lud ihn sich wie einen Sack Mehl auf den Rücken, als wäre Tooru fünf Jahre alt und nicht in der Lage… nun. Wahrscheinlich war er wirklich nicht in der Lage. Aber die Tatsache, dass er Kuroo so hilflos ausgeliefert war, und sich abgesehen davon auch noch so eng bei ihm befand, machte Tooru nervös. Und er schätzte es kein bisschen, nervös zu sein.
 

Er war müde, er fühlte sich bloßgestellt und ausgeliefert und außerdem war es kalt. Mit einem unzufriedenen Geräusch ließ er seinen Kopf nach vorne kippen und auf Kuroos Schulter landen.
 

»Du bist ganz schön schwer«, sagte Kuroo.
 

»Halt die Klappe«, gab Tooru nuschelnd gegen Kuroos Schulter zurück. Ein leises Lachen antwortete ihm und dann spürte er, wie er vorsichtig heruntergelassen wurde, und er bemühte sich, auf seinem heilen Bein zu landen, um sich nicht noch mehr zu blamieren und vor Kuroo erneut einen Schwan hinzulegen.
 

Er erkannte das Haus und selbstverständlich auch das benachbarte Haus sofort. Es hatte sich kaum etwas verändert, bis auf einen neuen Anstrich in einem Sandton, den Tooru fragwürdig fand. Außerdem stand in seinem ehemaligen Garten nun eine Schaukel. Kuroo stützte ihn bis zur Haustür, bevor er aufschloss, seine Schuhe drinnen auszog und Toorus Tasche in die nächstbeste Ecke pfefferte.
 

»Meine Mutter ist nicht zu Hause«, informierte er Tooru beiläufig und Tooru ignorierte alle weiteren Saltos in seinem Brustkorb. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er noch nie wirklich in diesem Haus gewesen war. Sie hatten immer nur draußen im Garten gespielt und sich nie mit irgendetwas anderem als mit Volleyball beschäftigt. Die Wahrheit war, dass Tooru kaum Dinge über Kuroo wusste, die nicht mit Volleyball zu tun hatten. Und gleich würde er womöglich zum ersten Mal Kuroos Zimmer sehen. Es ging eine Treppe hinauf, für die Tooru peinlich lange brauchte, dann ein Stück einen schmalen Flur hinunter und dann stand er inmitten von Kuroos Zimmer.
 

Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.
 

Berge von Klamotten, Sportzeitschriften, Videospielen und allerlei Büchern lagen auf dem Fußboden, dem Bett und dem Schreibtisch verteilt. Es war ein recht großes Zimmer, aber man konnte kaum etwas von dem dunkelblauen Teppich erkennen. Eine Wand war gepflastert mit Postern von einigen Bands, die Tooru nur vom Namen her kannte, mit einigen Volleyballpostern und hier und da auch Bildern von Idols, von denen Tooru genauso wenig Ahnung hatte wie von den Bands. Es hingen auch einige Fotos dazwischen und auf den meisten davon waren Kuroo und seine Mannschaft oder Kuroo und Kenma zu sehen. Aber in einer Ecke direkt über dem zugemüllten Schreibtisch hing ein Foto von ihnen beiden, von dem Tooru nie gewusst hatte, dass es überhaupt existierte. Kuroos Mutter musste es geschossen haben.
 

Es zeigte Tooru, der einen Volleyball unter den Arm geklemmt hatte und anklagend auf Kuroo deutete, der sich vor Lachen den Bauch hielt. Es war eine erstaunlich zutreffende Abbildung ihrer gesamten… Beziehung. Oder Rivalität. Oder wie auch immer man es nennen mochte.
 

Die Tatsache, dass Kuroo ein Foto von ihnen beiden besaß und es an eine seiner Wände gehängt hatte, führte dazu, dass sich ein sehr merkwürdiges und unwillkommenes Kribbeln in Toorus ausbreitete.
 

»Was für ein Saustall«, sagte er bemüht geringschätzig und Kuroo lachte leise, während er mit einigen schnellen Bewegungen sein Bett freischaufelte, wodurch einfach noch mehr Dinge auf dem Fußboden landeten.
 

»Glaub ja nicht, dass ich für dich mein Bett neu beziehe. Hier. Mach’s dir bequem. Ich besorg dir eine Kühlpackung.«
 

Und mit diesen Worten verschwand Kuroo aus dem Zimmer und überließ es Tooru, noch weitere zwanzig Sekunden wie ein Volltrottel auf das Foto zu starren, bevor er schließlich zum Bett hinüber humpelte und sich darauf niederließ. Er war erschöpft genug vom Training und vom Weg hierher, dass er sich sogar hinlegte und versuchte, ganz normal zu atmen.
 

Kuroo mochte ihn.
 

Tooru lag in seinem Bett.
 

Kuroo hatte ein Foto von ihnen an seiner Wand hängen.
 

Kein Grund, deswegen die Nerven zu verlieren. Tooru fragte sich dumpf, was für eine SMS Kuroo von seinem Handy aus verschickt hatte, aber in Anbetracht der gerade aufgelisteten Tatsachen war diese Frage eher weniger wichtig. Er schloss die Augen und hielt sie geschlossen, als die Tür aufging und Kuroo wieder hereinkam. Tooru konnte förmlich fühlen, wie Kuroo im Türrahmen verharrte und ihn ansah, und Tooru musste sich sehr darum bemühen, seinen Atem ruhig zu halten.
 

Kuroo kam zu seinem Bett hinüber und dann senkte sich die Matratze, weil Kuroo sich darauf niederließ. Tooru beschloss, dass es für sein eigenes Seelenheil zu gefährlich war, sich schlafend zu stellen, also öffnete er die Augen und musste alles an Selbstbeherrschung aufbringen, als er Kuroos Blick begegnete und ihm zwei erstaunlich feurige Augen entgegenblickten. Aber schon im nächsten Moment hatte Kuroo sich abgewandt und zupfte an Toorus Hosenbein herum, um es nach oben zu schieben und das gerade geholte Kühlkissen darauf zu legen.
 

»Ich sollte duschen«, sagte Tooru matt. Kuroo zuckte mit den Schultern.
 

»Nachdem du drin geschlafen hast, muss ich das Bett sowieso neu beziehen.«
 

Tooru schlug mit einem Kissen nach ihm und Kuroo wich lachend aus.
 

»Das Bad ist direkt nebenan, da steht eine extra Zahnbürste und ich hab dir ein Handtuch rausgelegt. Du kannst mein Bett haben, ich penn unten auf der Couch.«
 

Kuuro machte Anstalten, sich zu erheben, und bevor Tooru sich Gedanken darüber machen konnte, was er eigentlich tat, hatte er seine Finger um Kuroos Handgelenk geschlossen und mit einem würdelosen »Uff« landete Kuroo halb neben und halb auf ihm auf der Matratze.
 

»Wer war dein zweiter Kuss?«, brummte Tooru und versuchte, so zu tun, als wüsste er genau, was er tat. Kuroo blinzelte verwundert und rutschte ein wenig hin und her, ehe er – als wäre es das normalste auf der Welt, der elende Bastard – sich gemütlich auf einem Ellbogen abstützte und Tooru interessiert musterte. Tooru hätte kotzen können angesichts all dieser Beherrschung.
 

»Hm… lass mich überlegen…«
 

Tooru buffte ihn mit der Faust gegen die Brust, woraufhin Kuroo wieder lachte.
 

»Ich würde sagen… ein Armleuchter namens Oikawa Tooru.«
 

Tooru wollte sich gerade über die Beleidigung beschweren und fragen, wer denn Kuroos erster Kuss gewesen war, – wahrscheinlich Kenma, aber Kinderküsse zählten nicht, verdammt noch mal! – als Kuroo sich vorbeugte und seine Lippen auf Toorus Mund presste. Toorus Gehirn schaltete sich aus und sein Körper reagierte instinktiv. Er gab ein absolut entwürdigendes Geräusch von sich und erwiderte den Kuss, als wäre sein Leben auf diesen einen Moment hin zugelaufen.
 

Wenn Kuroo überrascht über Toorus Enthusiasmus war, so ließ er sich nichts anmerken und drückte Tooru nach hinten in die Matratze, die sehr nach… nun ja. Kuuro roch. Der Geruch war erstaunlich benebelnd und Tooru würde diesen Gedanken mit ins Grab nehmen, aber Kuroo Tetsurou roch gut. Sehr gut sogar.
 

Finger vergruben sich in Toorus Haaren, eine Hand fand seine, die neben seinem Kopf auf dem Kopfkissen lag, und verhakte ihre Finger miteinander. So fühlte es sich also an, wenn man sich richtig küsste, dachte Tooru benommen. Lippen und Zungen und Finger, die sich am anderen festkrallten, und warme Körper, die sich aneinander pressten, als gäbe es kein Morgen mehr. Dumpf fragte er sich, wie lange er Kuroo unbewusst schon hatte küssen wollen, aber Kuroos Zunge war viel zu aufreizend, als dass er zu leistungsfähigem Denksport in der Lage gewesen wäre.
 

»Du kannst…«, krächzte er gegen Kuroos Lippen und ärgerte sich über seine verräterische Stimme. Aber als er die Augen öffnete und Kuroos glasigen Blick und die geröteten Wangen sah, wurde ihm klar, dass Kuroo genauso aufgewühlt war wie er selbst. Sein Herz machte einen Hüpfer. Das musste er öfter sehen. Kuroo Tetsurou sprachlos und mit feuchten Lippen und Rotschimmer auf den Wangen. Ha!
 

»Du kannst auch in deinem Bett bleiben«, endete er. Kuroo blinzelte, dann breitete sich zu Toorus Ärger das altbekannte Grinsen auf seinem Gesicht aus. Es verblasste etwas angesichts seiner glasigen Augen. Immerhin etwas.
 

»Kann ich das?«
 

»Halt die Klappe! Arroganter Mistkerl…«
 

»Vielleicht ist mir aber nicht danach, meine Klappe zu hmpf–«
 

Küssen war eine hervorragende Methode, um Kuroo zum Schweigen zu bringen. Er würde sie wahrscheinlich noch häufiger gebrauchen. Und so kam es, dass Tooru seinen zweiten, dritten, vierten, fünften… und noch einige mehr Küsse von Kuroo Tetsurou bekam. Aber er konnte nicht umhin, festzustellen, dass das weniger schlimm war als gedacht, da er selbst auch Kuroos zweiter, dritter, vierter…
 

»Wahrscheinlich hasse ich dich nicht so doll, wie ich dachte«, murmelte Tooru gegen Kuroos Mund. Kuroo lachte leise und vergrub sein Gesicht an Toorus Hals. Eine ganze Weile lang lagen sie so da, bis Kuroo schließlich die Lampe neben seinem Bett ausknipste. Keiner von ihnen machte sich die Mühe, noch einmal ins Bad zu gehen oder sich aus den Klamotten zu schälen. Tooru spürte sein Knie immer noch puckern, aber es ging bereits besser, da es weiterhin gekühlt und nicht mehr beansprucht wurde. Und um Iwa-chans saure Moralpredigt musste er sich erst am nächsten Morgen Gedanken machen.
 

Er schloss die Augen.
 

»Ich dich auch nicht.«

Das schlimmste Date

Im Nachhinein kann Yaku mit großer Sicherheit sagen, dass alles Kais Schuld ist.
 

Zugegebenermaßen kommt das selten vor—meistens ist Kuroo an allem Schuld. Und weil Yaku Kuroo sein Haupttalent nicht absprechen möchte—nämlich, an allem Schuld zu sein—gesteht er ihm eine Teilschuld zu, weil er Kais Wette angenommen hat.
 

»Ich glaube nicht, dass wir gegen Bokuto-sans Mannschaft gewinnen können«, hat Kai gesagt. Ganz nüchtern und sachlich. Kuroo war sofort darauf angesprungen.
 

»Was? Kai! Mit dieser Einstellung können wir einpacken, bevor wir die Nationalmeisterschaft überhaupt erreicht haben! Wir werden Bokuto in den Arsch treten und ihm großzügig Tempos reichen, wenn er heulend am Boden liegt!«
 

Yaku hat nicht geglaubt, dass sie Bokuto zum Weinen bringen können, aber sie haben seit ihrem letzten Aufeinandertreffen viel trainiert.
 

»Kuroo übertreibt mal wieder maßlos, aber ich denke, dass wir gegen Bokuto gewinnen können.«
 

Kai mustert sie beide und zuckt mit den Schultern.
 

»Ich will nur verhindern, dass ihr euch zu sehr in diese Sache reinsteigert. Es ist ein Trainingsspiel und wir sind nicht die einzigen, die seit dem letzten Mal trainiert haben.«
 

Kuroo hat die Arme vor der Brust verschränkt.
 

»Wetten, dass wir gewinnen?«
 

Yaku hat geschnaubt und den Kopf geschüttelt, aber Kais resigniertes Kopfschütteln hat Trotz in ihm ausgelöst. Nekoma ist ein gutes Team und Kai sollte nicht resignieren. Yaku hat dabei eventuell Kais nüchternen Realismus als ungerechten selbstsabotierenden Pessimismus abgestempelt, was… übertrieben gewesen sein mag.
 

»Das wette ich auch«, hat Yaku gesagt, weil er Kuroo in nichts nachstehen will und weil Kai zugeben sollte, dass sie eine faire Chance gegen Bokuto haben.
 

Die Augenbraue, die Kai nach dieser Verkündung hochgezogen hat, hätte Yaku vorwarnen sollen. Stille, höfliche Wasser sind tief. Das hätte er wissen sollen.
 

»Wenn ihr die Wette gewinnt, lade ich euch zum Essen ein«, hat Kai gesagt und gelächelt.
 

»Aw, yeah! Makrele umsonst«, hat Kuroo gerufen und sofort Kais Hand geschüttelt. Kuroo ist naiver, als Yaku ursprünglich angenommen hat.
 

»Irgh. Fisch«, hat Yaku gesagt, einfach um Kuroo zu ärgern.
 

»Wenn ich Recht behalte«, hat Kai gesagt, seine Stimme ganz ruhig. Yaku hätte an dieser Stelle schon den Braten riechen sollen. Nein, eigentlich schon viel früher. Schon, als Kai sich überhaupt darauf eingelassen hat, mit ihnen zu wetten. Kai wettet nie um irgendwas.
 

»Dann geht ihr beide auf ein Date.«
 

Yaku weiß noch, wie sich eine Stille über sie gesenkt hat, die im Angesicht von Kuroos und Yakus Anwesenheit im selben Raum eher ungewöhnlich ist.
 

»Was?«
 

»Was zum Henker, Kai? Wieso sollte ich mit Yakkun auf ein Date gehen?«
 

Yaku war noch nie vorher aufgefallen, wie beunruhigend Kais Lächeln sein kann.
 

»Dann stimmst du mir also doch zu, dass wir nicht gewinnen können?«
 

»Nein!«
 

»Dann kannst du ja auch einwilligen und es ist egal, worum wir wetten.«
 

Yaku hat gesehen, wie Kais unbestechliche Logik in Kuroos Kopf fruchtbaren Boden gefunden hat. Weil Kuroo nämlich ein Vollidiot ist. Dann wiederum hat Yaku sich ebenfalls bequatschen lassen—und er möchte lieber nicht darüber nachdenken, was das über ihn aussagt.
 

»Das ist natürlich richtig. Ha! Von mir aus!«
 

»Aber—«
 

»Yaku!«, hat Kuroo gezischt. »Wir gewinnen sowieso gegen Bokuto.«
 

Er hätte es ausschlagen sollen. Vielleicht war es der Leichtsinn eines ehrgeizigen Zweitklässlers, der ihn dazu getrieben hat, einzuwilligen. Jedenfalls hat er Kais Hand geschüttelt und leicht über Kais unerschütterliches Lächeln gefröstelt.
 

Und dann. Ja.
 

Dann haben sie natürlich haushoch gegen Bokuto verloren.
 

Yaku könnte schwören, dass er das dröhnend laute »ICH BIN DER GRÖßTE, HEY HEY HEY!« immer noch in seinen Ohren wiederhallen hören kann, während er mit Kuroo durch den Park trottet.
 

»Ihr könnt mir alle halbe Stunde ein Foto schicken, damit ich weiß, dass ihr die Wettschulden auch einhaltet. Mindestens vier Stunden und kein Volleyball!«
 

Das waren die Bedingungen gewesen.
 

Yaku fragt sich, was sich noch alles in den Tiefen von Kais Gehirn verbirgt, wenn er mit solch perfiden Plänen aufwarten kann. Jetzt sind sie auf dem Weg in den Zoo.
 

In. Den. Zoo.
 

Er wird mit Kuroo in den Zoo gehen.
 

Und vorher werden sie ein Eis essen und… Yaku hat noch nie privat Zeit mit Kuroo verbracht, es sei denn sie haben sich mit noch ein paar anderen aus der Mannschaft zum Training verabredet. Und das zählt kaum.
 

Yaku wirft einen Blick hinüber zu Kuroo, der die Hände in den Hosentaschen vergraben hat und alle zwei Meter gegen Kieselsteine tritt, als wäre dies der schlimmste Tag in seinem Leben. Ehrlich gesagt macht das Yaku ziemlich sauer.
 

Es ist ja nicht so, als hätte er besonders viel Freude daran, seine Freizeit für Kuroo zu opfern. An einem Samstag noch dazu. Aber es ist schlichtweg unhöflich so zu tun, als wäre Yaku der letzte Mensch auf Erden, mit dem Kuroo vier Stunden am Stück Zeit verbringen muss.
 

Kuroo fängt an, auf seinem Handy herumzutippen und Yaku verdreht die Augen.
 

»Beklagst du dich darüber, dass du mich vier Stunden an der Backe hast?«, will Yaku wissen. Kuroo wirft ihm einen Blick von der Seite zu.
 

»Kannst mir nicht erzählen, dass du Spaß hast.«
 

Yaku schnaubt.
 

»Wir laufen schweigend nebeneinander her, wie soll ich dabei Spaß haben? Ich war noch nie auf so einem miserablen Date!«
 

Kuroo sieht ihn ernsthaft empört an.
 

»Tu nicht so, als wärst du schon auf ach so vielen Dates gewesen, Yakkun«, spottet Kuroo. Yaku verschränkt die Arme vor der Brust.
 

»Wenn du es unbedingt wissen musst, das hier ist mein fünftes Date. Und es ist mit Abstand das schlechteste. Schlechter als das eine Mal mit vierzehn, als sie mittendrin anfing zu weinen, weil sie vorher dachte, ich sei ein Mädchen und gar nicht mit einem Jungen ausgehen wollte!«
 

Kuroo starrt ihn zwei Sekunden lang an, sein Gesicht ein waberndes Mosaik aus verschiedenen Emotionen. Yaku kann erkennen, dass Kuroo wahnsinnig schadenfroh ist, weil irgendjemand dachte, Yaku sei ein Mädchen. Andererseits ist er ungläubig und neidisch, weil Yaku bereits auf fünf Dates gewesen ist. Und er ist stocksauer, weil Yaku ihm gesteckt hat, dass Kuroo das schlechteste Date aller Zeiten ist.
 

Kuroo entscheidet sich nach dem Bruchteil einer Sekunde für sein hyänenartiges Lachen.
 

»Ein Mädchen«, japst er ausgelassen und Yaku verdreht die Augen.
 

»Ist ja nicht so, als wäre es schlimm ein Mädchen zu sein«, meint er und stapft unbeeindruckt weiter, während Kuroo hinter ihm weiter lacht. Drei ältere Damen, die auf einer Parkbank sitzen, sehen recht beunruhigt aus im akustischen Angesicht von Kuroos Gelächter.
 

Yaku kann es ihnen nicht verübeln. Er hat mehrere Monate gebraucht, um das irre Gekecker auszublenden.
 

Als Kuroo zu ihm aufschließt, hat er Tränen in den Augen und ist ganz rot im Gesicht.
 

»Du siehst aus wie ein Hahn mit Sonnenbrand«, informiert Yaku ihn unbeeindruckt, als Kuroo sich die Augen wischt. Kuroo schnaubt und kramt wieder nach seinem Handy.
 

»Wem schreibst du?«, fragt Yaku, bevor er sich zurückhalten kann.
 

»Bokuto.«
 

»Boku—was!?«
 

Kuroo zuckt mit den Schultern.
 

»Wir hängen öfter mal ab. Wenn er nicht gerade schmollt ist er ziemlich cool. Und er hat abgesehen von Kenma die geilste Spielesammlung, die ich je gesehen habe.«
 

Yaku fragt sich, was er fühlen soll, weil Kuroo mit Bokuto befreundet ist, der sie vor zwei Tagen mit großem Jubel und viel lautem Geprahle in den Boden gestampft hat und wegen dem sie nun auf diesem bekloppten Date sind.
 

Er entscheidet sich dazu, einfach nicht weiter darüber nachzudenken.
 

Generell versucht er, so wenig wie möglich über Kuroo nachzudenken, was ihm traurigerweise selten gelingt. Kuroo ist eine nervige Konstante in seinem Leben, die Yaku nicht ausblenden kann, so wie er es mit Kuroos dämlicher Lache macht.
 

Er denkt an Kuroo, wenn er eine Katze auf der Straße trifft. Oder wenn jemand Fisch erwähnt. Oder wenn er ein Mädchen mit langen Haaren sieht, was dauernd vorkommt. Und Yaku sollte definitiv nicht an Kuroo denken, wenn er Mädchen ansieht—selbst wenn sie nicht die Haarlänge haben, die er persönlich bevorzugt.
 

Aber Kuroo ist immer da, irgendwo in Yakus Hinterkopf. Mit seinem bekloppten, schiefen Grinsen und seinem selbstgefälligen Gesichtsausdruck und seiner blöden Lache und seinem verbissenen Ehrgeiz beim Training und mit seiner Verkündung, dass er die Nationalmeisterschaften mit Nekoma dominieren will und mit seiner lächerlichen Frisur und—
 

Ugh.
 

Yaku findet ihn abscheulich.
 

Er hat sich bei Kai schon so oft über Kuroo beklagt, er kann es nicht fassen, dass Kai ihm derartig in den Rücken fällt und ihn mit Kuroo auf ein Date schickt. Ein verfluchtes Date.
 

Als der Eisstand in Sicht kommt, steuert Yaku darauf zu und macht sich nicht die Mühe, Kuroo darauf aufmerksam zu machen, dass er geradewegs auf einen Laternenpfahl zugeht, weil er immer noch auf sein Handy starrt, um Bokuto zu schreiben, was für eine Zeitverschwendung Yaku ist.
 

Yaku hört das »Klonk« und lächelt grimmig in sich hinein, bevor er zwei Kugeln im Becher bestellt und anfängt, genüsslich sein Zitroneneis zu löffeln.
 

Kuroo hat leichtes Nasenbluten und wird von ein paar Grundschülern bekichert, die ein paar Meter weiter Ball spielen.
 

Yaku kann es ihnen nicht verübeln, Kuroo sieht absolut bescheuert aus. Er hat das Handy endlich weggesteckt und schaut Yaku böse an, als dieser ihm scheinheilig ein Taschentuch reicht.
 

»Gut, dass du ein bisschen Training hast. Jetzt kannst du alle Fehler mit mir machen, damit du sie nicht wiederholst, wenn du irgendwann in zehn Jahren dein erstes Date mit einem Mädchen hast«, sagt Yaku selbstgefällig und sieht zu, wie Kuroo sich das Taschentuch unter die Nase hält.
 

Kuroo funkelt ihn empört an, aber da ist noch irgendwas anderes in seinem Blick, das Yaku nicht deuten kann.
 

Beunruhigend.
 

Er kann immer alle Blicke deuten, die Kuroo ihm zuwirft.
 

Vielleicht ist heute ein Tag der Premieren. Yakus erstes Date mit einem Jungen. Kuroos erstes Date überhaupt. Yakus erstes Mal in einem Zoo.
 

Seine Mutter ist gegen allerlei Tierhaar allergisch, deswegen ist Yaku noch nie in den Genuss gekommen, einen Zoo zu besuchen. Das wird er Kuroo natürlich nicht sagen.
 

Es reicht schon, dass er Kuroo von diesem Date berichtet hat, das so schief gelaufen ist—auch wenn es vor allem dazu gedacht war, Kuroo unter die Nase zu reiben, wie schlecht dieses Date läuft.
 

»Wie um alles in der Welt warst du schon auf vier Dates?«, will Kuroo wissen und pfeffert das vollgeblutete Taschentuch in einen Abfalleimer am Wegesrand. Yaku zuckt mit den Schultern.
 

»Ich bin freundlich, höflich, intelligent und gut in Volleyball.«
 

Kuroo schnaubt abfällig und geht sich ein Eis bestellen. Es sollte Yaku nicht wundern, dass Kuroo die schlimmste Sorte von allen bestellt: Erdbeere.
 

»Und wenn du so freundlich, höflich, intelligent und alles in allem toll bist, wieso ist dann keins von den Mädchen deine Freundin?«, will Kuroo wissen und beißt wie ein unzivilisiertes Schwein in seine Kugel Erdbeereis, die er in einer Waffel gekauft hat.
 

»Weil keine von denen die Richtige für mich war«, sagt Yaku und schaut zu, wie Kuroo mit nur wenigen weiteren Bissen seine komplette Kugel Eis vernichtet und dann anfängt an der Waffel zu knabbern.
 

Was für ein Armleuchter.
 

Kuroo wirft ihm schon wieder einen komischen Blick zu. Langsam wird Yaku nervös. Er ist es gewöhnt zu wissen, was in Kuroos Gehirn vor sich geht.
 

Sie gehen noch ein ganzes Stück schweigend weiter, bis Kuroo ihn anhält und wieder sein Handy hervorkramt. Yaku hat sein Eis noch nicht aufgegessen, weil er vernünftig isst im Gegensatz zu anderen Leuten.
 

»Foto für Kai«, sagt er und tritt ganz nah an Yaku heran, bevor er sein Handy hochhält und Yaku sich selbst und Kuroo auf dem Display sehen kann.
 

Ah.
 

Die Fotos für Kai hatte er schon vergessen, weil er zu beschäftigt damit gewesen ist, sich über Kuroo aufzuregen. Kuroo streckt die Zunge heraus und Yaku verdreht die Augen und ehe er sich versieht hat Kuroo auf den Auslöser gedrückt.
 

Über das Foto freut Kai sich bestimmt.
 

Die Antwort kommt innerhalb weniger Sekunden:
 

»Seid nett zueinander und habt viel Spaß im Zoo (⌒▽⌒)«
 

Yaku schnaubt und beobachtet, wie Kuroo das Handy zurück in seine Hosentasche gleiten lässt und den letzten Biss von seiner Waffel nimmt.
 

»Ich glaube der Eingang ist irgendwo da vorne«, sagt er mit noch vollem Mund.
 

»Deswegen hast du keine Dates, Kuroo«, sagt Yaku und geht weiter in die Richtung, in der der Zoo sich befindet.
 

Man kann jetzt Kinder rufen und lachen hören und Tiergeräusche, die Yaku nicht zuordnen kann. Vielleicht handelt es sich um eine Affenart, die er noch nie vorher gehört hat. Yaku denkt unweigerlich an Bokutos lautes Gebrülle und muss sich ein Schmunzeln verkneifen.
 

»Was soll das denn heißen?«, will Kuroo empört wissen, während Yaku seinen letzten Löffel Eis verspeist und den Becher entsorgt.
 

»Deine Manieren beim Essen sind eine Zumutung«, erklärt Yaku mit unbeeindruckter Miene und reiht sich in die Schlange ein ohne auf Kuroos empörtes Schnappen nach Luft zu achten. Es ist Yaku absolut egal, ob Kuroo jemals ein Date bekommt. Wenn er schon seine Zeit an Kuroo vergeuden muss, dann kann er dabei wenigstens den Zoo genießen.
 

Er hat in einem Prospekt des Zoos gesehen, dass es einen Streichelzoo mit Kaninchen und Meerschweinchen gibt. Noch ist er mit sich selbst am debattieren, ob er sich vor Kuroo die Blöße geben und eingestehen möchte, dass er nur zu gerne ein Kaninchen streicheln würde.
 

Dann wiederum sollte es ihm egal sein, was Kuroo über ihn denkt.
 

Sie zahlen getrennt und betreten den Zoo zusammen mit einer Traube Familien, die mit ihren aufgeregt rufenden Kindern an ihnen vorbeiziehen, als sie vor dem Lageplan des Zoos stehen bleiben.
 

»Wo willst du zuerst hin?«, fragt Kuroo. Er hat die Hände wieder in den Hosentaschen vergraben und Yaku merkt, dass er ihn von der Seite beobachtet. Die einzelnen Stationen auf dem Lageplan haben kleine Nummern, die in einer entsprechenden Legende am Rand der Karte aufgelöst werden.
 

Yaku findet den Streichelzoo nach einem Moment des Suchens. Der Weg dorthin führt sie an Elefanten, Leoparden und Giraffen vorbei. Einen Augenblick lang zögert er, dann tippt er mit dem Zeigefinger auf die Nummer für den Streichelzoo.
 

Kuroo zieht die Brauen hoch und wirft ihm einen undefinierbaren Blick zu. Dann schnaubt er und wendet sich zum Gehen.
 

»Von allen Tieren willst du ausgerechnet Nager angucken?«, murmelt er und Yaku beißt die Zähne aufeinander, um nicht zu antworten.
 

Es ist egal, ob Kuroo ihn lächerlich findet. Es ist egal.
 

Yaku ist sehr bemüht seine Aufregung nicht zu zeigen. Aber Kuroo ist—neben all seinen zahllosen Fehlern—ein ausgezeichneter Beobachter und er merkt schnell, dass Yakus Augen vielleicht ein bisschen zu sehr leuchten, als er die Elefanten zum ersten Mal sieht.
 

Zu Yakus größter Verwunderung sagt Kuroo allerdings keinen Ton, auch nicht, als Yaku peinlicherweise ein leises Japsen entfährt, als sie den Leoparden zwischen all den dicht bewachsenen Ästen entdecken.
 

Zwischen dem Leopardengehege und dem Streichelzoo machen sie ein weiteres Foto für Kai und Yaku ist ein wenig empört darüber, weil sein Gesichtsausdruck geradezu... glücklich wirkt. Das ist definitiv nicht in Ordnung auf einem Foto, auf dem Kuroo ihm Hasenohren zeigt und so dämlich grinst, wie er es üblicherweise tut.
 

Yaku möchte ihn erwürgen.
 

Aber noch viel mehr möchte er die Kaninchen sehen und es ist ihm auch egal, dass sich mitterlweile Kopfschmerzen hinter seiner Stirn breit gemacht haben. Wahrscheinlich, weil Kuroos Anwesenheit ihn zu sehr anstrengt.
 

»Ist das dein erstes Mal in einem Zoo?«, will Kuroo wissen, als sie sich dem Streichelzoo nähern. Yaku wirft ihm einen garstigen Blick zu.
 

»Meine Mutter ist allergisch«, grummelt er schließlich und verschränkt die Arme vor der Brust.
 

»Aw. Und keins deiner Dates hat dich in den Zoo mitgenommen?«, stichelt Kuroo.
 

Yaku ist nach der langen Stille beinahe froh darüber, dass Kuroo damit fortfährt ihn zu triezen. Seine stummen Beobachtungen treiben Yaku meistens eine Gänsehaut auf die Unterarme, daher bevorzugt er dieses Gezeter zwischen ihnen um Meilen.
 

Kuroo hat diese Art und Weise jemanden anzusehen, als könnte er einem direkt in die Seele schauen.
 

Ugh.
 

Yaku hat das Gefühl, dass sein ganzes Gesicht aufleuchtet, als er das Nagetiergehege sieht. Natürlich stehen vor allem Kinder mit ihren Eltern drumherum.
 

»Wenn du so besessen davon bist, ein Date zu haben, warum fragst du dann nicht einfach eine, die dir gefällt?«, will Yaku wissen ohne Kuroo anzusehen. Er findet das ganze Thema etwas ermüdend, auch wenn es ihn amüsiert wie empört Kuroo darüber ist, dass Yaku ihm in diesem Gebiet einiges voraus hat.
 

»Vielleicht hab ich noch keine gefunden, die mir gefällt«, brummt Kuroo bedeutungsschwanger und Yaku wirft ihm einen misstrauischen Seitenblick zu. Aber Kuroo sieht ihn nicht an. Tatsächlich schaut er zur Seite.
 

Tatsächlich kann Yaku einen Rotschimmer auf Kuroos Wangen erkennen.
 

Huh.
 

»Hast wohl zu genaue Vorstellungen davon, wie sie sein soll, was?«, stichelt Yaku amüsiert. Ja, er mag kurze Haare. Aber er hat auch zwei Mädchen gedatet, die langes Haar hatten. Vielleicht ist Kuroo zu detailversessen. Vielleicht traut er sich auch einfach nicht.
 

»Achso, du datest also einfach jede dahergelaufene, ja?«
 

»Das hab ich nicht gesagt. Ich hab Ansprüche«, sagt Yaku und verdreht die Augen. Er hört nicht, was Kuroo als nächstes grummelt, denn sie sind am Gehege angekommen und.
 

Kaninchen.
 

So viele Kaninchen.
 

Yaku merkt förmlich, wie jede Feindseligkeit aus ihm weicht. Selbst als Kuroo sagt »Du fällst zwischen all den Grundschülern kein bisschen auf, Yakkun« ist es ihm egal und das will etwas heißen, denn Yaku hasst es, wenn Kuroo seine Körpergröße erwähnt.
 

Yaku hockt sich vors Gehege und streckt die Hand aus. Er kann Kuroos Blick in seinem Nacken spüren als ein karamellfarbenes Kaninchen zu ihm gehoppelt kommt, um zu prüfen, ob Yaku etwas zu essen hat. Yaku hat nichts, aber das Kaninchen lässt sich trotzdem streicheln. Er kann nicht genau sagen, wieso er Kaninchen so schrecklich süß findet, aber er mag, wie ihre Nasen sich bewegen und wie sie hoppeln und besonders mag er die, deren Ohren schlapp herunterhängen.
 

Ihm ist ein bisschen schwindelig.
 

»Oi, Yakkun?«
 

Yaku hat das Gefühl, dass jemand eine Hand auf seinen Hals gelegt hat und zudrückt. Seine Augen haben angefangen zu brennen und er blinzelt dagegen an, während seine Kehle anfängt zu jucken und zu kratzen.
 

Oh nein.
 

Oh.
 

»Yakkun?«
 

Yaku stolpert rückwärts und schnappt nach Luft.
 

Mittlerweile sind definitiv zu viele Leute auf sein seltsames Verhalten aufmerksam geworden und er hört besorgtes Gemurmel und die ein oder andere Frage von »Ist er in Ordnung?«. Leider ist seine Kehle dermaßen zugeschnürt, dass Yaku keine Gelegenheit hat zu antworten. Er schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und er merkt, dass er panisch wird, weil er nicht genug Sauerstoff bekommt.
 

Kuroos Gesicht vor seinem sieht definitiv sehr besorgt aus.
 

Huh.
 

Es ist Kuroo, der ihn aus der Reichweite der Kaninchen bringt und Sanitäter ruft. Und es ist Kuroo, der erklärt, dass Yaku eine allergische Reaktion auf die Kaninchen hatte. Und es ist auch Kuroo, der neben ihm hockt, während die Sanitäter ihr bestes dafür tun, dass Yaku wieder atmen kann und seine Augen sich nicht mehr anfühlen, als würden sie gleich in ihren Höhlen verschrumpeln.
 

Er hatte wirklich keine Lust auf dieses Date, aber während er in einem kleinen Behandlungsraum irgendwo auf dem Zoogelände auf einer Liege liegt und gegen die Schwellung in seinem Hals ankämpft, denkt er sich, dass es sogar noch schlimmer war, als er es sich vorgestellt hat.
 

Kuroo hockt neben ihm, während Yaku darauf wartet, dass die Medikamente anschlagen. Er kann nicht mal sprechen, um sich bei Kuroo über das miserable Date zu beschweren.
 

Er starrt Kuroo empört an, als er sich zu ihm lehnt und noch ein Selfie für Kai macht. Kuroo schnaubt amüsiert, als Kai antwortet und Yaku kann sich nur vage vorstellen, was für eine entsetzte Nachricht Kai ihm geschrieben haben muss.
 

»Ich fass es nicht, dass du auf Hasen allergisch bist, Yakkun. Wer zum Teufel ist auf Hasen allergisch?«
 

Yaku gibt ein krächzendes Geräusch von sich und weil er sich nicht anders zu helfen weiß, zeigt er Kuroo den Mittelfinger. Kuroo schnappt gespielt empört nach Luft und legt sich die Hand auf den Brustkorb, um seinen Schock zu demonstrieren.
 

»Yakkun! Was ist mit deinen Manieren?«
 

Yaku schwört sich hoch und heilig, dass er Kuroo einen Schlag auf den Hinterkopf geben wird, sobald es ihm nicht mehr so dreckig geht.
 

Kuroo tippt wieder auf seinem Handy herum und grinst zwischendurch amüsiert. Das erste Wort, das Yaku sagt, als seine Kehle etwas abgeschwollen ist, ist »Bokuto?«.
 

Kuroo blinzelt und schaut auf. Dann nickt er.
 

Yaku verengt die Augen zu Schlitzen. Dann kommt ihm ein Gedanke.
 

»Vielleicht solltest du Bokuto auf ein Date einladen«, krächzt er. Seine Stimme klingt wie Sand in einem Triebwerk. Kuroos Reaktion ist unerwartet. Er lässt sein Handy fallen und flucht, ehe er sich danach bückt. Yaku kann sehen, dass er knallrot im Gesicht ist.
 

Oh.
 

Oh!
 

»Warte mal«, krächzt Yaku. »Stehst du auf—«
 

Kuroo beugt sich so hastig vor und legt Yaku die Hand auf den Mund, dass Yaku zurückzuckt. Er schätzt die Hand auf seinem Mund kein bisschen, vor allem, da er immer noch nicht richtig frei atmen kann. Etwas, das Kuroo anscheinend auch einfällt, denn er zieht die Hand hastig zurück und wird sogar noch etwas röter.
 

»Halt die Klappe, Yaku.«
 

Yaku. Nicht Yakkun.
 

Yaku runzelt die Stirn. Er horcht in sich hinein.
 

»Denkst du, das stört mich?«
 

Kuroo sieht aus, als würde er gerne im Erdboden versinken, aber er setzt trotzdem sein entnervend arrogantes Grinsen auf und verschränkt die Arme vor der Brust.
 

»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest. Vielleicht sind dir die Medikamente zu Kopf gestiegen?«
 

Yaku schluckt und wendet den Kopf von Kuroos Gesicht ab. Er denkt darüber nach, wie er andauernd an Kuroo denken muss und wie es ihn geärgert hat, dass Kuroo auf ihrem »Date« mit Bokuto Nachrichten getauscht hat. Er denkt darüber nach, wie Kuroos Wangen rot geworden sind und an seinen komischen Gesichtsausdruck, als Yaku meinte, Kuroo könne mit ihm üben, damit er später ein »richtiges« Date mit einem Mädchen nicht versemmelt.
 

Yaku ist insgesamt ein sehr vernünftiger Mensch.
 

Seine Eingeweide fühlen sich sehr plötzlich wie ein Haufen sich windender Schlangen an und er hat eine schockierende Erkenntnis darüber, wieso das so ist.
 

»Kuroo.«
 

»Was?«
 

»Kai hat das mit Absicht gemacht.«
 

»Was?«
 

Yaku hat immer noch Schwierigkeiten zu sprechen, aber wenigstens brennen seine Augen nicht mehr. Er hofft, dass der genervte Blick, den er Kuroo zuwirft, nicht an Schärfe verliert, weil seine Augen blutunterlaufen sind.
 

»Uns auf ein Date zu schicken«, krächzt er. Meine Güte, er klingt wirklich wie ein Reibeisen.
 

»Ach nee. Toll kombiniert, Yakkun. Kein Wunder, dass all die Mädchen von deinem Intellekt beeindruckt sind«, höhnt Kuroo und verschränkt die Arme vor der Brust.
 

»Du bist eifersüchtig!«
 

Kuroo starrt ihn an.
 

Yaku starrt unnachgiebig zurück.
 

Das hier ist das schlimmste Date seines Lebens. Er wollte nicht, dass es überhaupt stattfindet. Dann hat Kuroo so getan, als wäre es die größte Zeitverschwendung und Yaku versteht jetzt, dass das seine Gefühle verletzt hat. Er musste Kuroo beim Essen zusehen und dann hat er auch noch direkt nach seinem ersten Kontakt mit einem Kaninchen eine beschissene allergische Reaktion bekommen.
 

Aber trotz all dieser Dinge spürt er eine zufriedene Blubberblase in sich aufsteigen, als er erneut den Rotton in Kuroos Wangen kriechen sieht, während Yaku ihn ununterbrochen anstarrt.
 

Yaku beschließt, dass er nicht umsonst fast erstickt sein will.
 

»Wenn du nicht mit Mädchen auf Dates gehen willst«, sagt er heiser und ignoriert Kuroos Proteste, »willst du dann mit mir auf noch ein richtiges Date gehen?«
 

Kuroo öffnet den Mund. Dann schließt er ihn wieder.
 

Yaku denkt daran, wie Kai ihm immer sehr geduldig zugehört hat, wenn Yaku sich zum fünfhundertsten Mal über Kuroos Lache beschwert hat. Oder die Art und Weise, wie er geht. Oder die Tatsache, dass er dauernd Yakus Haar durcheinander bringt.
 

Kai der elende Intrigant.
 

Er hat den Braten gerochen, bevor Yaku überhaupt wusste, dass es überhaupt einen Braten gibt. Wer weiß, wie Kuroo ihm das Ohr abgekaut hat.
 

»Ist das dein Ernst?«, fragt Kuroo und Yaku kann sehen, dass er sich nicht sicher ist, ob er seinen Ton eher verächtlich oder amüsiert klingen lassen soll. Aber Yaku hat zu viel Zeit damit verbracht, Kuroo entnervt zu beobachten und über ihn nachzudenken und jede kleine Veränderung seiner Mimik zu katalogisieren, als dass er diesen Gesichtsausdruck jetzt nicht erkennen könnte.
 

Kuroo ist unsicher.
 

Yaku zuckt mit den Schultern.
 

»Es war ein miserables Date. Jemand sollte dir zeigen, wie’s besser geht«, sagt er. Er weiß, dass so eine Herausforderung Kuroo provoziert—zumindest, wenn sie von ihm kommt.
 

»Pff. Nichts, was ich heute gesehen hab, lässt mich glauben, dass du gut im daten bist, Yakkun«, sagt Kuroo mit einem Grinsen.
 

Aber er hat auch nicht nein gesagt.
 

»Ich hab mir auch keine Mühe gegeben«, gibt Yaku zurück.
 

Er sieht Kuroo schlucken. Sein Gehirn arbeiten.
 

»Aber du—du magst. Mädchen.«
 

Ah.
 

Yaku wäre ein Arschloch, wenn er sich darüber lustig machen würde. Er zuckt erneut mit den Schultern.
 

»Anscheinend mag ich Mädchen. Und Jungs mit Hyänenlache und Haaren, die aussehen, als hätte man sie seit fünf Jahren nicht gekämmt.«
 

Er sieht, wie die Worte in Kuroos Gehirn einsickern und er sie verarbeitet. Seine Augen weiten sich, als er Yaku ansieht, als könne er nicht wirklich glauben, was er gehört hat.
 

»Du—«
 

»Ich.«
 

»Bist du—«
 

»Kuroo. Halt die Klappe, ich bin grad fast erstickt. Willst du mit mir auf ein Date ohne allergische Schocks gehen, oder nicht?«
 

Irgendwer muss ja Reife demonstrieren. Wenn Kuroo es bisher weder geschafft hat, Dates mit Mädchen oder Jungs zu bekommen, dann liegt es auf der Hand, dass Yaku in diesem Fall Größe beweisen sollte.
 

»Uh. Ok.«
 

»Gut. Schreib Kai, dass er ein intriganter Mistsack ist und dass ich hoffe, dass er zufrieden ist. Ich bin für seine blöde Idee fast krepiert!«
 

Kuroo sieht ihn immer noch an, als wäre Yaku das achte Weltwunder. Yaku denkt, dass er sich daran gewöhnen könnte, so von Kuroo angesehen zu werden.

Grenzen

Manchmal wünscht Yuuji sich, dass er nicht jede dämliche Wette annehmen würde, die seine Freunde ihm vorschlagen. Er weiß nicht genau, was in seinem Gehirn schief gelaufen ist, aber anscheinend ist es nicht in der Lage, einfach mal zu denken »Mach das lieber nicht, du oller Trottel.«. Sobald jemand einen Satz startet mit »Wetten, dass...«, ist Yuuji schon bereit für so ziemlich alles.
 

So hat er sich schon gefühlte hundert Male Nachsitzen eingehandelt. So wurde er einmal fast verhaftet für Erregung öffentlichen Ärgernisses. So hat er sich schon mehrere Ohrfeigen, Kinnhaken und auch sein Zungenpiercing eingefangen.
 

Er kann einfach nicht nein sagen, wenn Leute ihn zu Wetten herausfordern.
 

Und diese Wette klingt bei weitem nicht so übel, wie das eine Mal, als er ins Büro des Rektors einbrechen und ein schmutziges Heftchen dort auf den Schreibtisch hatte legen sollen—wofür er nach seinem Erwischtwerden für eine Woche suspendiert worden war.
 

»Wetten, du traust dich nicht, zu Nummer zwölf rüber zu gehen und ihm deine Handynummer zu geben?«, sagt Kazuma mit einem breiten Grinsen und einem Zwinkern.
 

Sie haben ihr Spiel verloren. Yuuji erinnert sich nicht wirklich an Nummer zwölf, denn er hat definitiv nicht auf dem Feld gestanden. Was genau an ihm Kazuma davon überzeugt hat, dass er genau die richtige Zielperson für eine neue Wette ist, weiß Yuuji nicht. Aber er weiß, dass sein Gehirn sofort bei dem Wort »Wetten« anfängt, wie ein kleiner, dämlicher Hund zu hecheln.
 

Seine Augen wandern über die Mannschaft von Karasuno, die gerade draußen vor dem Gebäude an ihnen vorbeigezogen ist. Die Sonne, die gerade untergeht, passt farblich seltsam gut zu ihren schwarz-orangenen Trikots.
 

Yuujis Augen finden die kleine Nummer zehn direkt neben der Nummer neun, während die beiden über irgendetwas miteinander streiten. Und da ist der Langweiler mit der Brille, der Captain, der nicht sonderlich spannend aber frustrierend gut war...
 

Und da. Neben dem arroganten Kerl mit der Brille geht Nummer zwölf. Yuuji denkt, dass der eher unscheinbare Kerl vielleicht sogar größer ist als Yuuji selbst, aber seine gebeugte Haltung sieht sehr danach aus, dass es jemand ist, der immer eher versucht sich kleinzumachen.
 

Nicht wirklich Yuujis Typ.
 

Er mag aufregende, ausgefallene Menschen. Er mag Spaß und Abenteuer.
 

Nummer zwölf sieht nach Schüchternheit und Langeweile aus.
 

Aber hey, es ist eine Wette und auch, wenn Yuuji denkt, dass es noch viel mehr Spaß machen würde, der arroganten Nummer elf seine Nummer zu geben, weiß er, dass Kazumas Wetten so nicht funktionieren. Er wird sich schon irgendwas Beknacktes dabei gedacht haben, den schüchternen Langweiler mit den Sommersprossen ausgesucht zu haben.
 

Yuuji sieht sich um, ob er Hana irgendwo entdecken kann, aber sie scheint noch nicht draußen angekommen zu sein.
 

»Gib mir ‘nen Stift, man«, zischelt Yuuji hastig und Kazuma kramt in seiner Tasche und zieht einen Kugelschreiber hervor. Der Rest des Teams ist am Lachen und Kichern und Takeharu haut ihm ermutigend auf den Rücken, nachdem Yuuji seine Handynummer hastig auf einen Zettel gekrickelt hat.
 

Dann wischt er sich die Haare aus der Stirn, setzt sein charmantestes Lächeln auf und spurtet los, um Karasuno einzuholen, bevor sie in ihren Bus steigen.
 

»Hey, Nummer zwölf!«, ruft er ausgelassen und trennt Nummer elf von Nummer zwölf mit einer eleganten Halbdrehung, ehe er vor Nummer zwölf zum Stehen kommt.
 

In der Tat ist der unscheinbare Junge mit den Sommersprossen ein klein wenig größer als Yuuji.
 

Mit einem lässigen Kopfrucken befördert Yuuji sein Haar aus der Stirn und grinst den fremden Jungen an, dann hebt er den hastig bekritzelten Zettel mit seiner Nummer zwischen Zeige- und Mittelfinger hoch und zwinkert Nummer zwölf an.
 

»Schreib mir, wenn du ein bisschen Spaß möchtest«, sagt er und gibt sich alle Mühe, seine Stimme so verführerisch wie möglich klingen zu lassen.
 

Der Junge vor ihm starrt ihn ganze zehn Sekunden lang mit leicht geöffnetem Mund an. Dann, als würde jemand aus einem Teekessel heißes Wasser in seinen Kopf gießen, läuft er scharlachrot an, sodass man seine Sommersprossen kaum noch sehen kann. Es ist fast ein bisschen niedlich.
 

»Wa—was—warum?«, stammelt er mit heiserer Stimme und Yuuji kann Nummer elf neben sich schnauben hören.
 

»Brauch ich einen Grund, außer, dass du süß bist?«, fragt Yuuji breit grinsend. Ihm ist sehr bewusst, dass der Rest des Teams ihn anstarrt. Yuuji hat nicht vor, sich bei seinem Scherz erwischen zu lassen, indem er anfängt zu lachen, also stupst er Nummer zwölf mit dem Zeigefinger gegen die Brust, zwinkert noch einmal und macht sich nach einem weiteren »Schreib mir!« auf den Weg zurück zu seinem eigenen Team, das ihn jauchzend begrüßt.
 

»Sein Gesicht«, japst Kazuma begeistert. »Ich glaube, er stirbt vielleicht an einem Herzinfarkt!«
 

»Wahrscheinlich hat ihm noch nie jemand seine Nummer gegeben«, meint Takeharu schmunzelnd und Yuuji denkt, dass er vermutlich Recht hat.
 

Nummer zwölf wird ihm sicherlich nicht schreiben. Aber Yuuji hat vermutlich Glück und kriegt von seinen Mannschaftskameraden für seinen umwerfenden Auftritt irgendwas Leckeres zu essen spendiert.
 

Auf dem Nachhauseweg hat er kurz vor seiner Haustür die Wette bereits vergessen, als sein Handy vibriert. Während er mit einer Hand nach dem Schlüssel kramt, holt er mit der anderen sein Handy aus der hinteren Hosentasche und entsperrt den Bildschirm.
 

Eine neue Nachricht von... einer unbekannten Nummer.
 

0081704578872; 09:01 pm: hast dus wirklich so gemeint?
 

Huh.
 

Yuuji schließt die Haustür auf und kaut auf seiner Unterlippe herum. Er weiß, dass seine Mutter nicht zu Hause ist, also kickt er seine Schuhe beiseite und pilgert in die Küche, um nach irgendetwas zum Aufwärmen zu suchen.
 

Die einfachste Variante wäre nicht zu antworten. Keine Antwort ist auch eine Antwort. Er könnte die Wahrheit sagen und zugeben, dass es nur ein Witz war. Aber er denkt auch an das knallrote Gesicht mit den Sommersprossen und die riesigen Augen und den Unglauben.
 

Ein bisschen Spaß muss sein, denkt er sich und lässt seine Finger über die Tasten huschen.
 

Yuuhuuji; 09:03 pm: oooh, sommersprossen!

Yuuhuuji; 09:04 pm: wie schön von dir zu hören (☆ω☆*)

0081704578872; 09:04 pm: du weißt nicht mal wie ich heiße

Yuuhuuji; 09:05 pm: woher auch? verrätsts dus mir wenn ich lieb frage? (♥ω♥*)

0081704578872; 09:10 pm: yamaguchi
 

Yuuji schiebt sich einen Teller Curry in die Mikrowelle lehnt sich gegen den Küchentresen, um nachzudenken. Yamaguchi. Er speichert die fremde Nummer unter dem gelieferten Namen ein.
 

Yuuhuuji; 09:13 pm: und hast du auch einen vornamen ( ˘ ³˘)
 

Auf die Frage hin kommt eine Weile lang nichts mehr. Yuuji weiß nicht, ob es zu viel des Guten war, aber er holt sein Curry aus der Mikrowolle und wandert damit nach oben in sein Zimmer. Nachdem er mit dem linken Bein einen freien Platz auf seinem Bett geschaffen hat, lässt er sich darauf nieder und fängt an zu essen.
 

Die Stille in seinem Zimmer drückt auf seine Ohren. Yuuji mag die Stille nicht. Als sein Handy vibriert, wirft er einen neugierigen Blick darauf.
 

Yamaguchi; 09:26 pm: tadashi

Yuuhuuji; 09:27 pm: hmmmmmm tadashi-kun

Yuuhuuji; 09:27 pm: gefällt mir
 

Yuuji stellt seinen leeren Teller beiseite und betrachtet sein Display, ehe er den Namen ein weiteres Mal ändert. Kazuma hat nicht gesagt, dass es mit zur Wette gehört auch nach Verteilen der Nummer weiter mit Yamaguchi zu schreiben.
 

Tadashi; 09:29 pm: und dein name ist terushima, richtig?

Yuuhuuji; 09:30 pm: das bin ich. aber du darfst auch gerne yuuji sagen (⌒.-)=★

Tadashi; 09:32 pm: oh

Tadashi; 09:32 pm: uhm

Tadashi; 09:34 pm: ok
 

Yuuji muss lachen. Zugegebenermaßen macht es viel mehr Spaß, Yamaguchi aus der Reserve zu locken, als er gedacht hatte. Er ist sich nicht sicher, wie weit er das Spiel treiben kann, aber es ist nicht so, als hätte er im Moment etwas Besseres zu tun. Das Haus ist leer und still, seine Mannschaft hat verloren. Yuuji bemerkt den Muskelkater in seinen Beinen und zieht in Erwägung sich ein Bad einzulassen.
 

Sein Handy ist immerhin wasserfest.
 

Tadashi; 09:37 pm: yuuji-kun
 

Yuuji grinst und springt vom Bett. Spaß, Spaß, Spaß, denkt er sich und huscht ins Bad, dreht die Hähne auf und kramt nach irgendeinem Badezusatz, der soviel Schaum produziert wie möglich. Er schickt Yamaguchi—nein, Tadashi—ein Bild von den sich formenden Schaumwolken auf seinem Bad.
 

Eine ganze Weile lang kommt keine Antwort und Yuuji denkt, dass er Yamaguchi entweder verschreckt hat, oder der Ärmste in Ohnmacht gefallen ist.
 

Tadashi; 09:46 pm: dir ist wohl nichts unangenehm, oder

Yuuhuuji; 09:47 pm: nah, dafür ist das leben zu kurz und schamlosigkeit macht zu viel spaß (⌒.−)=★

Tadashi; 09:48 pm: da kann ich mich nur auf dein wort verlassen, als selbstbewusstsein verteilt wurde, hab ich nichts davon abbekommen (ーー;)

Yuuhuuji; 09:49 pm: ER KANN EMOJIS

Yuuhuuji; 09:49 pm: und awww tadaaashi, möchtest du dass ich dein selbstbewusstsein ein bisschen aufpoliere (ง •̀ω•́)ง✧
 

Es kommt wieder eine ganze Weile lang nichts und Yuuji steigt vorsichtig in das heiße Badewasser. Vielleicht ist es, weil er das Suffix weggelassen hat. Oder vielleicht ist Tadashi eingeschlafen. Yuuji lässt sein Handy Musik spielen und legt es auf den Badewannenrand, ehe er mit dem Kopf ins heiße Wasser taucht und die Augen schließt, um die Schwerelosigkeit ein bisschen zu genießen.
 

Die Musik ist unter Wasser kaum noch zu hören. Er hält die Luft solange an, wie er kann und taucht durch den Schaum wieder auf.
 

Tadashi; 09:55 pm: ich fürchte da ist hopfen und malz verloren

Yuuhuuji; 09:55 pm: aufgeben ist nicht sexy tadashi

Yuuhuuji; 09:56 pm: wie lange kannst du die luft anhalten?

Tadashi; 09:57 pm: bist du dir sicher dass du deine nummer der richtigen person gegeben hast

Tadashi; 09:58 pm: (und keine ahnung, vielleicht eine minute)

Yuuhuuji; 10:01 pm: ziemlich sicher ja

Yuuhuuji; 10:01 pm: ich schreib doch die ganze zeit mit der süßen nummer zwölf mit dem gesicht voller sommersprossen?

Yuuhuuji; 10:01 pm: wenn nicht, dann war das alles ein irrtum tadashi

Yuuhuuji; 10:02 pm: wenn du nicht die süße nummer zwölf mit den sommersprossen bist muss ich dich bitten die nummer an ihn weiterzuleiten

Yuuhuuji; 10:03 pm: (du musst die luft anhalten und zählen tadashi. ich chille in der badewanne und brauche antworten)
 

Yuuji taucht wieder unter und diesmal zählt er mit. Er fragt sich, ob es in so warmem Wasser schwieriger ist, aber er kommt bis über siebzig, bevor er wieder auftauchen muss.
 

Tadashi; 10:14 pm: ...

Tadashi; 10:14 pm: wie kannst du solche sachen einfach sagen??

Tadashi; 10:14 pm: und ja. sommersprossen. das bin ich

Tadashi; 10:15 pm: (62 sekunden)

Yuuhuuji; 10:17 pm: solche sachen? du meinst die wahrheit? (・ω <)

Yuuhuuji; 10:17 pm: puh, das wäre sonst peinlich gewesen. ich hätt ungern versehentlich mit dem blonden lulatsch nummern getauscht

Yuuhuuji; 10:17 pm: nicht schlecht, nicht schlecht. ich gewinne mit 76 (¬‿¬)

Tadashi; 10:19 pm: es hätte mich nicht gewundert. alle mädchen wollen auch immer mit tsukki reden
 

Ah. Daher weht der Wind, denkt Yuuji sich. Er packt das Handy beiseite und greift blindlings nach einer der Flaschen, die auf dem Badewannenrand stehen. Er versucht sich das Gesicht von dem blonden Mittelblocker ins Gedächtnis zu rufen. Scharfe Augen, ein blonder Mopp an Haaren, eine Brille. Und ein arroganter, unbeteiligter Gesichtsausdruck.
 

Nah. Definitiv nicht Yuujis Typ.
 

Auch wenn es sicherlich Spaß machen würde, so jemanden ein wenig aus der Reserve zu locken.
 

Yuuhuuji; 10:29 pm: vielleicht haben all die mädchen tomaten auf den augen

Yuuhuuji; 10:29 pm: anders kann ich es mir nicht erklären

Yuuhuuji; 10:30 pm: aber hey wenn du mir antwortest stört es dich ja vielleicht nicht dass mädchen dich nicht ansprechen? (¬‿¬)
 

Yuuji weiß nicht, wie vorsichtig er mit so einem Thema sein muss. Er macht kaum einen Hehl daraus, dass er bisexuell ist. Oder aus irgendwelchen anderen Sachen. Yuuji ist generell nicht der Typ dafür, sich für irgendwas zu verstecken, auch wenn ihm klar ist, dass nicht alle Menschen den Luxus haben, immerzu kompromisslos sie selbst zu sein.
 

Tadashi antwortet nicht mehr, bis Yuujis Finger schrumpelig geworden sind und all der Schaum verschwunden ist. Seine schmerzenden Muskeln fühlen sich ein bisschen besser an, nachdem sie so lange im warmen Wasser lagen und Yuuji trocknet seine Haare, putzt sich die Zähne und huscht summend zurück in sein Zimmer, um sich dort erneut aufs Bett zu werfen.
 

Vielleicht ist er jetzt doch zu direkt gewesen. Außer sich selbst kennt Yuuji niemanden, der nicht hetero ist. Aber hätte Tadashi ihm geschrieben, wenn er stocken hetero wäre? Vielleicht nur aus Neugierde. Vielleicht nur, weil sein armes, missbrauchtes Ego ein paar nette Worte brauchte. Traurig genug, aber fair. Yuuji bekommt selbst genauso gern Komplimente wie jeder andere Mensch, aber er braucht sie nicht für sein Selbstwertgefühl.
 

Zumindest meistens.
 

Yuuji knipst seine Nachttischlampe aus, wirft seine Bettdecke über sich und beobachtet ein paar Wolken, die sich vor den Mond schieben. Sein Handy vibriert.
 

Tadashi; 11:18 pm: heißt dass du magst jungs
 

Yuuji schnaubt.
 

Yuuhuuji; 11:19 pm: tadashi, mein dude, mein sommersprossiges schüchternheitsdesaster

Yuuhuuji; 11:19 pm: ich hab in den letzten stunden ungefähr zehnmal gesagt dass du süß bist

Yuuhuuji; 11:19 pm: glaubst du das heißt dass ich hetero bin

Yuuhuuji; 11:20 pm: die wichtige frage ist doch

Yuuhuuji; 11:20 pm: bist du hetero?
 

Yuuji ist bereits am eindösen, als sein Handy erneut vibriert.
 

Tadashi; 11:27 pm: ich dachte schon

Tadashi; 11:27 pm: vielleicht...... nicht?

Yuuhuuji; 11:28 pm: weil ich großzügig und umwerfend nett bin, stelle ich mich als versuchskaninchen zur verfügung, tadashi

Yuuhuuji; 11:29 pm: gute nacht (︶。︶✽)

Tadashi; 11:43 pm: gute nacht
 

*
 

Tadashi; 08:19 am: wie findet man raus ob man nicht nur mädchen mag
 

Yuuji hat sehr viele versaute Erwiderungen im Kopf. Über Pornos und Masturbationsfantasien und spontanes Rummachen mit einem nicht minder neugierigen, männlichen Individuum seiner Wahl. Aber es ist wahrscheinlich zu früh am Morgen, um Tadashi solche Dinge um die Ohren zu hauen—wenn überhaupt jemals eine gute Zeit dafür ist, wenn er daran denkt, wie rot der arme Junge geworden ist, nur weil jemand ihm seine Nummer gegeben hat.
 

Yuuji ist nicht verwundert darüber, dass seine Mutter über Nacht nicht nach Hause gekommen ist. Als er am Sonntagmorgen aufsteht, ist das Haus nicht minder leer und still als am Vorabend.
 

Er plündert den Kühlschrank und frühstückt mitten im Wohnzimmer auf dem Fußboden, während im Fernsehen eine Spieleshow läuft, die er nicht weiter beachtet. Wenn seine Mutter noch länger weg bleibt, muss er morgen nach der Schule dringend einkaufen gehen.
 

An Tagen wie diesen wünscht Yuuji sich Geschwister. Dann wäre das Haus nicht so still und er wäre nicht gezwungen irgendeinen niveaulosen Mist im Fernsehen zu schauen, nur damit die Stille nicht auf seine Ohren drückt. Vielleicht sollte er nach dem Frühstück rausgehen und ein bisschen die Nachbarschaft unsicher machen. Vielleicht haben Kazuma und Takeharu Zeit für ihn.
 

Yuuhuuji; 09:26 am: woher weißt du dass du mädchen magst

Tadashi; 09:27 am: umm

Tadashi; 09:27 am: einfach so?

Tadashi; 09:27 am: ich hab nie drüber nachgedacht

Tadashi; 09:27 am: mädchen sind... süß?
 

Yuuji schnaubt. Nicht, dass er das nicht nachvollziehen könnte. Aber trotzdem.
 

Yuuhuuji; 09:29 am: aus erster hand kann ich berichten dass jungs auch süß sind tadashi (⌒.−)=★

Tadashi; 09:33 am: du musst damit aufhlren ●﹏●

Tadashi; 09:33 am: *aufhören

Yuuhuuji; 09:35 am: möchtest du dass ich dich anlüge

Yuuhuuji; 09:35 am: tadashi............

Yuuhuuji; 09:35 am: und ich dachte du wärst ein anständiger junge (¬‿¬)

Tadashi; 09:36 am: yuuji-kun

Tadashi; 09:36 am: warum bist du so?
 

Yuuji muss lachen. Er bringt sein dreckiges Geschirr in die Küche und denkt einen Moment lang darüber nach, ob er die immer größer werdenden Stapel in die Spülmaschine sortieren sollte. Aber er hat keine Lust, lässt die Unordnung Undordnung sein und geht zurück ins sonnige Wohnzimmer, um sich dort auf den flauschigen Teppich zu legen und der Spieleshow im Hintergrund zu lauschen, während er sein Handy vor sich in der Luft hält und über seine Antwort nachdenkt.
 

Schließlich denkt er, dass er genauso gut die volle Breitseite auspacken kann. Warum nicht? Er hat nichts zu verlieren, es würde definitiv sehr viel Spaß machen und wer weiß, vielleicht bekommt Tadashi eine Erleuchtung, die ihn bis ans Ende seines Lebens begleiten wird.
 

Yuuhuuji; 09:41 am: möchtest du ein gedankenexperiment machen um es zu testen (¬‿¬)

Tadashi; 09:42 am: ●﹏●

Tadashi; 09:42 am: ok?

Yuuhuuji; 09:43 am: stell dir den umwerfendsten typen vor, den du kennst

Yuuhuuji; 09:43 am: einer bei dem du dir denkst boah

Yuuhuuji; 09:43 am: sowas scharfes hab ich selten gesehen

Yuuhuuji; 09:44 am: hast du einen im kopf?

Tadashi; 09:47 am: umm... ich weiß nicht.

Yuuhuuji; 09:49 am: na komm schon tadashi. wir haben jede menge heiße schnittchen in unserer präfektur. wie isses mit ushijima? oder vielleicht mehr so einer wie oikawa?

Tadashi; 09:51 am: oh gott nein!!!

Tadashi; 09:51 am: ich glaub ich hab einen. vielleicht

Yuuhuuji; 09:55 am: ich würde gerne fragen wer es ist ( ͡° ͜ʖ ͡°)

Yuuhuuji; 09:55 am: vielleicht magst du ja auch blonde rebellen mit piercings ( ͡° ͜ʖ ͡°) ( ͡° ͜ʖ ͡°) ( ͡° ͜ʖ ͡°)

Tadashi; 09:57 am: .........
 

Yuuji ist zu amüsiert über alles, was in dieser Unterhaltung passiert, als dass er irgendetwas anderes mit seiner Zeit anfangen wollen würde. Hausaufgaben sind was für Leute, die nichts Besseres zu tun haben und Yuuji ist gerade dabei, jemandem ein potentielles, sexuelles Erwachen zu bescheren.
 

Yuuhuuji; 09:58 am: okok sei weiter ein spielverderber tadashi

Yuuhuuji; 09:59 am: aber wenn du ihn im kopf hast, gut! stell dir vor ihr seid allein hinter der sporthalle und es ist dunkel draußen und eigentlich musst du nach hause, aber ihr habt bis geradeeben trainiert und vielleicht sogar nett geplaudert. und er zieht sein trikot hoch, um sich damit den schweiß aus dem gesicht zu wischen und du siehst seine bauchmuskeln und eigentlich willst du rechtzeitig wieder weggucken aber er erwischt dich beim starren

Yuuhuuji; 10:03 am: und vielleicht grinst er, aber vielleicht starrt er auch nur zurück und dann drückt er dich gegen die wand von der halle und eh dus dich versiehst küsst er dich. er schiebt ein bein zwischen deine beine und das ist definitiv der beste kuss, den du je hattest und er ist definitiv kein bisschen so weich und zierlich wie die mädchen die du sonst anguckst
 

Yuuji ist gerade dabei, eine detaillierte Beschreibung davon zu tippen, wie der namenlose Typ Tadashi an die Hose geht, als sein Handy erneut vibriert.
 

Tadashi; 10:06 am: oh mein gott hör auf (꒪ȏ꒪;)

Tadashi; 10:06 am: ich seh dich tippen. STOP
 

Yuuji ist ein bisschen enttäuscht, dass sein wunderbarer Roman jetzt keinen Abnehmer mehr findet und das, obwohl er sich viel Mühe gegeben hat, blumige Umschreibungen für das Wort Penis zu finden, damit Tadashi nicht vor lauter Schock vom Stuhl stürzt.
 

Yuuhuuji; 10:07 am: das war ein kurzes gedankenexpiremtn

Yuuhuuji; 10:07 am: *experiment

Yuuhuuji; 10:07 am: ich war schon bei dem part angekommen, bei dem ihr euch gegenseitig einen runterholt ( ͡° ͜ʖ ͡°)
 

Yuuji hat ein Problem damit, Grenzen einzuhalten. Das hat Hana ihm schon hundert Mal gesagt und er weiß, dass sie Recht hat. Aber lassen kann Yuuji es trotzdem nicht. Tadashi antwortet auf seine letzte Nachricht nicht mehr und nach zehn Minuten des Wartens steckt Yuuji sein Handy in die Hosentasche und macht sich auf den Weg in sein Zimmer, um irgendeine Beschäftigung zu finden.
 

Auf Kazuma ist eigentlich immer Verlass, wenn er Yuuji langweilig ist, aber heute scheint er ihn im Stich zu lassen, als er ihm verkündet, dass er wegen seiner letzten verpatzten Matheklausur Hausarrest bekommen hat und sich deswegen nicht mi Yuuji im Park treffen kann.
 

Seine Mutter hat immer schon gesagt, dass Yuuji Schwierigkeiten damit hatte, sich selbst zu beschäftigen. Auch, wenn er ihr gegenüber keine besonders freundlichen Gefühle hegt, hat sie nicht unrecht. Yuuji fragt sich, warum die wenigen Frauen, die er in seinem Leben hat, ihm andauernd unangenehme Wahrheiten unter die Nase reiben müssen.
 

Ihm ist so langweilig, dass er sogar seine Hausaufgaben für Montag und Dienstag erledigt—und das alles, weil Tadashi, der olle Spielverderber, ihm nicht auf seine hilfreichen Nachrichten geantwortet hat. Yuuji überlegt, ob er ihm vielleicht noch mal schreiben und einfach das Thema wechseln soll. Vielleicht hatte Tadashi auch einfach eine Verabredung und konnte deswegen nicht antworten.
 

Vielleicht ist Yuuji auch einfach zu weit gegangen.
 

Wundern würde es ihn nicht, es ist ein altes Lied für ihn.
 

Er räumt das Geschirr in der Küche in den Geschirrspüler, übt anderthalb Stunden Flickflacks im Garten und geht anschließend auch noch Joggen, um sich die Zeit zu vertreiben. Wer auch immer Sonntage erfunden hat, gehört seiner Meinung nach erschossen.
 

Als er abends im Bett liegt, stellt Yuuji fest, dass er es tatsächlich bedauert, dass Tadashi ihm nicht mehr geantwortet hat. Er starrt aufs Display seines Handys und verflucht Kazuma, der ganz offensichtlich der Grund für seine Unzufriedenheit ist. Yuuji weigert sich allerdings, länger als nötig über irgendeinen rivalisierenden Nerd nachzudenken und stopft sein Handy unters Kopfkissen, ehe er die Augen schließt und schließlich nach einiger Zeit einschläft.
 

*
 

Yuuji ist ungnädig über sich selbst und die Welt im Allgemeinen.
 

Auch am Mittwoch hat Tadashi sich nicht mehr bei ihm gemeldet und Yuuji würde gerne behaupten, dass seine Gedanken nicht an Tadashi haften, weil Tadashi ganz objektiv betrachtet eher langweilig und kein bisschen Yuujis Typ ist. Aber er denkt an Sommersprossen und ein riesiges Übermaß an Verlegenheit und »Hast du’s wirklich so gemeint?«.
 

Beim Training nach der Schule hat er endlich Gelegenheit, sein Gehirn abzuschalten, auch wenn er sich hin und wieder beim Gedanken daran ertappt, welche Position Tadashi in seiner Mannschaft spielt. Vielleicht ist er auch ein Mittelblocker. Groß genug wäre er auf jeden Fall. Während er darüber grübelt verpasst er Kazumas nächsten Aufschlag und bekommt den Ball prompt ins Gesicht.
 

»Ow, fuck!«
 

Eine Mischung aus besorgten Rufen und Gelächter bricht aus während Yuuji sich seine blutende Nase hält. Es fühlt sich nicht unähnlich zu einem Faustschlag an, den er mal bekommen hat, weil er die Freundin eines Basketballers in dessen Gegenwart angebaggert hat.
 

»Terushima! Alter! Tut mir leid!«
 

Kazuma sieht aus, als würde er zwischen Schadenfreude und schlechtem Gewissen schwanken als er sich neben Yuuji hinkniet. Runa ist zur Stelle mit einem Kühlpack und einer Ladung Taschentücher, die sie Yuuji mit großen Augen hinhält. Es ist wirklich sehr viel Blut, das ihm aus der Nase läuft.
 

»Ich glaube sie ist nicht gebrochen«, sagt Takeharu mit einem fachmännischen Blick auf Yuujis Nase, die sich jetzt schon anfühlt, als wäre sie auf die doppelte Größe angeschwollen. Er schmeckt Eisen in seinem Mund und verzieht das Gesicht.
 

»Ich glaube, du solltest damit ins Krankenzimmer gehen«, sagt Runa, ihre Augen immer noch riesig.
 

»Bringst du mich etwa hin, Runa-chan?«, feixt Yuuji um eine Ladung voll Blut und er kann Kazumas Schnauben entnehmen, dass Yuujis üblicher Charme von der Menge roter Flüssigkeit akut gedämpft wird, die ihm über Mund und Kinn läuft. Runa sieht jedoch entschlossen aus, ihre Pflichten als Managerin wahrzunehmen, denn sie nickt eifrig und greift vorsichtig nach Yuujis Ellbogen, um ihm aufzuhelfen und ihn aus der Sporthalle zu führen.
 

Unter anderen Umständen hätte Yuuji die Gelegenheit vermutlich genutzt, um mit Runa zu flirten. Jetzt ist sein Gehirn allerdings damit beschäftigt sich klarzumachen, dass er wegen seiner Ablenkung über Tadashi einen Volleyball auf die Nase bekommen hat.
 

»Runa-chan«, sagt er, während sie durch Korridore gehen und Yuuji versucht, nicht alles vollzubluten. »Was machst du, wenn du bei jemandem Grenzen überschritten hast?«
 

Runa wirft ihm einen Seitenblick zu.
 

»Absichtlich oder aus Versehen?«, will sie wissen. Ihre Stimme ist so leise. Runa ist genauso schüchtern wie Tadashi. Yuujis Gehirn ist offensichtlich von dem Schlag ins Gesicht beschädigt worden—es dreht sich im Kreis und kommt immer wieder bei Sommersprossen an.
 

»Ähm. Vielleicht beides ein bisschen?«, gibt er zurück. Seine Stimme klingt ein bisschen nasal, wahrscheinlich weil seine Nase so voller Blut ist. Yuuji hat definitiv genug von dem Eisengeschmack.
 

Runas Gesichtsausdruck überrascht ihn. Sie lächelt, fast ein bisschen amüsiert, und schüttelt den Kopf.
 

»Du provozierst Leute zu oft bis zum Anschlag, Terushima-san. Die meisten Leute schätzen es nicht, wenn man sie dauernd triezt. Hast du dich entschuldigt?«
 

»Ähm.«
 

»Terushima-san...«
 

»Wir sind nicht mal befreundet«, sagt er abwehrend und sieht zu, wie Runa die Hand hebt und an die Tür des Krankenzimmers klopft. Sie werden hereingebeten und Runa wirft ihm einen beinahe mitleidigen Blick zu.
 

»Seit wann verdienen nur gute Freunde es, mit Respekt behandelt zu werden, Terushima-san?«
 

Yuuji klappt den Mund zu und lässt sich von der Schulkrankenschwester auf eine Liege bugsieren. Runa verbeugt sich und dreht sich zur Tür.
 

»Sag einfach, dass es dir Leid tut. Ich bin sicher, es wird alles wieder ok«, sagt sie, ehe sie die Tür hinter sich schließt, wahrscheinlich, um draußen zu warten. Yuuji fühlt sich nach ihren Worten seltsam klein. Nach Hana und seiner Mutter ist Runa jetzt schon die dritte Frau, die ihn auf unangenehme Wahrheiten stößt. Yuuji erkennt ein Muster, wenn er eines vor sich hat. Er kann Muster nicht ausstehen.
 

Während die Krankenschwester in ihren Schränken nach Watte und Eis sucht, kramt Yuuji hastig sein Handy aus der Tasche seiner Shorts. Wenn der Coach wüsste, dass Yuuji es meistens mit sich beim Training herumschleppt, wäre sicherlich die Hölle los. Er macht ein blutiges Selfie mit einem strahlenden, rotzahnigen Grinsen und einem Peace-Zeichen, ehe er das Handy hastig wieder in die Tasche stopft. Dann lässt er Reininung, Kühlung und Behandlungstipps über sich ergehen, ehe er schließlich mit der Versicherung entlassen wird, dass seine Nase nicht gebrochen ist.
 

Runa lehnt draußen zwischen zwei der Fenstern, die nach draußen auf den Schulhof zeigen.
 

»Geht es dir besser?«, fragt sie lächelnd. Yuuji nickt und seufzt. Immerhin hat die Blutung aufgehört, auch wenn er weiterhin einen ekligen Geschmack im Mund und das Gefühl hat, dass seine Nase auf die doppelte Größe angeschwollen ist.
 

»Fit wie ein Turnschuh, Runa-chan!«, sagt Yuuji und schenkt ihr sein charmantestes Lächeln. Während sie sich auf den Weg zurück zur Halle machen, kramt Yuuji erneut nach seinem Handy und prüft das Selfie. Dann öffnet er den Chat mit Tadashi und schickt ihm das Bild.
 

Yuuhuuji; 04:11 pm: das passiert, wenn ich an dich denke statt aufs feld zu achten
 

Yuuji schickt die Nachricht ab, bevor er es sich anders überlegen kann. Er liest die Worte. Es ist nicht wirklich eine Entschuldigung. Yuuji kann förmlich spüren, wie Runa ihn beobachtet und er schluckt, ehe er seine Finger erneut über die Tasten huschen lässt.
 

Yuuhuuji; 04:13 pm: sry wegen neulich, ich treibs ab und an zu weit
 

Aus unerfindlichen Gründen spürt Yuuji, wie ihm die Hitze ins Gesicht steigt und er stopft das Handy hastig zurück in seine Hosentasche.
 

»Ich werd Coach nicht erzählen, dass du dein Handy mit dir rumträgst, aber vielleicht ist es besser in deiner Tasche aufgehoben«, sagt Runa vorsichtig, bevor sie die Halle betreten. Yuuji wirft ihr ein breites Grinsen zu.
 

»Ich wäre nicht ich, wenn ich nicht hier und da ein paar Grenzen überschreiten würde, Runa-chan«, erwidert er und streckt ihr die Zunge heraus. Sie seufzt und schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Yuuji ist klar, dass er mit seiner Nase nicht weiter trainieren kann, also wirft er sich auf die Bank und macht es sich zur Aufgabe, den anderen Verbesserungsvorschläge zuzurufen und sie für besonders gelungene Manöver zu loben. Er merkt, wie Runa ihn amüsiert beobachtet.
 

Als sein Handy vibriert, muss Yuuji sich mit aller Macht zusammenreißen, nicht sofort in seine Tasche zu greifen und es hervorzuziehen. Er wartet, bis das Training vorbei ist, dann folgt er seinen Mannschaftskameraden in die Umkleidekabine und zieht sein Handy aus der Tasche.
 

Tadashi; 04:32 pm: oh mein gott bist du in ordnung???
 

Yuuji hat keine Ahnung, wo die Welle der Erleichterung herkommt, die ihn durchflutet, aber er starrt sein Handy an und vergisst ganz, dass er noch in Gesellschaft ist, bis Kazuma ihm das Handy aus der Hand schnappt und den Chatverlauf anstarrt.
 

»Wer ist Tadashi?«, will er amüsiert wissen. »Deine neuste Eroberung?«
 

Yuuji schnaubt und entringt Kazuma das Handy. Dann zögert er.
 

»Nummer zwölf mit den Sommersprossen«, gibt er schließlich zu. Ihm entgeht nicht, wie Takeharu ihn verwundert blinzelnd ansieht, während Kazuma sich über diese Neuigkeit totlacht.
 

»Meine Fresse, Terushima, wer hätte gedacht, dass du die Wette so weit treibst. Schickt ihr euch jetzt schon Selfies, ja? Was willst du denn noch mit dem?«
 

Tadashi; 10:19 pm: es hätte mich nicht gewundert. alle mädchen wollen auch immer mit tsukki reden
 

»Halt die Klappe, Alter. Er ist...«
 

Yuuji sucht nach passenden Worten. Nett. Nett ist normalerweise kein Wort, das ihn sonderlich anspricht. Tadashi ist nicht sonderlich witzig oder spannend oder abenteuerlich. Yuuji grummelt und verpasst Kazuma einen Stoß mit dem Ellbogen.
 

»Er ist in Ordnung!«
 

Kazuma hört auf zu lachen und starrt Yuuji an.
 

»Alter...«
 

Takeharu nimmt Kazuma in einen Schwitzkasten, bevor er weitersprechen kann.
 

»Wie schön für dich, dass was Gutes bei der Wette rumgekommen ist«, sagt Takeharu, während Kazuma unzufriedene Würgegeräusche macht. Yuuji stopft sein Handy in seine Jeans und katapultiert sein Trikot in seine Sporttasche. Runas Worte über Respekt huschen durch seinen Kopf wie ein Stromschlag.
 

Ugh.
 

»Wie auch immer. Ich seh euch morgen«, sagt Yuuji, wirft sich die Tasche über die Schulter und versenkt seine Hände in der Hosentasche.
 

Yuuhuuji; 05:08 pm: es ist nichts gebrochen aber ich fühl mich wie ein see elefant(; ̄Д ̄)

Tadashi; 05:09 pm: ich mag seeelefanten
 

Yuuji blinzelt. Er ist sich nicht sicher, ob sie wirklich über Seeelefanten reden, oder nicht.
 

Yuuhuuji; 05:10 pm: ich glaub ich hab noch nie jmd sagen gehört dass er see elefanten gut findet. wieso findest du die gut? (⊙_☉)

Tadashi; 05:12 pm: ich mag tiere die komisch aussehen

Tadashi; 05:12 pm: wenn schon sonst keiner sie süß findet

Tadashi; 05:12 pm: komische tiere haben auch fans verdient
 

Yuuji bleibt mitten auf dem Fußweg stehen, weil sich in seinem Brustkorb ein sehr merkwürdiges, blubberndes Gefühl breit macht. Er schluckt und seine Finger schweben über den Tasten, ehe er sich nach über einer Minute des dämlichen Herumstehens für eine Antwort entschieden hat. Sein erster Impuls ist es, Tadashi zu sagen, dass er süß ist. Dann denkt er daran, dass Runa das sicherlich als Triezen bezeichnen würde und entscheidet sich dagegen.
 

Allerdings muss Yuuji sich auch eingestehen, dass es diesmal definitiv nicht als Witz gemeint gewesen wäre.
 

Yuuhuuji; 05:15 pm: was für andere komische tiere findest du noch gut?
 

Yuuji setzt seinen Weg nach Hause fort, während Tadashi ihm verschiedene Tierarten aufzählt. Manche davon kennt Yuuji nicht, woraufhin Tadashi ihm Bilder schickt. Als Yuuji zu Hause ankommt, hat er Bilder von Narwalen, Koboldmakis, Kakapos, Ameisenbären, Capybaras und jeder Menge anderer seltsamer Tiere auf seinem Handy.

Er schließt die Tür auf, nur um festzustellen, dass seine Mutter zwischendurch dagewesen sein muss, aber jetzt wieder verschwunden ist. Er seufzt ins leere Haus hinein und kickt seine Schuhe beiseite.
 

Yuuhuuji; 05:42 pm: warum kennst du so viele komische tiere?

Yuuhuuji; 05:42 pm: capybaras und koboldmakis sind zu süß

Yuuhuuji; 05:43 pm: komisch aber süß (✪‿✪)ノ
 

Wie du, denkt Yuuji sich.
 

Tadashi; 05:48 pm: ich gucke ziemlich viele naturdokus, manchmal mit tsukki, manchmal einfach so
 

Während Yuuji durch die Nachbarschaft streift und sich überlegt, was er für Scheiß aushecken könnte, sitzt Tadashi zu Hause in seinem Zimmer und schaut Naturdokus. Yuuji hat das Gefühl, dass er sehr rapide auf einen Abrgrund zusprintet, auch wenn er nicht genau sagen kann, woran das liegt.
 

Nach dem Duschen wirft Yuuji sich aufs Bett und angelt sich seinen Laptop heran. Während er weiter mit Tadashi chattet, klickt er sich durch verschiedene Videos über Capybaras und Koboldmakis, sowie ein paar andere Tiervideos, die ihm angeboten werden. Als er das nächste Mal auf die Uhr schaut, ist es halb elf und dunkel draußen.
 

Das einzige Licht in seinem Zimmer kommt jetzt von seinem Laptop. Er hat sich fast fünf Stunden mit Tadashi über alle möglichen Themen unterhalten.
 

Pokemon—Tadashi mag Geister- und Pflanzenpokemon—, Filme—Tadashi guckt gerne Horrofilme, auch wenn er sich immer viel zu sehr gruselt—, Volleyball—Yuuji weiß jetzt, dass Tadashi der einzige Erstklässler war, der es nicht in die Starteraufstellung geschafft hat, aber dass er jetzt offiziell ein Pinch-Server ist.
 

Yuuji weiß plötzlich sehr viel über Tadashi. Und erstaunlicherweise auch mehr über sich selbst. Yuuji ist nicht der Typ, der sonderlich viel über sich nachdenkt, aber wenn Leute einem Fragen über sich selbst stellen, kommt man nicht umhin, sich mit sich selbst auseinander zu setzen.
 

Er klappt seinen Laptop zu und rupft sich im Dunkeln die Klamotten vom Leib. Er hat vor lauter Tiervideos und Tadashi vergessen zu essen, aber er hat keine Lust mehr sich mit der gähnenden Leere im Kühlschrank auseinanderzusetzen. Also ignoriert das anklagende Knurren seines Magens und das immer noch leicht schmerzhafte Puckern in seiner Nasengegend und verkriecht sich unter die Bettdecke.
 

Tadashi; 10:37 pm: hey yuuji-kun

Yuuhuuji; 10:38 pm: hm?

Tadashi; 10:38 pm: danke

Yuuhuuji; 10:39 pm: wofür?

Tadashi; 10:43 pm: weiß nicht so genau

Tadashi; 10:43 pm: ich glaub alles

Tadashi; 10:44 pm: gute nacht (ᴗ˳ᴗ)
 

Yuuji starrt auf sein Display, während sein Herz einen Mehrfachsalto vollführt.
 

Fuck.
 

*
 

Yuuji ist sich nicht sicher, wann in den folgenden Wochen es normal wird, morgens »guten morgen, yuuji-kun« und abends »schlaf gut« auf seinem Display zu sehen. Er weiß, dass Kazuma und Takeharu sich darüber wundern, was er so viel auf seinem Handy herumzutippen hat, auch wenn Yuuji sich ziemlich sicher ist, dass Takeharu ihn eher durchschaut. Aber weil er ein guter Freund ist, bohrt er nicht nach und Yuuji ist dankbar dafür, denn er hat keine Ahnung, was er sagen würde, wenn seine Freunde ihn ausfragen würden.
 

Obwohl Yuuji dachte, dass Tadashi nicht sein Typ und definitiv ein Langweiler ist, wacht er jeden Morgen mit einer nicht zu leugnenden Vorfreude darüber auf, sich den Tag über mit Tadashi zu unterhalten. Sie haben noch nicht ein einziges Mal telefoniert und Yuuji erinnert sich nicht wirklich an seine Stimme. Hat Tadashi überhaupt irgendwas gesagt, als Yuuji ihm seine Nummer zugesteckt hat?
 

Vielleicht hat er ein bisschen verwirrt gestammelt. Aber Yuuji weiß nicht mehr, wie seine Stimme klingt. Wahrscheinlich ist es nicht normal, obsessiv über die Stimme von jemandem nachzudenken, den man eigentlich nur durch Textnachrichten kennt und einmal live gesehen hat.
 

An einem Samstagabend—und Yuuji ist normalerweise nicht der Typ, der Samstagabend zu Hause hockt—stellt Tadashi eine Frage, mit der Yuuji nicht gerechnet hat. Er hat schon seine engste Jeans und sein verwegenstes Shirt ausgepackt, als sein Handy vibriert.
 

Tadashi; 09:10 pm: hast du skype oder discord und eine webcam?

Yuuhuuji; 09:11 pm: tadashi!!! hast du schmutziges mit mir vor? ( ͡° ͜ʖ ͡°) ( ͡° ͜ʖ ͡°) ( ͡° ͜ʖ ͡°)

Tadashi; 09:12 pm: .................

Tadashi; 09:12 pm: nvm

Yuuhuuji; 09:14 pm: ich hab skype! und eine webcam! ( ͡° ͜ʖ ͡°)
 

Als Tadashi für zehn Minuten nicht mehr antwortet, fragt Yuuji sich, ob er schon wieder zu weit gegangen ist. Aber dann bekommt er Skype-Kontaktdaten geschickt und ertappt sich beim Zögern. Eigentlich wollte er rausgehen. Sich mit ein paar Leuten treffen, vielleicht irgendwo im Park ein paar Bier trinken.
 

Er starrt sein Handy an.
 

Tadashi; 09:26 pm: du hast wahrscheinlich was besseres vor als zu hause zu sitzen aber es gibt diese neue doku auf netflix.....
 

Yuuji möchte gleichzeitig lachen und seinen Kopf gegen die Wand hauen, weil er niemals in seinem Leben damit gerechnet hätte, Natur-Dokus auf Netflix gegen Biertrinken im Park abzuwägen.
 

Tadashi; 09:32 pm: vergiss dass ich gefragt habe

Tadashi; 09:32 pm: sorry

Tadashi; 09:32 pm: es war ne blöde idee

Yuuhuuji; 09:35 pm: komm schon tadashi

Yuuhuuji; 09:35 pm: es war nicht blöd

Yuuhuuji; 09:35 pm: vielleicht lernen wir was über seeelefanten, meine edlen verwandten (⌒.−)=★

Tadashi; 09:38 pm: hast du wirklich nichts anderes vor?

Yuuhuuji; 09:39 pm: nah nicht wirklich. seeelefanten sind besser als bier im park (^_-)v
 

Eine Weile lang passiert nichts und Yuuji kann nicht fassen, dass er wirklich nicht in den Park geht. Nein, er wird irgendeine Natur-Doku mit Tadashi auf Netflix gucken. Während die Webcam läuft.
 

Fuck.
 

Das ist definitiv die schlechteste Idee, die Yuuji seit langem hatte. Vielleicht will Tadashi nicht nur die Webcam einschalten, sondern auch das Mikrofon. Yuuji hat das Gefühl, dass sein Leben ganz plötzlich rapide aus den Fugen gerät und er kann nicht mal genau sagen, woran genau das eigentlich liegt.
 

Es ist natürlich Tadashis Schuld, aber Tadashi hat nicht wirklich irgendwas Bösartiges mit ihm angestellt. Alles, was Tadashi tut, ist ihm Bilder von Koboldmakis zu schicken und Screenshots von neuen Pokemon, die er bei Pokemon Go gefangen hat, und ihm jeden Tag Guten Morgen und jeden Abend Gute Nacht zu wünschen und—
 

Yuuji klappt seinen Laptop auf.
 

Vielleicht sollte er ein Bier trinken, einfach um das Gefühl zu haben, dass er sein Leben noch ein bisschen im Griff hat.
 

Tadashi; 09:45 pm: webcam ohne ton?

Yuuhuuji; 09:46 pm: jup. gib mir ne sekunde, ich besorg mir ein bier ausm kühlschrank
 

Allein zu Hause sitzen, Netflix Dokus gucken und dabei ein Bier trinken ist sicherlich fast dasselbe als dafür in den Park zu gehen und mit Bekannten irgendwelchen Blödsinn anzustellen. Er akzeptiert Tadashis Freundschaftsanfrage.
 

Freunde.
 

Yuuji weigert sich, über eine Freundschaftsanfrage bei Skype eine Existenzkrise zu bekommen und geht in die Küche, um sich Bier und einen Rest Sushi aus dem Kühlschrank zu holen, den seine Mutter von ihrem letzten Ausflug mitgebracht hat. Er wirft sich aufs Bett, nachdem er seine abendliche Versorgung auf dem Nachtschrank abgestellt hat, angelt nach dem Laptop und nimmt nach kurzem Zögern den Videoanruf von Tadashi an.
 

Ein sommersprossiges Gesicht erscheint zur Hälfte, bis Tadashi seinen Laptop zurechtbiegt und auch die untere Hälfte seines Kopfes zu sehen ist. Sein Lächeln sieht aus, als würde es ihn sehr viel Anstrenung kosten und er winkt offensichtlich nervös in die Kamera.
 

Yuuji grinst.
 

Tadashi hat sein struwweliges Haar nach hinten gebunden, sodass seine Ohren zu sehen sind. Er hat wirklich sehr viele Sommersprossen. Und.
 

Yuuji entdeckt mehrere Ohrringe in den Ohren, die er beim ersten Mal nicht gesehen hat.
 

Yuuhuuji: du hast PIERCINGS???
 

Er sieht Tadashis kurze Verwirrung und dann seine Verlegenheit, als seine linke Hand unbewusst nach seinem Ohr greift. Er duckt sich und lächelt verlegen, ehe er anfängt eine Antwort zu tippen.
 

Tadashi: ja? ist das so komisch? zum sport und in der schule nehm ich sie immer raus

Yuuhuuji: unerwartet
 

Yuuji grinst breit in die Kamera und streckt seine Zunge heraus, sodass Tadashi sein Piercing sehen kann. Die Qualität der Webcamübertragung ist nicht sonderlich gut, aber Yuuji könnte schwören, dass Tadashis Gesicht rot anläuft.
 

Tadashi: wenn ich 18 bin kanns mit tattoos losgehen

Yuuhuuji: tadashi!

Yuuhuuji: wer hätte gedacht dass du ein kleiner bad boy bist
 

Yuuji muss lachen als Tadashi den Kopf noch mehr einzieht und das Gesicht in den Händen verbirgt.
 

Verdammt.
 

Warum ist Tadashi so...
 

Süß. Er ist süß.
 

Yuuji hat es ihm so oft gesagt, bevor er es wirklich gemeint hat und jetzt sitzt er hier mit der überwältigenden Einsicht, dass Tadashi kein bisschen langweilig ist. Yuuji stellt sich vor, was Hana zu ihm sagen würde, wenn sie hier wäre. Kurz juckt es ihn in den Fingern, ihr zu schreiben und sie zu fragen, was genau er eigentlich tun soll, aber dann müsste er ihr erklären, was eigentlich das Problem ist und Yuuji kann nicht genau sagen, was eigentlich das Problem ist.
 

Er weiß nur, dass er definitiv eins hat, während er Tadashis Webcamfenster anstarrt und die Piercings mustert und sich fragt, wo Tadashi sich tätowieren lassen will.
 

Tadashi: ich glaub nich dass ich im vergleich zu dir als bad boy durchgehe

Yuuhuuji: ich hab immerhin keine tattoos

Yuuhuuji: was für welche willst du?
 

Yuuji öffnet sein Bier und prostet in Richtung seiner Webcam.
 

Tadashi: sag ich dir nicht. du lachst

Yuuhuuji: tadashi! würde ich JEMALS über dich lachen???

Tadashi: das ist eine frage die ich nicht beantworten werde weil die antwort zu offensichtlich ist
 

Yuuji schnaubt. Er sieht, dass Tadashi ihn ebenfalls mustert—zumindest vermutet er das, weil Tadashi mit schiefgelegtem Kopf an seinem Schreibtisch sitzt und sehr interessiert irgendwas auf seinem Bildschirm betrachtet. Vielleicht hat er auch einfach ein spannendes Bild von irgendeinem Pokemon aufgerufen.
 

Tadashi: die doku heißt unser planet

Tadashi: sag bescheid wenn du sie gefunden hast

Tadashi: bist du sicher dass das ok ist? ist das nicht zu langweilig für dich?
 

Yuuji nimmt einen weiteren Schluck Bier und schiebt sich ein Stück Sushi in den Mund, ehe er es sich im Bett bequem macht und sich den Laptop auf den Schoß stellt. Er fährt sich durch die Haare—er sollte beizeiten seinen Undercut frisch rasieren—und nimmt einen weiteren Schluck Bier.
 

Yuuhuuji: kann losgehen (^_-)v
 

Yuuji hat das letzte Mal eine Natur-Doku geguckt, als er acht war und seine Mutter noch das Gefühl hatte, sie müsste alle zwei Wochen Zeit mit ihrem Sohn verbringen. Yuuji weiß nicht mehr genau, was für eine Doku es war, aber sie beinhaltete Löwen und Tiger und jede Menge komische Vögel, von denen er vorher noch nie gehört hatte.
 

Er und Tadashi starten gleichzeitig die erste Folge der Doku und Yuuji spürt ein unruhiges Vibrieren unter der Haut. Er ist diese Art von Zeitvertreib definitiv nicht gewöhnt. Meistens muss er in Bewegung sein, umgeben von Leuten, irgendwie beschäftigt. Seine Finger fahren immerzu den Rand der Bierdose entlang, aus der er immer wieder trinkt und seine Augen haften öfter an Tadashi, als auf der eigentlich Doku, auch wenn er sich Mühe dabei gibt, zumindest dem Ton zu folgen.
 

Yuuji weiß, dass er sich mit dem Bier eigentlich etwas zurückhalten sollte, aber die Tatsache, dass er seine Augen nicht von Tadashis Webcam-Fenster lassen kann, macht ihn unruhig und ehe er es sich versieht, ist er mit seinem dritten Bier fertig, gerade als Tadashi die Hände zum Mund hebt, seine Augen riesig und beunruhigt.
 

Einen Moment lang ist er verwirrt, bis seine Augen von Tadashi auf das Geschehen der Netflix-Doku wechseln und er ein kleines Flamingobaby sehen kann, das anscheinend aufgrund von getrockneten Salzablagerungen an seinen Beinen den anderen Flamingos nicht folgen kann.
 

Yuuji spürt, wie sich sein Brustkorb zusammenzieht und das Bier, das ihm bereits ein wenig zu Kopf gestiegen ist, weil er es zu schnell getrunken hat, sich in seinem Magen umdreht. Alles in ihm kribbelt.
 

Und das nur, weil Yamaguchi Tadashi so sehr mit einem Flamingobaby mitfühlt.
 

Fuck.
 

Fuckfuckfuck.
 

Yuuji ist am Arsch.
 

Er widersteht dem Drang seinen Laptop zuzuklappen und das Haus zu verlassen, doch noch in den Park zu gehen und sich so sehr zu betrinken, bis er vergessen hat, dass Tadashi Piercings hat und über Flamingobabys weint.
 

Vor einigen Wochen hätte Yuuji darüber gelacht, wenn jemand über ein beknacktes Falmingobaby weint. Aber während er Tadashi dabei beobachtet, wie er sich die Nase putzt und seine Augen wischt, kann Yuuji nichts dagegen tun, dass sein Herz ihm fast aus dem Brustkorb springt.
 

Vielleicht ist es nur der Alkohol, denkt er. Vielleicht wache ich morgen auf und alles ist wieder normal.
 

Tadashi: WARUM RETTET DER KAMERAMANN DAS FLAMINGO BABY NICHT

Tadashi: ༼☯﹏☯༽ ༼☯﹏☯༽ ༼☯﹏☯༽ ༼☯﹏☯༽

Tadashi: was für ein schlechter mensch
 

Yuuji würde gerne irgendetwas Aufmunterndes oder Witziges sagen, aber ihm fällt nichts ein. Nichts außer.
 

Yuuhuuji: fuck tadashi warum musst du so süß sein
 

Er hat es jetzt schon länger nicht gesagt, nicht mehr, seit es sehr real geworden ist. Und jetzt kann er zum ersten Mal live sehen, wie Tadashi auf ein Kompliment von ihm reagiert. Die Reaktion kommt sofort, als Tadashis Augen Yuujis Antwort lesen. Yuuji sieht, wie Tadashi sich anspannt und den Kopf einzieht, ehe er die Hände vors Gesicht schlägt und sich auf seinem Stuhl von der Webcam fort dreht.
 

So kann nur jemand reagieren, der nie Komplimente bekommt, denkt Yuuji sich etwas benommen, während seine Augen an seinem Bildschirm kleben, der Inhalt der Doku längst vergessen. Yuuji hat definitiv ein großes Problem.
 

Er will Tadashi mehr Komplimente machen. Er will aus der Nähe sehen, wie Tadashi rot anläuft und sich windet. Er will Tadashi küssen und hören, was für Geräusche Yuuji ihm entlocken kann.
 

Fuck.
 

Das ist ein sehr großes Problem. Aus einer bekloppten Wette ist ein Desaster geworden und Yuuji kann niemandem die Schuld geben außer sich selbst, weil er gestichelt und gestichelt und gebohrt hat, bis Tadashi sich geöffnet hat und jetzt hat Yuuji den Salat.
 

Tadashi hat sich vor seiner Webcam versteckt, aber er schreibt eine Antwort. Vermutlich hockt er auf dem Boden vor dem Schreibtisch, damit Yuuji ihn nicht mehr sehen kann.
 

Tadashi: hör auf mich zu veralbern

Yuuhuuji: das war ernst gemeint
 

Kein Zurück mehr. Er hätte grinsen und zwinkern und »ich kann nicht anders, du kennst mich doch« schreiben können. Aber sein Gesicht scheint eingefroren zu sein und er fragt sich, ob Tadashi ihn von seinem Versteck unterhalb der Webcam noch sehen kann. Er merkt, dass er auf seiner Unterlippe herumkaut. Die Musik aus seinen Lautsprechern sagt ihm, dass die erste Folge der Doku vorbei ist und die nächste gleich anfangen wird.
 

Tadashi taucht wieder auf und setzt sich zurück auf seinen Stuhl. Sein Gesicht ist knallrot angelaufen und für einen Augenblick schaut er direkt in die Webcam, was Yuujis Herz beinahe zum Stillstand bringt.
 

Fuck.
 

Tadashi: ich glaub nicht dass irgendwer außer meiner mutter mich schon mal süß genannt hat

Yuuhuuji: willst du mir etwa sagen dass ich dich entjungfert hab tadashi

Yuuhuuji: hättest du doch was gesagt dann hätte ich kerzen angezündet (¬‿¬)
 

Tadashi sieht aus, als würde er gleich vom Stuhl fallen, aber Yuuji ist froh über seine zurückgekehrte Schlagfertigkeit. Ein ernster Moment an einem Abend reicht ihm vollkommen. Vor lauter Stress öffnet er ein weiteres Bier.
 

Tadashi: möchtest du noch eine folge?

Yuuhuuji: na klar, bad boy tadashi (¬‿¬)
 

Tadashi lacht und schüttelt den Kopf. Yuujis Gedanken schwimmen in Bier und Verwirrung und fuckfuckfuck, während er Tadashi anstarrt und zuschaut, wie sein Gesicht aufleuchtet, als Seeelefanten in der zweiten Folge auftauchen und wie es in sich zusammenfällt, als ein Robbenbaby gefressen wird und...
 

Er hätte einfach nach der ersten Folge sagen sollen, dass er lieber ins Bett gehen würde. Oder in den Park. Er hätte nach der Wette nicht antworten sollen, als Tadashi ihm geschrieben hat. Er hätte—
 

Tadashi hat das Gesicht in seiner Hand abgestützt und lächelt seinen Bildschirm so liebevoll an, dass Yuujis Herz einen Moment lang stehen bleibt. Wahrscheinlich noch mehr Robbenbabies.
 

Tadashi: hey übrigens

Tadashi: rate gegen wen wir in zwei wochen ein übungsspiel haben

Yuuhuuji: schieß los

Tadashi: yohzenji (・ω <)
 

Das ist definitiv ein zwinkerndes Emoji. Tadashi grinst sehr breit.
 

Yuujis erster Gedanke ist: Fuck.
 

Sein zweiter Gedanke ist: Warum weiß ich davon noch nichts?
 

Sein dritter Gedanke ist: FUCK!
 

*
 

Yuuji ist dankbar für seine jahrelange Übung im Dasein eines abenteuerlustigen, hormongesteuerten Arschlochs, denn er schafft es sich wie sein übliches Selbst zu verhalten, als Johzenji Karasuno in einem Trainingsspiel gegenüber steht.
 

»Lasst uns so viel Spaß wie möglich haben!«, sagt Yuuji breit grinsend und sein Team jubelt. Fast vergessen ist die letzte Niederlage, sie haben viel trainiert seit sie Karasuno das letzte Mal gegenüber standen.
 

Tadashi gehört nicht zur Startaufstellung und Yuuji hatte noch nicht wirklich Gelegenheit mit ihm zu sprechen, aber er ist sich Tadashis Präsenz am Rand des Feldes übermäßig bewusst. Vielleicht empört es ihn ein wenig, dass Tadashi nicht ununterbrochen zu ihm herüber starrt, sondern stattdessen sein Team anfeuert. Besonders die blonde Bohnenstange mit dem gelangweiliten Gesichtsausdruck.
 

Vielleicht bildet Yuuji es sich nur ein, aber er könnte schwören, dass Nummer elf ihn besonders finster anstarrt. Erst, nachdem er Tadashi »Guter Aufschlag, Tsukki!« rufen hört, erinnert er sich an Tadashis Worte darüber, dass »Tsukki« immer derjenige ist, mit dem die Mädchen reden wollen.
 

Yuuji gibt meistens alles, wenn er Volleyball spielt, aber heute kommt er nicht umhin, sich besonders ins Zeug zu legen. Sein Stolz weigert sich zuzugeben, dass es daran liegt, dass Tadashi zusieht, aber eine kleine Stimme in seinem Kopf, die der von Runa nicht unähnlich klingt, sagt, dass dieser Stolz bescheuert ist.
 

Als der Pfiff, der eine Auswechselung ankündigt, ertönt, steht es im ersten Set 21:20 für Johzenji. Yuuji dreht den Kopf, um zu sehen, wer eingewechselt wird und da steht Tadashi am Rand, die Hände nervös zur Fäusten geballt, aber mit einem unverkennbaren Blick der Entschlossenheit auf dem sommersprossigen Gesicht.
 

Yuuji schluckt.
 

Pinch Server.
 

Tadashi hat sein Haar wieder nach hinten gebunden, aber zum Training seine Piercings entfernt. Als er vor seinem Aufschlag tief Luft holt, merkt Yuuji, dass er selbst die Luft angehalten hat.
 

Sei nicht bescheuert, denkt er sich und geht in die Knie.
 

Tadashis Aufschlag sieht unscheinbar aus, aber es dauert drei Versuche, bis Yuujis Mannschaft es schafft, einen Aufschlag von ihm anzunehmen. Yuuji würde sich gerne einen Bleistift ins Ohr rammen, als er darüber nachdenkt, dass der Aufschlag genauso ist wie Tadashi—unscheinbar auf den ersten Blick, aber überraschend interessant.
 

Irgendetwas mit seinem Gehirn ist nicht in Ordnung.
 

23:21 für Karasuno, bis Yuuji es endlich schafft, den Ball anzunehmen. Tadashis Grinsen von der anderen Seite des Netzes ist ansteckend und Yuuji grinst zurück. Er kann nicht anders und zwinkert.
 

Zu seiner grenzenlosen Freude läuft Tadashi knallrot an und kassiert beinahe einen Ball ins Gesicht, als Kazuma ihm einen gut platzierten Schmetterball entgegen schleudert.
 

Johzenji verliert 1:2, aber Yuuji fühlt sich seltsamerweise trotzdem wie ein Gewinner, als Tadashi ihn von der gegenüberliegenden Linie des Feldes anstrahlt wie ein Atomkraftwerk. Er ignoriert Kazumas und Takeharus Blicke und fährt sich durchs Haar. Sollte er mit Tadashi reden? Wahrscheinlich keine gute Idee.
 

Die Teams räumen gemeinsam die Halle auf. Yuuji entgeht nicht, dass der Glatzkopf und der Libero ihn die ganze Zeit finster beobachten und sich vor ihrer Managerin aufbauen. Yuuji hat fast vergessen, dass es sie gibt. Sie ist definitiv immer noch genauso hübsch wie das erste Mal, als er sie gesehen hat. Leider hatte sein Gehirn einen Kurzschluss und ist jetzt nur noch interessiert an sommersprossigen Pinch-Servern, die über Flamingobabies weinen und gerne Horrorfilme gucken, obwohl sie sich schrecklich dabei gruseln.
 

»Du wirkst besonders glücklich heute, Terushima-san«, sagt Runa leise neben ihm, während sie ihm hilft, ein paar der herumfliegenden Bälle in den Gitterkasten zu sortieren.
 

Yuuji blinzelt.
 

»Huh?«
 

Runa lächelt ihn schüchtern von der Seite an.
 

»Ich hab dich lange nicht mehr so viel Spaß haben sehen«, fügt sie hinzu. Yuuji starrt sie an und er kann nichts dagegen tun, dass seine Augen durch die Halle huschen und an dem Trikot mit der Nummer zwölf hängen bleiben. Tadashi spricht mit dem blonden Lulatsch und just als Yuuji zu ihm herüber sieht, treffen sich ihre Blicke.
 

Nummer elf legt den Kopf schief und verengt die Augen hinter der Brille zu Schlitzen. Entweder er findet Yuuji einfach so ausgesprochen scheiße—was nicht das erste Mal der Fall wäre, Yuuji hat ein Talent sich Feinde zu machen—oder er ist eifersüchtig, oder. Oder er denkt, Yuuji hat unlautere Absichten.
 

Nicht, dass das vollkommen falsch wäre. Aber das muss die blonde Miesmuschel ja nicht wissen.
 

»Als du mich nach Grenzen gefragt hast«, sagt Runa sehr leise und läuft rot an. Yuuji wirft ihr einen verwirrten Blick zu. »Hast du da von—von Karasunos Pinch Server gesprochen?«
 

Yuuji ist einen Augenblick lang ganz still, dann spürt er, wie ein altbekanntes Grinsen sich auf seinem Gesicht breit macht. Er stemmt die Hände in die Hüften, wirft den Kopf in den Nacken und lacht gut geübt und ausgelassen.
 

»Runa-chan, bist du etwa eifersüchtig?«, stichelt er und schaut belustigt zu, wie Runa noch dunkler anläuft den Blick senkt.
 

»Ich dachte nur... ich dachte, ihr hättet—vergiss, was ich gesagt habt, Terushima-san. Tut mir leid«, stammelt sie und dann ist sie von seiner Seite verschwunden und Yuuji sieht ihr mit einem schlechten Gewissen nach. Grenzen, ermahnt er sich. Er ist wirklich sehr schlecht mit Grenzen.
 

»Oi, Terushima«, sagt Kazuma laut. »Willst du noch ‘ne Wette für ‘ne verteilte Handynummer?«
 

Yuuji schnaubt und dreht sich um, einen Volleyball immer noch in der Hand, um Kazuma zu sagen, dass diese Art von Wette jetzt schon ziemlich alt geworden ist. Aber seine Augen bleiben an Tadashi hängen, der zwei Schritte hinter Kazuma steht und offensichtlich gerade auf dem Weg zu ihm war, als Kazuma—fuck.
 

Tadashi blinzelt einen Moment lang und Yuuji denkt, dass Tadashi ja vielleicht gar nicht versteht, was Kazuma meint. Es kann schließlich auch um irgendeine andere Wette irgendwann in der Vergangenheit gehen. Es kann alles heißen. Es kann—
 

Aber Tadashi ist ein Mensch mit einem ganzen Berg Unsicherheiten und Minderwertigkeitskomplexen. Natürlich kommt er in diesem Moment auf nur einen Gedanken.
 

Yuuji spürt, wie sein Gesicht einfriert und seine Brust sich zusammenzieht, als würde jemand eiskaltes Wasser in ihn hineingießen.
 

»Terushi—«
 

»Halt die Schnauze, Kazuma«, blafft Yuuji ihn an und Kazuma zuckt zurück. Fuck. Es ist nicht wirklich Kazumas schuld, denkt Yuuji sich als Tadashi sich auf dem Absatz umdreht und ohne ein weiteres Wort aus der Halle hastet, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her.
 

Yuuji hätte es erklären sollen. Er hätte nicht flirten und drängeln und sticheln sollen, er hätte sagen sollen »Hey, ich hab dir meine Nummer wegen einer Wette gegeben, aber ich würde mich trotzdem gerne weiter mit dir unterhalten«. Warum kann er nicht mit anderen Menschen umgehen, als wäre er kein emotionaler Mähdrescher?
 

Yuuji glaubt nicht, dass seine abgefuckte Familiensituation eine Entschuldigung dafür ist, dass er so ein elender Mistsack ist.
 

Er ringt mit sich und überlegt, ob er Tadashi nachlaufen soll, aber er kommt nicht sehr weit, denn plötzlich hat er eine Wand vor sich. Eine sehr große, wütend dreinschauende Wand aus schwarz gekleideten Volleyballspielern, die ihm den Weg versperren.
 

Der Glatzkopf und die Bohnenstange starren ihn an, als würden sie ihn gleich ermorden wollen.
 

»Was hast du mit unserem Pinch Server gemacht, du Bastard?«, dröhnt der Glatzkopf und greift nach Yuujis Kragen.
 

»Ah, Tanaka-san, vielleicht sollten wir mit der Gewaltausübung warten, bis wir draußen sind, damit Sawamura-san uns nicht erwischt.«
 

»Guter Gedanke, Tsukishima«, knurrt der Glatzkopf namens Tanaka-san.
 

»Hast du Yamaguchi-kun wirklich die ganze Zeit reingelegt?«, fragt eine sehr ängstliche Stimme von links hinter der Wand, die mittlerweile aus noch drei anderen Karasuno-Spielern besteht. Yuujis Augen huschen zu der neuen Managerin herüber. Ihre Augen sind geweitet aber entschlossen, als sie ihn anstarrt, als würde sie in seine Seele blicken wollen.
 

»Ich—«
 

»OI! WAS DENKT IHR, WAS IHR DA TREIBT?«, dröhnt die Stimme von Karasunos Captain zu ihnen herüber. Nummer elf und die blonde Managerin bleiben als einzige zurück.
 

»Terushima-san«, sagt eine kleine Stimme neben ihm. Er spürt einen leichten Druck auf seinem Rücken und einen Augenblick ist er verwirrt, bis ihm klar wird, dass Runa ihn dazu bringen will, sich zu entschuldigen.
 

Yuuji weigert sich, sich vor diesem Lulatsch zu verbeugen.
 

»Verzeihung, Terushima-san ist nicht gut damit, Grenzen einzuhalten. Er ist kein schlechter Kerl, ich bin sicher, er hat es nicht so gemeint! Auch wenn—auch wenn ich nicht wirklich weiß, worum es geht!«
 

Yuuji hat einen Flashback zu einer Szene, in der Hana sich vor ihn gestellt hat, um einige von den Karasuno-Jungs davon abzuhalten, ihm näher zu kommen—nachdem er sich zur Abwechslung mal wie ein Volltrottel benommen hat.
 

Nummer elf—Tsukki, Tadashis bester Freund, derjenige, mit dem er Dokus anschaut—macht einen Schritt auf ihn zu, aber die kleine Managerin streckt hastig ihren Arm aus.
 

»Tsukishima-kun! Ich glaube nicht, dass Yamaguchi-kun wollen würde, dass du jemandem die Nase für ihn brichst«, quietscht sie. Tsukishima hält inne und wirft ihr einen Blick zu. Dann macht er ein abwertendes »Tch«-Geräusch und wendet sich endlich ab. Yuuji sieht ihm nach, wie er die Halle verlässt.
 

Wahrscheinlich, um nach Tadashi zu suchen.
 

Tadashi.
 

Fuck.
 

Takeharu und Kazuma schleifen ihn in Richtung Umkleide und ausnahmsweise stichelt niemand. Kazuma fragt auch nicht, worum es geht. Vielleicht hat Takeharu ihn streng angesehen. Yuuji hat keine Ahnung, was er jetzt machen soll. Es ist schließlich nicht so, als könnte man Grenzen einfach so wiederherstellen, nachdem man sie übertreten hat.
 

Yuuji verflucht seine Mutter dafür, ihm nie beigebracht zu haben, wie man mit so einem elenden Mist umgeht.
 

*
 

Yuuhuuji; 09:49 pm: hey, sorry wegen heute, es war nicht so, wies sich angehört hat
 

Yuuhuuji; 11:32 pm: das mit der wette war ne dumme idee aber es is nicht so, als hätte ich mich deswegen weiter mit dir unterhalten
 

Yuuhuuji; 01:07 am: ich wollte eigentlich mit dir reden aber dein blonder bodyguard hätte mich wahrscheinlich in stücke gerissen
 

Yuuhuuji; 04:19 am: gute nacht tadashi (ᴗ˳ᴗ)
 

*
 

Yuuhuuji; 07:13 am: guten morgen tadashi

Yuuhuuji; 10:39 pm: schlaf gut
 

*
 

Vielleicht ist er beim Training noch leichtsinniger als sonst. Vielleicht baut er abends mit seinen Kumpanen noch mehr Scheiße als sonst. Vielleicht hat Tadashi ihm seit zwei Wochen nicht geschrieben und Yuuji versucht krampfhaft sich einzureden, dass es nun mal so ist und er daran auch nichts mehr ändern kann.
 

Es war ohnehin blöd. Sie passen kein bisschen zusammen. Und es ist auch nicht so, als hätte Yuuji Zeit für eine Beziehung. Oder Dating. Oder so einen bekloppten, romantischen Scheiß. Und selbst ohne das, wie hätte eine Freundschaft funktionieren sollen? Sie sind viel zu unterschiedlich und Yuuji hat keinerlei Interesse daran jedes Wochenende auf seinem Bett zu hocken und Dokus über Robbenbabys anzugucken.
 

Es ist egal, dass Tadashi ihm nicht mehr schreibt.
 

Yuuji hat genug Freunde.
 

Es ist nicht so, als wäre er auf Tadashi angewiesen.
 

*
 

»Terushima-san, ist das nicht die Managerin von Karasuno?«, fragt Yuna verunsichert, als sie nach dem Training gemeinsam in Richtung Schultor gehen.
 

»Huh?«
 

Yuuji sieht zuerst nicht, wen Runa meint, bis ihm eine Traube von Basketballern auffällt, die offensichtlich jemanden eingekreist haben. Vielleicht muss man so klein sein wie Runa, um unter ihren Ellbogen hindurch die Managerin von Karasuno zu erkennen.
 

»Oi«, ruft er und zwei der Kerle drehen sich zu ihm um. In der Tat, da steht die kleine blonde, stotternde Managerin, Augen so riesig wie Teller und ganz offensichtlich vollkommen verängstigt.
 

»Verpisst euch«, sagt Yuuji und schiebt gelassen die Hände in die Hosentaschen. Er denkt daran, wie er Karasunos andere Managerin wegen ihrer Telefonnummer belagert hat. Das hier ist nicht sein Problem. Es sollte ihn nicht kratzen.
 

Runa hat ihre Finger in seinem Ärmel verkrallt und versteckt sich halb hinter ihm.
 

»S—soll ich Bobata-san und Futamata-san holen?«, flüstert sie.
 

Yuuji zuckt mit den Schultern.
 

Vielleicht ist er zu leichtsinnig geworden. Vielleicht ist das Tadashis Schuld.
 

Wahrscheinlich ist es Yuujis eigene Schuld.
 

»Was willst du, Hupfdohle?«, fragt der eine. Yuuji legt den Kopf schief.
 

»Das ist meine Freundin, die ihr da anbaggert«, sagt Yuuji gedehnt. »Also verpisst euch.«
 

Karasunos Managerin läuft scharlachrot an.
 

Eine Stimme, die sehr nach Hana klingt, fragt ihn streng, ob er vorhat sich mit vier Basketballern zu prügeln. Yuuji wäre ein bisschen Ablenkung in Form einer Prügelei nicht unwillkommen, aber vier Basketballer, allesamt größer als er, sind vielleicht nicht die richtige Wahl für so eine Veranstaltung.
 

Er streckt eine Hand nach der Managerin aus und sie schluckt schwer, huscht zwischen den Basketballern hindurch und greift danach. Ihre Handinnenflächen sind ganz schwitzig. Yuuji denkt, dass er vielleicht noch vor wenigen Wochen eine große Sache daraus gemacht hätte, dass zwei Erstklässlerinnen an jeweils einem seiner Arme baumeln, als er sich auf den Weg die Straße hinunter macht, aber jetzt ist er seltsamerweise kein bisschen dazu in die Stimmung.
 

Als sie um die nächste Ecke verschwunden sind, lässt Yuuji die Hand los und hockt sich auf eine niedrige Mauer.
 

»Ah, ich hab vergessen, wie du heißt, Manager-chan«, sagt Yuuji mit einem Schulterzucken.
 

»Oh, ah! Entschuldigung! Ya—Yachi Hitoka!«, stammelt sie und verbeugt sich so tief, dass Yuuji im Sitzen auf ihren Hinterkopf schauen kann. Meine Güte. Sie scheint genauso ein nervöses Bündel zu sein wie Runa.
 

»Und was kann ich für dich tun, Hitoka-chan? Bist du den ganzen Weg für einen Liebesbri—«
 

»Terushima-san!«
 

»Ah, sorry. Alte Gewohnheiten sterben langsam«, sagt Yuuji mit einem Seufzen. Runa hat ihn selten so streng angesehen.
 

Yachi sieht aus, als würde sie gleich vor Verlegenheit in Ohnmacht fallen. Ihr Gesicht ist knallrot und sie hat die Hände ineinander verschlungen, als müsste sie sich dringend irgendwo festhalten.
 

»Es—es geht um—Ya—Yamaguchi-kun«, stammelt Yachi und sie ballt die Hände zu Fäusten, offenbar sehr entschlossen. Yuuji setzt sich bei der Erwähnung des Namens unweigerlich etwas gerader hin.
 

»Was ist mit ihm?«, fragt er bemüht unbeteiligt und sein Ton scheint Yachi zu entmutigen, denn sie sackt ein wenig in sich zusammen und zieht die Schultern hoch.
 

»Ähm. Ich—also. Yamaguchi-kun geht es wirklich nicht gut seit dem Übungsspiel—und. Und. Er ist ein Freund und ich möchte ni—nicht, dass es ihm schlecht geht. Und. Er—er hat mir von dir erzählt und von—von der Wette und... Tersuhima-kun!«
 

Bei der Nennung seines Namens wird ihre Stimme plötzlich lauter. Ein altes Ehepaar wirft ihnen im Vorbeigehen einen fragenden Blick zu. Yuuji schluckt und versucht, weiterhin keine Gefühlsregung zu zeigen, auch wenn sein Herz sich bei Yachis Worten anfühlt, als wäre es in einen hastigen Sprint geraten.
 

»Wenn du Yamaguchi-kun die ganze Zeit nur reingelegt hast, dann werde ich dir das definitiv nicht verzeihen! Aber—aber ich—ich glaube nicht, dass es so war und wenn das stimmt, dann—dann—bitte vertrag dich wieder mit Yamaguchi-kun!«
 

Yachi verbeugt sich schon wieder, nachdem sie ihre Bitte ausgesprochen hat und Yuuji kann sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wieviel Überwindung es einen so schüchternen Menschen gekostet haben muss hierher zu kommen und dann auch noch solche Dinge zu sagen.
 

Yamaguchi-kun geht es wirklich nicht gut seit dem Übungsspiel.
 

Yuuji hat kein Interesse vor einer Fremden und seiner Managerin emotional die Hosen fallen zu lassen, aber er spürt, wie ihm Hitze in die Wangen kriecht und erhebt sich von seinem Platz auf der niedrigen Mauer, um sich möglichst lässig durch die Haare zu fahren. Yachi richtet sich wieder auf und schaut aus riesigen braunen Augen zu ihm auf.
 

Nicht, dass sie sein Typ wäre, aber vor mehreren Wochen hätte er sie sicherlich angebaggert. Einfach so, weil es geht. Und es hätte ihn amüsiert, wie rot sie geworden wäre und wie sehr sie gestottert hätte.
 

Ihm fallen ein paar ehrliche Dinge ein, die er sagen könnte.
 

Ich glaube nicht, dass er mit mir reden will. Ich hab keine Ahnung, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, wie dieser ganze Scheiß funktioniert. Ich weiß nicht mal, was dieser ganze Scheiß überhaupt ist.
 

»Und woher willst du wissen, dass ich ihn nicht nur verarscht habe? Ich bin kein besonders netter Mensch, Hitoka-chan«, sagt er mit einem Grinsen. Yachi sieht aus, als müsste sie sich gleich vor lauter Stress und Nervosität übergeben.
 

»V—vielleicht nicht. Aber. Ich hab gesehen, wie du Yamaguchi-kun angesehen hast und—und. Ich glaube nicht, dass Yamaguchi-kun je—jemanden mögen würde, der ein schlechter Mensch ist!«
 

Und mit diesen Worten dreht sie sich hastig um und rennt davon, als wäre sie von einem Schwarm Hornissen attackiert worden. Er sieht ihr nach und vergisst eine Weile lang, dass Runa noch da ist, während er darüber nachdenkt, was um alles in der Welt mit ihm schief gelaufen ist, wenn sein Magen sich anfühlt wie ein Klotz Beton, weil jemand ihm gesagt hat, dass Tadashi ihn mag.
 

Er denkt darüber nach, wie Tadashi ihm immer »Guten Morgen« und »Gute Nacht« gewünscht hat und wie jetzt Yuuji derjenige ist, der peinliche Nachrichten wie diese ins Leere schickt, weil Tadashi ihm nicht darauf antwortet. Wahrscheinlich hat er Yuujis Nummer längst blockiert. Das ist sicher das schlauste, denn auch wenn Yuuji ein lügender, manipulativer Bastard ist, hat er es doch absolut ernst gemeint, als er sagte, dass er kein netter Mensch ist.
 

Tadashi ist ein netter Mensch. Yuuji hingegen...
 

Ugh.
 

*
 

Yuuhuuji; 07:18 am: guten morgen

Yuuhuuji; 10:22 pm: schlaf gut (ᴗ˳ᴗ)
 

*
 

Yuuhuuji; 07:53 am: hana-chan warum hast du mir nie gesagt dass ich ein arschloch bin

HanaBi; 07:55 am: solltest du nicht im unterricht sein?

HanaBi; 07:55 am: und was ist das für eine frage, ich hab dir hundert mal gesagt, dass du ein trottel bist

Yuuhuuji; 07:59 am: ich schwänze geschichte

Yuuhuuji; 07:59 am: aus persönlichen gründen ¯_(ツ)_/¯

Yuuhuuji; 08:00 am: und ich hatte immer das gefühl du hast das wort trottel mit einer gesunden portion zuneigung verwendet!!!!

Yuuhuuji; 08:02 am: und überhaupt, warum bist DU nich im unterricht? ( ̄ε ̄)

HanaBi; 08:07 am: meine erste veranstaltung ist erst um zehn

HanaBi; 08:07 am: was für persönliche gründe sollen das sein? hast du eine erleuchtung über deine größten charakterschwächen gehabt?

Yuuhuuji; 08:10 am: ICH HAB DICH IMMER FÜR HERZLICH UND LIEB GEHALTEN

Yuuhuuji; 08:10 am: ICH FÜHLE MICH VERARSCHT

HanaBi; 08:16 am: ich bin immer noch dein senpai, pass auf, wie du dich ausdrückst

HanaBi; 08:16 am: willst du mir jetzt sagen, was eigentlich los ist?

Yuuhuuji; 08:23 am: ich hab scheiße gebaut und weiß nicht wie ich es wieder richten kann

HanaBi; 08:26 am: sollen wir skypen?

Yuuhuuji; 08:47 am: ok
 

*
 

Yuuji fragt sich, ob er vielleicht lebensmüde geworden ist, nachdem die Sache mit Tadashi in die Binsen gegangen ist. Hana hat zu ihm gesagt, dass er immer noch ein Trottel ist, aber vielleicht ein bisschen weniger als vor einigen Monaten, als sie noch seine Managerin war. Sie hat ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er sich ziemlich halbherzig entschuldigt und im nächsten Atemzug nichts als Ausreden von sich gegeben hat.
 

Yuuji hat Hana seine Nachrichten an Tadashi vorgelesen und musste ihr recht geben.
 

Ugh.
 

Wieso haben alle Mädchen um ihn herum immer recht?
 

Jetzt steht er vor der Turnhalle der Karasuno High School und hofft, dass Hana auch in diesem Fall recht hat, denn sonst ist er gleich ein toter Mann, wenn Tadashis Mannschaftskameraden ihn lebendig häuten und seine Überreste als Volleyballnetz verwenden.
 

Eine Weile lang lauscht er den Geräuschen von drinnen—dem Quietschen der Schuhe, den Rufen und dem Aufkommen des Balls auf den Hallenboden. Dann holt er tief Luft, stopft seine Hände in die Hosentaschen und stößt die Tür auf.
 

Im ersten Augenblick kann er Tadashi nicht entdecken. Sein Blick fällt zuerst auf die kleine Springfeder mit den orangenen Haaren, die ihn aus riesigen braunen Augen anstarrt, als wäre er ein Alien. Als nächstes erkennt er die blonde Bohnenstange, die ihn anschaut, als würde sie ihn gerne vierteilen.
 

»Terushima-kun!«, ertönt eine fiepsige Stimme von links und Yuuji dreht den Kopf.
 

Da steht Yachi mit einem Volleyball in der einen und einem Handtuch in der anderen Hand. Und direkt hinter ihr steht Tadashi, seine Augen sogar noch größer als die von der winzigen Springfeder als er ihn anstarrt. Sein Gesicht ist knallrot, seine Hände sind zu Fäusten geballt.
 

Yuuji weiß, dass er nicht lang Zeit hat, bevor sich wieder mehrere Mitglieder der Mannschaft schützend vor ihm aufstellen und er sieht aus dem Augenwinkel wie einer der Drittklässler die Bohnenstange davon abhält, zu ihm herüber zu stapfen, während der Captain die beiden Raufbolde des Teams am Kragen gepackt hält.
 

Yuuji ignoriert sein Herz, dass wie eine Dramaqueen in seinem Brustkorb hämmert, als hätte er fünf Sets Volleyball gespielt oder wäre gerade einer lebensbedrohlichen Situation entkommen. Sein Magen fühlt sich an, als hätte jemand einen ganzen Berg Brausetabletten hineingeworfen, die sich jetzt auflösen.
 

Er ruft sich Hanas Worte ins Gedächtnis.
 

»Du musst verstehen, dass er bisher derjenige war, der sich verletzlich gemacht hat. Sein Selbstbewusstsein hat jetzt wahrscheinlich einen noch größeren Knick als vorher, weil er dachte, du hast ihn die ganze Zeit veralbert und nur so getan, als würdest du ihn süß finden. Also musst du dich verletzlich machen. Und du musst unbedingt und unter allen Umständen die Wahrheit sagen! Keine Späßchen mehr! Oder ich komme von der Uni heim und versohle dir nachträglich doch noch den Hintern!«
 

Yuuji holt tief Luft und seine Augen huschen kurz zu Yachi hinüber, die ihn ermunternd ansieht und kaum merklich nickt, als wüsste sie, was er sagen will.
 

Yuuji ist nicht der Typ fürs Verbeugen. Aber für Tadashi kann er wohl eine Ausnahme machen.
 

Also strafft er die Schultern, verbeugt sich in seine Richtung und sagt so laut, dass es die ganze Halle hören kann:
 

»Tadashi! Geh mit mir aus!«
 

»Was zum Henker geht hier—«
 

»Ukai-kun! Nur ein Moment, bitte!«, sagt Yachi hastig und die Stimme des Coaches verstummt. Yuuji bleibt mit gebeugtem Rücken stehen und kommt sich ausgesprochen lächerlich vor. Er kann förmlich spüren wie alle Augen an ihm kleben, als wäre er doppelseitiges Klebeband. Normalerweise stört es ihn nicht, wenn alle ihn ansehen, aber in diesem Fall...
 

In diesem Fall hat er Hanas Ratschlag befolgt.
 

Verletzlich sein ist der letzte Scheiß und Yuuji hasst es wie die Pest.
 

»Yamaguchi! Zehn Minuten, dann will ich dich wieder aufschlagen sehen!«, dröhnt die Stimme des Coaches durch die Halle und Yuuji denkt, dass ihm wahrscheinlich gleich die Wirbelsäule einknickt weil er schon seit gefühlten hundert Jahren gebeugt hier steht wie der letzte Armleuchter.
 

Aber im nächsten Augenblick greift jemand nach seinem Handgelenk und zerrt ihn Richtung Tür.
 

»Was machst du denn hier?«, zischt Tadashi. Er sieht Yuuji nicht an, als sie draußen vor der Halle stehen und sein Gesicht ist knallrot, sodass seine zahllosen Sommersprossen beinahe verschwunden sind. Yuuji steckt wieder die Hände in die Hosentaschen—ein beunruhigendes Kribbeln dort, wo Tadashis Hand seine nackte Haut berührt hat—und wiegt seinen Kopf ein paar mal nach links und rechts, als würde er seinen Nacken dehnen wollen.
 

»Hab ich doch eben gesagt. Dich fragen, ob du mit mir ausgehen willst«, erklärt er und hofft, dass seine Stimme in Tadashis Ohren nicht so kratzig klingt wie in seinen eigenen.
 

Tadashi sagt nichts und beißt auf seiner Unterlippe herum, als hinge sein Leben davon ab. Seine Hände sind zu nervösen Fäusten geballt.
 

»Aber—«
 

»Es tut mir leid, ok? Es war super dumm und ich war ein Arschloch und ich hab den Moment verpasst, es zu erklären, weil ich—weil ich ein feiger Mistsack bin. Aber die letzten Wochen waren absolut kacke und ich will wieder Zeit mit dir verbringen.«
 

Tadashis Augen sind riesig. Yuuji hat keine Ahnung, ob er gerade schon wieder auf irgendwelche Grenzen zustolpert und Gefahr läuft, sie einzurennen, aber er hat immerhin die Hälfte seines Sermons vorgetragen, also schafft er die zweite Hälfte auch noch.
 

»Und—keine Ahnung, ob du Jungs überhaupt gut findest, du hast nie auf meine Frage geantwortet. Aber. Selbst wenn du Jungs nicht gut findest und nicht mit mir ausgehen willst, können wir vielleicht trotzdem Freun—«
 

»Ich mag... Jungs.«
 

Yuujis Stimme macht ein sehr merkwürdiges Geräusch, das er definitiv noch nie von sich selbst gehört hat und der Rest des Wortes »Freunde« bleibt ihm im Hals stecken.
 

»Hah?«
 

»Ich mag Jungs. Ich—ähm. Jungs. Und Mädchen.«
 

Tadashis Stimme klingt so wobbelig, als würde er gleich in nervöses Wimmern ausbrechen. Sein Gesicht hat sogar einen noch dunkleren Ton angenommen, was Yuuji für unmöglich gehalten hat.
 

»Oh. Ok. Gut«, sagt Yuuji wie der allerletzte Trottel. Er räuspert sich und versucht, seinen üblichen Charme wieder auszugraben, aber der scheint sich unter irgendeinem Stein verbuddelt zu haben.
 

»Ich—ich wusste es nach deinem komischen Ge—Gedankenexperiment«, krächzt Tadashi und starrt auf seine Füße, seine Fäuste weiterhin zu Fäusten geballt.
 

Der Arschloch-Part in ihm möchte Tadashi auf die Pelle rücken und ihn fragen, an welchen Jungen er gedacht hat. Dann fällt ihm ein, dass jegliche Antwort, die nicht Yuuji selbst beinhaltet, ihn wahrscheinlich wahnsinnig machen würde, also beißt er sich auf die Zunge. Aber natürlich hat er Tadashi wieder einmal unterschätzt.
 

»Und ich hab an dich gedacht und es war super peinlich und ich konnte es dir nicht sagen, weil du gebohrt hättest und ich—«
 

Yuuji beschließt, dass die Einhaltung von Grenzen in einem gewissen Maße garantiert sinnvoll ist. Aber in diesem Augenblick hat er nicht die Geduld, sich daran zu halten. Stattdessen macht er zwei große Schritte vorwärts, streckt seine Hände nach Tadashis Gesicht aus und presst seine Stirn gegen die von Tadashi.
 

»Tritt mir jetzt gegens Schienbein, wenn du nicht willst, dass ich dich küsse, Tadashi«, sagt er mit sehr rauer Stimme. Sein Herz hämmert irgendwo in der Gegend seines Adamsapfels.
 

»Ich hab noch nie jemanden geküsst«, sagt Tadashi und seine Stimme ist etwa zwei Oktaven höher als gewöhnlich. Yuujis Magen macht mehrere Saltos.
 

»Huh. Dann ist heute dein Glückstag. Dieser heiße Kerl, der dir dein sexuelles Erwachen beschert hat, hat zufällig Zeit und—«
 

»Ya—Yamaguchi-kun! Ukai-kun sagt du hast noch drei Minuten!«, ertönt Yachis Stimme aus Richtung der Tür. Yuuji spürt wie Tadashi sich anspannt und einen Wimpernschlag lang denkt Yuuji, dass er diesen Tritt gegens Schienbein doch noch bekommt, aber dann passiert etwas viel viel Besseres. Etwas geradezu Umwerfendes.
 

Tadashi legt seinen Kopf schief, sodass ihre Nasen nicht mehr im Weg sind und dann pressen sich warme, trockene Lippen auf Yuujis Mund. In den hintersten Ecken seines Gehirns ist Yuuji in der Lage zuzugeben, dass es sich anfühlt, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.
 

Das hier sollte kein besonders aufregender Kuss sein. Aber aus unerfindlichen Gründen fühlt es sich an, als wäre sein Körper einen Marathon gelaufen als er Tadashi gegen die Wand der Halle presst und den Kuss erwidert, als hinge sein Leben davon ab. Tadashi macht ein Geräusch, dass in Yuuji ein Fallgefühl auslöst. Er hält Tadashis Gesicht immer noch in beiden Händen und küsst ihn. Und küsst ihn. Und küsst ihn, während Tadashis Finger sich in Yuujis Shirt krallen.
 

»Bist du noch sauer?«, fragt Yuuji gegen Tadashis feucht geküsste Lippen. Er könnte schwören, dass Tadashis Beine zittern.
 

»Ich war nicht sauer. Ich war... traurig. Und. Und hab mich sehr erniedrigt gefühlt«, flüstert Tadashi mit heiserer Stimme. Yuuji küsst ihn noch mal statt sich erneut zu entschuldigen.
 

»Ich muss wieder rein«, krächzt Tadashi, knallrot im Gesicht und vollkommen außer Atem. Seine Augen sind wieder so riesig wie Teller. Yuuji schenkt ihm ein schiefes Grinsen.
 

»Wenn ich dir meine Adresse gebe, tauchst du dann morgen Abend bei mir auf und guckst Folge drei mit mir?«, erkundigt er sich gespielt lässig. Er sieht Tadashi schlucken und es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, bevor er schließlich nickt. Dann wirft er Yuuji einen letzten, ziemlich glühenden Blick zu, der ihm durch Mark und Bein geht und rennt zurück in die Halle.
 

Yuuji steht noch ganze fünf Minuten vor der Halle und starrt auf die geschlossene Tür, als könnte er Tadashi durch die Kraft seiner Gedanken wieder herauslocken. Schließlich stopft er seine Finger in die Hosentaschen, dreht sich um und macht sich mit einem unaufhaltbaren Grinsen auf den Weg nach Hause.
 

Manche Grenzen lohnt es sich eben doch zu überschreiten.

Cool ist Ansichtssache

Tsutomu ist sich nicht sicher, wie er mit der gegenwärtigen Situation umgehen soll. Für gewöhnlich ist es fast unmöglich, ihn von Volleyball abzulenken, aber aus ganz verschiedenen Gründen ist seine Konzentration seit ein paar Tagen nicht das, was sie einmal war.
 

Der eine und wichtigste Grund dafür ist über 1,90m groß und dauerhaft am Grinsen, was erstaunlich beunruhigend ist dafür, dass Tsutomu mit Tendou in einer Mannschaft spielt, der von vielen Leuten als ausgesprochen beängstigend wahrgenommen wird—auch wenn Tsutomu das nie so richtig nachvollziehen konnte.
 

Der andere Grund ist natürlich Tendou, dessen loses Mundwerk Tsutomu auf dumme Ideen gebracht hat.
 

Tsutomu weiß nicht wirklich, woher genau das Selbstbewusstsein von Haiba kommt, wenn man bedenkt, dass er die einfachsten Techniken nicht beherrscht. Dem gesamten Team von Nekoma scheint das ebenfalls klar zu sein, denn sie verbessern ihn ständig, rügen ihn und meckern mit ihm, aber Tsutomu hat noch nicht ein einziges Mal feststellen können, dass Haibas Selbstbewusstsein in ihn selbst und seine Fähigkeiten irgendwie geflackert hätte.
 

Tsutomu weiß nicht, ob er beeindruckt oder genervt sein soll.
 

Das größte Problem an Haiba ist, dass er es auf Tsutomu abgesehen hat.
 

Dauernd will Haiba mit ihm reden—»Ich werde auch bald das Ass meiner Mannschaft«—und bei ihm sitzen und mit ihm trainieren. Tsutomu fragt sich, ob seine Mannschaftskameraden sich auch so fühlen, wenn er sie zum achtundfünfzigsten Mal bittet, seinen Aufschlag anzunehmen.
 

»Hey, wir sollten zusammen laufen gehen!«
 

»Als zukünftige Asse—«
 

»Glaubst du, dass du noch wächst, Goshiki?«
 

»Dein Jump Floater Aufschlag ist cool, zeig mir wie das geht!«
 

Tsutomu weiß, dass seine Mannschaftskameraden das alles ausgesprochen witzig finden—außer Shirabu, der nichts an Tsutomu witzig findet außer wenn er sich blamiert und Ushijima, der generell nichts witzig findet. Aber Tsutomu ist definitiv überfordert.
 

»Wie mache ich, dass er aufhört?«, stöhnt er am sechsten Tag des Trainingscamps beim Frühstück, bevor Haiba den Raum betritt—wahrscheinlich, weil er schon wieder verschlafen hat. Seine Selbstdisziplin scheint sehr selektiv zu funktionieren und Tsutomu hat keine Ahnung, wie seine Mannschaftskameraden nicht schon längst die Nerven verloren haben.
 

»Hast du ihm schon gesagt, dass er aufhören soll?«, will Shirabu mit hochgezogenen Augenbrauen von ihm wissen.
 

Tsutomu hält inne, das Stück Ei auf dem Weg zu seinem Mund bleibt in der Luft hängen, während er seine Stirn runzelt und den Kopf schief legt. Shirabu schnaubt verächtlich und verdreht die Augen, ehe er sich wieder seinem eigene Frühstück zuwendet.
 

»Tsu-to-mu«, ertönt Tendous Singsang von links, »benutz deine Worte! Oder bring ihn anders zum Schweigen. Hübsch genug ist er ja.«
 

Tsutomu versteht nicht, was Tendou meint, bis Semi Tendou den Ellbogen in die Rippen haut und ihn ermahnt seine versauten Anmerkungen vor den Erstklässlern für sich zu behalten.
 

Tendou schmollt, Shirabu schnaubt schon wieder und Tsutomus Gehirn ist eingefroren.
 

Ist Haiba hübsch? Tsutomu hat keine Ahnung.
 

Er interessiert sich nicht wirklich für Jungs. Oder Mädchen. Eigentlich interessiert er sich nur für Volleyball.
 

Jemanden zum Schweigen bringen würde bedeuten, den Mund irgendwie anderweitig zu beschäftigen. Was Tsutomu zu der Erkenntnis bringt, dass Leute, die sich küssen, nicht gleichzeitig reden können. Was wiederum mit sehr großer Wahrscheinlichkeit genau das war, was Tendou gemeint hat.
 

»Dein Ei wird kalt«, schnurrt Tendou breit grinsend neben ihm.
 

Tsutomu hat vergessen, dass er eigentlich gerade am Essen ist, weil sein Gehirn sich immer nur auf eine Sache gleichzeitig konzentrieren kann. Und gerade ist es dabei, eine ganze Flut aus Bildern bereitzustellen, die eine Collage aus Haiba erstellt.
 

Tsutomu lässt sein Ei sinken.
 

»Ich glaube, du hast ihn kaputt gemacht«, sagt Semi missbilligend. Natürlich wählt Haiba genau diesen Moment, zum Frühstück zu erscheinen. Sein Haar steht in alle Himmelsrichtung ab und er reibt sich die Augen, aber sobald er Tsutomu sieht, hellt sich sein verschlafenes Gesicht auf und er marschiert prompt zu ihrem Tisch herüber.
 

»Goshiki! Lass uns nachher zusammen lauf—«
 

»Halt die Klappe!«, platzt es panisch und etwas höher, als seine Stimme eigentlich ist, aus ihm heraus und Haiba blinzelt, bricht den Satz ab und Tsutomu sieht, dass seine Schultern etwas in sich zusammensacken.
 

»Oh. Ok«, sagt Haiba, fährt sich mit einer Hand durch sein zerstruwweltes Haar am Hinterkopf und trottet von dannen.
 

Tsutomu starrt ihm nach und hat irgendwie das Gefühl, dass jemand gerade die Beine seines Stuhls unter ihm weggekickt hat.
 

»Effizient. Nicht ganz so höflich, wie ich es erwartet hätte«, meint Tendou gut gelaunt und stiehlt Tsutomu den Rest Ei aus seiner Schale.
 

»Jetzt hast du wenigstens deine Ruhe«, meint Kawanishi. Er klingt gleichzeitig gelangweilt und ein bisschen amüsiert. Tsutomu muss sich sehr zusammenreißen, um sich nicht umzudrehen und zu schauen, wo Haiba jetzt steckt. Normalerweise hört man ihn meilenweit.
 

In der Tat ist es in den folgenden Stunden ruhiger als vorher.
 

Tsutomu geht alleine laufen. Er übt zusammen mit Semi und einigen der Ubugawa-Mitglieder seinen Aufschlag. Auf einem der Felder zu seiner Linken wird Haiba von Nekomas Libero im Annehmen gedrillt.
 

»Du hast so lange Arme! Wozu sind sie gut, wenn du sie nicht anständig benutzt, huh? Mehr in die Knie! Die Knie! Oh mein Gott, du siehst aus wie ein Flamingo mit Verdauungsproblemen!«
 

»Yaku-senpai, sei nicht gemein«, klagt Haiba und versucht angestrengt die Körperhaltung des viel kleineren Jungen zu imitieren. Er scheitert kläglich.
 

»Hey, hey, hey, Yaku, du solltest es mal mit positiver Bestärkung versuchen! Ich verbessere mich viel schneller, wenn Akaashi mir Komplimente macht!«
 

»Bokuto-san, es gibt nichts, wofür ich Komplimente machen könnte.«
 

»Ow, Yaku, so gnadenlos!«
 

Tsutomu ist so fixiert auf Haibas unzufriedenes Gesicht, dass er prompt einen Ball gegen den Kopf bekommt und hinten über fällt.
 

»Oh! Oh, scheiße, alles ok bei dir?«, ruft eine unbekannte Stimme ihm zu, während Tsutomu am Boden liegt und seine Lebensentscheidungen in Zweifel zieht, die ihn hierher geführt haben. Ein absolut aufdringlicher, überheblicher, anstrengender Kerl hat ihn traurig angesehen, weil Tsutomu ihm gesagt hat, er solle die Klappe halten und plötzlich liegt er am Boden und fühlt sich benommen, weil er vor lauter Verwirrung darüber seine Konzentration eingebüßt hat.
 

Er hört Schritte auf dem Linoleumboden quietschen und einige Leute beugen sich über ihn, unter anderen der Kapitän von Ubugawa, der Libero von Fukurodani und—
 

»Goshiki, ist alles in Ordnung?«
 

Tsutomu möchte gerne »Ja« sagen, sich aufrichten und so tun, als würde Haibas Gesicht so dicht über seinem keinen Herzinfarkt in ihm auslösen. Aber vielleicht ist Tendou doch genauso gruselig, wie alle immer sagen, denn in diesem Moment kommen ihm die Worte vom Frühstück wieder in den Sinn und er merkt, wie sein Gesicht knallrot anläuft.
 

»Sieht aus, als wäre er ‘n bisschen desorientiert. Ich glaube, er sollte sich besser ‘n Moment hinlegen.«
 

»Alter, ich würd nicht gern einen von deinen Aufschlägen gegen die Birne kriegen!«
 

»Hey! Es war ja nicht mit Absicht!«
 

»Lev, wir sind so weit durch mit Annahmen, wieso bringst du Goshiki nicht ins Erste-Hilfe-Zimmer?«, ertönt Kuroos Stimme irgendwo weiter hinten. Der Klang von Kuroos Stimme erzeugt aus unerfindlichen Gründen eine Gänsehaut auf Tsutomus Unterarmen. Der Kapitän von Nekoma beunruhigt ihn. Diese Augen sehen aus, als könnten sie einem direkt in die Seele schauen.
 

»Ok, Kuroo-san«, sagt Haiba und Tsutomu spürt, wie er von einer fast zwei Meter großen Bohnenstange auf die Beine gehievt wird. Haiba spricht kein einziges Wort, während er Tsutomu halb stützt, halb trägt und Richtung Umkleiden bugsiert, wo sich anscheinend das Erste-Hilfe-Zimmer befindet.
 

Tsutomu kann Tendous Stimme in Dauerschleife in seinem Kopf hören.
 

»Hübsch genug ist er ja.«
 

Während Haiba Tsutomu auf die Liege bugsiert, betrachtet Tsutomu so unauffällig wie möglich Haibas Gesicht. Wahrscheinlich hat Tendou recht. Die schmalen, grünen Augen und das helle Haar, die scharfen Gesichtszüge und die unbestreitbar beeindruckende Körpergröße lassen Haiba vermutlich in die Kategorie »hübsch« fallen.
 

Nicht, dass Tsutomu wirklich je darüber nachdenkt, wer hübsch ist.
 

Alle Leute in seinem Jahrgang sind besessen davon darüber zu reden, welches Mädchen hübsch ist und welcher Junge gut aussieht. Alles, was Tsutomu im Kopf hat, ist Volleyball. Vielleicht ist das der Grund, wieso er eigentlich keine Freunde in seinem Jahrgang hat. Alle finden ihn komisch. Und sie lachen über seine Haare.
 

Haiba hat nicht ein einziges Mal über Tsutomus Haare gelacht. Oder darüber, dass er nur an Volleyball denkt—weil Haiba nämlich selber an nichts anderes denkt, als an Volleyball.
 

Während seine Gedanken kreiseln, kramt Haiba in einem der Schränke herum und ehe Tsutomu es sich versieht, hat er ein in ein Handtuch gewickeltes Kühlpack auf der Stirn, wo sicher beizeiten eine Beule erscheinen wird.
 

»Danke«, nuschelt er.
 

Haiba lächelt schief.
 

»Keine Ursache.«
 

Tsutomo denkt darüber nach, wie Haiba beim Frühstück in sich zusammengesackt ist und schluckt.
 

»Ähm. Wegen heute Morgen beim—beim Frühstück«, fängt er an und grüne Katzenaugen richten sich direkt auf sein Gesicht. Tsutomu schluckt erneut und starrt an die Decke. Warum haben alle Mitglieder von Nekoma dieses intensive Starren drauf? »Tut mir Leid.«
 

Haiba legt den Kopf schief und lässt sich auf einen der Hocker sinken, die zwischen den drei Liegen verteilt stehen.
 

»Schon in Ordnung. Yaku-senpai sagt immer, dass ich nie weiß, wann genug ist«, meint Haiba mit einem reumütigen Lächeln. Es scheint ihn nicht zu stören, so dermaßen von seinem älteren Mitschüler in die Mangel genommen zu werden.
 

Tsutomu kaut auf seiner Unterlippe herum und denkt darüber nach, was er noch sagen könnte. Er weiß, dass er überhaupt keine Sozialkompetenz hat—er versteht keinen Sarkasmus oder zweideutige Witze, kann keinen Small Talk führen und über nichts anderes sprechen als über Volleyball. Und er ist meistens viel zu laut.
 

Aus irgendwelchen Gründen scheint Haiba sich an all diesen Dingen nicht gestört zu haben.
 

Das Kühlpack auf seiner Stirn hilft kein bisschen dabei sein Gesicht davon abzuhalten, langsam aber sicher rot anzulaufen.
 

»Warum?«, platzt es schließlich aus ihm heraus. Haiba dreht den Kopf und schaut Tsutomu fragend an, den Kopf schief gelegt und ein aufmerksamer Blick in den stechend grünen Augen.
 

»Warum was?«, fragt er.
 

Tsutomu fragt sich, ob er aussieht wie Tendous Haar.
 

»Warum—warum willst du so viel Zeit... mit mir...«
 

Er bricht ab und starrt wieder an die Decke.
 

Genau deswegen redet er besser über nichts anderes als über Volleyball, weil sonst nur so ein gestammelter Unsinn aus ihm herauskommt. Er mag ein Ass im Volleyball sein, aber es wäre gelogen zu behaupten, dass Tsutomu sonderlich viele andere Talente hat.
 

»Huh?«, sagt Haiba und er klingt vollkommen verwirrt. »Weil du cool bist. Und weil wir beide Asse unserer Mannschaft sind.«
 

Ein Moment des Schweigens.
 

»Und ich mag dein Haar.«
 

Tsutomu friert auf der Liege ein und starrt Haiba an, um zu sehen, ob das ein Witz sein soll. Aber Haiba sieht einfach nur verwirrt darüber aus, wieso Tsutomu so eine Frage überhaupt stellen würde und er spürt einen heftigen Ruck in seinem Brustkorb, bevor sein Herz anfängt wie bescheuert zu hämmern.
 

»Oh«, sagt er schwach.
 

»Weil du cool bist. Und ich mag dein Haar.«
 

»Ich—äh. N—niemand mag mein Haar«, protestiert er, weil er nicht weiß, was er sonst sagen soll. Zu seinem grenzenlosen Entsetzen streckt Haiba seinen sehr langen Arm nach ihm aus und streicht ihm seinen Pony aus der Stirn. Tsutomu denkt, dass er jeden Augenblick explodiert. So sehr hämmert sein Herz nicht mal, wenn er nach anderthalb Stunden Joggen zurück nach Hause kommt.
 

Was ist eigentlich los?
 

»Weich«, murmelt Haiba mehr zu sich selbst als zu Tsutomu und dann zuckt er mit den Schultern.
 

»Ich schon.«
 

Tsutomu ballt die Hände zu Fäusten und richtet den Blick wieder an die Decke. Es ist eine ausgesprochen hässliche Decke, aber es ist eindeutig besser dorthin zu gucken, als Haibas durchdringendes Starren zu erwidern.
 

»W—wollen wir morgen früh wieder laufen gehen?«, fragt er schließlich. Seine Stimme ist wie immer viel zu laut. Er wagt es, einen schnellen Blick auf Haibas Gesicht zu werfen und wird geblendet von einem geradezu atomar strahlenden Lächeln.
 

Wow.
 

»Ich hol dich um sechs ab! Verschlaf nicht!«
 

»Ver—hallo? Du bist derjenige, der jeden Morgen dreimal geweckt werden muss!«
 

»Nicht, wenn wir zum Laufen verabredet sind«, meint Haiba ohne zu zögern und Tsutomu spürt sein Herz stolpern. Er hat keine Ahnung, was mit ihm passiert, aber er hat die vage Vermutung, dass Tendou sehr zufrieden damit wäre, wenn er es wüsste.
 

»Sollen wir wieder zurückgehen, oder musst du noch liegen bleiben?«, fragt Haiba und beugt sich vor, um einen Blick unter das Kühlpack zu werfen. Sein Gesicht ist viel zu nah und Tsutomu kann die gerade Linie seiner Nase aus nächster Nähe bewundern. Und die gelben Sprenkel in den grünen Augen. Und er spürt sehr definitiv Atem auf seiner Stirn.
 

»Zurück!«, platzt es aus ihm heraus und er rutscht hastig von Haiba weg und setzt sich auf. Das Kühlpack fällt ihm in den Schoß. Das eilige Aufsetzen war keine gute Idee. Ihm wird prompt schwindelig und er sackt wieder in sich zusammen. Haiba drückt ihn zurück in eine liegende Position und legt das Kühlkissen zurück auf Tsutomus Stirn.
 

»Bleib liegen. Ich hol ein bisschen Wasser. Hey, vielleicht können wir dann über Spieltheorie reden, Yaku-senpai sagt immer, ich soll mich mehr informieren und nicht einfach drauflosspringen.«
 

»Du musst mir keine Gesellschaft leisten«, brummt Tsutomu.
 

Haiba will mit ihm über Volleyball reden. Das einzige Thema, bei dem Tsutomu sich auskennt. Und es macht Haiba überhaupt nichts aus, dass Tsutomu keinen Small Talk führen kann.
 

»Aber ich will. Bleib schön liegen, ich bin gleich wieder da!«
 

Und mit diesen Worten verschwindet Haiba mit seinen lächerlich langen Gliedmaßen aus dem Erste-Hilfe-Raum und lässt Tsutomu mit seinen kreiselnden Gedanken und seinem heftig pochenden Herzen zurück.
 

Es scheint ihm so, als hätte er herausgefunden, worüber alle Leute in seinem Jahrgang immerzu reden.



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Kommentare zu dieser Fanfic (40)
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Von:  Junshin
2022-11-17T18:35:30+00:00 17.11.2022 19:35
Ich mag Yamaguchi und finde es etwas Schade, dass er meist in Tsukkis Schatten verschwindet… Deshalb gefällt mir die Story sehr. *.*
Von:  Junshin
2022-11-17T11:20:54+00:00 17.11.2022 12:20
Hach~ hab ja schon mehrfach betont wie toll ich deine Umsetzung der Charaktere finde. Hab Kuroos Stimme bei jedem Satz im Ohr! Es passt einfach 100Prozent!
Von:  Junshin
2022-11-17T09:45:06+00:00 17.11.2022 10:45
Ich hab grad echt Schmetterlinge im Bauch und wahrscheinlich Herzchen in den Augen! <3 Mal abgesehen davon, dass ich die Beiden einzeln schon großartig finde, sind sie zusammen einfach unwiderstehlich! Vielen Dank für diesen Herzklopfmoment <3
Von:  Junshin
2022-11-17T09:03:50+00:00 17.11.2022 10:03
Bisher keine Kommis? Owe, dass ändern wir jetzt mal. Bin im Anime zwar noch nicht so weit, weshalb ich mir die Charas der Shiratori ergoogelt habe, finde aber wieder, dass du das sehr gut gemacht hast.
Es harkelt nur hin und wieder, da du dauernd die Namen der Jungs benutzt, statt es anders zu formulieren. Für einen kleinen süßen One-Shot ist es aber sehr schön und ich mag wie präzise du die Charas darstellst. Du bringst ihr Wesen richtig gut in den Vordergrund was ich an deinen Storys wirklich liebe! <3
Von:  Junshin
2022-11-16T23:38:55+00:00 17.11.2022 00:38
Wow! Ein riesiges Lob für diesen unglaublich schönen Schreibstil. Du schaffst es wirklich die Stimmung, die Umgebung und die Gefühle aus den Wörtern herauszukitzeln.
Die Charas und ihre Unterhaltungen sind präzise und passen wie die Faust aufs Auge. Schon lange hat mich keine FF mehr so begeistert!
Zwar steige ich aktuell erst in das Haikyu! - Universum ein, bin aber schon jetzt ein großer Fan der Serie und auch von deiner Story. Bin auf die anderen Pairings gespannt!
Von:  Mamitasu
2021-01-28T20:23:36+00:00 28.01.2021 21:23
Der One Shot ist klasse *___*
Ich mag die beiden. Du hast sie super getroffen und es liest sich wie immer bei dir so schön flüssig... Ich genieß jetzt noch das kleine aufregende Gefühl der ersten Verliebtheit, die du in Tsukki (und mir XD ) ausgelöst hast
Von:  Votani
2020-01-01T23:08:00+00:00 02.01.2020 00:08
Da ich gerade auf einen Haikyuu-Trip bin, dachte ich mir, dass ich mal deine Geschichten dazu lese. :D Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich Iwaizumi/Oikawa frueher einmal nicht geshippt habe, weil es mir inzwischen doch irgendwie sehr ans Herz waechst. Dein OS hat ihre Dynamik auch total gut eingefangen, besonders Iwaizumis Gedanken und Oikawas unschuldige Art, die nur ueber seine Manipulationskuenste hinwegtaeuscht. *lach*
Die Geschichte war unheimlich niedlich und ich liebe sie! <3
Von:  Schangia
2019-05-19T10:11:26+00:00 19.05.2019 12:11
Gut, dass Yuuji die Kurve gekriegt hat, sonst hätte Daichi sich eine dritte Hand wachsen lassen müssen, um mich auch noch zurückzuhalten 8D
Sehr schöner One Shot, ich liebe Tadashi hier total! Deine Stories sind so ziemlich das Einzige, das mich immer wieder zu Haikyuu!! zurückbringt, also kann ich's gar nicht erwarten, dass du wieder mehr Zeit zum Schreiben hast ;)
Antwort von:  Ur
19.05.2019 17:18
Ich freu mich über wachsendes-Selbstbewusstsein-Tadashi und ich hab zu viele Fanarts gesehen wie Uni-Tadashi Motorrad fährt und Lederjacke trägt, das macht mich einfach sehr zufrieden als Konzept :D Ich freu mich sehr, dass ich dich immer wieder zurück locken kann, dann bin ich wenigstens nicht ganz allein in meinem Trashpile hier :'D (Ich spiele auch schon sehr mit dem Gedanken das tatsächliche Kuroo/Yaku Date zu schreiben und ich gebe dir die Schuld dafür xD) Danke fürs Kommentieren <3
Antwort von:  Schangia
20.05.2019 22:00
Da kann ich nur zustimmen, das würd ich mir auch für Tadashi wünschen :3 Keine Sorge, wann immer du rufst, joine ich dir in deinem Trashpile xD (Wieso denn Schuld? Die beiden Deppen haben ein Date ohne allergischen Schock ja wohl verdient ;p) Gerne! <3
Von:  Hatschepueh
2019-05-19T09:34:40+00:00 19.05.2019 11:34
Ich muss zugeben das ich eigentlich kein Fan von Tadashi als Part eines Pairings bin und deswegen kurz gezögert habe dieses Kapitel zu lesen aber da ich gerade auf einen Termin warten musste hab ich es doch gelesen und jetzt bin ich sehr froh darüber. Du hast die beiden sehr genau getroffen auch wenn mich dir Vorstellung Tadashi mit Piercings oder Tatoos dann doch etwas überrascht hat und ich mir das so gar nicht vorstellen kann aber immerhin bekommt er ja immer mehr Selbstvertrauen also wer weiss...
Jedenfalls hat mir das Kapitel sehr gefallen.
Antwort von:  Ur
19.05.2019 17:06
Ich freu mich immer, wenn Leute sich zu mir verirren, die mit Pairings/Fandoms eigentlich nichts anfangen können :D Ich freu mich, dass es dir gefallen hat! (Ich bin großer Fan von Tadashi mit Piercings und später auch mit Lederjacke/Motorrad :D) Danke für den lieben Kommentar :)
Von:  MikaChan88
2019-04-19T07:30:11+00:00 19.04.2019 09:30
ui.... absolut der Wahnsinn....
hat sich echt gut gelesen. Mach weiter so ^-^

cu,
MikaChan


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