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Über Katzen und Krähen

Oneshot-Sammlung
von

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Erzrivalen küsst man nicht

Oikawa Tooru war schon immer ausgesprochen beliebt bei den Mädchen gewesen. Sie mochten sein liebenswürdiges Lächeln, seine sanfte Stimme, seine perfekt liegenden Haare und seine generelle Lässigkeit, die er beim Volleyballspielen und natürlich auch in allen sonstigen Bereichen des Lebens an den Tag legte. Eine Traube solcher ihn bewundernder Mädchen folgte ihm, wohin er auch ging, und viele dieser Mädchen waren wirklich sehr hübsch. Tooru hätte gerne behauptet, dass er den ersten Kuss seines Lebens von so einem hübschen Mädchen bekommen hatte. Er würde sogar gern behaupten können, dass er seinen ersten Kuss von Iwa-chan bekommen hatte – auch wenn Iwa-chan ihn dann sicherlich erwürgenwürde.
 

Nein, Oikawa Tooru hatte seinen ersten Kuss im Alter von zehn Jahren bekommen. Wenn er es recht bedachte, dann zählte es eigentlich gar nicht richtig, weil es ein unschuldiger Kinderkuss gewesen war, aber Tooru ärgerte sich trotzdem darüber. Er ärgerte sich außerdem darüber, dass er bislang noch keinen zweiten Kuss bekommen hatte, der den ersten irgendwie ungültig werden lassen könnte. Man mochte es bei seinem guten Aussehen kaum für möglich halten, dass er quasi ungeküsst war, aber wahrscheinlich waren die hübschen Mädchen, die ihn anhimmelten, letztendlich doch zu eingeschüchtert von seiner Großartigkeit.
 

Dieser gewisse Jemand, der nicht hübsch und nicht einmal ein Mädchen war und von dem Tooru seinen ersten Kuss bekommen hatte, war kein bisschen eingeschüchtert von Toorus Großartigkeit gewesen – die er womöglich mit zehn Jahren auch noch nicht unbedingt ausgestrahlt hatte, aber das spielte keine Rolle. Auch diese Tatsache ärgerte ihn gewaltig.
 

Kuroo Tetsurou war ein Junge mit vielen verärgernden Qualitäten und soweit Tooru wusste, hatten sich diese Eigenschaften im Alter nur noch gesteigert. Da half es nicht, dass Kuroo zu allem Übel auch noch gute drei Zentimeter größer war als Tooru. Es war selbstverständlich nicht so, als wäre Tooru ein weniger guter Volleyballspieler, nur weil er drei Zentimeter kleiner war als Kuroo, aber er musste zugeben, dass es durchaus angenehm wäre, zu Kuroo hinunterzuschauen. Das würde ihm eine ungesund große Befriedigung verschaffen.
 

Wahrscheinlich war das der Grund, warum er über Kuroos Leben erstaunlich gut Bescheid wusste – man musste immer bereit sein für den Moment, in dem man endlich erfuhr, dass Kuroo Tetsurou nicht mehr weiterwuchs und Tooru ihn endlich in einem Wachstumsschub überholt hatte. Und da war es auch nicht verwunderlich, dass Tooru all diese Dinge über Kuroo wusste, selbst wenn dieser – den Göttern sei Dank – im weit entfernten Tokyo lebte.
 

Tooru kannte alle wichtigen Eckdaten und alles, was mit der Nekoma High zu tun hatte und zu dieser gehörte Kuroo nun einmal dazu. Es war schließlich seine Aufgabe als Mannschaftskapitän von Seijoh, über gegnerische Mannschaften Bescheid zu wissen. Und dass er im Zuge dieser Recherche über potentielle, zukünftige Gegner auch Dinge über deren Kapitän lernte, war schlichtweg ein Kollateralschaden.
 

Es war schließlich nicht so, dass er irgendetwas über Kuroo wissen wollte. Das hatte er vor acht Jahren schon nicht gewollt, als seine Eltern ihn für ein Jahr nach Tokyo geschleift hatten, und es hatte sich seither kein bisschen geändert.
 

*
 

»Schau nicht so, Tooru-chan. Wir gehen ja wieder zurück! Es ist eine einmalige Chance für deinen Vat–«
 

»Ist mir egal!«
 

»Tooru!«
 

Tooru verschränkte die Arme vor der Brust und starrte aus dem Fenster des Autos. Die Arbeit seines Vaters war ihm egal. Eigentlich verabscheute er diese Arbeit sogar, weil sein Vater sich lieber mit ihr beschäftigte als mit seiner Familie. Deswegen wollte Tooru auch nicht einsehen, wieso er nach Tokyo gehen sollte. Sein Vater hätte auch alleine dorthin gehen können, es hätte keinerlei Unterschied gemacht.
 

Die Landschaft draußen vorm Auto flog vorbei und trug ihn immer weiter weg von seiner Schule, seinen Freunden, seinem Zimmer. Weg von Iwa-chan und Volleyballtraining.
 

»Ich schreib dir Briefe, Iwa-chan, ok?«, hatte er gesagt.
 

Aber wahrscheinlich gab es überhaupt nichts zu erzählen. Und mit wem sollte er jetzt Frösche fangen und Volleyball üben und Süßigkeiten vom Schrank in der Küche klauen, wenn nicht mit Iwa-chan? Tooru hatte sich bereits vorgenommen, dass er in Tokyo keine neuen Freunde finden würde. Und sei es nur, um seinen Eltern zu zeigen, dass er alles in Tokyo hasste. Jeden Menschen, der dort lebte, und jeden Zentimeter Straße und das neue Haus und jeden Frosch, den er nicht zusammen mit Iwa-chan fangen konnte.
 

»Hey«, sagte eine Stimme direkt neben ihm und Tooru drehte trotzig den Kopf zu seiner großen Schwester herum, die ihn strahlend anlächelte. »Es wird sicher aufregend, Tooru! Überleg doch mal, Tokyo!«
 

Natsumi freute sich schon auf Tokyo. Vielleicht sah die Welt anders aus, wenn man achtzehn war. Tooru liebte seine Schwester abgöttisch, aber dafür, dass sie ihn so verriet und ihn anstrahlte, als wäre Tokyo für sie alle der Goldtopf am Ende des Regenbogens, hasste er sie auch ein bisschen. Er warf Natsumi einen wütenden Blick zu und schob die Unterlippe vor und nahm sich fest vor, den Rest der Autofahrt keinen Ton mehr zu sagen. Sollte Natsumi sich doch auf das aufregende Leben in Tokyo freuen. Er überlegte jetzt schon, über was er sich in seinem ersten Brief an Iwa-chan alles beschweren könnte.
 

»Das da hinten ist unser neues Haus!«
 

Es war definitiv nicht so groß, wie Tooru es sich vorgestellt hatte, und es hatte natürlich auch nicht die Gitterstäbe vor den Fenstern, die er sich in den letzten Tagen vorm Einschlafen ausgemalt hatte. Er starrte das hell verputzte Haus feindselig an und ignorierte die freudigen Ausrufe seiner Schwester, die sich über »den traditionell japanischen« Stil des Hauses freute. Während seine Schwester und seine Mutter Toorus Leid komplett ignorierten, passierte etwas, mit dem Tooru nicht gerechnet hatte. Ein Volleyball rollte auf die Straße und ein schwarzhaariger Junge, der aussah, als hätte er sich seit mindestens vier Wochen nicht mehr gekämmt, rannte dem Ball hinterher auf die Straße. Tooru starrte ihn und den Volleyball an.
 

»Oh, schau mal, Tooru! Er ist ungefähr in deinem Alter! Und er spielt auch Volleyball, ist das nicht toll?«
 

Tooru brummte unzufrieden, wandte den Blick von dem Jungen ab und nahm sich fest vor, diesen Fremden genauso scheußlich zu finden, wie alles andere an Tokyo.
 

Sein Zimmer war definitiv zu groß, das Haus roch komisch, und Tooru konnte von seinem Fenster aus direkt in den Garten des schwarzhaarigen Jungen schauen, der vorhin den Volleyball gejagt hatte. Er spielte mit einem anderen Jungen, der allerdings nicht besonders gut war und auch nicht wirklich begeistert wirkte. Tooru konnte das verstehen. Vielleicht fand dieser Junge Tokyo genauso fürchterlich wie Tooru.
 

Er ignorierte die Stimmen seiner Schwester und seiner Mutter sowie all die Umzugskartons, die jetzt in seinem Zimmer standen, und kramte nach etwas Papier und einem Filzstift, ehe er sich an den vollkommen leeren Schreibtisch setzte, die Zunge zwischen die Lippen schob und anfing zu schreiben.
 

Lieber Iwa-chan,
 

Tokyo ist hässlich und das Haus riecht komisch. Im Haus nebenan wohnt ein Junge, der sich nie die Haare kämmt. Natsumi und Mama sind begeistert, aber ich will wieder nach Hause. Übst du weiter Volleyball? Denk daran, den Frosch zu füttern!
 

Tooru
 

Tooru las den Brief noch einmal durch. Er hatte noch nie in seinem Leben einen Brief an jemanden geschrieben, aber viel falsch machen konnte man wohl kaum. Vielleicht sollte er den Brief noch ein wenig aufheben und später etwas mehr dazu schreiben, auch wenn Tooru sich ziemlich sicher war, dass kaum neue Dinge hinzukommen würden, die er berichten konnte.
 

Während er über dem Brief brütete, gab es einen dumpfen Knall, und Tooru wäre beinahe vom Stuhl gefallen, so sehr erschreckte er sich. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass gerade etwas Großes gegen sein Fenster geknallt war, und er sprang vom Schreibtisch auf, um hinüber zu eilen und hinauszuschauen. Unten im Garten des Nachbarhauses stand der Junge mit den ungekämmten Haaren und spähte hinüber in ihren Garten. Tooru folgte seinem Blick und entdeckte den blau-gelb-weißen Volleyball im Gras liegen, der vorhin bereits auf die Straße gerollt war. Tooru schüttelte den Kopf. Die beiden waren wirklich miserabel im Volleyball, wenn ihnen der Ball erst auf die Straße rollte und dann gegen ein benachbartes Fenster und in einen fremden Garten flog.
 

Voller Missmut dachte Tooru daran, dass ihm und Iwa-chan so etwas noch nie passiert war. Er hastete aus dem Zimmer und die Treppe hinunter, wo Natsumi ihrer Mutter gerade half, all die Küchenutensilien aus den Kartons und in die Schränke zu räumen. Was für ein übertriebener Aufwand für ein Jahr.
 

»Tooru? Wo willst du hin?«
 

»In den Garten«, rief Tooru, dann hatte er auch schon die Tür aufgerissen und war um die Ecke des Hauses gehuscht. Da lag der Ball. Und als Tooru den Kopf hob schaute er direkt in zwei irgendwie beunruhigend dreinblickende Augen. Der Junge sah für einen Zehnjährigen irgendwie verschlagen aus. Tooru hob den Ball auf und stemmte eine Hand in die Hüfte.
 

»Das war mein Fenster, das du fast zerdeppert hättest!«, sagte er. Der Junge grinste schief und fuhr sich mit einer Hand durch die ohnehin schon so wild abstehenden Haare.
 

»War keine Absicht! Ich hab Schmetterbälle geübt«, antwortete der Fremde. Tooru schnaubte.
 

»Anscheinend bist du nicht besonders gut in Schmetterbällen.«
 

Die Miene des Jungen verfinsterte sich.
 

»Ach ja? Und du kannst es besser, was?«
 

»Ich hab jedenfalls noch nie fast ein Fenster kaputt gemacht!«
 

Der Nachbarsjunge musterte ihn abschätzig. Tooru starrte ihn wütend an.
 

»Also spielst du auch Volleyball?«, wollte der Wischmopp wissen. Tooru gratulierte sich innerlich zu diesem Vergleich und beschloss, ihn später noch seinem Brief an Iwa-chan hinzuzufügen.
 

»Ja«, sagte er stolz und reckte das Kinn. Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des anderen Jungen aus und Tooru blinzelte verwundert. Gerade hatte er noch so sauer ausgesehen.
 

»Ich bin Kuroo. Kuroo Tetsurou. Wenn du willst, darfst du mit uns trainieren!«
 

Tooru dachte still bei sich, dass mit ‚uns‘ wahrscheinlich der unmotivierte Junge mit den kinnlangen Haaren gemeint war, aber er wollte nicht zugeben, dass er die beiden aus dem Fenster heraus beobachtet hatte. Im ersten Moment wollte er »Ok!« rufen, seine Umzugskartons Umzugskartons sein lassen und mit Kuroo Tetsurou Volleyball üben. Aber dann erinnerte er sich daran, dass er sich vorgenommen hatte, alles an Tokyo zu hassen. Er warf den Ball über die niedrige Hecke und Kuroo fing ihn problemlos auf.
 

»Nein, danke. Mit so schlechten Spielern übe ich nicht«, sagte er, drehte sich auf dem Absatz um und stapfte zurück ins Haus.
 

*
 

Tooru befand sich gerade im Schwitzkasten von Iwaizumi, als der Coach sie zur Ordnung rief und Iwaizumi ihn endlich losließ, nachdem Tooru sich vorher über einen schiefgelaufenen Schmetterball lustig gemacht hatte. Er holte ein paar Mal tief Luft und fuhr sich durch die Haare, dann folgte er seinem Team, das sich um Coach Irihata versammelte. Iwa-chan warf ihm einen vernichtenden Blick zu und Tooru zeigte ihm lächelnd ein Peace-Zeichen mit Mittel- und Zeigefinger. Da der Coach ihnen seine volle Aufmerksamkeit schenkte, war Tooru erst einmal vor Iwaizumis Vergeltung in Sicherheit.
 

»Ich habe ein paar Trainingsspiele für euch an Land gezogen. Wenn wir Shiratorizawa schlagen wollen, sollten wir mit so vielen verschiedenen starken Mannschaften trainieren wie nur möglich.«
 

Es gab einige begeisterte Zustimmungsrufe vom Team und Tooru beschloss, dass er erst jubeln würde, wenn er gehört hatte, gegen welche Mannschaften sie antreten sollten. Neben sich spürte er Iwa-chans wütende Aura wabern, aber er beschloss, sie zu ignorieren.
 

»…Yukigaya, Hinodai und ich habe es geschafft, ein kleineres Trainingscamp mit einer Schule aus Tokyo zu vereinbaren, wo wir vier Tage in einer Herberge übernachten können…«
 

Tooru hob den Kopf. Er reagierte immer noch allergisch auf den Namen Tokyo, auch wenn das mit großer Wahrscheinlichkeit albern war. Nach acht Jahren sollte er sich nicht mehr so darüber aufregen, aber er konnte nichts dagegen tun. Während ein beeindrucktes Raunen durch die Mannschaft ging, überlegte Tooru, welche guten Mannschaften in Tokyo er kannte, die zu so einem kleinen Trainingscamp zustimmen würden, aber noch während er verschiedene Namen in seinem Kopf durchging, holte ihn die Stimme von Coach Irihata zurück in die Realität. Und zwar mit einem riesigen verbalen Hammer.
 

»…Nekoma.«
 

Tooru hätte beinahe lauthals protestiert, aber er biss sich stattdessen heftig auf die Unterlippe und ballte seine Hände zu Fäusten. Er konnte beinahe spüren, wie sich Iwa-chans Blick in Toorus rechte Gesichtshälfte bohrte, aber er starrte stattdessen voller Empörung ihren Coach an. Wusste dieser Einfaltspinsel denn nicht, dass Nekoma ein mittelmäßiges Team mit einem ganz und gar abscheulichen Kapitän war, das ihre Aufmerksamkeit in etwa so sehr verdiente wie ein Stück Kaugummi unter einer Schuhsohle? Oikawa atmete tief ein und aus. Vier Tage lang Training mit Nekoma. Die Götter oder das Schicksal oder wer auch immer für ihn verantwortlich war hatte beschlossen, ihm breit grinsend einen Mittelfinger zu zeigen und Tooru fühlte sich ausgesprochen schlecht behandelt.
 

Der Rest des Trainings verging in einem Schleier aus schlechter Laune und verschiedenen Vorstellungen darüber, wie er Kuroo begrüßen würde, wenn er ihn wiedersah. Es war nicht so, als hätten sie sich in den letzten Jahren nie gesehen. Tatsächlich hatte es bereits die ein oder andere Begegnung auf Volleyballfeldern gegeben und abgesehen davon, dass Kuroo eine absolut unausstehliche Persönlichkeit hatte, war sein Volleyballstil etwas, das Tooru regelmäßig auf die Palme brachte.
 

»Na? Meinst du, du schaffst es dieses Mal, Kuroo-san zu schlagen?«, erkundigte sich Iwa-chan beinahe scheinheilig bei ihm und Tooru schenkte ihm ein zuckersüßes, falsches Lächeln.
 

»Iwa-chan, meinst du, du schaffst es diesmal, ein paar Schmetterbälle an Kuroos Blocks vorbeizubekommen, oder sollen wir noch ein bisschen üben, bevor es losgeht?«
 

Es war vorhersehbar gewesen, dass er dafür direkt wieder im Schwitzkasten landete, aber Tooru war ohnehin viel zu sehr damit beschäftigt, sich Strategien auszudenken, um Nekoma endlich zu schlagen. Die Wahrheit war nämlich, dass Kuroo Tetsurou ganz und gar kein schlechter Volleyballspieler war, wie Tooru damals vor acht Jahren angenommen hatte. Vielleicht war er zu irgendeinem Zeitpunkt einmal schlecht gewesen. Aber mittlerweile war er genauso ein aufmerksamer Beobachter und Pläneschmieder geworden, wie Tooru es selbst war, und das ärgerte ihn maßlos. Und nicht nur das, auch der Setter von Nekoma – oder auch Puddingkopf, wie Tooru ihn gerne insgeheim nannte – war einer von diesen entnervend aufmerksamen Beobachtern, die dann Strategien entwickelten, um das andere Team in ihrer Spielweise zu untergraben.
 

Tooru spielte selbst gerne auf diese Art, aber wenn man plötzlich selbst mit einer solchen Technik konfrontiert wurde, machte es nur noch halb so viel Spaß. Er würde trainieren bis zum Umfallen und Kuroo sein beklopptes Grinsen aus dem Gesicht wischen.
 

*
 

Es schien ganz so, als wolle Kuroo Tetsurou ihn absichtlich auf die Palme bringen. Es flog kein einziger Volleyball mehr gegen Toorus Fenster, dafür aber regelmäßig kleinere Steinchen. Und immer, wenn Tooru das Fenster aufriss, um empört nach draußen zu rufen, dass Kuroo diesen Unfug sein lassen sollte, dann war er bereits verschwunden. Wahrscheinlich versteckte er sich einfach hinter der Hecke, die ihre Grundstücke trennte. Tooru hätte nicht übel Lust gehabt, auf irgendeine Art und Weise Vergeltung zu üben, aber ihm fiel nichts ein.
 

Lieber Iwa-chan,
 

ich habe heute einen Frosch im Garten gefunden, aber ich hatte keine Lust, ihn zu fangen. Mein Nachbar ist ein Alptraum, er wirft dauernd Steine gegen mein Fenster. Wahrscheinlich, weil ich ihm gesagt habe, dass er schlecht Volleyball spielt. Aber besser, er lernt das jetzt als später. Ich bin wahrscheinlich schon völlig aus der Übung geraten. Ich hab meinen Volleyball im Schrank versteckt. Mama fragt dauernd, ob ich nicht mit Kuroo spielen will. Aber mit dem spiele ich ganz bestimmt nicht. Wie läuft es mit deinem Training im Club?
 

Tooru
 

Tooru faltete den Brief und steckte ihn in einen Umschlag. Er hatte einen ganzen Vorrat an Briefumschlägen auf seinem Schreibtisch liegen. Bislang hatte er acht Briefe an Iwa-chan geschickt und Iwa-chan hatte ihm fünf Briefe zurückgesendet. Der letzte Brief, der aus seiner Heimat gekommen war, lag geöffnet auf dem Schreibtisch.
 

Lieber Tooru,
 

ich habe keine Frösche gefangen, seit du weg bist. Den letzten, den wir gefangen haben, hab ich freigelassen. Er sah ganz unglücklich aus in seinem Glas. Hast du mittlerweile all deine Umzugskartons ausgepackt? Ohne dich macht Volleyball keinen Spaß, auch wenn ich trotzdem weiter übe. Ich bin dem Volleyballclub an unserer Schule beigetreten. Dein Nachbar klingt bescheuert. Aber vielleicht kannst du trotzdem mit ihm Volleyball spielen. Ein bisschen Übung ist schließlich besser als keine Übung. Du musst ihn ja nicht mögen. Wenn du nicht übst, dann hänge ich dich ab!
 

Hajime
 

Tooru hatte den Brief drei Mal gelesen. Iwa-chan war einem Volleyballclub beigetreten. Es war nicht so, als könnte Tooru das hier nicht auch, aber dann wäre seine Mutter zufrieden und er wollte sie dafür bestrafen, dass er sie hierher geschleppt hatte. Mit Kuroo hingegen könnte er heimlich üben, ohne dass seine Mutter sich darüber freute. Wenn er sagte, dass er spazieren gehen wollte… Er wollte auf keinen Fall hinter Iwa-chan zurückbleiben. Also schnappte er den Brief, klebte eine Marke darauf – seine Mutter hatte ihm eine ganze Menge davon besorgt, und Tooru hatte dieses Versöhnungsgeschenk ohne Dank angenommen – und schlüpfte in seine Turnschuhe, um das Haus zu verlassen.
 

»Wo gehst du hin, Tooru?«
 

»Zum Briefkasten.«
 

»Bleib nicht zu lang draußen!«
 

Tooru ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und machte sich auf den Weg zum Briefkasten. Er dachte an den freigelassenen Frosch und den Volleyball in seinem Schrank und an die unausgepackten Umzugskartons und stopfte den Brief etwas heftiger als nötig in den Schlitz des Briefkastens, bevor er kehrtmachte und so schnell er konnte die Straße hinunter lief, die er gerade heraufgekommen war. Vorm Gartentor der Familie Kuroo blieb er stehen und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. Er hatte Kuroo beleidigt und ihm gesagt, dass er niemals mit ihm spielen würde. Wenn er es sich jetzt anders überlegte, dann müsste er eingestehen, dass er Unrecht gehabt hatte, und das wollte Tooru eigentlich nicht. Während er noch so dastand und nachdachte und die Haustür anstarrte, flog ein Volleyball auf ihn zu und traf ihn am Kopf.
 

»Au!«
 

Ein Lachen, das verdächtig nach dem einer Hyäne klang, ertönte und Tooru hielt sich seine blutende Nase. Wütend starrte er Kuroo an, der mit seinen ungekämmten Haaren neben der Hausecke stand und ihn und seine blutende Nase auslachte. Tooru hatte nicht übel Lust, ihn zu schlagen.
 

»Wenn du nicht übst, dann hänge ich dich ab.«
 

Tooru konnte Iwa-chans Stimme in seinem Kopf hören, auch wenn er den Satz eigentlich nur in einem Brief gelesen hatte. Tooru bückte sich und hob den Volleyball auf, wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und starrte Kuroo wütend an.
 

»Wetten, dass ich viel besser in Volleyball bin, als du?«
 

Kuroo grinste und streckte ihm die Zunge heraus.
 

»Wetten nicht?«
 

Tooru öffnete das Gartentor und ließ es hinter sich zufallen. Kuroo grinste immer noch, aber Tooru würde ihm das dämliche Grinsen schon vom Gesicht wischen. Warte nur, Iwa-chan, dachte er bei sich, ich bleibe ganz bestimmt nicht hinter dir zurück.
 

*
 

»Oikawa-san, du bist sogar noch gruseliger als sonst«, sagte Kunimi zu ihm. Sie trainierten seit zwei Stunden und morgen war der Tag, an dem ein Bus sie nach Tokyo bringen würde, damit sie mit Nekoma ein Trainingscamp abhalten konnten. Tooru hatte seit Tagen kaum etwas anderes gemacht, als seine Aufschläge zu trainieren, und Iwaizumi hatte ihn mehrmals aus der Halle schleifen müssen, um ihn von weiterem Training abzuhalten. Sein Knie war Iwa-chan vermutlich dankbar, aber Tooru hatte keine Zeit, von seinem besten Freund bemuttert zu werden, er musste seinen Aufschlag perfektionieren, um Kuroo sein dämliches Grinsen aus dem Gesicht zu schmettern.
 

»Das liegt daran, dass Shittykawa noch nicht einmal gegen Nekomas Kapitän gewonnen hat, und er ist verbittert deswegen«, erklärte Iwa-chan nüchtern und Kunimi und Kindaichi sahen vollkommen unnötigerweise beeindruckt aus, weil sie sich Kuroo als wahnsinnig guten Volleyballspieler vorstellten. Tooru wäre Iwa-chan am liebsten an die Gurgel gegangen. Er war nicht verbittert, er war angemessen motiviert, sich zu verbessern. Und Kuroo einen Schmetterball ins Gesicht zu hämmern. Da war nichts Verbittertes zu entdecken.
 

»Also ist Nekoma eine sehr gute Mannschaft?«, erkundigte sich Kindaichi.
 

»Nein!«, blaffte Tooru im selben Moment, wie Iwa-chan »Ja« sagte. Tooru hätte sich gerne die Haare gerauft. Aber dann würde seine Frisur am Ende noch aussehen wie die von Kuroo und das war definitiv das Letzte, was er wollte. Er starrte Iwa-chan finster an und wandte sich dann ab, um weiter seine Aufschläge zu üben. Nekoma waren Experten auf dem Gebiet der Annahmen und Tooru wollte ihnen die Parade verhageln.
 

Iwa-chan sagte, dass er besessen von Kuroo war, aber das war unsinnig. Es war schließlich nicht Toorus Schuld, dass Kuroo alle Menschen in seinem Umfeld so sauer machte. Mit seinem dummen Grinsen und seinen Haaren und seinen drei Zentimetern, die er größer war als Tooru. Tatsächlich verbrachte Tooru die halbe Nacht vor ihrer Abfahrt damit, sich über Kuroo zu ärgern, was dazu führte, dass er am nächsten Morgen unausgeschlafen und sogar noch missgelaunter war als am Tag zuvor. Er schlief stattdessen im Bus auf Iwa-chans Schulter und entging so all den Kritiken, die Iwa-chan zweifellos auf der Zunge lagen, nachdem er Toorus Augenringe gesehen hatte.
 

Tooru hatte bemerkt, dass seine Teamkollegen etwas nervös wirkten. Nachdem Iwa-chan verkündet hatte, dass Tooru noch nie gegen Kuroo gewonnen hatte, schienen sie alle zu denken, dass Nekoma ein unbesiegbarer Gegner war. Aber es waren immerhin nur ein paar Trainingsspiele und wenn sie sich irgendwann bei den Nationalmeisterschaften treffen würden, konnte sein Team sich heute ein gutes Bild davon machen, was sie erwartete. Nicht, dass Tooru glaubte, dass Nekoma gut genug für die Nationalmeisterschaften wäre.
 

Als sie aus dem Bus ausstiegen, wurden sie direkt von der gegnerischen Mannschaft begrüßt. Tooru, der ganz hinten im Bus gesessen hatte, stieg als Letzter aus und seine Augen fanden Kuroo sofort. Er war anscheinend nicht mehr der größte seines Teams, sondern wurde von einer schlaksigen Bohnenstange um gute zehn Zentimeter überragt. Das war allerdings auch das einzig Tröstliche an dem Bild, das sich ihm bot, denn Kuroos schiefes Grinsen war genauso empörend wie schon vor acht Jahren und sein Haar war vielleicht sogar noch ein wenig unordentlicher geworden. Er schaute Tooru an und zwinkerte ihm zu allem Überfluss auch noch zu.
 

Tooru strich sich mit einer lässigen Handbewegung die Haare aus dem Gesicht, reckte das Kinn und lächelte Kuroo so herablassend wie möglich an.
 

»Benimm dich«, knurrte Iwa-chan neben ihm und im nächsten Moment drückte Iwa-chan schon auf seinen Kopf und zwang Tooru so in eine Verbeugung.
 

»Danke für die Einladung!«, sagten seine Teamkollegen einstimmig und Tooru fühlte sich wie ein kleines Kind, das gerne strampeln und schreien wollte, weil es keine Karotten essen möchte. Er wollte sich nicht vor Kuroo verbeugen. Als er sich wieder aufrichtete, hatte Kuroo zu seiner grenzenlosen Empörung den Blick von ihm abgewandt und sprach mit Puddingkopf. Es würden lange vier Tage werden.
 

*
 

»Oi! Tooru! Willst du Schmetterbälle üben?«
 

Tooru wollte eigentlich gerne so tun, als hätte er die Stimme, die unten aus dem Garten zu seinem Fenster herauf schwebte, nicht gehört. Aber in seinen Fingern kribbelte es auch gewaltig. Er hatte seit mehreren Tagen kein Volleyball mehr gespielt. Seine Mutter hatte selbstverständlich längst mitbekommen, dass Tooru seit mehreren Monaten mit dem Nachbarsjungen »spielte«, da sie auf bestem Fuße mit Kuroos Mutter stand und die beiden sich regelmäßig zärtlich darüber ausließen, wie schön die beiden miteinander Volleyball übten. Tooru hatte vergeblich versucht, seine Bekanntschaft zu Kuroo geheim zu halten, aber es war ihm nicht gelungen.
 

Er zwang sich, auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben, und starrte auf das Papier, das er gerade beschrieb.
 

»Tooru! Ich weiß, dass du mich hören kannst! Oder hast du Angst, dass ich deine Schmetterbälle wieder blocke?«
 

Das war des Guten zu viel. Tooru stand abrupt auf, sodass sein Stuhl beinahe nach hinten über kippte, und er stürmte zum Fenster.
 

»Du hast überhaupt nicht alle meine Schmetterbälle geblockt!«, blaffte er aus dem Fenster. Kuroos breit grinsendes Gesicht mit den bescheuerten Haaren blickte ihm entgegen. Tooru hasste Tokyo immer noch.
 

»Kommst du runter?«, fragte Kuroo verschmitzt und Tooru fragte sich, wieso sein Nachbar so ein nerviger, eingebildeter Wischmopp sein musste. Er hatte Iwa-chan bereits in sechs Briefen alles von Kuroo berichtet, was ihm auf die Nerven ging, und Iwa-chan tat sein Bestes, um Tooru aufzumuntern, aber Kuroo war einfach zu nervig, als dass irgendjemand Tooru diesbezüglich hätte aufmuntern können. Lediglich das Wissen, dass Iwa-chan zu Hause ebenfalls weiter trainierte, brachte Tooru dazu, sich weiter mit Kuroo abzugeben.
 

Tooru antwortete nicht und machte das Fenster zu. Er zählte bis zwanzig und erst dann ging er so langsam wie möglich nach unten und hinaus in den Garten, wo Kuroo immer noch stand und angefangen hatte, sich die Zeit mit Pritsch-Übungen zu vertreiben.
 

»Wenn du beim Spielen auch so langsam bist, dann kriegst du nie einen Schmetterball an mir vorbei!«
 

Tooru schnappte Kuroo den Ball weg und stapfte an ihm vorbei in Richtung der Wäscheleine, die sie als Volleyballnetz benutzten. Kuroos Mutter hatte mehrere Tücher darüber gehängt, sodass klar ersichtlich war, ob der Ball über oder unter der Leine hindurch gegangen war. Tooru hätte gerne einmal auf einem richtigen Volleyballfeld trainiert, aber bis er wieder zurück zu Hause war, musste er sich wohl damit begnügen.
 

»Und? Hasst du Tokyo immer noch?«, wollte Kuroo wissen, während er seine Position auf der einen Seite der Wäscheleine einnahm. Tooru schnaubte. Irgendwo in der Nähe der Terrassentür hörte er leise Videospielmusik. Wahrscheinlich hockte Kenma wieder auf der Treppe und spielte mit seiner komischen Konsole. Meistens ließ er sie beide alleine Volleyball spielen und ließ sich nur selten von Kuroo dazu überreden, für sie Bälle zu werfen oder gar selbst mitzuspielen. Tatsächlich verstand Tooru nicht wirklich, wieso Kuroo mit Kenma befreundet war – und andersrum. Er wollte schließlich auch nicht wirklich mit Kuroo reden, also konnte er es Kenma nicht übel nehmen.
 

»Sicher. Es ist ja immer noch hässlich und zu groß«, murrte Tooru ungehalten. Kuroo warf ihm einen Ball zu und begab sich dann in Position zum Blocken. Er grinste breit über Toorus Antwort.
 

»Aber es muss ja auch ein paar gute Sachen geben.«
 

»Nein.«
 

»Volleyballspielen zum Beispiel.«
 

»Das würde ich lieber zu Hause machen. Mit Iwa-chan.«
 

»Kann Iwa-chan auch so gut blocken wie ich?«
 

»Er ist jedenfalls nicht so ein eingebildeter Wischmopp wie du!«
 

Kuroo lachte. Sein Lachen klang immer noch wie das einer Hyäne und Tooru schnaubte verächtlich. Der Ball kullerte davon, während Kuroo sich vor Lachen auf dem Gras wälzte, weil Tooru ihn einen Wischmopp genannt hatte. Eigentlich hatte das eine Beleidigung sein sollen, deswegen verschränkte Tooru schmollend die Arme vor der Brust und schob die Unterlippe vor, während er Kuroo beobachtete. Das Lachen war ansteckend, aber er wollte nicht mit Kuroo lachen.
 

Gegen seinen Willen spürte er, wie seine Mundwinkel sich nach oben bogen, und er biss sich sogar auf die Unterlippe, um es aufzuhalten, aber schließlich betrog ihn sein Körper und stieß ein unterdrücktes, schnaubendes Lachen aus, das Kuroo dazu brachte, ihn vom Boden herauf anzusehen. Er hatte Tränen in den Augen vor lauter Lachen und Tooru befand, dass er noch nie jemanden gesehen hatte, der blöder aussah als Kuroo.
 

»Du kannst ja doch lachen«, prustete Kuroo und Tooru hielt sich entschlossen den Mund zu, aber es half alles nichts. Nach fünf Minuten lagen sie nebeneinander im Gras und schauten hoch in den Himmel.
 

»Die Wolke da sieht aus wie ein Volleyball«, sagte Kuroo.
 

»Sie ist rund. Es könnte auch jede andere Ballsorte sein.«
 

»Sei kein Spielverderber. Oh, die da hinten sieht aus wie deine schmollende Unterlippe!«
 

»Hey! Ich schmolle nicht!«
 

»Tust du wohl!«
 

»Tja, die da sieht aus wie dein blöder Wischmoppkopf!«
 

Kuroo lachte wieder und Tooru beobachtete ihn von der Seite. Vielleicht hasste er Tokyo ein bisschen weniger als am Anfang. Nur ein bisschen.
 

*
 

»Man könnte fast meinen, dass ihr eure jeweiligen Spezialisierungen einander angepasst habt«, sagte Iwa-chan unbeeindruckt von Toorus schlechter Laune, als sie auf dem Volleyballfeld standen und Nekoma im ersten Set dieses Trainingscamps gegenüberstanden. Tooru beschloss, dass er diesen Kommentar nicht mit einer Antwort belohnen wollte, und drehte den Ball entschlossen in seinen Händen. Er hatte stundenlang, tagelang, wochenlang diesen Aufschlag geübt und ihn fast bis zur Perfektion gebracht und er würde jetzt feiern, sobald er Kuroos dummen Gesichtsausdruck sehen würde, wenn er ein Aufschlag-Ass schaffte. Und noch eines. Und noch eines.
 

Es stand 15 zu 12 für Seijoh.
 

Oikawa warf den Ball in die Höhe, nahm Anlauf und schmetterte ihn mit aller Kraft in Kuroos Richtung. Er hatte sich nicht einmal vorgenommen, Kuroo zu treffen, aber der Ausdruck auf seinem sonst so lässigen Gesicht, als der Ball gegen seine Unterarme schlug und vom Feld rollte, war unbezahlbar. Tooru grinste zufrieden und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
 

Auch Kuroo grinste jetzt. Es war immer noch das scheußlichste Grinsen, das Tooru jemals gesehen hatte. Womöglich nur, weil Ushiwaka niemals grinste, aber das waren definitiv Gedanken, die er sich jetzt nicht machen sollte. Er nahm den nächsten Ball, starrte Kuroo herausfordernd an, während er den Ball in den Händen drehte, und nahm erneut Anlauf.
 

Der Ball schoss erneut ins Aus, nachdem er Kuroos Arme berührt hatte, aber Kuroo hatte ihn dieses Mal bereits besser angenommen als beim ersten Mal. Tooru schnaubte verächtlich.
 

»Sorry!«, sagte Kuroo an seine Teamkollegen gerichtet und kratzte sich scheinbar verlegen den Hinterkopf. Als er Tooru wieder ansah, verpasste die freudige Erwartung in seinem Blick Tooru einen… Stich? Nein. Es fühlte sich mehr an wie das Gefühl, das man hatte, wenn man eine Stufe treppabwärts verpasste. Tooru war nicht bereit, sich näher damit zu beschäftigen, also versuchte er einfach, gar nichts zu denken, warf den dritten Ball in die Luft und ließ ihn über das Netz donnern – direkt auf Kuroo zu und der… trat rasch zur Seite.
 

»Aus!«, rief er. Tooru biss sich auf die Unterlippe.
 

»Kein Problem!«, riefen ihm seine Teamkollegen zu. Tooru fand, dass es durchaus ein Problem war – er hätte lieber noch zwei, drei mehr Punkte von Nekoma bekommen und Kuroo vor seiner Mannschaft blamiert. Kuroo war allerdings nicht das einzige Problem. Puddingkopf schien kein allzu schlechter Setter zu sein und Tooru hätte es der kleinen, schmächtigen Bohnenstange niemals zugetraut, aber es wirkte eindeutig so, als wäre seine Fähigkeit zu beobachten und Strategien zu entwerfen der von Tooru ebenbürtig. Was er selbstredend niemals laut sagen würde. Nekoma war eine höchst unangenehme Mannschaft.
 

Tooru war so verbissen darauf, zu gewinnen, dass all seine Anspannung letztendlich dazu führte, dass sie das erste Spiel zwei zu eins verloren. Kuroo war von seinen lachenden und zufriedenen Teamkameraden umgeben und tätschelte Kenmas Puddingkopf. Tooru hätte sie beide am liebsten gewürgt.
 

»Im nächsten Spiel kriegen wir sie!«, sagte Kindaichi. Tooru kommentierte diese optimistische Prognose nicht, vor allem da Kuroo gerade unter dem Netz hindurch und auf ihn zukam. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, was allerdings nicht verhinderte, dass Kuroo immer noch elende drei Zentimeter größer war als Tooru. Das Leben war doch ungerecht. Schlimmer wäre es nur noch, wenn Kuroo auch so ein verdammtes Genie gewesen wäre wie Kageyama Tobio. Aber immerhin davon war er verschont geblieben.
 

»Beeindruckender Aufschlag, Oikawa«, sagte Kuroo grinsend. Tooru stemmte die Hände in die Hüften und pustete sich so lässig und unbeeindruckt wie möglich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
 

»Nächstes Mal werd ich noch ein paar mehr Aufschlag-Asse machen, Kuroo-chan«, sagte er mit sanfter, herausfordernder Stimme. Er spürte förmlich, wie die Erstklässler im Team schluckten und ein wenig zurückwichen. Kuroo grinste lediglich sein dämliches Grinsen.
 

»Selbst wenn ich den Aufschlag nicht kriege… wir haben auch noch andere gute Mitglieder, musst du wissen.«
 

»Oh? Wenn du es mir nicht gesagt hättest, dann wäre es mir überhaupt nicht aufgefallen.«
 

Er spürte einen Schlag auf den Hinterkopf und rieb sich die schmerzende Stelle.
 

»Tut mir Leid, Kuroo, ich weiß nicht, ich glaube, er ist mit dem Hintern zuerst aufgestanden«, knirschte Iwa-chan, der fiese Verräter und presste Tooru eine Hand auf den Mund, bevor er etwas Schneidendes erwidern konnte. Kuroo winkte ab, als würde Tooru ihn vollkommen kalt lassen, was Tooru wiederum noch mehr zur Weißglut brachte.
 

»Kein Problem. Ich weiß ja, wie… empfindlich… er ist«, meinte Kuroo und stolzierte lachend davon, als Tooru sich von Iwa-chan losriss, um Kuroo den Hals umzudrehen. Er spürte alle Blicke auf sich und auch, dass er rot geworden war – eine Tatsache, die ihn ungeheuer ärgerte. Normalerweise war er derjenige, der andere Leute so lange stichelte und piesackte, bis sie wütend und unvorsichtig wurden, aber bei Kuroo hatte diese Strategie nie funktioniert. Im Gegenteil war Kuroo immer derjenige gewesen, der Tooru mit seiner Art auf die Palme gebracht hatte.
 

*
 

»Weißt du, Tooru…«
 

»Hm?«
 

»Eigentlich kann ich dich gut leiden.«
 

»Ich dich kein bisschen.«
 

»Ha! Lügner.«
 

*
 

Tooru hatte Kuroo selbstverständlich häufiger gesehen als nur während dieses einen Jahres in Tokyo. Seine Mutter und Kuroos Mutter waren immer noch gut befreundet und seine Mutter hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren Sohn jedes Mal mit nach Tokyo zu schleifen, solange er sich noch nicht dagegen wehren konnte. Und natürlich hatten sie einige Male Volleyball gegeneinander gespielt, aber noch nie in dieser Konstellation.
 

Von vier Spielen, die sie allein heute gespielt hatten, hatte Seijoh lediglich eines gewonnen. Wie Coach Irihata gesagt hatte, war Nekoma ein sehr ungünstiges Match für sie. Als hätte Tooru das nicht bereits selbst gemerkt. Das eine gewonnene Spiel hatte er kaum feiern können, auch wenn all seine Teamkollegen es als Erfolg verbucht hatten. Kuroo hockte vermutlich gerade irgendwo und lachte sich ins Fäustchen. Und dieser Libero… war beinahe so schlimm wie Nishinoya von Karasuno. Er war definitiv nicht so laut, was ihn sympathischer wirken ließ.
 

Tooru war auf dem Weg zu den Umkleiden, als er Licht am Ende des Ganges sah. Er war spät dran und hatte noch später als seine Teamkollegen seinen Aufschlag trainiert. Dass noch irgendjemand hier war, wunderte ihn.
 

»Warum genau muss ich dir Gesellschaft leisten, während du auf Oikawa-san wartest?«
 

Tooru blieb abrupt stehen und lehnte sich im Dunkeln an die nächste Wand. Lauschen war nicht unbedingt die feine Art, aber wenn schon einmal sein Name fiel, dann konnte er nicht widerstehen.
 

»Weil ich mich sonst langweile«, erwiderte Kuroo und Tooru konnte hören, wie Kuroo seine Stimme gleichgültig klingen lassen wollte. Interessant. Es war nicht unbedingt so, dass Tooru meinte, Kuroo gut zu kennen. Aber er war nun einmal ein guter Beobachter und in all den Jahren der kurzen und streitreichen Treffen hatte er Kuroo sehr genau beobachtet.
 

»Das ist mir eigentlich ziemlich egal«, sagte Kenma in seinem ruhigen, nuschelnden Ton. Tooru hörte das Klicken von Tasten und wusste, dass Kenma nebenbei eins seiner Spiele spielte.
 

»Ist es nicht auch egal, wo du Monsterhunter spielst? Es kann auch genauso gut hier sein.«
 

Tooru fragte sich gerade, wieso er eigentlich hier stand und die Luft anhielt und war gerade im Begriff, sich von der Wand zu lösen und kehrtzumachen, um zur Herberge zurückzukehren, als…
 

»Wenn du Oikawa-san sagst, dass du ihn magst, muss ich wirklich nicht hier sein und deine Hand halten. Ich warte jetzt schon seit zwei Jahren darauf, dass du dich endlich zusammenreißt.«
 

Tooru war sich nicht sicher, ob er Kenma jemals so viele Worte an einem Stück hatte reden hören, aber angesichts der Worte, die langsam aber sicher einen Sinn in seinem Kopf ergaben, verlor diese Frage rasant an Bedeutung.
 

»…dass du ihn magst…«
 

Tooru hörte durch ein peinlich heftiges Hämmern seines Herzens, wie Kenma aufstand und sich seine Tasche über die Schulter warf. Hastig sah Tooru sich nach einem Ort um, an dem er sich verstecken konnte, aber da war Kenma bereits in den dunklen Gang getreten und schaute ihn aus seinen leicht apathisch dreinblickenden Katzenaugen mit schief gelegtem Kopf an. Zu Toorus grenzenloser Erleichterung sagte er nichts, schob sich die Tasche ein wenig höher die Schulter hinauf und drehte sich um, um davonzugehen. Tooru wog seine Möglichkeiten ab. Er könnte in seinen Sportklamotten zurück zur Herberge laufen, sich dabei wahrscheinlich eine Erkältung einfangen und dann eine Erklärung erfinden müssen, wieso er sich nicht geduscht und umgezogen hatte. Außerdem würde Iwa-chan dann vermutlich sein geschwollenes Knie sehen, das er vielleicht oder auch sehr wahrscheinlich bei seinem Training zu stark beansprucht hatte.
 

Die andere Variante war, in die Umkleide zu gehen und so zu tun, als hätte er nichts gehört. Dann wiederum hatte er noch nie so sehr die Oberhand über Kuroo gehabt wie in diesem Moment. Eine Stimme, die sehr nach Iwa-chan klang, verkündete ihm schnaubend, dass dies das Mieseste sei, was Tooru jemals gedacht hatte, aber Tooru schob den Gedanken beiseite, atmete einmal tief durch und betrat die Umkleide.
 

Kuroo lehnte an einer der Wände und sah aus, als würde er sehr tiefgründig nachdenken. Als Tooru eintrat, blickte er auf und das übliche schiefe Grinsen machte sich auf seinem beknackten Gesicht breit. Als er allerdings Toorus Knie bemerkte, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck. Tooru beschloss, dass er Kuroo keine Gelegenheit dazu geben wollte, sich über seine Unvernunft auszulassen, also zog er kurzerhand sein Shirt über den Kopf und warf es in Richtung seiner Tasche. Wenn er nicht vorher gehört hätte, was Kuroo und Kenma besprochen hatten, dann wäre ihm das kurze Flackern in Kuroos Blick vielleicht entgangen.
 

Tooru beschloss, alle Karten offen auf den Tisch zu legen.
 

»Ich hab gehört, du wolltest mit mir sprechen?«, sagte er scheinheilig und fing an, in seiner Tasche herumzukramen. Stille antwortete ihm. Tooru riskierte einen Blick hinüber zu Kuroo, der immer noch an der Wand lehnte und den Kopf schief gelegt hatte.
 

»Gehört? Von wem?«, fragte Kuroo und seine Stimme war sehr sorgfältig gefüllt mit Gleichmut. Tooru hätte beinahe geschnaubt.
 

»Von dir und Kenma. Ich war gerade auf dem Weg hier rein, kurz bevor Kenma gegangen ist.«
 

Über Kuroos Gesicht wanderten verschiedene Gefühle und Tooru erfreute sich kurz daran, dass Kuroos Kontrolle ihn für ganze zwei Sekunden verlassen zu haben schien. Er schlüpfte aus seinen Shorts und verzog kurz das Gesicht angesichts des Schmerzes, der durch sein Knie zuckte.
 

»Du hast dein Knie nicht geschont«, kommentierte Kuroo. Tooru schnaubte. Er wollte nicht über sein Knie reden. Er wollte, dass Kuroo vor Verlegenheit und Scham im Boden versank, weil Tooru gehört hatte, was er und Kenma besprochen hatten.
 

»Verfluchtes Knie«, grollte er ungehalten. Kuroo stieß sich von der Wand ab und kam zu ihm herüber. Tooru bemerkte kaum, wie er den Atem anhielt, während er sehr konzentriert und unnötig lange in seiner Tasche herumwühlte, um seine Klamotten herauszuholen.
 

»Ehrlich gesagt macht es nichts, dass du das gehört hast«, sagte Kuroo im Plauderton und blieb neben ihm stehen. Tooru richtete sich auf und setzte ein zuckriges Lächeln auf.

»Ist das so?«, gab er zurück. Es hatte definitiv nicht nach egal ausgesehen, als Tooru es ausgesprochen hatte.
 

Kuroo antwortete nicht, sondern starrte Tooru an. Wieso konnte sein Körper ihm nicht besser gehorchen? Sein Knie puckerte vor Schmerz, sein Herz klopfte definitiv zu laut, und seine verräterischen Augen huschten hinunter zu Kuroos Mund. Warum zum Teufel musste er seinen ersten Kuss von Kuroo Tetsurou bekommen haben?
 

*
 

Lieber Iwa-chan,
 

Tokyo ist auch nach acht Monaten noch fürchterlich. Aber ich denke, Kuroo macht es ein bisschen weniger fürchterlich. Sag ihm bloß nicht, dass ich das gesagt habe, sonst wird er unausstehlich sein. Er ist definitiv eingebildet genug.
 

*
 

Kuroo machte einen weiteren Schritt auf ihn zu und Toorus Fuß verhakte sich bei dem Versuch, zurückzuweichen in dem Tragegurt seiner Tasche. Ein heftiges Stechen im Knie, ein sehr unelegantes Rudern mit den Armen, und zwei Hände, die ihn so fest packten, dass es vielleicht blaue Flecken geben würde.
 

»Wer hätte gedacht, dass Oikawa Tooru an Türen lauscht«, murmelte Kuroo und seine Hände verweilten einen Moment länger als nötig auf Toorus Armen, nachdem er ihm geholfen hatte, festen Fuß zu fassen. Tooru weigerte sich, sich auf eine der Banken sinken zu lassen, weil er dann zu Kuroo hätte aufsehen müssen. Iwa-chans Stimme in seinem Kopf motzte ihn ungehalten an, aber Tooru hatte es nun jahrelang trainiert, sie zu ignorieren.
 

Kuroo ließ ihn los. Wenn Tooru sich nicht täuschte, huschten die dunklen Augen hinunter zu seinem Mund. Ungefähr eine Sekunde lang wallte Trotz in Tooru auf, der lauthals schrie: »Ich will meinen zweiten Kuss nicht auch noch von Kuroo Tetsurou bekommen!«, aber als Kuroo sich abwandte und zur Tür hinüberging, spürte Tooru eine peinliche Woge von Enttäuschung in sich aufwallen.
 

*
 

»Und, kommst du mal wieder her, um Volleyball zu üben?«, fragte Kuroo, der beobachtete, wie Tooru seinen Rucksack und seine Sporttasche die Treppe hinunter und zum Auto schleifte.
 

»Ganz sicher nicht. Ich hasse Tokyo immer noch!«, entgegnete Tooru und grinste. Kuroo grinste zurück.
 

»Irgendwann werde ich so gut, dass du keinen Ball mehr an mir vorbei bekommst!«
 

»Pah! Ich werde auch besser!«
 

Kuroo lachte und boxte Tooru gegen den Oberarm. Ihre Mütter standen beim Auto und luden gemeinsam die letzten Sachen ein. Kuroos Gesicht wurde ernst und er musterte Tooru eingehend.
 

»Es wird langweilig sein. Ohne dich.«
 

Tooru fuhr sich durchs Haar und hob die Schultern.
 

»Vielleicht wird es ohne dich auch ein bisschen langweilig«, gab er zu, was Kuroo wieder zum Grinsen brachte. Dann, ohne Vorwarnung, beugte Kuroo sich vor und drückte Tooru einen recht feuchten Kuss auf den Mund, ehe er lachend davonstob. Tooru wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
 

Es wurde wirklich Zeit, dass sie losfuhren.
 

*
 

Sein eigentlicher, wahnwitziger Plan war es gewesen, Kuroo aufzuhalten. Was genau er danach hätte anstellen wollen, wusste Tooru selbst nicht so genau, deswegen war es womöglich gut, dass sein Knie sich ihm in den Weg stellte und er so unelegant wie nur möglich zu Boden ging, nachdem er zwei Schritte getan hatte. Was immerhin dazu führte, dass Kuroo sich wieder umdrehte. So hatte Tooru sich das allerdings nicht vorgestellt.
 

»Alles in Ordnung?«
 

Kuroo sollte definitiv nicht neben ihm hocken und Toorus mittlerweile geschwollenes Knie anschauen. Er sollte überhaupt nicht sehen, dass Tooru irgendeine wie auch immer geartete Form von Schwäche zeigte, denn Kuroo zeigte schließlich auch nie Schwäche. Während Tooru sich auf die Unterlippe biss und sein Knie verfluchte, fragte er sich, was genau an Kuroo ihn eigentlich so wütend machte. Vielleicht war es die Tatsache, dass Kuroo kein Genie war und allein durch viel Training und Erfahrung so gut geworden war, dass Tooru nicht mehr als zwei seiner wiederum hart trainierten Aufschläge auf Kuroos Seite des Feldes hauen konnte. Vielleicht lag es daran, dass Tooru es gewöhnt war, Leute zu provozieren und ihre Schwächen zu besticheln und dass Kuroo sich von diesen Taktiken kein bisschen beeindrucken ließ. Ganz im Gegenteil sogar.
 

Er war in diese Umkleide gekommen, um Kuroo zum ersten Mal so richtig unter dem Daumen zu haben. Kuroo hatte ihm ungewollt eine Schwäche offenbart – und ob diese Schwäche nun gewisse Gefühle für Tooru waren oder nicht, spielte dabei keine… oder vielleicht nur eine ganz untergeordnete Rolle – und Tooru hatte diese Schwäche ausnutzen wollen. Stattdessen war er nun wieder derjenige, der Schwäche zeigte. Kuroo konnte den Spieß umdrehen. Tooru hasste es, wenn Leute ihn wegen irgendetwas in der Hand hatten. Es war ein Kontrollverlust und er…
 

»Gib mir dein Handy, ich ruf euren Trainer an.«
 

»Auf keinen Fall!«
 

»Sei nicht albern! So kannst du nicht bis zur Herberge laufen.«
 

»Wenn er das mitkriegt, darf ich morgen nicht spielen«, presste Tooru zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und Kuroo verstummte. Dann seufzte er.
 

»Na schön, Bakakawa«, murmelte Kuroo und im nächsten Augenblick hatte Tooru seine Klamotten im Schoß und Kuroo hielt sein Handy in der Hand.
 

»Hey! Was–«
 

»Zieh dich an, du kannst bei mir pennen«, sagte Kuroo und klang so lässig dabei, dass Tooru ihn am liebsten erwürgt hätte. Leider konnte er nicht aufstehen, also fing er umständlich an, sich auf dem kalten Boden hockend anzuziehen. Kuroo tippte unterdessen auf Toorus Handy herum.
 

Als Tooru aus seinem Kapuzenpulli auftauchte, blinzelte er und blickte einer sich ihm anbietenden Hand entgegen. Er zögerte einen winzigen Moment, dann griff er danach. Kuroos Finger waren warm und etwas rau und er zog ihn mit überraschend viel Kraft auf die Beine, ehe er in einer fließenden Bewegung Toorus Arm um seine Schultern schlang und dann wortlos mit dem Kopf Richtung Ausgang ruckte. Toorus Trainingstasche baumelte über Kuroos Schulter, die nicht mit Tooru besetzt war.
 

Tooru hatte beinahe vergessen, dass Kuroos Haus nicht weit entfernt von hier lag. Und das, obwohl Tokyo so riesig und hässlich war, dachte er mit einem Hauch von Bitterkeit still bei sich. Sie sprachen kein Wort, während Tooru neben Kuroo her hinkte. Sein Knie schmerzte und fühlte sich an, als wäre es auf die doppelte Größe angeschwollen. Außerdem spürte er überdeutlich Kuuros warme Hände auf seiner Hüfte und an seinem Handgelenk und einen sehr festen, muskulösen Körper direkt neben seinem, da ihre momentane Position sie dicht aneinander drängte.
 

Kenmas Stimme hallte in seinem Hinterkopf wider.
 

»Wenn du Oikawa-san sagst, dass du ihn magst, muss ich wirklich nicht hier sein und deine Hand halten. Ich warte jetzt schon seit zwei Jahren darauf, dass du dich endlich zusammenreißt.«
 

Sein Herz machte mehrere sehr unwillkommene Saltos und Tooru war so abgelenkt, dass er zu heftig auftrat und sein Bein ihn nicht halten wollte. Er fluchte unterdrückt.
 

»Ok, das reicht, ich nehm dich Huckepack«, murmelte Kuroo und achtete kein bisschen auf Toorus Proteste, sondern lud ihn sich wie einen Sack Mehl auf den Rücken, als wäre Tooru fünf Jahre alt und nicht in der Lage… nun. Wahrscheinlich war er wirklich nicht in der Lage. Aber die Tatsache, dass er Kuroo so hilflos ausgeliefert war, und sich abgesehen davon auch noch so eng bei ihm befand, machte Tooru nervös. Und er schätzte es kein bisschen, nervös zu sein.
 

Er war müde, er fühlte sich bloßgestellt und ausgeliefert und außerdem war es kalt. Mit einem unzufriedenen Geräusch ließ er seinen Kopf nach vorne kippen und auf Kuroos Schulter landen.
 

»Du bist ganz schön schwer«, sagte Kuroo.
 

»Halt die Klappe«, gab Tooru nuschelnd gegen Kuroos Schulter zurück. Ein leises Lachen antwortete ihm und dann spürte er, wie er vorsichtig heruntergelassen wurde, und er bemühte sich, auf seinem heilen Bein zu landen, um sich nicht noch mehr zu blamieren und vor Kuroo erneut einen Schwan hinzulegen.
 

Er erkannte das Haus und selbstverständlich auch das benachbarte Haus sofort. Es hatte sich kaum etwas verändert, bis auf einen neuen Anstrich in einem Sandton, den Tooru fragwürdig fand. Außerdem stand in seinem ehemaligen Garten nun eine Schaukel. Kuroo stützte ihn bis zur Haustür, bevor er aufschloss, seine Schuhe drinnen auszog und Toorus Tasche in die nächstbeste Ecke pfefferte.
 

»Meine Mutter ist nicht zu Hause«, informierte er Tooru beiläufig und Tooru ignorierte alle weiteren Saltos in seinem Brustkorb. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er noch nie wirklich in diesem Haus gewesen war. Sie hatten immer nur draußen im Garten gespielt und sich nie mit irgendetwas anderem als mit Volleyball beschäftigt. Die Wahrheit war, dass Tooru kaum Dinge über Kuroo wusste, die nicht mit Volleyball zu tun hatten. Und gleich würde er womöglich zum ersten Mal Kuroos Zimmer sehen. Es ging eine Treppe hinauf, für die Tooru peinlich lange brauchte, dann ein Stück einen schmalen Flur hinunter und dann stand er inmitten von Kuroos Zimmer.
 

Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.
 

Berge von Klamotten, Sportzeitschriften, Videospielen und allerlei Büchern lagen auf dem Fußboden, dem Bett und dem Schreibtisch verteilt. Es war ein recht großes Zimmer, aber man konnte kaum etwas von dem dunkelblauen Teppich erkennen. Eine Wand war gepflastert mit Postern von einigen Bands, die Tooru nur vom Namen her kannte, mit einigen Volleyballpostern und hier und da auch Bildern von Idols, von denen Tooru genauso wenig Ahnung hatte wie von den Bands. Es hingen auch einige Fotos dazwischen und auf den meisten davon waren Kuroo und seine Mannschaft oder Kuroo und Kenma zu sehen. Aber in einer Ecke direkt über dem zugemüllten Schreibtisch hing ein Foto von ihnen beiden, von dem Tooru nie gewusst hatte, dass es überhaupt existierte. Kuroos Mutter musste es geschossen haben.
 

Es zeigte Tooru, der einen Volleyball unter den Arm geklemmt hatte und anklagend auf Kuroo deutete, der sich vor Lachen den Bauch hielt. Es war eine erstaunlich zutreffende Abbildung ihrer gesamten… Beziehung. Oder Rivalität. Oder wie auch immer man es nennen mochte.
 

Die Tatsache, dass Kuroo ein Foto von ihnen beiden besaß und es an eine seiner Wände gehängt hatte, führte dazu, dass sich ein sehr merkwürdiges und unwillkommenes Kribbeln in Toorus ausbreitete.
 

»Was für ein Saustall«, sagte er bemüht geringschätzig und Kuroo lachte leise, während er mit einigen schnellen Bewegungen sein Bett freischaufelte, wodurch einfach noch mehr Dinge auf dem Fußboden landeten.
 

»Glaub ja nicht, dass ich für dich mein Bett neu beziehe. Hier. Mach’s dir bequem. Ich besorg dir eine Kühlpackung.«
 

Und mit diesen Worten verschwand Kuroo aus dem Zimmer und überließ es Tooru, noch weitere zwanzig Sekunden wie ein Volltrottel auf das Foto zu starren, bevor er schließlich zum Bett hinüber humpelte und sich darauf niederließ. Er war erschöpft genug vom Training und vom Weg hierher, dass er sich sogar hinlegte und versuchte, ganz normal zu atmen.
 

Kuroo mochte ihn.
 

Tooru lag in seinem Bett.
 

Kuroo hatte ein Foto von ihnen an seiner Wand hängen.
 

Kein Grund, deswegen die Nerven zu verlieren. Tooru fragte sich dumpf, was für eine SMS Kuroo von seinem Handy aus verschickt hatte, aber in Anbetracht der gerade aufgelisteten Tatsachen war diese Frage eher weniger wichtig. Er schloss die Augen und hielt sie geschlossen, als die Tür aufging und Kuroo wieder hereinkam. Tooru konnte förmlich fühlen, wie Kuroo im Türrahmen verharrte und ihn ansah, und Tooru musste sich sehr darum bemühen, seinen Atem ruhig zu halten.
 

Kuroo kam zu seinem Bett hinüber und dann senkte sich die Matratze, weil Kuroo sich darauf niederließ. Tooru beschloss, dass es für sein eigenes Seelenheil zu gefährlich war, sich schlafend zu stellen, also öffnete er die Augen und musste alles an Selbstbeherrschung aufbringen, als er Kuroos Blick begegnete und ihm zwei erstaunlich feurige Augen entgegenblickten. Aber schon im nächsten Moment hatte Kuroo sich abgewandt und zupfte an Toorus Hosenbein herum, um es nach oben zu schieben und das gerade geholte Kühlkissen darauf zu legen.
 

»Ich sollte duschen«, sagte Tooru matt. Kuroo zuckte mit den Schultern.
 

»Nachdem du drin geschlafen hast, muss ich das Bett sowieso neu beziehen.«
 

Tooru schlug mit einem Kissen nach ihm und Kuroo wich lachend aus.
 

»Das Bad ist direkt nebenan, da steht eine extra Zahnbürste und ich hab dir ein Handtuch rausgelegt. Du kannst mein Bett haben, ich penn unten auf der Couch.«
 

Kuuro machte Anstalten, sich zu erheben, und bevor Tooru sich Gedanken darüber machen konnte, was er eigentlich tat, hatte er seine Finger um Kuroos Handgelenk geschlossen und mit einem würdelosen »Uff« landete Kuroo halb neben und halb auf ihm auf der Matratze.
 

»Wer war dein zweiter Kuss?«, brummte Tooru und versuchte, so zu tun, als wüsste er genau, was er tat. Kuroo blinzelte verwundert und rutschte ein wenig hin und her, ehe er – als wäre es das normalste auf der Welt, der elende Bastard – sich gemütlich auf einem Ellbogen abstützte und Tooru interessiert musterte. Tooru hätte kotzen können angesichts all dieser Beherrschung.
 

»Hm… lass mich überlegen…«
 

Tooru buffte ihn mit der Faust gegen die Brust, woraufhin Kuroo wieder lachte.
 

»Ich würde sagen… ein Armleuchter namens Oikawa Tooru.«
 

Tooru wollte sich gerade über die Beleidigung beschweren und fragen, wer denn Kuroos erster Kuss gewesen war, – wahrscheinlich Kenma, aber Kinderküsse zählten nicht, verdammt noch mal! – als Kuroo sich vorbeugte und seine Lippen auf Toorus Mund presste. Toorus Gehirn schaltete sich aus und sein Körper reagierte instinktiv. Er gab ein absolut entwürdigendes Geräusch von sich und erwiderte den Kuss, als wäre sein Leben auf diesen einen Moment hin zugelaufen.
 

Wenn Kuroo überrascht über Toorus Enthusiasmus war, so ließ er sich nichts anmerken und drückte Tooru nach hinten in die Matratze, die sehr nach… nun ja. Kuuro roch. Der Geruch war erstaunlich benebelnd und Tooru würde diesen Gedanken mit ins Grab nehmen, aber Kuroo Tetsurou roch gut. Sehr gut sogar.
 

Finger vergruben sich in Toorus Haaren, eine Hand fand seine, die neben seinem Kopf auf dem Kopfkissen lag, und verhakte ihre Finger miteinander. So fühlte es sich also an, wenn man sich richtig küsste, dachte Tooru benommen. Lippen und Zungen und Finger, die sich am anderen festkrallten, und warme Körper, die sich aneinander pressten, als gäbe es kein Morgen mehr. Dumpf fragte er sich, wie lange er Kuroo unbewusst schon hatte küssen wollen, aber Kuroos Zunge war viel zu aufreizend, als dass er zu leistungsfähigem Denksport in der Lage gewesen wäre.
 

»Du kannst…«, krächzte er gegen Kuroos Lippen und ärgerte sich über seine verräterische Stimme. Aber als er die Augen öffnete und Kuroos glasigen Blick und die geröteten Wangen sah, wurde ihm klar, dass Kuroo genauso aufgewühlt war wie er selbst. Sein Herz machte einen Hüpfer. Das musste er öfter sehen. Kuroo Tetsurou sprachlos und mit feuchten Lippen und Rotschimmer auf den Wangen. Ha!
 

»Du kannst auch in deinem Bett bleiben«, endete er. Kuroo blinzelte, dann breitete sich zu Toorus Ärger das altbekannte Grinsen auf seinem Gesicht aus. Es verblasste etwas angesichts seiner glasigen Augen. Immerhin etwas.
 

»Kann ich das?«
 

»Halt die Klappe! Arroganter Mistkerl…«
 

»Vielleicht ist mir aber nicht danach, meine Klappe zu hmpf–«
 

Küssen war eine hervorragende Methode, um Kuroo zum Schweigen zu bringen. Er würde sie wahrscheinlich noch häufiger gebrauchen. Und so kam es, dass Tooru seinen zweiten, dritten, vierten, fünften… und noch einige mehr Küsse von Kuroo Tetsurou bekam. Aber er konnte nicht umhin, festzustellen, dass das weniger schlimm war als gedacht, da er selbst auch Kuroos zweiter, dritter, vierter…
 

»Wahrscheinlich hasse ich dich nicht so doll, wie ich dachte«, murmelte Tooru gegen Kuroos Mund. Kuroo lachte leise und vergrub sein Gesicht an Toorus Hals. Eine ganze Weile lang lagen sie so da, bis Kuroo schließlich die Lampe neben seinem Bett ausknipste. Keiner von ihnen machte sich die Mühe, noch einmal ins Bad zu gehen oder sich aus den Klamotten zu schälen. Tooru spürte sein Knie immer noch puckern, aber es ging bereits besser, da es weiterhin gekühlt und nicht mehr beansprucht wurde. Und um Iwa-chans saure Moralpredigt musste er sich erst am nächsten Morgen Gedanken machen.
 

Er schloss die Augen.
 

»Ich dich auch nicht.«



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Soichiro
2017-03-06T19:48:21+00:00 06.03.2017 20:48
Und schon wieder Ich xD

Und ich kann dir direkt sagen, dass ich eine weitere tolle FF zu dieser Serie entdeckt habe ;)

Wie du Kuroo beschreibt, ist einfach nur klasse! Ich kann ihn mir die ganze Zeit bildlich vorstellen und dabei kann ich auch nicht aufhören zu grinsen xD
Wobei Tooru ja auch nicht wirklich besser ist... die Zwei haben definitiv Egos, die für ihre ganze Mannschaften ausreichen würden...aber dafür liebt man sie ja xD

Über dieses Pairing hab ich mir bisher noch nie Gedanken gemacht, aber ich dachte mir, dass ich ihm ruhig mal eine Chance geben kann. Und dank dir finde ich es wirklich eine sehr interessante Kombination :D

Die Einblendungen zu ihrer Kindheit fand ich sehr süß und du hast sie auch an die passenden Stellen eingebaut! Generell ist die Idee dieser Geschichte wirklich toll.

Und der Schluss ist super passend, komisch und doch auch irgendwie niedlich! :)
Es hätte nicht zu den Beiden gepasst, wenn sie nun kitschig geworden wären, doch diese Worte hast du absolut super gewählt und man kann gar nicht anders als ein wenig zu schmunzeln, wenn man den Schluss liest.

Wie du siehst gefällt mir auch dieser OS sehr... ich bin wirklich froh, dass ich diese OS-Sammlung entdeckt habe ^-^


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