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Welt ohne Grenzen

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Jähes Ende (Gladiolus Amicitia)

Von Insomnia nach Hammerhead. Von Hammerhead über Langwhite zum Galdin Kai und wieder nordwärts zur Jägersiedlung.
 

Wir wiederholen eins zu eins die Route von vor zwanzig Jahren. Es ist fantastisch zu sehen was die Leute aus dem ehemals vom Krieg zerstörten Lucis gemacht haben. Wo statt der Regierung die Menschen angepackt haben sind in den vergangenen zehn Jahren ansehnliche Dörfer und Städte entstanden, Siedlungen und Befestigungsanlagen sind zu Ortschaften herangewachsen, in denen Kinder achtlos auf der Straße spielen und uns mit Blumen und Zeichnungen in Empfang nehmen. Vielerorts ist die Vergangenheit nur noch ein Schatten, der sich in dunklen Gassen verbirgt wie ein Siecher vor der Sonne, die vom ewigblauen Himmel auf unsere Autos scheint.
 

Anders als damals liegt meine Campingausrüstung heute jedoch nutzlos im Kofferraum. Wir reisen ganz offiziell als Eskorte des Königs und seiner Angetrauten, der Kannagi, da wird natürlich kein Zelt aufgeschlagen. Zumindest nicht meines, denn als Schild des Königs werde auch ich über extra ausgerollte rote Teppiche in die besten Hotelanlagen des jeweiligen Übernachtungsortes gebeten. Immerhin muss ich nicht allein in einem Einzelzimmer schlafen – wenn nicht mit Prompto und Ignis teile ich mir ein Zimmer mit meiner Schwester. Und ja, natürlich sind die Hotelbetten bequem. Ich vermisse es nur ein wenig, ganz allein mit meinen besten Freunden ums Feuer zu sitzen, Ignis‘ selbstgekochte Mahlzeiten zu genießen und nachts durch die Zeltdecke auf einen Himmel voller Sterne zu blicken, immer den Geruch des erlöschenden Feuers in der Nase und das gleichmäßige Atmen meiner Freunde im Ohr.
 

Es war eine schöne Zeit damals. Nur wir vier in der freien Natur… wenn man alles Schlechte weglässt, war es die schönste Zeit meines Lebens. Unbeschwert, trotz allem Krieg und aller Gewalt. Ich wünsche mich nicht dorthin zurück, aber ich hätte gerne noch einmal eine solche Reise angetreten, ohne die Last des Schicksals im Gepäck. So wie jetzt vielleicht, aber ohne die große Eskorte und ohne den Wirbel, der um uns gemacht wird. Diese Zeit, als Noct kein König, sondern einfach nur ein Freund war. Als wir einfach nur vier halbwüchsige Idioten waren, die auszogen, um die Welt zu retten, und dabei verdammt viel Spaß hatten. Ich wäre gern nochmal so jung und sorglos.
 

Ich lasse mich tiefer in den Sitz des Regalias sinken und genieße, wie ruhig das alte Fahrzeug auf der Straße liegt. Wenn Ignis einen fährt, braucht man sich um die Straße nicht zu sorgen. Der Regen, der uns gestern auf dem Hauptplatz von Lestallum durchweicht hat, reißt endlich ab und Ignis fährt das Dach ein, damit wir über uns die letzten, dünnen Wolken sehen können. Noct ist längst eingeschlafen, und auch mir fallen langsam die Augen zu. Im Licht der Sterne kann ich sehen, wie Prompto seine Arme über der Seitentür verschränkt und den Kopf darauf sinken lässt, währen Ignis sich noch einen Schluck von seinem Ebony-Kaffee genehmigt. Auch er stand gestern eine ganze Rede lang mit uns im Regen. Auch er ist sicher müde… aber wir liegen etwas hinter dem Zeitplan und wollen morgen schon im nächsten Ort sein, wo das Wetter hoffentlich besser ist. Im Radio spielt die leise Melodie von Zanarkand. Ich erinnere mich nur vage an den Film, aus dem das Lied stammt, eine tragische Liebesgeschichte, die meine Frau mehr als einmal zu Tränen gerührt hat. Irgendwas vom Meer und einer versunkenen Stadt. Eine hübsche Beschwörerin und ein blonder Jüngling, dessen ständig gute Laune mich gewaltig an Prompto erinnert hat.
 

Ich rutsche tief in meinen Sitz und lasse mich in den Schlaf sinken, damit wenigstens zwei von uns morgen fit sind, wenn Noctis uns braucht. Ignis kann auch mal schlafen. Im Moment gibt es ohnehin nichts, was uns gefährlich werden könnte unter dem Wall. Oder? Irgendetwas stört mich, mehr eine böse Ahnung als ein Gefühl, und hält mich vom Schlafen ab. Mein Instinkt hält mich wach. Etwas stimmt nicht. Besorgt richte ich mich wieder auf und blicke auf Noctis, der zusammengesunken auf der anderen Seite der Rückbank schläft. Alles scheint normal, warum also bin ich so unruhig? Was genau… Ich spüre die Gefahr bevor ich den ersten Hinweis sehe.
 

„Ignis, halt an!“
 

Meine Worte kommen keine Sekunde zu spät. Von einem Moment auf den anderen herrscht Alarm. Noct ist aufgewacht, greift sich mit einem stummen Aufschrei an die Brust und stößt die Tür auf. Reifen quietschen, das Auto kommt gerade noch rechtzeitig zum Stillstand um das Schlimmste zu verhindern. Entsetzt sehe ich zu wie Noct noch zwei, drei Schritte weiterschwankt, bevor er schließlich wie tot zu Boden geht.
 

„Was ist passiert?“, fragt der Garde vom vorderen Wagen, der bei unserem plötzlichen Stopp sofort abgesprungen ist. Der Mann humpelt, sein Fahrer hat weniger schnell gebremst als Ignis. Ich löse meinen Gurt, klettere über die Sitze hinaus auf die Straße. Auch Ignis springt aus dem Wagen, ist mit zwei Schritten bei Noct und kniet sich neben ihn, legt ihm die Hand auf die Brust und beugt das Ohr über sein Gesicht. Ich komme zitternd neben den Beiden zum Stehen, bekommen gerade so mit, wie auch der Star of Lucis hinter uns bremst und sich quer zur Fahrbahn stellt, um nachfolgende Fahrzeuge zu blockieren.
 

„Leute…“, Prompto sitzt immer noch im Auto, den Blick starr zum Himmel gerichtet. Ich hab jetzt keine Zeit für ihn.
 

„Er lebt noch. Einen Arzt her, schnell!“, befiehlt Ignis und ich drehe mich um, um den Befehl weiterzugeben. Meine Stimme funktioniert nicht, aber Talcott hat die Lage bereits erfasst und brüllt nach unserem medizinischen Team. Guter Junge. Auch Luna eilt herbei, kniet sich neben Noct und fasst hilflos seine Hand, währen Ignis mit der Reanimation beginnt. Der Arzt stolpert an den Autos vorbei, wirft seinen Rucksack neben der Gruppe auf den Boden und schließt sofort ein EKG an. Noct rührt sich immer noch nicht, auch nicht, als ihm jemand einen Beutel über den Mund stülpt um seine schwache Atmung zu unterstützen.
 

„Jungs…“, wiederholt Prompto, und langsam ist die Panik in seiner Stimme deutlicher. Ich stehe noch immer hilflos auf der Straße, blicke auf Nocts leblosen Körper. Ignis steht zitternd auf und nimmt Luna zur Seite, damit die Heiler vernünftig arbeiten können. Ich verstehe nichts von dem, was die Männer reden, aber es hört sich nicht gut an. Equipment wird herumgereicht, Befehle geschrien, Geräte piepsen. Jemand drückt mir einen Beutel mit Schlauch daran in die Hand, den ich halten soll. Mir ist schwindelig vor Angst.
 

Eben war doch noch alles gut, was ist nur passiert? Warum um alles in der Welt bricht Noct einfach so zusammen? Ein Herzinfarkt etwa? Dafür ist er doch noch viel zu jung!
 

„Leute, macht das Licht an!“ Der panische Ton ist aus Promptos Stimme verschwunden, jetzt klingen seine Worte wie ein Befehl, begleitet vom Klicken der Schalter, als der Regalia von den Parkleuchten auf die Sicherheitsstrahler umgeschaltet wird. Die Garden gehorchen, ein Auto nach dem anderen schaltet das Flutlicht an. Grässliches Kreischen ist zu hören. Ich muss eine Hand vors Gesicht heben gegen die plötzliche Helligkeit, aber am Rand des Lichtscheins kann ich schattenhafte Kreaturen sehen, die sich in Miasma auflösen oder eilig die Flucht ergreifen.
 

Prompto hat sich das Funkgerät geschnappt und den Override gedrückt, seine Stimme tönt live aus allen Radios. Ich bin zu schockiert um seine Worte genau zu verstehen, aber bei der dritten Wiederholung wird mit langsam klar, was er da redet.
 

Der Wall ist gebrochen. Schaltet das Licht ein, kehrt in die Städte und Häuser zurück. Die Siecher kommen. Die Siecher kommen, bringt euch in Sicherheit. Licht an, wo Licht zu finden ist, rette sich, wer kann. Der Wall von Lucis ist gebrochen.
 

Prompto ist nicht ausgebildet, öffentliche Ansagen zu machen. Er weiß nicht worauf er achten muss, was er sagen darf und was nicht. Aber das ist egal. Eine Panik zu vermeiden wäre in dieser Situation eh das Falsche. Was er sagt, ist wahr und wichtig. Es muss schnell gehen, und er macht seine Sache gut. Der Ton seiner Stimme ist mächtig und bestimmend, ein wahrer Mann des Königs, jemand, dem Respekt gebührt. Wann ist das passiert? Wann ist aus dem ängstlichen Jungen so ein starker Mann geworden? Und wie sehr habe ich mich in der Zeit verändert?
 

Beinahe sehe ich den Film meines Lebens vor mir ablaufen, als ich auf Nocts leblose Form herabblicke. Hilflos, unfähig, ihn zu retten. Ich sehe mich wieder vor der Zitadelle stehen, sehe zu, wie Noct mir den Rücken zudreht und langsam hineingeht. Weg von mir. Für immer. Er stirbt und ich stehe machtlos daneben. Mein Herz, das eben noch gerast hat, schlägt immer langsamer. Bitte lasst das nicht das Ende sein. Ihr habt ihn doch nicht zurückgeschickt nur, damit er hier grundlos stirbt.
 

„Wir fahren zurück nach Lestallum“, befiehlt Ignis. Ein Krankenwagen von dort ist längst angerückt, bringt eine Trage und hilft unseren Heilern, Noct zu stabilisieren und einzuladen. Zurück nach Lestallum, ins Krankenhaus. Einer von uns darf im Krankenwagen mitfahren. Ignis klopft mir auf die Schulter und ich lasse mich von den Heilern auf den Beifahrersitz des großen Wagens geleiten. Zitternd schnalle ich mich an, versuche darauf zu vertrauen, dass diese Männer und Frauen leisten können, wozu ich nicht fähig bin. Einen Siecher kann ich abwehren, aber das… das ist nichts Greifbares, nichts, was man mit einen Schild aufhalten oder mit dem Schwert zerschlagen könnte.
 

All meine Kraft ist wertlos. Noct liegt an der Grenze zum Tod und ich kann nichts tun, um ihn zu retten. Ich weiß noch, wie ich ihm das erste Mal begegnet bin. Wie ich herabgesehen habe auf diesen trotzigen, verwöhnten Jungen, dem ich mit Leib und Seele dienen sollte. Für den ich ohne zu zögern sterben sollte. Ich erinnere mich, wie er mich angesehen hat, am Rockzipfel seiner Mutter hängend, nur daran interessiert, um eine eigene Katze zu betteln.
 

Ich erinnere mich an all die Abende, die ich mein Schicksal verflucht habe. Wütend, dass man mich einem Kleinkind unterstellt, wo ich doch wie mein Vater dem ehrenwerten König dienen wollte. Tausend Stunden, die ich Noctis trainieren sollte. Stunden, in denen er nur halbherzig mitgemacht und meist nach fünf Minuten störrisch das Übungsschwert hingeworfen hat. Und als seine Mutter gestorben ist wurde es nur schlimmer. Oft ist er gar nicht erst aufgetaucht… dann durfte ich schimpfend durch das ganze Schlossgelände tigern und jeden Busch umdrehen, bis ich ihn schlafend in irgendeinem Eck gefunden habe. Und was mir nicht alles für Wörter eingefallen sind auf diesen Suchen! Mein Vater hätte mich lebenslang eingesperrt für diese Respektlosigkeit gegenüber dem Kronprinzen, aber für mich war Noct nur ein störrisches Kind, von dem ich Respekt verlangt habe. Verlangen konnte, als sein Lehrer und Beschützer.
 

Wenn Iris nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht nie gesehen, was für ein edles Gemüt der Prinz schon immer hatte. Was für ein Ritter sich hinter der trotzigen Fassade verbirgt. Und, oh Wunder, kaum dass ich diesem Jungen ein wenig Achtung entgegengebracht habe, wurde es leichter mit ihm. In dem Moment, da ich angefangen habe, ihm Respekt zu zeigen und auf ihn zuzugehen war auch Noct plötzlich willig, mir zuzuhören. Und je mehr ich auf seine Bedürfnisse eingegangen bin, seinen Sorgen ein Ohr geschenkt habe, desto williger wurde er, im Training auch mal über das hinaus zu gehen, was einfach und erfolgversprechend war.
 

Und aus diesem gegenseitigen Respekt, aus dem Willen, einander zuzuhören, dem anderen eine Chance zu geben auch mal die andere Seite zusehen, wuchs endlich Vertrauen und Freundschaft. Bevor ich richtig verstanden habe, was eigentlich passiert, habe ich angefangen, Noct nicht mehr als störrisch, sondern als niedlich zu sehen. Nicht mehr als mir auferlegte Bürde, sondern als geliebten Bruder. Und wie seine Augen geleuchtet haben, wenn ich ihm mal etwas Süßes geschenkt habe! Sein Lachen, wenn ich das Training habe ausfallen lassen, um mit ihm im Garten zu spielen… er hat nie gemerkt, dass das eigentlich das härtere Training war. Fast kann ich noch immer die Wärme seines kleinen Körpers an meiner Schulter spüren, wie ich ihn nach jedem dieser Ausflüge in sein Bett getragen habe. Ich hätte es nie zugegeben, aber als er mit sechzehn durchgesetzt hat, dass er eine eigene Wohnung in der Stadt beziehen darf, hätte es mir fast das Herz gebrochen. Wenn er sich wegen der Prüfungen vor dem Training drücken durfte habe ich ihn dann oft wochenlang nicht mehr gesehen. Aber dafür hat er sich nur umso mehr angestrengt, wenn er doch zum Training erschienen ist.
 

Einmal hat er sogar Prompto mitgebracht. Das war ne Party… mir kommen fast die Tränen bei der Erinnerung daran, mit welchem Elan Noct plötzlich kämpfen konnte als es darum ging, seinen wehrlosen Schulfreund zu verteidigen, wann immer der Blondschopf es geschafft hat, mich mal zwei Sekunden von ihm abzulenken. Als letztlich auch noch Ignis in den Kampf eingegriffen hat war die Schlacht beinahe ausgeglichen, aber gewonnen habe ich trotzdem. Prompto war entschuldigt, der hat in seinem ganzen Leben noch keine Waffe gehalten und war mit dem Kurzschwert ohnehin schlecht beraten. Aber Noct und Ignis, der gerade seine Prüfung zur Aufnahme in die Königsgarde bestanden hatte, habe ich diese Niederlage noch über Monate spüren lassen. Die Revanche war erbittert, aber aussichtslos. Es hat Jahre gedauert, bis die Jungs mir gefährlich wurden, selbst zu dritt.
 

Promptos Zulassung zum Training für die Garde und seine Affinität für Schusswaffen waren der erste Schritt, aber den Ausschlag gab letztendlich Noctis. Noctis, der endlich gelernt hat, sich zu warpen. Der die Waffen der alten Könige und den Ring seiner Vorfahren gefunden und zu nutzen gelernt hat. Noctis Lucis Caelum, der endlich bewiesen hat, dass aus einem störrischen Jungen ein mächtiger König werden kann, nicht trotzdem, sondern gerade weil wir ihn so verwöhnt haben. Weil er gelernt hat, dass er sich auf uns verlassen, uns vertrauen kann. Dass er weit über seine Grenzen hinausgehen kann weil wir jederzeit da sind, um ihn aufzufangen. Weil wir alles tun würden, damit er auf der Grenze zum Jenseits noch einmal umdrehen kann.
 

Tränen fallen auf die zitternden Hände in meinem Schoß, als der Krankenwagen zum Stillstand kommt. Noct wird ausgeladen, immer noch von einem Trupp Heiler umringt, und eilig in den Behandlungsraum geschoben. Ich darf hinterher, darf ihn begleiten, werde von Spezialisten mit Fragen gelöchert, die ich nicht beantworten kann. Es ging alles so schnell… ich habe nichts gesehen, nichts verstanden. Jemand drückt mir einen Becher Wasser in die Hand, schiebt mich sanft in einen winzigen Stuhl. Endlich kommen auch Ignis und Prompto an, werden ebenfalls mit Fragen bombardiert. Ignis weiß bessere Antworten als ich. Ignis weiß alles, er versteht viel mehr als ich, kann sich mit den Heilern in deren Sprache unterhalten. Aber auch er wirkt ratlos und ängstlich. Prompto setzt sich neben mich, stützt das Gesicht in die Hände und weint. Ich lege meinen Arm um seine Schultern, unfähig, mehr zu tun.
 

Wir werden aus dem Behandlungszimmer in einen Gang gescheucht, wo wir warten müssen, bis die Ärzte zu einem Ergebnis kommen. Noctis lebt, aber er ist bewusstlos und es geht ihm nicht gut. Vielleicht ein Herzinfarkt, vielleicht etwas anderes.
 

Prompto hat aufgehört zu weinen. Statt sich wie ein normaler Mensch auf einen Stuhl zu setzten lässt er sich neben dem Snackautomaten nieder, legt die Arme auf die Knie und vergräbt das Gesicht darin wie ein Kind, das sich vor der Welt verstecken will. Er sieht furchtbar aus, aber es gibt nichts, was ich tun kann, um ihn aufzuheitern. Ich fühle mich selbst total elend, kann nur auf die Tür starren, hinter der Noct liegt, ein Zimmer auf der Intensivstation, wo inzwischen drei Ärzte darauf warten, dass ein vierter kommt und Rat weiß. Mir ist schlecht vor Angst. Ignis läuft auf dem Gang auf und ab wie ein eingesperrter Coeurl, am liebsten würde ich ihn packen und gegen die Wand schlagen, damit er aufhört. Das Geräusch seiner Schuhe auf dem Laminat macht mich wahnsinnig. Aber ich reiße mich zusammen. Ich habe mich zehn Jahre lang mit Ignis gestritten, weil ich keinen anderen Ausweg aus dem Schmerz kannte. Hier im Krankenhaus ist dafür kein Platz. Außerdem will ich nicht hören, was er mir im Gegenzug an den Kopf zu werfen hat. Ignis findet oft genug Worte, die einen zu tief ins Herz treffen… Worte, die ihm selbst Leid tun, wenn der Moment vorbei ist und er sieht, welchen Schaden er angerichtet hat mit dem, was im Zorn gesagt wurde.
 

Ich erinnere mich gut genug an die Worte, die er mir ins Gesicht gespuckt hat. Vorwürfe, die er sich selbst gemacht und auf mich projiziert hat. Wahre Worte. Wir haben beide dasselbe gefühlt. Wir tun es auch jetzt. Noct, der kleine Bruder, den wir so liebevoll großgezogen haben… er bedeutet uns beiden die Welt. Keiner von uns kann ohne ihn so richtig leben. Wer wären wir auch, ohne ihn? Unser ganzes Leben haben wir nur dafür existiert, ihn zu beschützen und zu stärken. Und wir haben versagt. Einfach versagt…
 

Endlich kommt der erwartete Arzt, läuft achtlos an uns vorbei. Wir blicken zu dritt auf die Tür, die sich öffnet und schließt, aber Noct ist nicht zu sehen. Für keinen von uns. Prompto vergräbt das Gesicht wieder in den Armen, ich blicke wieder auf meine nutzlosen Hände und Ignis fängt wieder an, auf und ab zu laufen. Hin und her, hin und her. Der ganze Körper angespannt als wollte er aus seiner Haut springen und den ersten Gegner meucheln, der sich dafür anbietet. Ich dagegen… ich spüre gar keine Kraft mehr in meinem Körper. Ich bin nur noch ein nutzloses Stück Elend, das auf einer Bank im Gang eines Krankenhauses sitzt. Hundert Kilo verschwendeter Platz.
 

Es fühlt sich an wie tausend Jahre, aber tatsächlich sind es nur ein paar Stunden, bis die Ärzte Nocts Zimmer verlassen. Eine einzelne Krankenschwester ersetzt sie, wird kurz gebrieft und schließt erneut die Tür hinter sich.
 

„Mit wem von Ihnen darf ich sprechen?“, fragt der Arzt. Er sieht müde und abgekämpft aus. Ignis blickt mich an, und mir fällt wieder ein, dass ich der Anführer der Leibwache bin. Ich stehe auf, überrascht, dass meine Beine mich tragen, und blicke auf den Arzt herunter, der plötzlich ganz klein aussieht. Vom Sitz aus war er mir größer vorgekommen.
 

„Wie geht es ihm?“, frage ich heiser.
 

Der Arzt überlegt einen Moment. „Schwer zu sagen“, beichtet er schließlich, „Er ist wach, aber kaum bei Bewusstsein. Einen Herzinfarkt können wir ausschließen, auch sonst scheint seine Majestät körperlich komplett unversehrt.“
 

„Aber warum… warum ist er dann…?“
 

Der Arzt seufzt tief. „Wir vermuten eine Art magischen Schock“, erklärt er händeringend, „Aber damit haben wir nicht viel Erfahrung. Während der langen Nacht waren einzelne Gleven davon befallen, aber der Arzt, der diese Fälle studiert und behandelt hat, ist leider sehr plötzlich verstorben. Sein Sohn könnte wissen, was man tun kann, aber der Junge ist nicht mehr aufzufinden…“
 

„Gibt es denn keine Aufzeichnungen oder Informationen darüber?“, fragt Ignis ungläubig.
 

„Nicht viel, was uns helfen könnte. Alles, was wir wissen, ist, dass so ein magischer Schock entsteht, wenn jemand mehr Magie verwendet, als er zur Verfügung hat. Ähnlich wie die bekannte MP-Stase, nur sehr viel schwerwiegender, da nicht nur alle im Körper vorhandene Magie verbraucht wird, bevor sie sich aufladen kann, sondern mehr als doppelt so viel.“
 

„Wie kann so etwas passieren? Wenn die MP aufgebraucht sind, sind sie aufgebraucht, dann kann man keine Magie mehr wirken. Wie sollte man dann noch mehr Magie verbrennen können?“ Ich verlasse mich darauf, dass Ignis weiß, wovon er redet – er ist der von uns dreien, der am meisten Ahnung von Magie hat und der einzige, der nach einem Warp nicht gleich kotzen muss. Prompto und ich kommen kaum dazu, mehr Magie einzusetzen als wir haben, einfach, weil es uns zu kompliziert ist.
 

„Es gibt einige Zauber, die so etwas möglich machen“, erklärt der Arzt, „Doktor Occultos hätte natürlich mehr gewusst, aber soweit ich den wenigen Aufzeichnungen, die wir aus der langen Nacht haben, entnehmen konnte, sind es vor allem Schild- und Energiezauber, die eine gewisse Eigenstabilität haben und bei Gegenwind binnen Sekunden ihren Erhaltungsbedarf verdreifachen können. Wenn ich so vermessen sein darf, eine Vermutung anzustellen, würde ich davon ausgehen, dass Beispielsweise ein Angriff auf den Wall für solch einen Magieschock ursächlich sein könnte. Da der Wall trotz seiner Größe beachtlich stabil gegenüber den Siechern zu sein schien müsste es eine reichlich mächtige Attacke gewesen sein, ein einziger, plötzlicher Schlag mit genug Kraft, den König all seiner Magie zu berauben… Dass der Wall unter diesem Angriff trotz des beachtlichen Energieaufgebots zerbrochen ist würde natürlich bedeuten, dass der Angreifer geradezu übermächtig gefährlich sein müsste, insofern hoffe ich natürlich, dass ich falsch liege.“
 

„Das hoffe ich auch…“, murmle ich. Der Siecher, den wir im Norden der Hauptstadt bekämpft haben, war übel genug… aber hatte Noctis nicht bereits die Vermutung geäußert, dass die Gefahr von innen kommt? Dass jemand innerhalb von Lucis, vielleicht sogar innerhalb Insomnias, mit der Dunkelheit experimentiert? So jemand hätte natürlich ein Interesse daran, den Wall samt König beiseite zu räumen.
 

Ich fürchte um die Menschen, die wir dort zurückgelassen haben, aber laut Cor ist alles in Ordnung und sogar der Strom ist, gerade noch rechtzeitig, zurück. Rashin lässt sich sicher feiern für seinen Erfolg, in der Not das rettende Licht zu bringen… der Held, der dann kommt, wenn der König versagt. Mich ärgert, wie sehr ihm das in die Hände spielt, aber ich habe nicht die Kraft, mich aufzuregen. Im Moment ist nur eines wichtig.
 

„Sie sagten, der König wäre wach“, erinnere ich mich, „dürfen wir zu ihm?“
 

Der Arzt schweigt, blickt uns lange an. „Er braucht viel Ruhe“, sagt er schließlich, „absolute Ruhe. Aber einen von Ihnen würde ich für zehn Minuten ins Zimmer lassen. Ich denke, das wird ihm nicht schaden.“
 

„Ignis“, beschließe ich knapp. Ignis nickt, dankbar vielleicht, vielleicht auch einfach nur erleichtert.
 

„Sie können ganz leise mit ihm sprechen“, erlaubt der Arzt, die Hand schon am Türgriff, „aber regen sie ihn nicht auf. Er hat viel Kraft verloren, jede weitere Anstrengung könnte ihn das Leben kosten.“
 

Die Tür geht auf und Ignis schlüpft hinein wie ein lautloser Schatten. Der Arzt verbeugt sich und geht, eilig, vielleicht schon auf dem Weg zu seinem nächsten Patienten. Ich lasse mich wieder auf den klapprigen Stuhl sinken.
 

„Warum bist du nicht selbst gegangen?“ Promptos leise Frage überrascht mich. Ich sehe ihn an, schweige, während er sich vom Boden löst und auf den Sitz neben meinem klettert. Zitternd lehnt er sich an mich und ich lege automatisch wieder den Arm um ihn. Wir sind oft so gesessen in den letzten zehn Jahren. Schweigend, in Trauer verbunden und doch irgendwie unfähig, einander die Last zu erleichtern.
 

„Noctis braucht Ruhe“, erkläre ich mich, „Ignis ist vielleicht der einzige von uns, der ihm das jetzt gewähren kann.“
 

Ich kann nicht für Prompto sprechen, aber ich selbst könnte mich kaum beherrschen, würde ich jetzt durch diese Tür gehen und mit Noct sprechen dürfen. Ich bin nicht wie Ignis – ich kann meine Gefühle nicht wegschließen, wenn es wichtig ist, Ruhe zu wahren. Prompto nickt und lehnt sich etwas stärker an mich. Beide blicken wir auf die verschlossene Tür vor uns, warten darauf, dass Ignis herauskommt und vielleicht etwas mehr sagen kann als der Arzt vor ihm. Zehn Minuten. Wie lang sind zehn Minuten? Crowe kann ich so etwas leicht erklären, wenn sie fragt. Bis der lange Zeiger der Uhr zwei große Zahlen weiter gewandert ist. Wie lange das dauert? Hier und heute… eine Ewigkeit.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Sargeras
2019-02-02T23:59:53+00:00 03.02.2019 00:59
Oh oh... Irgendjemand hat einen Schwachpunkt in der verfluchten Barriere gefunden und es ausgenutzt. Die Frage ist wer. Dabei ist die Erklärung die später folgt wirklich gut. Im Spiel kann man Magie halt nicht nutzen wenn man in einer MP Stase ist, was aber passiert wenn dennoch Magie gezogen wird? Ich würde tippen das der Körper versucht mit Lebensenergie zu kompensieren, immerhin kann Lebensenergie, genau wie Mana wieder regeneriert werden. In Noctis fall jedoch hat auch das nicht gereicht.
Hmmm... ich frage mich wieso er ausgestiegen ist, auch hatte Gladio diesen Instinkt. War ein Feind vielleicht in der Nähe? Ansonsten würde ich vermuten das Rashin hinter der sache steckt. Passend dazu ist ja auch das sein verdammter Erdwärme-Generator wieder geht, kaum da die Barriere gefallen ist. Und die Siecher sind zuerst in der Nähe von Insomnia aufgetaucht. Also in der Nähe seines Kraftwerkes.
Ich kann mich natürlich immernoch täuschen, aber es ist in jedem Fall etwas Faul in Lucis. Mir kann jedenfalls keiner erzählen das der einzige Experte zufällig 'verschwunden' ist bevor der König ihn braucht.
Antwort von:  SoraNoRyu
03.02.2019 19:48
Ja, ich würde auch sagen, dass die fehlende Magie durch Lebensenergie ersetzt wird, wenn die MP bis weit über die Reserve hinaus aufgebraucht werden. Ausgestiegen ist Noctis aus dem selben Grund, aus dem auch Herzinfarktpatienten spontan aus dem Auto springen können - er hat plötzlich einen starken Druck verspürt und wollte an die Luft, um sich zu retten. REiner Instinkt, der leider in den seltensten Fällen noch wirklich hilfreich ist. Gladios Instinkt ist allerdings zutreffend, er hat unbewusst gespürt, dass Noctis etwas passiert, und rechtzeitig reagieren können.
Von:  Usagi-Serena-Stella
2019-01-26T12:44:02+00:00 26.01.2019 13:44
Ah...

Jetzt verstehe ich das ganze schon besser.
Danke dir ^__^


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