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Welt ohne Grenzen

von

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Magitech Infanterie (Noctis Lucis Caelum)

Ich sitze auf dem Beifahrersitz des frisch restaurierten Regalia und könnte mich kaum weniger darüber freuen. Das ist Promptos Platz… das war es immer. Und er verdient es, hier zu sitzen, zumal er Cidney maßgeblich bei der Reparatur des alten Wagens geholfen hat, als er in Hammerhead Zuflucht vor der Maschine gesucht hat. Ein ganzes Jahr lang war er dort, hat versucht sich nützlich zu machen und mit seiner guten Laune für Stimmung gesorgt, obwohl er selbst am meisten gelitten hat. Ich will ihn einfach nur schnell finden und wieder mit nach Hause nehmen.
 

Als wäre es gestern gewesen erinnere ich mich an das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Damals, in der dunklen Zitadelle, auf meinem sicheren Weg in den Tod… Promptos Augen waren bis zuletzt auf mich gerichtet. Selbst als die anderen wegsehen mussten, hat er weiter nach oben gesehen. Ich hätte ihn nie zurücklassen dürfen. Ihn nicht, die anderen nicht, und das ganze Land nicht. Aber was hätte ich tun sollen? Vorher war es auch nicht besser als jetzt.
 

Da opfert man sein eigenes Leben, um der Welt endlich Frieden zu bringen, und dann fangen die Leute einfach einen neuen Krieg an. Gegen einander, gegen unschuldige Kinder. Aus Angst? Sicher nicht. Im Autoradio spielt der Mambo de Chocobo und niemand singt mit. Es tut weh.
 

„Schalt um, Ignis“, befehle ich, und mein Freund gehorcht. Statt Musik gibt es nun Nachrichten… nicht viel besser, aber immerhin eine Ablenkung. Gerade widerholen sie das Interview, dass ich letzte Woche gegeben habe. Ob ich noch Interesse an einer Hochzeit mit Lunafreya hätte, wenn sich die Möglichkeit ergäbe. Was soll man darauf antworten? Dass ich das lieber mit Luna persönlich besprechen würde, bevor ich mich öffentlich äußere? Dass ich sie liebe, dass ich sie gerne bei mir habe? Unsere Hochzeit stand seit Generationen fest. Schicksal, Tradition, Politik. Wen interessieren meine Gefühle? Wenn ich mit Luna durchbrennen würde um irgendwo auf einer Farm eine kleine Familie zu gründen und Karotten zu ziehen wäre das ein Skandal.
 

Die Leute wollen von uns keine Hochzeit aus Liebe. Sie wollen den Frieden, den die Verbindung zwischen Lucis und Tenebrae festigt, mehr nicht. Also ja, natürlich habe ich gesagt, dass es mich freuen würde wenn, Lunafreyas Zustimmung vorausgesetzt, die Hochzeit nachgeholt werden würde. Gerne auch wie geplant in Altissia, um ein weiteres Reich in den Friedensbund mit einzubeziehen. Es ist seltsam, meine eigene Stimme im Radio zu hören. Ich klinge tatsächlich überzeugter und weit weniger nervös, als ich es vor der Kamera tatsächlich war.
 

Ich lasse mich im Sitz zurücksinken und versuche, etwas zu schlafen. Nicht mehr weit, und wir sind da, wo die Autovermietung Promptos Leihwagen wieder abgeholt hat. Eigentlich wollten sie noch Überziehungsgebühren von uns fordern, aber anscheinend hat er den Wagen unterwegs so gut instand gesetzt, dass man ihm die verpasste Rückgabe vergeben hat. ‚Läuft fast wie ein lucisches Modell‘... nicht schlecht, Prompto. Nicht schlecht. Nur gefunden haben wir ihn noch nicht. Die Stimme im Radio schwenkt um, der neue Sprecher klingt ernst.
 

„Schon wieder Magitech Soldaten?“, fragt Ignis und zieht die Augenbrauen zusammen.
 

„Rashin feiert wahrscheinlich gerade ne Partie“, grummelt Gladio hinter mir, „Kaum ist seine tolle Maschine aus, kriechen Magitechsoldaten aus allen Löchern. Dass das nicht die sind, die sein Spinnending umgelegt hat, will keiner hören…“
 

„Ich frage mich trotzdem, woher sie kommen“, gibt Ignis zurück, „Im besten Fall sind es diesmal reine Roboter, aber wenn sie etwas Vergleichbares wie damals das Plasmodium gefunden haben… nicht auszudenken, wenn der Welt eine neue Seuche droht.“
 

„Ich will auch nicht wissen was Rashin dazu sagen würde wenn raus kommt, dass der König hier durch die Gegend fährt anstatt seine Stadt vor der neuen Bedrohung zu schützen. Schlechte Propaganda ist jetzt das Letzte was wir brauchen.“
 

„Gut, dass die Menschen wegen der Hochzeit mit Luna abgelenkt sind“, entgegne ich, „Außerdem weiß kaum jemand, dass ich unterwegs bin, und diese neuen MI sind nicht gefährlicher als die alten. Jeder mit ein paar Dolchen kann die bequem auseinander nehmen. Die Stadt wird von der Garde geschützt, die Außenbereiche von den Gleven, da kommt kein MI an die Leute ran.“ Außer Prompto, aber der zählt nicht. Prompto ist kein MI, jedenfalls nicht in meinen Augen. Er ist ein Kind Insomnias, mein bester Freund und Teil meiner persönlichen Leibgarde. Und wir holen ihn nach Hause.
 

Ignis zieht auf den Parkplatz, auf dem Promptos Wagen gefunden wurde. Wir steigen aus und suchen nach Spuren. Hinweise, irgendwas, was uns hilft herauszufinden, wo Prompto hin sein könnte. Warum er den Wagen hier stehen gelassen hat. Warum er nicht nach Hause gekommen ist. Aber alles, was ich sehen kann, ist Sand. Sand und Staub und Felsen und die Straße, auf der wir gekommen sind. Bis nach Leide hatte er es schon geschafft… was ist nur auf diesen letzten paar Metern passiert? Nur noch ein paar dutzend Kilometer und er hätte die Brücke nach Insomnia erreicht, den ehemaligen letzten Stützpunkt Niflheims.
 

Ich lehne mich Schutz suchend an den Regalia, dessen Motor von der langen Fahrt noch siedend heiß ist. Gladio sucht mit seinem Feldstecher die umliegende Wüste ab, als ob das etwas bringen würde, während Ignis mit langen Schritten den Parkplatz auf und ab läuft, als wollte er jeden Zentimeter des Bodens vermessen. Ab und an geht er in die Knie, um etwas genauer anzusehen, gerade so, als hätte er in den Sandwehen noch Spuren von vor zwei Wochen gefunden. Spuren, die nicht vom Abschleppteam stammen. In mir macht sich langsam Verzweiflung breit. Die Hoffnung, Prompto so einfach wieder zu finden, weicht einer Leere die der der Wüste um uns herum gleich kommt. In der Ferne schreit irgendein Vogel, streitet vielleicht mit einem anderen Tier um ein Stück Futter.
 

Und ich… ich ziehe die Fotos aus der Tasche, die ich von Prompto habe. Die schönen Fotos aus der Kapelle von unseren Abenteuern und welche, die er später für mich aufgenommen hat, um mich auf dem Laufenden zu halten. Schöne Fotos, gestochen scharf, mit den passenden Filtern und der ein oder anderen Anmerkung in seiner Handschrift auf der Rückseite. Fotos die, gestellt oder nicht, eine schöne Zeit zeigen. Dazu die Fotos von der kaputten Speicherkarte… was bin ich erschrocken als Umbra mir das Stück Plastik gebracht hat, kaum zwei Zentimeter lang und doch so voller Blut. Die Fotos, die Talcott noch retten konnte, sind von einer ganz anderen Qualität. Fast durchweg verwackelt, als wäre die schwere Kamera zu viel für die Hände, die sie hielten, unscharf, zu dunkel oder zu hell. Manchen sieht man an, dass die Dateien beschädigt waren, andere erwecken den Eindruck, als wären vor der Aufnahme schon deutliche Blutschlieren auf der Linse gewesen. Wie oft habe ich zugesehen, wie Prompto das Objektiv gründlich, stundenlang poliert hat? Er muss schon sehr geschwächt gewesen sein wenn ihm das nicht mehr aufgefallen ist.
 

Ein paar Selfies sind auch dabei, und obwohl Prompto sich immer noch bemüht, unbeschwert zu grinsen, ist ihm die Anstrengung deutlich anzusehen. Dünn ist er geworden… nur noch Haut und Knochen unter der lockeren Kleidung. Tiefe dunkle Ringe unter den blutunterlaufenen Augen, die er in den späteren Bildern fast durchweg geschlossen hält. Seine Haare sind strähnig, mit Blut und Schlamm durchzogen und hängen kraftlos herunter. Ich möchte ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass alles wieder gut wird. Dass es vorbei ist, dass wir bei ihm sind. Ich will, dass es Prompto wieder gut geht.
 

„Hier wurde geschossen“, stellt Ignis schließlich fest.
 

„Woran siehst du das?“, erkundigt sich Gladio, während ich schnell meine Tränen herunterschlucke um wieder einsatzfähig zu sein.
 

„An den Kugeln hier in der Leitplanke.“ Ignis deutet auf mehrere winzige Projektile im rostigen Metall. Viele davon müssen noch vom Krieg stammen, aber einige sind deutlich frischer. „Ein paar davon könnten aus Promptos Revolver stammen, aber die meisten sind imperiale Munition.“
 

„Magitech?“, frage ich laut, „Meinst du, er wurde angegriffen?“
 

„Sehr wahrscheinlich. Und er ist vom Auto weg auf die offene Fläche gerannt. Da lang.“
 

Ich frage nicht, woher Ignis das weiß; ich bin ihm einfach dankbar. Wir folgen den Spuren, die wir ohne Ignis‘ scharfe Beobachtungsgabe nie gesehen hätten, bis zu einer steilen Felswand. Hier sind deutlichere Kampfspuren zu sehen, unter anderem hat jemand einen mächtigen Feuerzauber losgelassen. Ich wusste nicht, dass Prompto noch einen Magieflakon bei sich hatte… würde mich aber nicht wundern, dass er zehn Jahre lang ein nutzloses Fläschchen mit sich rumschleppt, in das ich mal Magie gefüllt habe. Eher wundert mich, dass es nach all den Jahren einfach wieder funktioniert, als wäre ich nie weg gewesen.
 

„Ars Quintae mit Vita-Effekt“, erkennt Ignis, „Nicht schlecht. Und ich hab ihn noch gefragt, wozu er das staubige Fläschchen überhaupt noch behält…“
 

„Als Andenken, vermute ich. Zumindest, bis er gespürt hat, dass es wieder funktioniert…“ Jetzt braucht er kein Andenken mehr, er weiß, dass ich lebe. Eine kurze Suche, und das leere Fläschchen taucht unter einem Stein auf. Jetzt ist es wirklich staubig und nutzlos…
 

„Hier sind Reifenspuren!“, ruft Gladio uns zu und blickt wieder durch seinen Feldstecher, „Führen zu der Basis da vorn. Sieht neu aus, auch nicht wirklich nach einer von den Niffen…“
 

„Meinst du, sie haben Prompto dahin gebracht?“, frage ich und nehme Gladio das Fernglas ab, um selbst hindurch zu sehen. „Sieht aus wie ein Militärcamp.“
 

Was diese neuen MI wohl mit Prompto vorhaben? Jedenfalls macht der Anblick der Spuren Mut. Prompto war hier, vielleicht ist er in der Basis. Und wenn er noch dort ist, holen wir ihn raus. Und zwar jetzt. Zum Glück muss ich diese Entschlossenheit nicht gegen meine Freunde verteidigen, Gladio und Ignis denken genauso wie ich.
 

„Wie kommen wir da rein?“, fragt Ignis.
 

„Im Notfall durch den Vordereingang“, knurre ich.
 

„Genau“, meint Gladio, „wir schlagen da auf, im Namen des Königs von Lucis, und hauen so fest auf den Putz, dass die ihn freiwillig gehen lassen.“
 

Ignis scheint wenig angetan von der Idee. „Ich wäre dafür, wir schleichen uns an, spähen die Basis aus und entscheiden dann, ob wir wirklich die Tür eintreten oder uns vielleicht doch lieber hinten rum einschleichen.“
 

„Langweiler“, neckt Gladio, aber wir befolgen Ignis‘ Plan und nutzen die felsige Gegend, um unbemerkt näher an die Basis zu kommen. Ignis hat Gladio den Feldstecher abgenommen um gleich Schwachstellen und Wachen zu analysieren, er späht hinter jedem Felsen erstmal hervor, um sicher zu gehen, dass niemand in unsere Richtung sieht. Mir geht das alles zu langsam, aber ich will unsere Chancen auch nicht durch unüberlegtes Vorgehen schmälern. Immerhin geht es hier um Prompto. Ich hab ihn schon einmal verletzt weil ich nicht genug aufgepasst, nicht gründlich nachgedacht habe.
 

„Seltsam“, murmelt Ignis, als wir schon recht nahe dran sind, „Da sind keine Wachen zu sehen, und aus dem Hinterhof steigt Rauch auf.“ Er wirkt angespannt. Ich ahne Schlimmes.
 

„Was heißt das?“
 

„Das heißt, wir gehen jetzt doch nach eurem Plan vor“, beschließt Ignis und steht auf, „Nur etwas sachte, bitte.“
 

Er geht vor, und wir folgen ihm. Aufrecht und gut sichtbar schreiten wir auf das Haupttor des flachen Gebäudes zu, wobei Gladio sehr darauf bedacht ist, mich mit seinem Körper vor eventuellen Angriffen zu schützen.
 

„Aufmachen“, brüllt er und schlägt mit der Faust gegen das Stahltor, dass es im ganzen Korridor wiederhallt, „Im Namen des Königs!“
 

Ich bin mir nicht sicher, ob er das so betonen sollte, aber im Moment trage ich, der Tarnung halber, wie er und Ignis die Uniform der Königsgleven. Dass ich den anderen beiden Befehle geben darf kann ich immer noch mit meinem höheren Rang erklären, obwohl es eigentlich keine Stufe über meinen persönlichen Leibwächtern gibt. Muss ja keiner wissen, das System ist eh schon schwer zu durchschauen.
 

„Sofort aufmachen!“, wiederholt Gladio, und gerade, als er uns auffordert, einen Schritt zurückzutreten, damit der das Tor mit Gewalt eintreten kann, öffnet es sich doch von selbst.
 

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte; eine feindliche Armee vielleicht, Kanonenschüsse, Scharfschützen. Aber ganz sicher keinen halbwüchsigen Jungen, der mit zitternden Händen allein das große Tor aufschiebt. Gladio lässt sofort das halb beschworene Breitschwert verschwinden, sein Zorn ist praktisch verraucht. Das Kind sieht aus, als stünde es komplett unter Schock.
 

„Was ist passiert, Junge?“, fragt Ignis mit ruhiger Stimme, und kniet sich zu dem Kleinen nieder. Der Junge ist kaum älter als Nyx, sicher noch keine zehn Jahre alt. Seine kurzen schwarzen Haare trägt er ordentlich gescheitelt und er hat saubere Kleidung an, wie man es von einem Kind des gehobenen Mittelstandes erwarten würde. Seine großen Augen blicken in die von Ignis und scheinen etwas Halt darin zu finden. Er nimmt meinen Freund bei der Hand und zieht ihn in die Basis. Gladio und ich sehen einander an, dann folgen wir den beiden. Es ist fürchterlich still.
 

Der Junge führt Ignis in ein Büro, in dem eine Menge Unordnung herrscht. Ein Mann, vielleicht der Vater des Jungen, sitzt zusammengesunken am Tisch. Er ist voll mit Schweiß und Ruß, seine Jacke riecht nach Benzin, die Ärmel sind versengt. In seiner rechten Hand liegt eine Schusswaffe, sein Kopf trägt ein dazu passendes Loch. Die Zeilen auf dem Block vor ihm sprechen von Reue und Unmenschlichkeit, Experimenten, die er nie hätte durchführen dürfen und einem großen Fehler. Die Worte MI, Reprogrammierung und Monster sind mehrfach zu lesen, aber der Rest des Textes ist wirr.
 

In der Wand hinter dem Mann sind etwa dreißig unbeschriftete Kartons, in einem davon fällt mir etwas ins Auge: Promptos Armband. Eilig zieh ich den Karton aus der Wand und finde ihn voll mit Promptos Sachen: Kleidung, Schmuck, sein Revolver… auch das Foto, mit dem ich Umbra zu ihm geschickt habe. Es ist abgegriffen, zerknittert, blutverschmiert und sieht aus, als wäre es mindestens einmal von Tränen durchweicht worden, aber das Motiv ist noch gut zu erkennen. Meine Hände zittern, als ich es aus der Kiste hebe.
 

„Er ist hier.“
 

„Geht ihn suchen“, empfiehlt Ignis, „Ich bleibe hier und sehe, was ich herausfinden kann.“
 

Ich nicke knapp, lasse die Kiste stehen und winke Gladio zu, mit mir in den Gang zurück zu gehen. Das Gebäude wirkt trostlos, ein Schnellbau aus nacktem Beton. Hier im Gang sind noch weitere Bürogebäude, Ein Schlafraum, wohl für das Kind und seinen Vater, ein karges Bad. Außerdem gibt es eine Art kleine Bibliothek, einen Aktenraum, Ordner, die mit MI Codes versehen sind. Eine weitere schwere Stahltür führt in den eigentlichen Kasernentrakt, der es tatsächlich schafft, noch karger und trostloser auszusehen. Hier gibt es nichts persönliches, kein Bild an der Wand, keine kindlichen Kreidezeichnungen, keine einsame Blume in irgendeinem Glas. Nur Stockbetten aus rostigem Metall mit dünnen, einheitsgrauen Laken. Je zehn Betten pro Zimmer, im letzten davon liegt ein totes Kind. Blond, etwa zehn bis zwölf Jahre alt. Es macht den Eindruck, als hätte es in viel zu kurzer Zeit viel Gewicht verloren, ist aber immer noch etwas mollig. Auf den rechten Unterarm ist ein Barcode gedruckt. Ich erinnere mich an einen Moment vor langer Zeit, damals, auf dem Hinterhof der Mittelschule. Mir dreht sich der Magen um.
 

„Scheint, als wäre er schon seit ein paar Stunden tot“, stellt Gladio fest, „hat sich wohl mit den Ketten erwürgt, mit denen er hier gefesselt ist. Armes Kind…“
 

Ich verdränge den Gedanken an Prompto. „Das muss einer der MI sein, die nach… oder noch während der langen Nacht aus Besithias Labor gerettet wurden“, überlege ich.
 

„Ja, und aus irgendeinem Grund hat es ihm hier wohl nicht gefallen“, murrt Gladio.
 

Kann mir gar nicht vorstellen warum. Wer wäre nicht gerne in so einem kargen Zimmer an ein rostiges Bett gefesselt, zusammen mit neun anderen in dünner Kleidung? Hier sieht es aus wie in einem Gefängnis… selbst das Militär hat höhere Standards. Gladio nimmt eine hauchdünne Decke von einem der Betten und legt sie über die Leiche des Kindes. Die Fesseln hat er ihm geöffnet, die Hände vor der Brust verschränkt.
 

„Das muss reichen, bis ihn jemand abholen kann. Sicher vermisst den armen Jungen auch schon jemand.“
 

„Natürlich. Jedes Kind wird vermisst, wenn es nicht zu Hause bei seinen Eltern ist.“ Ich hasse den jammernden Tonfall meiner Stimme, aber ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Dieses Kind… der Junge war doch kaum älter als zehn und sah schon keinen anderen Ausweg mehr als diesen. Und keinen interessiert es. Keinen außer uns.
 

Ich kann Gladios Arme um meine Schultern spüren und lehne mich einen Moment an ihn, bis ich mich wieder unter Kontrolle habe. Seine Wärme tut gut.
 

„Wenn es dir zu viel ist können wir das hier Cor überlassen“, schlägt er vor, „Wenn die überlebenden MI hier sind…“
 

„Ist okay“, wehre ich ab, „Ich pack das. Lass uns Prompto finden.“
 

Denn egal wie ähnlich er seinem früheren Ich sieht, der Junge auf dem Bett ist nicht Prompto. Prompto lebt, ganz bestimmt. Er weiß, dass wir auf ihn warten… er hält durch, bis wir bei ihm sind. Ganz sicher.
 

Der neugefasste Mut vergeht mir schlagartig, als wir auf den Hof treten. Direkt mir gegenüber an der Wand hängt ein Mann, etwa zwanzig Jahre alt, mit zwei gekreuzten Schwertern in der Brust. Seine leeren blauen Augen sind direkt auf mich gerichtet, und auch er sieht genauso aus wie Prompto. Mir zieht es den Boden unter den Füßen weg. Nicht Prompto, rede ich mir ein, Prompto ist jetzt älter. So alt wie ich… um die vierzig. Ich rufe mir die Fotos von der kaputten Speicherkarte ins Gedächtnis, Fotos, die Promptos jetziges, vierzigjähriges Gesicht zeigen, aber es hilft nichts. Der junge Mann an der Wand sieht aus wie er. Und da ist so viel Blut…
 

Ich wende den Blick ab, aber es hilft nichts. Der ganze Hof ist voller Leichen, eine schlimmer zugerichtet als die andere. Das Alter variiert, aber alle sehen aus wie Prompto. Alle blond, alle dasselbe Gesicht. Alle tot. Alle. Prompto war hier, und alle sind tot.
 

Gladio packt mich, hebt mich hoch wie einen nassen Hund und trägt mich zurück in den Gang. Ich höre die Tür zuschlagen, aber das Bild hat sich in mein Gehirn gebrannt. Der zwanzigjährige Prompto, wie er mit den gekreuzten Schwertern an die Wand geheftet hängt. Die vielen Promptos auf dem ganzen Hof, verstümmelt, erstochen, aufgehängt. Der Miniprompto in seinem Bett mit der dünnen Kette um den Hals. Alle tot.
 

„Reiß dich zusammen, Noct!“, ruft Gladio, und seine Stimme kommt von weit weg. Ich bin mir vage bewusst, dass er mich an beiden Schultern packt und schüttelt, aber es dauert eine Weile, bis ich wieder zu mir finde. Bis sich die Schockstarre löst und ich endlich anfangen kann zu weinen.
 

„Das war nicht Prompto, okay? Nicht unser Prompto“, wiederholt Gladio, „Der war viel zu jung und einer von den Magitech-Assassinen. Prompto ist Scharfschütze, schon vergessen?“
 

„Aber die sind alle tot…“, weine ich, „Alle…“
 

Gladio zieht mich tröstend auf seinen Schoß und hält mich fest im Arm. Ich will mich zusammenreißen, will aufstehen, will irgendwas tun, irgendwas ändern, irgendeinen Beweis finden, dass es noch Hoffnung gibt, dass Prompto nicht unter den Leichen auf dem Hof liegt, dass es nicht zu spät ist. Stattdessen sitze ich hier im kalten Gang auf Gladios Schoß und heule wie ein kleines Kind, das mit der Welt nicht mehr fertig wird. Meinen eigenen Tod konnte ich akzeptieren, aber das? Das ist zu viel. Ich bin doch nicht zurückgekommen um hilflos zuzulassen, dass mein bester Freund stirbt. Schon gar nicht an so einem Ort…
 

Es vergehen ein paar Stunden, die Gladio mich einfach nur tröstend im Arm hält und ich bin dankbar für die Geduld, die er dabei aufbringt, einfach mit mir hier zu sitzen und meine Haare zu streicheln. Dass er nicht mit mir schimpft, nicht von mir verlangt, einfach aufzustehen und weiter zu machen, wie damals bei Luna. Aber was gibt es jetzt auch schon zu tun? Es ist alles vorbei, ich habe versagt…
 

Eine Hand berührt sachte meine Schulter, Ignis hat zu uns aufgeschlossen. Ich vergrabe mein Gesicht in Gladios nasser Jacke, kann jetzt niemanden ansehen, nicht so.
 

„Noctis“, Ignis Stimme ist sanft und voller Verständnis, sicher weiß er längst Bescheid, „Ich war draußen auf dem Hof und habe mir alles angesehen. Meinst du, du schaffst es, mir zuzuhören?“
 

Ich muss einen Moment überlegen. Ignis kann, gerade wenn es um das analysieren einer Situation wie dieser geht, eiskalt und ziemlich grausam sein. Sein Tonfall jetzt ist mitfühlend, aber das wird er nicht bleiben, wenn er über die Hinweise und Zeichen redet, die er gefunden hat. Trotzdem nicke ich entschlossen, stütze mich hoch und setze mich aufrecht neben Gladio. Zumindest ein klarer Abschluss… ich kann jetzt nicht einfach wegrennen.
 

Ignis hat noch immer den kleinen Jungen im Schlepp, der uns die Tür aufgemacht hat. Das Kind sieht immer noch blass aus, wirkt jetzt aber gefasster. Im Gegensatz zu mir hat er nicht geweint.
 

„Soweit ich aus den Berichten im Büro und in den Akten schlussfolgern kann, wurden in dieser Einrichtung alle noch überlebenden alten MI gesammelt“, beginnt Ignis seinen Bericht, „Anscheinend besteht die Möglichkeit, jeden einzelnen davon über seinen Barcode zu orten, sofern er mit diesem in die Nähe eines funktauglichen Scanners gerät.“
 

„Das wenn wir mal vorher gewusst hätten“, brummt Gladio, „Dann hätten wir Prompto einfach auflesen können und fertig.“ Seine Stimme klingt bitter. Ich kann sehen, wie die kräftigen Muskeln unter der Jacke angespannt sind, auch er kämpft mit den Tränen.
 

„So einfach ist es leider auch nicht. Die Technik, die man braucht, um so ein Signal aufzufangen, auszulesen und zu orten ist schon recht fortschrittlich. Die Barcodescanner aus Insomnia können die MI-Codes erfassen, geben aber nur die zugehörige Nummer aus. Diese besteht aus zwei Teilen, einem, der die Klassifizierung bestimmt – beispielsweise N-iP01357 für die Scharfschützen – und einer individuellen Seriennummer, bestehend aus nochmal acht Ziffern. Leider werden die wohl bei Ausgabe zufällig generiert, es gibt also keine Möglichkeit, anhand der Nummer beispielsweise ein Geburtsdatum abzuleiten.“
 

„Heißt das, wir können Prompto vielleicht nicht mal identifizieren?“, frage ich verzweifelt. Ignis seufzt nur.
 

„Ich fürchte ja, zumal die fünf Scharfschützen auf dem Hof bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sind. Da gab es wohl ein reichlich heftiges Feuer, wenn nicht sogar eine Detonation.“ Daher also der Rauch, den wir gesehen haben. „Die Barcodes scheinen erstaunlich beständig zu sein, die waren noch lesbar. Ein Zahnabgleich könnte mit etwas Glück bei mindestens einer der Leichen auch noch möglich sein. Die DNS konnte ich ebenfalls abscanen, das ist aber eine Sackgasse. Von den fünf Scharfschützen bekomme ich drei Treffer auf Promptos DNS, die anderen haben auch eine Übereinstimmung von über sechzig Prozent.“
 

„Schätze, das trifft auch auf die anderen Klassen zu?“, überlege ich in einem verzweifelten Versuch, mich an Ignis‘ abstraktes Denkmuster zu halten. Nur nicht persönlich werden, nicht an Prompto denken. Es funktioniert eher mäßig.
 

„Ja. An der DNS scheint sich die Spezialisierung nicht bemerkbar zu machen. Die Abweichungen der MI untereinander sind minimal und weisen darauf hin, dass Besithia tatsächlich Eizellen von nicht mehr als drei Frauen benutzt hat, um dann vermutlich aus jeder Eizelle mehrere Duzend Kinder zu ziehen – so viel eben ging, damit die Zellteilung den Rückstand noch aufholen und wachsen kann.“
 

„Und damit er genug Menschen für seine MI Farm hat.“ Gladios Worte klingen, als müsste er sie ausspucken, und ich erinnere mich an den Raum in der Zegnautusfestung, in dem die überschüssigen MI gelagert wurden. Hundertausende von Robotern, jeder einzelne davon begann sein Leben als Mensch. Und dazu Promptos Gesicht, als er uns beichten musste, dass er einer davon hätte sein können… wäre Besithia nicht schon lange tot, ich würde ihn umbringen für das, was er getan hat. Aber das eigentliche Problem ist hier und jetzt.
 

„Was ist hier passiert, Ignis? Wofür hat man diese Leute hergebracht?“ Ich will sie nicht MI nennen. Alle diese Jungs und Männer hier… das sind Menschen, denen ein Schicksal als leicht kontrollierbare Siecher erspart geblieben ist. Die eine Zeit lang Mensch sein durften, bevor man sie hier hingerichtet hat.
 

„Soweit ich aus den Unterlagen entnehmen kann, sollten sie reprogrammiert werden. Cleos Vater hatte den Auftrag, die alten MI zusammenzusuchen, von ihrer ‚vorgetäuschten Menschlichkeit‘ zu befreien und sie wieder zu funktionalen Kampfmaschinen zu machen, die die neuen MI anführen können. Gleichzeitig sollte erforscht werden, wie sich ihre Kraft ohne Plasmodium steigern lässt, um möglichst schnell eine Armee wie damals die der Niffen auf die Beine zu stellen.“ Ignis atmet tief durch, auch ihm scheint das ganze nahe zu gehen. „Den Männern wurden alle persönlichen Sachen genommen – was wir in den Kisten gefunden haben wurde aufbewahrt, um später erforschen zu können, wie die MI sich als Menschen ‚getarnt‘ und angepasst haben und ob sich das zu Spionagezwecken nutzen lässt. Anscheinend hat da jemand nicht so ganz begriffen, dass er hier echte Menschen vor sich hat.“ Nun ist auch Ignis deutlich anzumerken, dass er gerne jemanden schütteln würde, möglicherweise den toten Mann im Büro.
 

„Die angeblichen MI wurden daraufhin hier trainiert, mit dem Ziel, ihnen jedwede Individualität auszuprügeln und sie wieder zu reinen Kampfmaschinen zu machen. Ich möchte an der Stelle betonen, dass viele der Männer hier vorher noch nie eine Waffe gehalten haben.“
 

„Und jetzt sind alle tot… Warum? Weil der Mann gemerkt hat, dass er einen Fehler gemacht hat, und durchgedreht ist?“ Der Mann hatte nach Benzin gerochen, seine Kleidung war nass, verrußt und voller Blut… nicht nur dem seinen, „Also hat er alle hier umgebracht, und dann sich selbst erschossen?“
 

„So sieht es aus. Alle außer seinem Sohn, und…“ Ignis lächelt und hält mir eine Liste hin, auf der insgesamt dreißig Barcodes vermerkt sind. Außer einem sind alle durchgestrichen. Die fehlende Nummer geht mit N-iP01357 los, dem Code für die Scharfschützen. „Hier sind sechs Scharfschützen verzeichnet, gefunden habe ich nur fünf. Einer muss diesen Bunker vor dem Amoklauf verlassen haben.“
 

„Das ist Sanni!“, ruft der Junge, der bis jetzt geschwiegen hat, und greift sich die Liste.
 

„Sunny?“, wiederholt Gladio perplex, „Wie kommt man auf Sunny?“
 

„Na, die MI wurden hier doch alle bei ihren Nummern angesprochen, und mussten die auch aufsagen. Die meisten haben es geschafft, aber Nummer Zero-Go-Kyu-Go-San-Ni-San-Yon ist immer durcheinander gekommen. Immer an derselben Stelle. Deswegen hab ich ihn Sanni genannt, Drei-Zwei. Dann konnte er sich die Nummer besser merken.“
 

„Und er ist entkommen?“
 

„Ja, er wollte unbedingt weg. Er hat nicht gesagt warum genau, nur, dass jemand auf ihn wartet, und dass er nach Hause muss.“
 

„Hat er dir je seinen richtigen Namen gesagt?“, frage ich hoffnungsvoll.
 

„Nein, nur wenn er den Drillsergant angeschrien hat. Aber ich hab nichts verstanden, Sanni hat einen ziemlich starken Akzent. Den gleichen wie ihr.“
 

„Also ein lucischer Akzent, ja?“, Ignis Augen leuchten. Sicher berechnet er im Kopf schon die Chancen, wie wahrscheinlich es ist das dieser letzte überlebende Scharfschütze der unsere ist.
 

„Weiß ich nicht genau. Sanni hat immer gesagt, dass er noch jemanden sehen muss, dass er hier raus muss, dass er keine Maschine ist. Sie haben ihm ganz doll wehgetan deswegen, aber er hat nicht aufgehört, sich zu wehren. Deswegen hab ich ihm gesagt, wie er die Ketten abmachen kann, und wo der Lüftungsschacht ist, durch den man hier vielleicht raus kann.“
 

„Kannst du uns diesen Lüftungsschacht zeigen, Cleo?“
 

Der Jung nickt und nimmt Ignis an die Hand. In einem Nebengang sind mehrere Kartons verstreut, als hätte sie jemand aufeinandergestapelt und dann umgeworfen. Direkt darüber steht ein Gitter offen, aus dem kalte Luft herabbläst. An dem Gitter klebt Blut.
 

„Hier muss er raus sein“, überlegt Ignis, „Die Kisten sehen nicht sehr stabil aus, aber so abgemagert, wie Prompto zuletzt war, könnten sie ihn getragen haben. Oder jeden anderen leichten MI. War Sanni kräftig, Junge?“
 

„Nein, er war ganz dünn.“
 

„Er hat es in jedem Fall hier rauf und in den Schacht geschafft. Fürchte, für uns ist der Weg hier vorbei…“
 

„Für euch beide schon“, stimme ich zu, „Aber ich passe da durch, wenn Gladio mich hochhebt.“
 

Ich muss einfach Gewissheit haben, dass in dem Schacht keine Leiche liegt. Wenn dieser letzte Scharfschütze entkommen ist… dann ist noch nicht alles vorbei. Dann besteht noch Hoffnung, dass es in Wirklichkeit Prompto ist. Prompto, der mich unbedingt noch sehen wollte, bevor er stirbt. Der zu uns nach Hause wollte.
 

Gladio nickt und hebt mich auf seine Schultern, Ignis steckt mir noch ein Gerät zu, das wie ein Barcodescanner aussieht. Die Decke ist weit oben, aber ich schaffe es, den Schacht zu erreichen. Es geht ziemlich gerade nach oben und die Wände sind glatt, aber die Blutspuren zeigen deutlich, dass der Aufstieg zu schaffen ist, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Ich stemme meine Hände auf beiden Seiten gegen das Metall und versuche mich hochzuziehen, aber es klappt nicht.
 

„Geht es noch etwas höher, Gladio?“
 

Ich kann fühlen, wie Gladios Hände mich an den Knöcheln fassen und gewinne nochmal einen halben Meter. Das reicht, um einen Fuß in den Schacht zu bekommen und mich schließlich mit dem ganzen Körper einzustemmen. Jetzt kann ich klettern, eine Hand, einen Fuß nach dem Anderen, immer drei Glieder an der Wand und die Spannung halten. Nach etwa einem Meter macht der Schacht eine Kurve und ich komme wieder in die Waagrechte. Ich ziehe mein Handy heraus, wähle Gladios Nummer und schalte den Lautsprecher ein, um etwas wie ein Funkgerät zu haben.
 

„Ich bin jetzt im Schacht“, gebe ich durch und stecke das Handy in meine Brusttasche, „Hier sind Blutspuren.“
 

„Der Scaner kann Fingerabdrücke einlesen, wenn du welche findest, die gut sichtbar sind“, erklärt Ignis am anderen Ende, „nützt uns nicht viel, weil wir von Prompto keine Vergleichsproben haben, aber wer weiß, was es später vielleicht bringt.“
 

Ich finde einen sehr deutlichen roten Abdruck einer rechten Hand und lese ihn mit dem Gerät ein. Der Scaner findet keine Übereinstimmung. Wer weiß, wenn wir irgendwo Abdrücke finden, die eindeutig von Prompto stammen, hilft uns das vielleicht noch. Fingerabdrücke sind selbst bei eineiigen Zwillingen nie ganz gleich, das sollte auch für MI gelten, die zwar künstlich, aber doch auf die gleiche Weise vervielfältigt wurden.
 

Ich folge dem Weg weiter um eine Kurve und meine Hoffnung sinkt schon wieder ins Nichts.
 

„Hier ist ein Ventilator“, funke ich, „Der Gang ist praktisch dicht.“
 

Unter anderen Umständen würde mir die frische Luft im Gesicht gut tun, jetzt aber sehe ich nur den versperrten Weg und die Blutspuren, die genau auf das Hindernis zugehen. Handabdrücke auf dem Boden… er muss gekrabbelt sein, am Ende seiner Kräfte. Aber eine Leiche liegt hier nicht. Vorsichtig nähere ich mich dem Rotor – zwischen den Blättern könnte ein Mann durchpassen, wenn er schnell ist und im richtigen Moment springt, aber dazu muss man wirklich verzweifelt sein. So verzweifelt wie jemand, der seine allerletzte Chance zur Flucht sieht.
 

„Lässt sich die Lüftung abschalten?“, frage ich, „Ich glaube, er ist hier durch… ich muss sehen, ob er es geschafft hat.“
 

Der Gedanke, dass auf der anderen Seite des Rotors eine verstümmelte Leiche liegt, quält mich. Ich habe heute schon genug Elend gesehen… bitte, bitte lasst diesen letzten Mann entkommen sein. Und bitte… lasst es Prompto sein und macht, dass es ihm gut geht.
 

„Lüftung ist aus“, informiert mich Gladio, und nur wenig später bleibt der Rotor stehen. Jetzt wo die Blätter sich nicht mehr drehen, sehe ich erst, wie viel Blut daran hängt… Blut und etwas, das wie ein großer Fetzen Haut aussieht. Ich teile den anderen meine Entdeckung mit und Ignis drängt mich, den Scaner auf das zu halten, was er wohl als ‚ausreichend große DNS Probe‘ betrachtet. Ich gehorche. Die DNS stimmt zu siebenundneunzig Prozent mit der von Prompto überein.
 

„Sehr gut“, meint Ignis, „Das ist die höchste Quote, die wir unter den Umständen erwarten konnten. Alles über fünfundneunizig Prozent ist im Grunde eine volle Übereinstimmung.“
 

„Also könnte es Prompto sein?“, frage ich hoffnungsvoll und schlüpfe zischen den Rotorblättern durch. Hier ist die Blutspur noch deutlicher, es ist klar zu sehen, dass der Mann verletzt ist. Wo ich vorher noch Handabdrücken und verschmiertem Blut gefolgt bin sind hier nun deutliche Tropfen zu sehen, teilweise aus größerer Höhe auf den Boden gefallen. Das Blut ist schon getrocknet… sicher ist es längst ein paar Stunden her, dass derjenige von hier entkommen ist.
 

Zu meinem Entsetzen stehen noch zwei weitere Rotoren im Weg, auch hier klebt an den Flügeln Blut, wenn auch kein Fleisch mehr. Er muss besser geworden sein darin einzuschätzen, wann er springen muss. Ein kurzes Stück weiter muss ich noch einmal direkt nach oben klettern, hier sind die Blutspuren am deutlichsten. Ein letzter Ventilator, dann endlich Sonnenlicht. Ich stehe auf dem Dach des Bunkers. Mein Herz schlägt schnell und heftig, als ich den Blutspuren bis an den Rand des Daches folge, wo sie plötzlich aufhören. Hier muss er gesprungen sein… es ist nicht zu tief, das kann man schon mal überleben, aber unten hören die Spuren einfach auf. Ein paar Spritzer Blut und die Hufspuren einer Herde Mesmerize, wenn ich das richtig deute. Ich rufe Ignis und Gladio zu mir, aber auch mit vereinten Kräften können wir die Fährte nicht mehr aufnehmen.
 

„Können wir nicht nochmal Umbra um Hilfe bitten?“, fragt Gladio verzweifelt. Ich schüttle den Kopf. „Er ist kein Spürhund, weißt du? Das letzte Mal war Glück, er hat Prompto gefunden, weil Pyrna bei ihm war und ihn gerufen hat. Es sind beides Lunas Hunde… nein, Emissäre der Götter. Ihre Macht hat Grenzen.“
 

Und Fährtenlesen gehört ganz sicher nicht zu den Aufgaben, die die Götter Umbra auferlegt haben.
 

„Wie war das noch mit dem Scanen von Barcodes?“, fällt mir ein, „Wenn er in die Nähe eines Lesegeräts käme, könnten wir ihn dann orten?“
 

„Schwierig“, gibt Ignis zu, „das Equipment füllt da drin einen ganzen Raum und ist außerdem zerstört. Niflheim könnte uns vielleicht aushelfen, aber ich weiß nicht, ob wir dort um Hilfe bitten wollen. Nein, ich denke, es ist einfacher, ein paar Gleven loszuschicken. Verletzt wie er ist dürfte er nicht weit gekommen sein… wilde Mesmerize sind zahm genug, auf ihrem Rücken zu reiten, aber es sind keine Chocobos. Sie entfernen sich nicht von ihren Weidegründen und lassen sich nicht nach Belieben lenken. Er wird die Herde in Aufruhr versetzt haben, um möglichst viel Abstand zur Basis zu gewinnen. Dann ist er irgendwo abgesprungen und schlägt sich jetzt sicher zu Fuß durch. Ich werde ein paar Suchtrupps losschicken. Wenn es Prompto ist, den wir suchen – und da bin ich mir zu fast achtzig Prozent sicher – wird er sich tendenziell Richtung Insomnia bewegen.“
 

Ich nicke. Achtzig Prozent sind viel, oder? Wer, wenn nicht Prompto, wäre so entschlossen zu entkommen, dass er all das auf sich nimmt? Die Gleven werden ihn finden, und sie werden ihn sicher zu mir zurück bringen. Ganz bestimmt… und hoffentlich bald.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Sargeras
2018-11-21T21:20:35+00:00 21.11.2018 22:20
Oje... Eine Maschiene die MIs tötet, diese wird zerstört und es tauschen wieder überall MIs auf, obwohl seit 10 Jahren sich keiner mehr bewegt hat und dann dieses... 'Trainingslager'... Nachtigall ich hör dich trapsen.
Und dann auch noch in Leide! Das kann man nichtmal als Grenzbereich des Königreiches bezeichnen, sondern eher als: Im Herz des Königreiches.
Wie man nur so Herzlos sein kann macht mich echt fassungslos. Nun hoffe ich aber wirklich das sie bald Prompto treffen. Der Ärmste brauch seine Gang um ihn wieder fit zu machen!
Antwort von:  SoraNoRyu
01.12.2018 08:55
Hoffen wir erstmal, dass Prompto noch lebt... (muahaha!)

Und ja, der Plot. Er guckt schon um die Ecke.


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