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Welt ohne Grenzen

von

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Der Ring der Lucischen Könige

„Wir sollten nicht hier sein“, gebe ich etwa zum hundertsten Mal zu bedenken, aber Gerald winkt einfach nur ab.

 

„Sei nicht so ein Weichei, Nyx“, stichelt er, „Wird schon nichts passieren.“

 

„Unser Held ist ein Feigling“, stimmt Cindy zu, und ihre Schwestern kichern.

 

„Bin ich nicht“, entgegne ich, „Ich will nur nicht geschimpft kriegen. Papa gibt mir drei Monate Hausverbot, wenn er mich nochmal in der Zitadelle erwischt…“

 

Gerald prustet belustigt. „Dein Vater ist blind, der sieht’s eh nicht.“

 

Ich verbeiße mir die Bemerkung, dass Papa auch ohne zu sehen viel zu viel mitbekommt – teilweise sogar mehr als die meisten gesunden Menschen – und folge meinen Freunden tiefer in das verbotene Gebäude.

 

Ganz unfreiwillig bin ich hier ja ehrlich gesagt auch nicht… Papa hat mich schon zu oft hier drinnen erwischt, denn die Zitadelle ist schon echt cool. Allein der Gedanke, dass in den alten Ruinen mal echte Könige gelebt haben hat schon einen Hauch von Abenteuer an sich. Dazu das Licht, das durch die kaputten Buntglasfenster fällt und den Staub zum Funkeln bringt, die alten Teppiche, die mit jedem Schritt kleine Wölkchen aushusten und die goldbestickten Banner… ich stelle mir gerne vor, wie das hier früher ausgesehen haben könnte, vor dem Krieg, als alles noch heil war. Papa hat hier gewohnt und gearbeitet, aber er erzählt nie davon. Er erzählt überhaupt nie irgendwas von früher.

 

„Iiih!“, Mindys schriller Schrei reißt mich aus meinen Gedanken.

 

Sie hat eine Tür aufgemacht und dahinter liegt ein Skelett. Vermutlich einer der Wachen von der Königsgarde, der damals im Kampf gefallen ist… total gruselig und eklig, aber irgendwie auch interessant. Was der Soldat wohl im Schrank gemacht hat? Sicher hat er sich versteckt um die Angreifer aus dem Hinterhalt zu besiegen und wurde erwischt.

 

„Nyx, komm da weg, das ist voll gruselig!“, ruft Cindy und ich beeile mich, die anderen einzuholen.

 

Irgendwem muss ich sagen, dass da noch ein toter Soldat liegt, aber wie, ohne zuzugeben, dass ich in der Zitadelle war? Ich will keine drei Monate Hausarrest, aber ich will auch nicht schuld sein, dass der arme Mann hier weiter liegen muss.

 

„Ich komme schon, wartet doch!“, rufe ich meinen Freunden hinterher.

 

Mitten im Gang liegt eine umgestürzte Säule, über die ich drüber klettern muss. Gerald kann solche Hindernisse einfach überspringen und die Mädchen passen unten durch, aber ich bin dafür zu groß und noch nicht stark genug. Die anderen lachen nur und rennen weiter, als ich auf der anderen Seite unsanft in den staubigen Teppich plumpse. Ich rapple mich hoch und beeile mich, wieder aufzuschließen – immerhin laufen kann ich schon ziemlich schnell.

 

„Tolle Freunde seid ihr“, beschwere ich mich, als ich keuchend hinter den anderen her trabe.

 

„Pfft, Freunde“, lacht Gerald, „Wir hängen doch nur mit dir rum weil unsere Eltern wollen, dass wir nett zu dir sind.“

 

„Ja, weil dein Vater ein Held ist“, ergänzt Mindy.

 

Cindy und Sandy kichern lautstark. „Held…“, murmelt Cindy, als wäre es ein Schimpfwort.

 

„Ich verstehe nicht…“

 

„Dein Vater ist kein Held, Nyx“, erklärt Gerald grinsend, „Er ist nur ein Krüppel.“

 

„Ja, ein blinder Krüppel“, ergänzt Sandy.

 

„Das ist doch dasselbe“, meint Mindy.

 

„Mein Vater ist kein Krüppel!“, wehre ich mich, „Und er ist sehr wohl ein Held! Papa hat bis zum Schluss mit gekämpft, damit der Krieg aufhört!“

 

„Lügner“, schimpft Gerald und schubst mich so doll, dass ich auf den Hintern falle, „dein Vater ist blind, der hat niemals noch gekämpft.“

 

„Ja, er wäre den echten Helden doch nur im Weg gewesen“, ist sich Cindy sicher.

 

„Gar nicht wahr, Papa ist niemandem im Weg!“

 

Ich sehe meinen Vater jeden Tag und weiß, wie er sich bewegt. Sicher, er reagiert oft anders als die anderen und merkt manche Sachen nicht, weil er sie nicht sehen kann, aber er bekommt alles mit und kann fast alles machen. Wenn man ihm ein bisschen hilft, kocht er sogar besser als Mama. Nur Auto fahren kann er nicht.

 

„Vergiss es, Nyx“, winkt Gerald ab, „dein Papa ist nur ein Krüppel und ein Angeber. Die Erwachsenen sagen nur, er wäre ein Held, weil er mit den Amicitias befreundet ist.“

 

„Ja, und das sind ECHTE Helden“, stimmt Mindy zu, „Mit denen will sich keiner anlegen.“

 

„Ich bin auch mit einer Amicitia befreundet“, schmolle ich und weiß gleichzeitig, dass das vielleicht gar nicht mehr so wahr ist. Seit Crowe mit ihrer Familie nach Galahd gezogen ist, habe ich sie nicht mehr gesehen…

 

Und wir können sie auch nicht besuchen, weil Mama im Restaurant arbeiten muss und Papa nicht Auto fahren darf. Weil er nichts sieht… der Gedanke, dass Gerald doch Recht haben könnte, tut weh, aber ich schlucke die Tränen tapfer herunter und folge den anderen weiter in die Zitadelle hinein.

 

Das Licht, das durch die hohen Fenster in den mit altem Teppich ausgelegten Gang fällt sieht wunderschön aus und die Vorhänge wehen mit einem geheimnisvollen Flüstern, aber im Moment habe ich keinen Sinn für den Hauch des Abenteuers, der in jeder Ritze des alten Gemäuers steckt.

 

Papa wird schimpfen, wenn er hört, dass ich hier war, und die Freunde, die mich zu diesem Abenteuer überredet haben, sind gemein zu mir. Und vielleicht gar nicht wirklich meine Freunde… auch der Gedanke tut weh.

 

Ich muss tapfer bleiben, rede ich mir ein, immerhin bin ich der Sohn eines Helden, egal was die anderen sagen. Und ich trage den Namen eines noch viel größeren Helden, und das kann mir keiner nehmen. Nyx Ulrich, der letzte der Gleven, der letzte Mann, der in Insomnia gekämpft hat, damit die Menschen noch fliehen können. Der letzte große Held der alten Zeit und einer der wenigen, die den mächtigen Ring der Könige anlegen durften, ohne sofort zu sterben.

 

Für ihn und meinen Vater muss ich stark bleiben.

 

„Schaut mal, wie cool ist das denn?“

 

Mindys Schrei reißt mich aus meinen Gedanken. Wir sind im Thronsaal angekommen, aber es ist nicht der Raum selbst mit seinen hohen Stühlen und den aufwändigen Verzierungen, der Mindy so in Aufregung versetzt hat.

 

Vor dem Thron liegen hunderte weißer Blumen auf den Stufen, Kerzen, Geschenke. Ich erkenne sofort, dass es ein Altar für den toten König ist, eine Gedenkstätte für diejenigen, die ihn geliebt haben und vermissen. Papa geht jeden Sonntag in die Zitadelle, und jetzt verstehe ich auch, wieso – er kommt genau hier her. Die Blumen sehen alle frisch aus, der ganze Altar ist so ordentlich und sauber hergerichtet wie alles, was Papa mit seinen Händen erreichen kann, immer ist.

 

„So schöne Blumen“, quietscht Cindy, greift sich einen der Kränze, bevor ich sie aufhalten kann, und setzt ihn sich auf den Kopf: „Schaut mal, ich bin eine Prinzessin!“

 

„Leg das zurück!“, fordere ich, „Das ist eine Gedenkstätte für den König!“

 

„Pfft“, macht Sandy abschätzig und sucht sich selbst die schönsten und frischesten Blumen heraus, „Der König ist tot, den stört dass doch nicht.“

 

„Das ist trotzdem respektlos“, versuche ich zu erklären, „sowas macht man nicht, das ist, das… das ist Grabschändung!“

 

„Du immer mit deinen großen Wörtern“, brummt Gerald und wühlt selbst zwischen den Blumen herum, „Streber.“

 

Er zieht einen glitzernden Fischköder aus der Sammlung an Geschenken, betrachtet ihn in einem der Lichtstrahlen, die durch die zerbrochene Decke fallen, und wirft ihn achtlos über die Schulter.

 

„Ramsch“, urteilt er, „Was will ein König denn mit so einem billigen Ding?“

 

Ich beiße die Zähne zusammen vor Wut, absolut ohnmächtig gegenüber der Gleichgültigkeit, mit der meine angeblichen Freunde das Andenken an Papas geliebten König zerstören.

 

„Hört auf“, fordere ich, „Hört sofort auf, ich erzähl das unseren Eltern!“

 

„Ja, und kassierst Hausarrest für den Rest des Jahrhunderts, weil du hier rein gegangen bist“, erinnert mich Mandy, „Du sagst das keinem.“

 

„Tu ich doch!“

 

Hausarrest hin oder her, so geht man nicht mit einem Toten um. Schon gar nicht mit dem König, der gestorben ist, um uns alle zu retten… ohne den es vielleicht keinen von uns gäbe.

 

„Hört jetzt endlich auf!“, schreie ich nochmal und packe Gerald am Arm, als er gerade einen Stapel alter Fotos durcheinander bringt.

 

„Hey, Pfoten weg, Nyx!“

 

Gerald ist viel größer und schwerer als ich. Er wirft mir die Fotos ins Gesicht und stößt mich mitten in die Blumen. Der Duft und der Staub bringen mich zum Husten, als ich versuche mich aufzurappeln. Ich kann hören, wie die Mädchen schimpfen, dass ich die schönen Blumen nicht zertrampeln soll, da ruft Gerald plötzlich freudig auf, als hätte er unter den Andenken endlich etwas Wertvolles gefunden.

 

„Ein Ring!“, jubelt er und hält etwas Kleines und Schwarzes ins Licht, „Ganz schön alt das Teil und total angelaufen, aber vielleicht wird der ja Silber, wenn man ihn poliert?“

 

„Oooh!“, staunt Cindy, „glaubst du das ist der Ring vom König?“

 

„Der Zauberring? Das wäre cool!“

 

„Aber stirbt man denn nicht, wenn man den anzieht?“, gibt Sandy zu bedenken.

 

„Das wäre natürlich doof“, überlegt Gerald, und auf seinem Gesicht macht sich ein fieses Grinsen breit. „Oi Nyx, komm mal her!“

 

Er will doch nicht etwa? Mir bleibt die Luft weg vor Angst und ich unternehme einen verzweifelten Versuch, abzuhauen. Allerdings scheinen den Mädchen ihre Blumen jetzt egal zu sein, sie springen einfach hinein, halten mich fest und drängen mich zu Gerald, damit der meine Hand packen kann.

 

„Bitte nicht!“, flehe ich, „Bitte hört auf!“

 

Der Ring, den Gerald gefunden hat ist fast sicher der Ring der Lucischen Könige – er sieht genauso aus wie Papa ihn mir beschrieben hat und ich bilde mir fast ein, seine Macht bis hierhin spüren zu können. Die Angst gibt mir Kraft zu einem letzten verzweifelten Aufbäumen, ich reiße meine Hand los und versuche zu fliehen, aber die Mädchen werfen sich auf mich und Gerald hat mein Handgelenk sofort wieder fest im Griff.

 

„Halt endlich still, kleiner Held. Dann sehen wir ja, ob du deinen Namen Wert bist…“

 

„Bitte hört auf!“

 

Zu spät. Gerald steckt den Ring auf meinen Finger und die Welt vor mir geht in Flammen auf.

 

 

 

 

Die zerstörte Gedenkstätte um mich ist verschwunden.

Der ganze Thronsaal ist verschwunden.

Gerald, Cindy, Mindy und Sandy sind verschwunden.

 

Einen Moment lang gibt es nur mich, den Ring, und diese unglaubliche Macht, die durch jede Faser meines Körpers strömt, als wollte sie mich von innen zerreißen. Seltsame Zeichen blitzen um mich herum auf, Farben, die ich in der echten Welt nie gesehen habe und für die ich keinen Namen weiß. Und dann sind da die Stimmen. Keine echten Stimmen wie die von Gerald oder Cindy. Magische, tiefe Stimmen, die mit jeder Silbe tausendfach wiederhallen und wie endlose Echos in meinem Kopf dröhnen, als wäre ich von tausend flüsternden Geistern umgeben, deren Stimmen sich zu einem ungeheuren Lärm aufbauen.

 

Ich schreie, aber meine eigene Stimme höre ich nicht.

 

„Schon gut Junge, hab keine Angst.“

 

Ich öffne meine Augen und sehe Schatten vor mir. Farbige Schatten, die genauso leuchten wie die Zeichen, die vor meinen Augen und durch meinen Kopf zucken und mich schwindelig machen. Vierzehn riesige Gestalten in langen Gewändern. Zwei Frauen, zwölf Männer, einer davon kniet sich tröstend zu mir herunter. Die alten Könige…

 

„Ich wollte den Ring nicht nehmen“, entschuldige ich mich, „Es tut mir so Leid, bitte…“

 

„Hab keine Angst“, wiederholt der Geist, der vorhin gesprochen hat.

 

Er scheint der jüngste der Geister zu sein und weil er mir am nächsten ist, kann ich seine Gestalt halbwegs erkennen. Er hat wuschelige Haare und einen kurzen Bart. Seine Augen sehen freundlich aus, wie die von Papa. Das gibt mir Mut.

 

„Seid ihr König Noctis? Mein Vater hat mir von euch erzählt.“

 

„Du bist Ignis‘ Junge, nicht wahr?“, fragt der König. Auch seine Stimme hallt grausam in meinem Kopf nach, aber es tut nicht mehr so weh. Überhaupt tut nichts mehr so weh. „Wie ist dein Name?“

 

„Nyx. Nyx Scientia.“

 

Einer der anderen Könige lacht. „Wie passend…“ Auch seine Stimme klingt nett.

 

„Bitte, ich will nicht sterben“, flehe ich, „Ich wollte den Ring nicht nehmen, und ich wollte auch niemanden wütend machen, bitte… bitte, ich will heim zu meinem Papa…“

 

Und weg von den ‚Freunden‘ die so gemein sind. Die einfach das Grab eines Königs zerstören und mir einen Ring anziehen um zu sehen, ob man davon stirbt. Ich hab Angst… Angst zu sterben, aber noch mehr Angst, zurück in der Zitadelle zu sein. Papa… ich will zu meinem Papa…

 

„Hab keine Angst, Nyx.“, wiederholt der junge König.

 

Die schattenhafte Gestalt kommt näher. Ich schließe ängstlich die Augen, bevor der Schatten mich berührt, aber er fühlt sich nicht an wie ein Geist. Im Gegenteil, seine Arme fühlen sich echt und kräftig an, und sein Körper ist warm, als er mich schützend an seine Brust drückt.

 

„Den nehme ich wieder an mich“, flüstert er und ich kann fühlen, wie sanfte Finger über meine schmerzende Hand fahren und den glühenden Ring mit sich nehmen.

 

 

 

 

Mit einem Mal ist die Welt wieder normal. Die Schatten, die Muster und die Stimmen sind verschwunden, dafür ist der Thronsaal wieder da. Staubige Lichtstrahlen fallen durch die Löcher in der Decke auf die kaputten Blumen, die Fotos, die Gerald vorher gehalten hat, liegen verstreut und zerknittert dazwischen.

 

Ich atme zitternd ein und lehne mich in die Umarmung des Königs, der mich immer noch fest im Griff hält. Der Ring sitzt jetzt an seiner großen Hand, und ich kann die gefährliche Macht nicht mehr spüren.

 

Ich blicke hoch und sehe direkt in Geralds Gesicht. Er ist bleich wie ein Gespenst und seine Augen sind weit aufgerissen, ebenso die der Mädchen, die sich hinter ihm versteckt haben. Einen Moment sehen wir uns direkt an, ich zu erschöpft, um einen klaren Gedanken zu fassen, er vor Angst erstarrt. Dann dreht er sich schreiend um, stößt die Mädchen beiseite und rennt davon wie ein gejagtes Tier.

 

Cindy, Mindy und Sandy folgen ihm kreischend und weinend. Cindy hat immer noch den Grabkranz auf dem Kopf.

 

Ihre eiligen Schritte verklingen schnell auf dem staubigen Boden, während um mich herum Asche zu Boden rieselt bricht alles, was in den letzten Stunden passiert ist über mir zusammen und ich fange haltlos zu weinen an.

 

„Alles gut Nyx, alles gut…“

 

Die Stimme des Königs ist tief und unglaublich sanft. Ohne das scheußliche Echo klingt sie sogar angenehm beruhigend, wie von einem echten Menschen. Ich lasse zu, dass er mich tröstend an seine Brust drückt und schluchze in seine Jacke. Der dunkle Stoff muss mal sehr teuer gewesen sein, aber jetzt ist er alt, zerrissen, und voller Asche, die mein tränennasses Gesicht ganz schwarz färbt.

 

„Du brauchst keine Angst mehr zu haben Nyx. Ich bin jetzt bei dir… ich beschütze dich. Versprochen.“

 

Ich nicke tapfer in die schmutzige Jacke und sehe hoch in das Gesicht des Königs, dass ich jetzt viel klarer erkennen kann als vorhin, als er ein Geist in dieser seltsamen Welt war. Seine blauen Augen funkeln freundlich unter den zerzausten Haaren, und er ist ganz voller Asche und Staub. Überhaupt ist hier alles voller Asche… beinahe, als hätte es gebrannt, aber nicht wie normalerweise mit einem Feuer, sondern nur da, wo jetzt der König ist.

 

Vorsichtig befreie ich mich aus der Umarmung und teste meine Beine. Sie zittern furchtbar, aber ich kann stehen und mich wieder halbwegs zusammenreißen. Auch der König steht auf, aber seine Beine zittern nicht. Dafür rieselt noch viel mehr frische Asche von seiner Kleidung als er sich streckt, als hätte er lange Zeit geschlafen. Er blinzelt einmal und blickt auf das Chaos zu unseren Füßen, dass mal so eine ordentliche Gedenkstätte war.

 

„Tut mir Leid“, sage ich eilig, „meine Freunde haben… ich konnte sie nicht aufhalten…“

 

„Das sind nicht deine Freunde, Nyx. Freunde tun einem nicht weh und laufen dann einfach weg. Richtige Freunde tun sowas hier.“

 

Er hebt eines der Fotos hoch, die auf dem Boden liegen und reicht es mir. Es zeigt eine Gruppe junger Leute, die neben einem Steg im Wasser stehen und einen riesigen Fisch hochhalten.

 

„Sie helfen einander, wenn einer allein etwas nicht schaffen kann, halten zusammen und beschützen sich gegenseitig. Und wenn doch einer stirbt legen sie ihm Blumen und Fotos ans Grab um zu zeigen, dass sie noch an ihn denken.“

 

Irre ich mich, oder sind das Tränen, die eine saubere Spur durch König Noctis‘ verrußtes Gesicht ziehen? Aber Erwachsene weinen doch nicht, oder? Erst recht keine Helden, oder Könige… Der Mann blinzelt und jetzt bin ich sicher dass es Tränen sind, die da im einfallenden Licht glitzern, während er die Fotos einzeln aufhebt und ansieht. Sie zeigen alle die gleichen vier Männer, und alle lächeln sie in die Kamera. Bei uns zu Hause sind nur Fotos die Mama gern anschaut, oder Bilder, die ich gerne mag. Papa hat keine Fotos… aber wenn er welche hätte, wären es vielleicht dieselben, die der König jetzt vom Boden aufliest. Einer der Männer auf dem Foto mit dem Fisch könnte mein Papa sein… zumindest die Haare sind ähnlich. Und der mit den schwarzen Haaren sieht aus wie der Papa von Crowe.

 

„Lass uns gehen“, sagt der König schließlich, nachdem er alle Fotos eingesammelt und in seine Jacke gesteckt hat, und hält mir die Hand hin. Ich hebe noch schnell den glitzernden Köder auf, den Gerald vorhin weggeworfen hat und gebe ihn dem König, bevor ich mich wieder auf den Arm heben lasse.

 

„Danke, Nyx. Den hätte ich fast übersehen. Aber jetzt lass uns los, dein Vater macht sich bestimmt große Sorgen.“

 

Ich nicke still. Die drei Monate Hausarrest kommen mir im Moment sogar recht attraktiv vor… wenigstens muss ich dann Gerald und die Mädchen nicht mehr sehen.

 

„Ihr seid ganz schmutzig, euer Hoheit“, murmle ich und versuche, den Staub und die Asche aus seinen verstrubbelten Haaren zu kämmen.

 

„Ja, da hast du wohl recht“, lacht der König, „Ignis wird ganz schön schimpfen wenn er mich so sieht.“

 

Irgendwie klingt es so, als würde er sich darauf freuen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Sargeras
2018-11-01T22:36:25+00:00 01.11.2018 23:36
Boah, was für Drecksbratzen! Da möchte man als Geist der Lucii doch wirklich erscheinen und eine schöne Breitseite von Backpfeifen verteilen. Erst recht nachdem man beschließt einfach jemanden potentiell zu 'opfern' um herauszufinden ob es gefährlich ist. Ehrlich gesagt dachte ich hier teilweise, dass sich die kleinen Drecksbratzen hier ganz schön das Maul aufreißen, dies jedoch niemals in Ignis nähe wagen würden.
Es ist aber wirklich schön geschrieben wie Noctis auftaucht, so ist man als Leser nicht sofort sicher ob es ein Geist der Lucii ist oder ein Wesen in Fleisch und Blut. Interessant übrigens das Ignis sein Kind nach einem Kingsglaive benannt hat, wo er doch selbst der Crownsguard angehört hat. Ich weiß, später trägt er eine Kingsglaive-Uniform, aber wenn ich das bisher richtig verstanden habe, sind das neu formierte Kingsglaive, die genaugenommen überlebene Kingsglaive und Crownsguard zusammenfassen.
Bin nun aber wirklich gespannt, der König ist wieder da.
Antwort von:  SoraNoRyu
02.11.2018 00:19
Ja, nicht wahr? Manche Kinder hätten schon mal eine epische Backpfeife aus dem Jenseits verdient... man muss aber dazu sagen, als in Friedenszeiten geborenes Kind ist der Tod doch noch etwas eher abstraktes, was man vielleicht nicht so ernst nimmt wie man es sollte. Und ja, in Ignis anwesenheit sind sie VIEL braver - könnte mir vorstellen, dass sie sogar heimlich Angst haben, gerade weil er sich, durch die Blindheit, anders und unberechenbarer verhält als andere Menschen.

Dass Ignis sein Kind nach Nyx benennt liegt daran, dass es genau diese beiden einzigen Menschen sind, die den Ring der Lucii unter Vorbehalt nutzen durften. Ignis hat Nyx (nicht namentlich, nur als Gleven) erwähnt, bevor er sich den Ring angesteckt hätte - vielleicht hätte er es nicht gewagt, wenn Nyx nicht schon bewiesen hätte, dass es geht. Insofern ist es Nyx' Mut und den Erzählungen darüber zu verdanken dass Ignis die Kraft hatte, Noct zu beschützen - ansonsten hätte er davon ausgehen müssen, dass der Ring ihn direkt umbringt und er dadurch gar nichts gegen Ardyn erreicht.


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