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Watashi no Sekai

von

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Part 01

Warnung: Shonen Ai / Yaoi
 

Feedback: Wir würden uns SEHR darüber freuen!!! Feedback geben, könnt ihr uns natürlich hier auf Animexx oder auf unserer storyeigenen Homepage ^^ (Link siehe ein wenig weiter unten)
 

Disclaimer: Alle Charaktere sind Eigentum von littleblaze und Stiffy. (Copyrightstempel drauf drück)
 

Widmung: Ich (littleblaze) widme diesen ersten Part: Animexx. Denn durch Animexx habe ich meine Leidenschaft für Shonen Ai und Yaoi Geschichten entdeckt.
 

Kommentar....BITTE LESEN:
 

Watashi no Sekai?

Die Watashi (so kürzen wir sie gerne ab) ist ein Gemeinschaftsprojekt zwischen mir (littleblaze) und Stiffy (die einigen von euch vielleicht auch bekannt sein mag).
 

Wir selbst finden jedoch, dass wir mit der Watashi nicht nur eine Story, sondern eher einige Lebensabschnitte zweier Personen erzählen.
 

In der Watashi selbst werdet ihr im Laufe der Geschichte mit unzähligen Charakteren konfrontiert, werdet Liebe, Schmerz, Verlust, Glück, Einsamkeit, Verzweiflung und noch vielem mehr ausgesetzt sein.
 

Wir hoffen, etwas wirklich tolles geschaffen zu haben...werden dies aber nur erfahren, wenn ihr unsere Charaktere begleitet und uns das erhoffte Feedback gebt...
 

Die Entstehungsgeschichte der "Watashi no Sekai"

Alles fing an im Oktober 2002.

Sagte ich gerade 2002? JA, Gott so lang ist das schon her *drop*
 

Stiffy und ich waren gerade "Freunde" geworden (so per ICQ, Mail etc.) als sie auf die "fantastische" Idee kam doch mal eine gemeinsame Story zu schreiben.

Begeistert war ich nicht gerade von diesem Vorschlag, da ich Stiffys Schreibstil zur damaligen Zeit gar nicht so sehr mochte. (Ich krieg jetzt bestimmt was zu hören, dass ich das hier so öffentlich schreibe)
 

Ich ließ mich dann also überreden und wir schrieben dann auch unsere "kleine" Story. Besonders viel versprach ich mir davon nicht gerade aber schon bald wurde uns beiden klar, dass unser anfänglich kleines Projekt etwas ganz Großes werden würde.
 

Wir verbrachten viele Abende am Telefon oder im ICQ um uns über so manche Kleinigkeiten einig zu werden. Leicht war es nicht, besonders am Anfang, dass dürft ihr ruhig glauben *lol*
 

Das witzige war, wir sprachen uns so gut wie nie ab, was den Verlauf der Story anging. Einer fing einfach an einen Part zu schreiben und der Andere musste sich damit auseinandersetzen. ^^

Es war selbst für uns immer eine riesen Überraschung, wie die einzelnen Szenen, das abgebrochene Gespräch etc. weitergehen würde....
 

Warum zwei Perspektiven?

Am Anfang habe ich mir wahrscheinlich gedacht, dass ich keinen Charakter möchte, an dem Stiffy "rummacht" aber schnell wurde mir klar, dass die zwei eigen geschriebenen Charaktere genau das Richtige waren für diese Story.
 

Die Charaktere werden in der Watashi jeweils aus der Ich-Perspektive geschrieben (Sakuya = littleblaze, Kida = Stiffy). Alle anderen Charaktere werden nur aus der Sicht von Sakuya oder Kida beschrieben. (na ja, bis es im späteren Verlauf ein paar kleinere Ausnahmen gibt)
 

Jetzt denken sich vielleicht viele: "Oh Gott, alles doppelt lesen müssen"

Na ja, in mancher Hinsicht schon, denn einige Szenen bedarf es einfach sie aus beiden Perspektiven zu sehen, aber glaubt mir, der Großteil der Story ist wirklich nicht "doppelt" geschrieben.
 

Muss ich jetzt immer hin und her pendeln?

Nein, dieses Ding, das man Partweise von einem Autor zum anderen springen muss, fanden wir selber ganz BLÖDE. Deshalb werden alle Parts, ob von mir (littleblaze) oder Stiffy geschrieben NUR von mir (littleblaze ^^) gepostet.
 

Überarbeitungsmodus!.....Fertig?

Vor gut einem halben Jahr haben wir damit angefangen die Story noch einmal von vorne zu überarbeiten, da sich unserer Schreibstil sehr geändert hat und die Story kaum noch zum hinteren Teil passte. *drop*

Wir haben versucht so gut es geht an den neuen Schreibstil heranzukommen, doch trotzdem genug vom alten beizubehalten, um die Story nicht vollkommen zu verändern.
 

Besonders bei Stiffy hat sich vieles geändert, sie hat einige Parts fast komplett neu geschrieben, da sie sich mit dem "alten" nicht mehr identifizieren konnte. Sie hat sich sehr verändert in den letzten 3 Jahren, was meiner Meinung nach dem Schreiben der Watashi zu verdanken ist. ^^

Sie schreibt jetzt wirklich sehr gut und im Nachhinein kann ich nur sagen, dass ich froh darüber bin, dass sie mir dieses Projekt aufgehalst hat.
 

Fertig?

Nein!

Die Watashi ist leider immer noch nicht ganz fertig....grob über den Daumen gepeilt würde ich mal sagen, dass 75% der Story bereits geschrieben sind.
 

Wann erscheint der nächste Part?

Da wir ja auch noch ein ganz normales (wenn man das normal nennen kann) Leben haben, dachten wir das wir uns eine Zeitspanne von 7 bis 10 Tage pro Part geben. Also werden im Monat 3 bis 4 Parts erscheinen.
 

PS: Auf unserer storyeigenen Homepage erscheinen die Parts grundsätzlich früher, da Animexx ja immer 2 bis 4 Tage fürs hochladen eines Parts benötigt.
 

Homepage

Die Watashi ist unser Baby, ein MEGA Großprojekt von uns, deshalb hat es natürlich seine ganz eigene Homepage.
 

Auf der Homepage findet ihr:
 

-die neuen Parts natürlich früher als irgendwo anders.

-Charakterbeschreibungen

-Charakterdolls

-viele Bilder rund um Japan & Co.

-Lexikoneinträge

-Original / FanArt

-Newsletter
 

Natürlich würden wir uns auch mächtig darüber freuen, wenn ihr uns über eventuelle Gedankenfehler/sonstige Fehler in der Story informiert. Wir sind nicht perfekt, aber sehr interessiert zu lernen. ^^
 

Wir würden uns sehr über einen Besuch freuen:

http://www.watashi-no.-sekai.de
 

Watashi no Sekai

Part 1a - Sakuya (by littleblaze)
 

„Wach auf Prinzessin.“

Ich reiße die Augen auf und erblicke Kyo grinsend vor meinem Gesicht.

„Lass den Scheiß“, brumme ich, drehe mich weg.

„Komm schon Mann, ich habe keine Lust, wieder zu spät zu kommen.“

Da mir eh nichts anderes übrig bleibt, quäle ich mich aus dem Bett, schleife mich in Richtung Bad.

„Ok, das wäre dann schon mal geschafft, ich geh runter.“

„Ja, stopf dich ruhig schon mal voll.“

Das kalte Wasser erfüllt seinen Zweck, auch wenn ich dem lieber entgehen würde. Zum Überfluss, rutsche ich aus und breche mir beinahe den Hals.

Ich schlüpfe, mit einem neuen blauen Fleck am Bein in meine Schuluniform. Noch so ein Grund am liebsten im Bett zu bleiben, die Schuluniform. Ich hasse Schuluniformen, aber noch mehr hasse ich es in den Sommerferien in die Schule zu müssen.

Unten angekommen erwartet mich ein vertrautes Bild. Kyo, der es sich wie jeden Morgen an unserem Frühstückstisch schmecken lässt, meine Mom am Herd, mein Dad mit Zeitung und Kaffee, ein ganz normaler Morgen also.

„Morgen, Sohn“, begrüßt mich mein Dad.

„Morgen“, erwidere ich immer noch schlaftrunken.

„Komm Sakuya, steh nicht wie blöde in der Gegend rum. Setz dich und iss, ihr kommt sonst wieder viel zu spät“, nervt meine Mom und schiebt mich in Richtung Tisch.

Ich setze mich und verschlinge mein Rührei und den Toast schneller als gut für mich ist, was mir auch sofort einen nervigen Schluckauf einbringt.

Auf dem Weg zur Schule, schwärmt Kyo abermals von den Kochkünsten meiner Mom. Ich höre bei diesem Thema nur noch mit halbem Ohr zu, denn es ist fast jeden Morgen das Selbe, und ehrlich gesagt, kann ich nicht verstehen, wie sich jemand so an Essen erfreuen kann.

Das Betreten des Schulhofes, ist schon lange keine Qual mehr für mich. Anders war dies vor zwei Jahren als ich mit meiner Familie nach Japan kam.
 

~ * ~
 

Mein Dad war schon lange für eine Beförderung vorgesehen, doch war nie etwas Passendes frei geworden. Kurzum hat man ihm angeboten eine Geschäftsstelle in Japan zu übernehmen. Er war schon öfter geschäftlich in Japan, hatte dort auch meine Mutter kennengelernt, und so entschlossen sich meine Eltern das Angebot anzunehmen.

Ich wurde natürlich nicht groß gefragt, man tat zwar so als würde meine Meinung ins Gewicht fallen, doch als ich mich dagegen aussprach, wurden mir nur die vielen Vorteile aufgezählt.

Mich juckte es aber nicht, ob wir noch mehr Geld hätten, ich wollte auch kein neues, größeres Haus haben, nicht die andere Seite meiner Herkunft kennenlernen. Ich wollte nicht weg von meinen Freunden, wollte nicht in ein Land, das ich nicht kannte, wollte nicht in eine neue Schule, wollte mich nicht mit einer Kultur, mit Leuten auseinander setzten müssen, die mir am Arsch vorbei gingen.

Aber was ein 14-jähriger Junge wollte, zählt oft recht wenig.

Geblendet von Hass stellte ich mich dem, wurde tagelang begafft wie ein Tier im Zoo mit meinen stechend blonden Haaren, meinen grünen Augen. Ich war nicht wie sie, fühlte mich total fehl am Platz und als Schlimmstes empfand ich wohl, dass mir mein Aussehen auch noch peinlich war.

Die zweisprachige Erziehung, die ich genossen hatte, kam mir jetzt zwar zugute, ließ mich nicht wie einen totalen Idioten dastehen, trotzdem hasste ich ES.

Oh ja, wie ich sie alle hasste.
 

Einige Wochen blieb mein Gemütszustand so, bis ich Freundschaft mit Kyo schloss. Durch ihn kam ich in die Schulbaseballmannschaft, meine größte Leidenschaft: Baseball.

Ich war froh darüber, als ich ihr wieder nachgehen konnte, den Schläger schwingen, das Zischen des Balls hören. Und schneller als ich es mir selbst eingestehen konnte, gewöhnte ich mich an Japan, gewöhnte ich mich an die Menschen, an das System. Ich knüpfte schnell weitere Freundschaften, spielte mein Spiel erstklassig, und fand es mit jedem weiteren Tag gar nicht mehr so schlimm, hier sein zu müssen.
 

~ * ~
 

Wir begrüßen einige Freunde und Mitschüler und ich spüre sogleich die Blicke einiger Mädchen aus meiner Klasse. Sie tuscheln oft, und Kyo meint, ich solle mir doch einfach eine nehmen, dann würden die Anderen schon Ruhe geben.

Mir einfach eine nehmen? Was für ein grandioser Vorschlag!
 

Die zwei Stunden des aufgebrummten Sommerkurses vergehen schnell, und ich kann es kaum noch erwarten, mit einigen Jungs noch ein wenig Baseball zu spielen. Dicht gefolgt von Kyo und ein paar anderen Mitschülern renne ich in Richtung Spielfeld. Baseball ist ein beliebter Sport in Japan, was ich früher nie gedacht hätte.

Ich bin einer der ersten auf dem Feld, schlage den kleinen, 144 Gramm schweren Ball immer wieder in die Luft, bis Kyo endlich an seinen Platz steht und ich ihm den Ball zuspielen kann.

Ich liebe Baseball, es ist mir unheimlich wichtig. Mein größter Traum ist es irgendwann wieder in die USA zurück zu gehen und Profispieler zu werden. Davon habe ich immer geträumt.
 

„Sieh mal Sakuya, da ist deine Traumfrau“, schreit Kyo, was mich gleichzeitig aus den Gedanken und der Konzentration holt.... ich verfehle den mir entgegenkommenden Ball. Ein Ablenkungsmanöver, geschickt eingefädelt, aber zu spät bemerkte ich die Taktik.

„Pass auf, das bekommst du zurück.“

Der nächste Ball entwischt mir nicht, und ich schlage weit ins hintere Feld, ein Home-Run. In gleichmäßigem Lauf und unter gespielten Jubelrufen meiner Mannschaftskollegen laufe ich eine Base nach der anderen ab, wobei mein Blick doch noch einmal kurz zur Tribüne schweift.

Meine Traumfrau. Ich finde Sanae sehr hübsch, sie hat irgendetwas, was mich fasziniert. Aber, auch mit ihr würde ich wahrscheinlich nichts anfangen, und des weiteren hat sie ja schon einen Freund.

Auf meinen Endspurt zur letzten Base lege ich noch ein kleines Siegestänzchen hin und bin einfach nur glücklich darüber, dass ich spielen kann.

Kyo und Tsuzuki liegen auf der Wiese nahe des Spielfeldrandes, ich gehe zu ihnen rüber.

„Das war echt fies“, spiele ich noch ein wenig den Eingeschnappten, woraufhin Kyo mir die Füße unter den Beinen wegzieht und wir in einer kleinen Kabbelei enden.

„Was macht ihr heute Abend?“, fragt Tsuzuki, nachdem wir uns voll verausgabt haben, nach Atem ringend auf der Wiese liegen.

„Was sollen wir schon tun? Morgen ist ein Feiertag, das heißt kein nervender Sommerkurs. Vielleicht sollten wir mal wieder ins Velfarre gehen, die haben ja sowieso jeden Donnerstag auf", antwortet Kyo und schaut mich fragend an.

„Vergiss das Velfarre, lass uns mal was neues ausprobieren“, entgegnet Tsuzuki grinsend.

Kyo und ich wechseln einen fragenden Blick.

„Was haltet ihr von nem neuen Club, der gerade in Roppongi aufgemacht hat?“

Kyo und ich schauen uns ein weiteres Mal an, unser immer breiteres Grinsen gibt Tsuzuki eigentlich schon eine Antwort auf seine Frage.
 

20 Minuten später haben wir unser Vorhaben für den heutigen Abend geplant, und Kyo und ich verlassen das Feld zusammen um zu duschen und nach Hause zu gehen.

Auf den Weg zu den Umkleidekabinen schweift noch einmal ein kurzer Blick über die Tribüne. Noch immer sitzt sie dort, wunderschön und einfach nur faszinierend, doch eine Sekunde später wird mir der Blick auf Sanae allerdings verwehrt, Takahama.

Ich versuche nicht weiter darüber nachzudenken, warum sie wohl mit so einem Kerl zusammen ist. Immerhin ist er überall bekannt dafür, dass er öfter mal One-Night-Stands hat. Liebt sie ihn wirklich so sehr, dass sie trotzdem bei ihm bleibt? Verstehen kann ich das nicht, aber was soll’s, ist ja nicht mein Problem. Ich renne an Kyo vorbei und lasse mein Handtuch auf seinen Oberschenkel knallen.

„Ahhh, das bekommst du zurück“, brüllt er, versucht mich einzuholen.
 

~ * ~
 

Auf dem Nachhauseweg, gehen wir noch mal den Treffpunkt für den Abend durch und kommen kurze Zeit später auf ein anderes Thema zusprechen.

„Welche neuen Kurse hast du belegt?“

„Nichts besonders... einen Französischkurs und Englisch, ansonsten bleibt alles beim Alten“, antworte ich ihm.

„Was machst du eigentlich immer in den Englischstunden Sakuya?“

„Alles mögliche, halt nur kein Englisch. Hausaufgaben, eine neue Spielstrategie entwerfen oder einfach nur Relaxen.“

„Und trotzdem bekommst du die besten Noten.“ Ein wenig Neid liegt in seiner Stimme.

„Kannst ja bei mir Nachhilfe nehmen.“

„So weit kommt es noch, lieber würde ich durchfallen, als dich als Lehrer zu akzeptieren.“

Ich weiß genau, dass er es nicht böse meint, und ehrlich gesagt, käme ich mir schon ein wenig komisch vor, bei einem Freund den Pauker zu spielen.

An der nächsten Kreuzung trennen wir uns.
 

Ich betrete unser Haus, es ist wie gewohnt leer, aber das macht mir gar nichts. Ich genieße diese paar Stunden, in denen meine Eltern arbeiteten.

Mit einer Coke lasse ich mich auf einen Sessel fallen, greife nach der Fernbedienung und hoffe inständig, mal was anderes zusehen als immer diese nervigen Animes oder Gameshows, aber auch heute werde ich enttäuscht.

Ich schließe meine Augen, und kurz bevor ich einschlafe, denke ich noch mal an Sanae. Vielleicht geht sie ja auch zur Eröffnung von diesem neuen Club.
 

Part 1b – Kida (by Stiffy)
 

„Streng dich einfach etwas mehr an, okay?“ Toshiki-sensei sieht mich auffordernd an, als er sich von seinem Stuhl erhebt.

Ich stehe auf, schnappe mir meine Tasche und verlasse nach einem letzten Gruß den Klassenraum.

Englisch, immer wieder dieses verdammte Fach! Nachdem ich die Prüfung verhauen habe, musste ich gezwungenermaßen den Englischnachhilfekurs in den Sommerferien belegen.

Ich verlasse das Schulgebäude und gehe hinüber zu den Sportplätzen. Sanae hatte mir versprochen, dort auf mich zu warten, und so sehe ich sie auch schon auf einer der Tribünen, zusammen mit Nori und einem anderen Mädchen.

Sie sieht mich auf sich zukommen und lächelt mir entgegen.

„Sorry, Toshiki-sensei wollt noch kurz mit mir sprechen... Wollen wir los?“

Sanae nickt und steht auf, verabschiedet sich von ihren Freundinnen. Ich reiche ihr die Hand zum Verlassen der Tribüne, was ein paar Mädchen in den hinteren Reihen zum tuscheln veranlasst. Gemeinsam verlassen wir das Schulgelände und machen uns auf den Heimweg.

„Hast du von diesem neuen Club gehört?“, fragt Sanae.

„Du meinst den Vanilla? Ja vorhin, wieso?“, sage ich, und erinnere mich, wie ich von irgendeinem Mädchen gefragt wurde, ob ich mit ihr dort hin gehen wolle. Ich hatte angelehnt.

„Yun hat mich gefragt, ob wir mit hin kommen wollen...“

„Und? Hast du zugesagt?“

„Ich wollte erst dich fragen...“ Erwartungsvoll sieht sie mich von der Seite an. Ich weiß, wie gerne sie dort hin will, ich kann ihr diesen Wunsch nicht abschlagen.

„Okay, lass uns hingehen...“ Sanae beginnt zu strahlen. „Lass uns noch kurz bei mir vorbei, dann komm ich gleich mit zu dir, okay?“

Sie nickt.
 

Am Häuserblock, in dem ich wohne, angekommen.

„Ich komm gleich wieder!“

Schnell flitze ich die Treppen hoch bis in den dritten Stock. Ich betrete die kleine Wohnung, in der ich seit fünf Jahren wohne. Ein Jahr nachdem meine Ma Takehito kennengelernt hatte, heirateten die beiden und wir sind dann mit ihm zusammen gezogen. Nur vier Monate später kam meine Schwester zur Welt.

„Ich bin wieder da...“

Keine Antwort – wie erwartet. Ich seufze und gehe zum Zimmer von Lynn. Das kleine, schwarzhaarige Mädchen sitzt zwischen ihre Spielsachen auf den Boden und strahlt mich mit ihren Kinderaugen fröhlich an.

„Hallo!!“ Sie wedelt mir mit ihrer Puppe entgegen.

Ich gehe ins Zimmer und nehme sie auf den Arm, gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wo ist Mama?“

„Bei der Nachbarin... Spielst du mit mir?“

„Es tut mir leid Schatz, aber ich muss gleich wieder weg...“, antworte ich schweren Herzens, denn ihre Kulleraugen bringen einen immer wieder dazu, nachzugeben. „Ich geh zu Sanae.“

„Ist sie da?“ Lynn reckt ihren Kopf zur Tür.

„Nein, sie wartet unten.“ Ich setze Lynn wieder ab. „Sagst du’s Mama, ja?“

Sie nickt.

„Tschüss Lynn... Morgen spiel ich mit dir, versprochen!“

„Ja!“ Ruft sie fröhlich, hebt ihre Hand und winkt, bevor ich die Tür wieder schließe.

Schnell hole ich mir was zum Anziehen aus meinem Zimmer, verlasse dann die Wohnung wieder und gehe die Treppe hinunter.

Ich hasse diese Wohnung. Als mein Vater noch lebte, hatten wir ein schönes Haus... Seit er tot ist, hat sich so vieles geändert. Meine Mutter wurde immer kühler und hatte kaum noch Zeit. Heute verstehe ich, dass sie viel arbeiten musste, um uns zu ernähren, doch damals, als kleiner Junge, wollte ich das nicht einsehen.

Nun, da sie mit Takehito zusammen ist, muss sie zwar nicht mehr so viel arbeiten, ist aber trotzdem viel zu oft unterwegs. Wahrscheinlich habe ich deswegen keine wirkliche Bindung zu ihr... ich sehe sie einfach zu wenig.

Auch mit Takehito ist es nicht anders. Seit Anfang an konnte ich ihn nicht leiden, vielleicht, weil ich keinen anderen Vater akzeptieren konnte, und er gab sich auch nicht wirklich Mühe, das zu ändern. Unser schlechtes Verhältnis beruht also auf Gegenseitigkeit und da er mich nicht adoptieren wollte, behielt ich letztendlich sogar meinen Namen, den meines richtigen Vaters. Dieser steht nun separat auf dem Türschild.

Na ja, heute kann ich sagen, dass ich vielleicht etwas zu unkooperativ war...

Ich verlasse das Gebäude und ziehe die Glastür hinter mir zu. Sanae steht vor einer Plakatwand und begutachtet diese gelangweilt. Ich gehe auf sie zu und umarme sie von hinten.

„Kein Wunder, dass alle denken, du seist mein Freund!“, lacht sie und befreit sich von mir. Wir machen uns wieder auf den Weg.
 

~ * ~
 

Es stimmt, kurz nachdem Sanae ein Jahr nach mir auf unsere Schule kam, verbreitete sich das Gerücht, wir seien ein Paar. Weder sie noch ich versuchten den Irrtum klarzustellen, denn es störte uns beide nicht wirklich. Zwar war bei uns nie die Rede davon gewesen, eine derartige Beziehung einzugehen, aber da Sanae ohnehin keine haben wollte, und auch ich nicht besonders scharf danach war, empfanden wir es als nicht notwenig, die anderen darauf hinzuweisen.

Ich kenne Sanae solange ich denken kann. Unsere Eltern waren befreundet und schon immer haben wir miteinander gespielt. Sie ist meine beste Freundin, war nie mehr. Ich kann mit ihr über alles reden, was wir oft auch stundenlang tun, aber mehr kann ich mir nicht vorstellen. Nur ein Mal haben wir uns richtig geküsst, aus Neugier heraus, doch für uns beide war es nichts ernsthaftes. Es blieb die Freundschaft, und so ist es auch heute noch.

Ich war eigentlich schon immer beliebt bei den Mädchen, und auch Sanae ist eine Schönheit, was uns für andere am Anfang zum Traumpaar machte. Tja, aber dabei blieb es nicht lange. Nur ein paar Wochen später wurde ich auf einer Party mit einem Mädchen in einer heiklen Situation erwischt. Sie hatte einen Freund, wie ich erst danach erfuhr und so war das Ganze nicht nur ein Seitensprung meinerseits, sondern hatte ich sie, wie es hieß, auch noch dazu verleitet. Nach diesem Zwischenfall machten noch ein paar Mal ähnliche Geschichten die Runde und Sanae darf sich oft genug anhören, sich doch von mir zu trennen, was sie meist nur mit einem Lachen kommentiert.

Das Einzige, was mich bei der Ganzen Sache mit Sanae und den Gerüchten bedrückt, ist, dass ich so gut wie keine wirklichen männlichen Freunde habe.
 

~ * ~
 

Den Rest des Nachmittags verbringen wir bei Sanae zu Hause, bis wir uns Abends auf den Weg in diesen neuen Club begeben.

Sanae hält meine Hand und zieht mich unerbittlich mit. Eigentlich steh ich gar nicht so auf Discos. Einfach zu viel Gedränge und man kann sich nicht wirklich unterhalten, aber was macht man nicht alles für seine beste Freundin.

Nachdem wir an den Türstehern vorbei sind, bläst mir die dicke Luft ins Gesicht. Sanae schleift mich mit in Richtung Theke und lässt sich dann auf einem Barhocker nieder. Neben ihr nehmen Yun und Nori Platz, die mit uns gekommen sind. Ich lege meine Arme von hinten um Sanae. Ich weiß eigentlich nicht, warum wir immer wieder so etwas tun, uns umarmen oder gar Händchen halten.

Ich sehe mich um, erkenne jedoch kein einziges bekanntes Gesicht in meiner Nähe. Auf der Tanzfläche drängen sich die Leute, genau wie auf den Gängen, wo sie versuchen, vorwärts zu kommen. Ich könnte mich niemals jede Woche in solcher Umgebung aufhalten.

Nach einiger Zeit zieht Sanae mich mit auf die Tanzfläche. Bei einem langsamen Stück legt sie ihre Arme um meinen Hals und schmiegt sich an mich. Wir bewegen uns zur Musik, mit geschlossenen Augen. Ich streiche leicht mit den Händen über ihren Rücken.

Nach dem Lied drücke ich Sanae leicht von mir.

„Bin mal kurz wohin...“

Sie nickt und dann verschwinde ich in dem Getümmel, dass mich Richtung Toilette treibt. Es geht nur langsam voran, denn scheinbar hatte nicht nur ich diese glorreiche Idee...

Minuten später, als ich den überfüllten Toiletten endlich entronnen bin, dränge ich mich zur Theke vor, doch Sanae kann ich bei den anderen nicht entdecken. Nori zeigt zur Tanzfläche, was ich mir hätte denken können, denn dort ist Sanae fast immer vorzufinden. Ich will zu ihr gehen, doch dann erstarre ich.

Natürlich habe ich meine Freundin sofort erkannt, genau wie den, mit dem sie tanzt. Unweit von mir entfernt hat Sakuya seine Arme um ihren Körper geschlungen und bewegt sich mit ihr zum Takt der Musik.

Sakuya ist wahnsinnig beliebt, aber dennoch habe ich ihn noch nie mit einem Mädchen gesehen, immer nur mit seinem Baseball. Ich hab nichts mit ihm zu tun und eigentlich hab ich nicht mal wirklich etwas gegen ihn, aber dies nun stört mich, ohne dass ich sagen könnte wieso. Es kann eigentlich keine Eifersucht sein.

Meine Hände ballen sich zu Fäusten, als ich mich zu den beiden durchdränge.
 

Part 1c – Sakuya (by littleblaze)
 

Abgesehen von der schlechten Luft und der Menge der Besucher, stößt der neue Club auf allgemeinen Anklang.

„Ist ja irre, voll bis unters Dach“, strahlt Tsuzuki.

„Was hast du erwartet, ist halt Neueröffnung“, entgegnet Kyo.

Wir stehen am höchsten Punkt des Clubs, ich lehne mich gegen das Geländer und lasse meinen Blick über den riesigen Raum schweifen, während meine beiden Begleiter Wetten darüber abschließen, wer wohl als erster die Aufmerksamkeit eines weiblichen Wesens erringt.

Ein toller Anblick, alleine die vielen verschiedenen Haarfarben sind der reinste Wahnsinn. Keine Ahnung wie manche Jungendliche es schaffen, ihrem Haar bei jedem Clubbesuch eine andere Farbe zu verleihen und am nächsten Schultag wieder das ganz normale Schwarz zu tragen. Von blond über grün, rot, blau bis hin zu gestreift ist alles vertreten, aber am Ende bleibt mein Blick doch auf schwarzem Haar hängen.

Ich gebe Kyo zu verstehen, dass wir uns jetzt ins Getümmel schmeißen sollten, und wir schaffen es tatsächlich die Bar lebend zu erreichen. Wir setzen uns auf die Barhocker, die gerade frei werden und bestellen uns eine Cola.

Kyo lässt prüfend den Blick über die Tanzfläche schweifen, und teilt uns zwei Minuten später mit, dass er sein auserwähltes Opfer gefunden hat. Wohl eher sein erster Versuch von vielen am heutigen Abend.

„Also, bis gleich Sakuya. Wünsch mir Glück“, grinst er schelmisch und geht in Richtung Tanzfläche. Auf halben Weg dreht er allerdings noch einmal um, und flüstert mir ins Ohr:

„Sanae ist ganz alleine da, Sakuya. Kein Takahama weit und breit, also sitzt nicht so blöde hier rum.“ Ein Augenzwinkern und schon ist er wieder weg.

Wie ich feststellen muss, hat Tsuzuki sich auch schon aufgemacht, um seine heutige Wahl zu beschwatzen, und so alleine auf einem Hocker vor mich hinzuschimmeln, ist sowieso nicht mein Ding, also folge ich Kyos Ratschlag. Was kann sie schon machen, außer freundlich lächeln abzuwinken.

Sie bemerkt mich erst, als ich nahe bei ihr stehe und sie freundlich anlächle.

„Hallo Sakuya“, strahlt sie mir entgegen.

„Hallo Sanae! Tanzen wir?“

Ein kleiner Rotschimmer, der sie noch um einiges schöner macht und ihre Freundinnen, geben ihr daraufhin einen kleinen Schubs in meine Richtung.

„Ja, gerne!“

Ich führe Sanae zur Tanzfläche, ihre schmale Hand in meiner Eigenen. Ein kleines freies Plätzchen gefunden, und schon ändert sich die Musikrichtung, ein langsamer verträumter Song schwebt durch den Raum, Zufall oder Schicksal?

Ich bin ein guter Tänzer, was ich wohl auch meiner Mom zu verdanken habe, obwohl man bei solchen Liedern eigentlich kein besonderes Talent benötigt. Sanae weiterhin anlächelnd, ziehe ich sie leicht an mich, lege meine Hände auf ihren Rücken und führe uns über die Tanzfläche. Am Anfang scheint es ihr, besser gesagt, scheine ich ihr ein wenig fremd zu sein, doch nach einiger Zeit legt sie ihren Kopf gegen meine Brust. Sie ist einen Kopf kleiner als ich, lässt mich den angenehmen Duft ihres Shampoos wahrnehmen. Ich spüre ihren warmen Atem, der durch mein dünnes Shirt stößt, fühle ihre Hände, auf meinen Rücken ruhen.

Meine Finger malen kleine Kreise, bringe sie damit zum Lachen. Eng aneinandergedrückt, genieße ich ihre Nähe für den Augenblick sehr.

Kurz bevor der Song endet, flüstert mir Sanae ins Ohr, dass sie mal zur Toilette müsse. Ich lächele ihr zu, und gebe ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn. Keine Ahnung warum ich das tue, aber ich finde es einfach passend in diesem Moment. Vielleicht lasse ich mich aber auch viel zu viel von Kyo und den anderen beeinflussen? Sie lächelt verlegen und verschwindet in die angegebene Richtung. Ich schaue ihr für einen kurzen Moment nach... ob es ein Fehler wäre, ihr mein Herz zu schenken?

Ich drehe mich um, mit dem Vorhaben die Tanzfläche zu verlassen, und ein zorniges Gesicht erscheint vor meinem, Takahama.

Ich erstarre.

Sein Gesichtsausdruck verrät nichts Gutes, er schaut kurz an mir vorbei. Sucht er Sanae? Wahrscheinlich! Wie viel mag er gesehen haben?

Eigentlich ist es mir egal, was er sieht oder denkt, aber immerhin könnte ich mit meiner kleinen Aktion Sanae in Schwierigkeiten gebracht haben, und das wollte ich ganz bestimmt nicht. Und, wenn man es genau nimmt, hat er allen Grund sauer zu sein, immerhin habe ich sehr intensiv mit seiner Freundin getanzt, und sie sogar geküsst.

Da ich größeren Streit vermeiden möchte, entscheide ich mich dafür, mich bei ihm für mein Verhalten zu entschuldigen, auch wenn mich diese Tat innerlich ankotzt. Ich will also gerade meine kleine Entschuldigung vom Stapel lassen, als sich sein Blick auf komische Weise ändert. Ich möchte dem am liebsten ausweichen, und doch kann ich nichts anderes tun, als ihm in seine Augen zuschauen.

Ich registriere eine Bewegung auf mich zu kommen, eine Falle?

Innerlich bereite ich mich darauf vor, dass er mich schlagen wird. Aber kein Aufprall, kein Schmerz, stattdessen seine Finger, die durch meine Haare streifen.

Ich verstehe nicht, was hier gerade passiert, und warum zum Teufel stehe ich nur wie blöde da und lasse es geschehen?

Er lässt von mir ab und bewegt sich einen kleinen Schritt auf mich zu. Ich versuche auszuweichen, und stelle mit Ehrleichterung fest, dass mein Fuß mir gehorcht und mich einen Schritt nach hinten gehen lässt. Leider bringt mir das nicht den gewünschten Effekt, denn ein Kerl, dem ich wohl in die Hacken getreten bin, versetzt mir einen Schubs und ich bewege mich wieder in die entgegengesetzte, in seine Richtung.

Ich will hier weg, ich fühle mich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Innerlich rechne ich immer noch mit einen gewaltsamen Angriff seitens Takahama, doch er beugt sich nur ein klein wenig zu mir vor, und mit weitaufgerissenen Augen vernehme ich die Worte, die er mir zuflüstert. Danach dreht er sich um und verlässt die Tanzfläche.
 

Auf dem Heimweg fragen mich meine Freunde immer wieder, warum ich so still sei, und ob es mit Sanae nicht geklappt hätte. Ich erwidere nichts darauf, komme nur mit der Ausrede, dass ich mich nicht besonders fühle, aber das Einzige, an das ich im Moment denken kann, sind die Worte die er zu mir gesagt hat:

„Weißt du eigentlich wie schön du bist?“
 

Part 1 - Ende
 

Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de

Part 02

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Kida (by Stiffy)
 

„Erde an Kida... bist du noch unter uns?... KIDA???“

„Was?“, reagiere ich genervt.

„Was ist denn los mit dir?“

„Nichts...“

„Kida, mir kannst du nichts verheimlichen! Ist es wegen Sakuya? Bist du böse?“

Ich seufze, streiche mir durch die Haare. Warum muss sie auch immer sofort merken, wenn etwas mit mir nicht stimmt?

„War es denn schön mit ihm zu tanzen?“, frage ich und merke sofort wie bescheuert das klingt.

„Ja, war es... Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte nicht mit ihm getanzt?“

Ich zucke leicht die Schultern. „Vielleicht...“

Sanae läuft ein Stück vor, dreht sich dabei zu mir um.

„Das kann’s doch nicht sein... Nun sag schon, was passiert ist, so kenne ich dich ja gar nicht!“

„Ich mich leider auch nicht...“ Ich seufze und bleibe stehen, sehe in Sanaes Augen, als sie vor mir ebenfalls zum Halten kommt. „Ich bin irgendwie völlig...“

„...neben der Spur“, beendet sie meinen Satz. „Das merk ich schon... und es scheint, als wollest du nicht darüber reden...“

Ich schüttle den Kopf.

Sie lächelt mich liebevoll an und wirbelt herum, zieht mich an der Hand mit sich. „Du wirst es mir schon noch erzählen, da bin ich mir sicher...“

Ich bin es gar nicht gewohnt, dass sie so schnell aufgibt...
 

Kurz darauf sind wir bei ihr zuhause. Leicht drücke ich sie an mich.

„Bis morgen...“ Damit begebe auch ich mich mit langsamen Schritten nach Hause.
 

Ich sehe alles noch deutlich vor mir. Ich hatte Sakuya und Sanae, engumschlungen auf der Tanzfläche gesehen. Als sie sich dann von ihm löste und er ihr auch noch einen Kuss auf die Stirn drückte, drohte in mir die Wut überzukochen, es störte mich irgendwie, selbst wenn ich immer noch nicht weiß, wieso. Wutentbrannt ging ich auf ihn zu.

Sein Blick war erschrocken und ich wollte ihn anschreien, auch wenn ich jetzt keine Ahnung mehr habe, was ich ihm hätte sagen wollen... doch plötzlich... es ist schwer zu erklären, was genau dann passiert ist... schlicht gesagt, schien es einen Moment so, als hätte ich einfach meine Sprache verloren. Ich schluckte, fühlte einen Kloß im Hals und war einfach unfähig zu allem. Kein Wort der Wut kam über meine Lippen, schlimmer noch, alle Empörung war plötzlich wie weggeblasen, und ich weiß beim besten Willen nicht warum...

Ich konnte ihm nur noch in diese schönen Augen sehen.
 

Ich betrete unsere Wohnung und die Dunkelheit empfängt mich. In meinem Zimmer schalte ich die Nachttischlampe an. Kurz lässt mich die Helligkeit blinzeln. Ich ziehe mich aus und bleibe einen Moment still im Raum stehen. Als ich meinen Blick schweifen lasse, bleibe ich an meinem Spiegelbild in der Fensterscheibe hängen... und doch sehe ich weniger mich selbst, als dass in meinem Kopf immer noch diese Gedanken herumschwirren, die ich nicht einmal wiedergeben könnte, Gedanken an eine ganz gewisse Person. Verwirrt stelle ich fest, dass mir deutlich heißer wird und so drehe ich mich schnell weg, schmeiße mich in mein Bett und schalte das Licht aus.

Doch auch hier finde ich beim besten Willen keine Ruhe, schaffe ich es nicht, an etwas anderes zu denken. Grüne Augen halten mich wach.

Noch nie hatte ich so etwas erlebt, dass es einem einfach so die Sprache verschlägt, wenn man einer anderen Person in die Augen schaut. Warum muss mir denn so etwas ausgerechnet bei einem Jungen passieren?

Ehe ich mich versah, hatte ich ein paar blonde Haarsträhnen zwischen den Fingern. Noch nie waren einfache, blöde Haare so interessant... Ich muss echt verrückt gewesen sein! Sakuyas erschrockener Blick schien mich durchbohren zu wollen, denn natürlich verstand auch er nicht, was ich tat. Er versuchte wohl sich von mir zu entfernen, als er einen Schritt nach hinten tat, doch im nächsten Moment war er mir noch näher. Und spätestens da mussten mich endgültig alle guten Geister verlassen haben...

Auch jetzt kann ich einfach immer noch nicht verstehen, warum ich das zu einem JUNGEN gesagt habe!

Ich drehe mich auf den Rücken, starre vor mich hin in die Dunkelheit.

Verdammt, Schluss damit! Das war nur ein Versehen, alles verdammtes Hormonchaos! Lass mich schlafen!
 

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Sakuya (by littleblaze)
 

Selbst Stunden nach dem Clubbesuch konnte ich mir seine Worte immer noch nicht erklären. Sollte es vielleicht nur eine plumpe Provokation sein? Was zum Teufel brachte jemanden dazu, dem Typen, den man gerade mit seiner Freundin erwischt hatte, so etwas zu sagen? Oder hatte ich ihn vielleicht nur falsch verstanden, war der ganze Lärm um uns herum vielleicht doch ein wenig zu viel gewesen und er hatte etwas ganz anderes gesagt?
 

Die halbe Nacht konnte ich nicht schlafen, weil es mir einfach keine Ruhe ließ, und als ich am darauf folgenden Tag erwachte, hatte ich 39,5 ° C Fieber.

Ich hatte mich am Abend zuvor schon nicht so Topfit gefühlt, aber dass es so ausarten würde, hätte ich nicht gedacht.

Meine Mutter meinte, dass ich mich wohl in der Nacht verkühlt hätte, da wir jungen Kerle ja nichts Besseres zu tun hätten, als halb nackt rum zu rennen.

Wie dem auch sei, hatte ich mir eines der wohl langweiligsten Wochenenden überhaupt eingefangen. Baseball war gestrichen, Schwimmen ebenfalls, das Einzige was mir erlaubt wurde, waren Fernsehen und Playstation.

Darüber hinaus folgten die üblichen Prozeduren. Meine Mutter ging mir unheimlich auf die Nerven, indem sie mich wie ein Kleinkind behandelte, kam tausendmal in mein Zimmer, überzog andauernd mein Bett neu, da die Bettwäsche ja durchgeschwitzt wäre, fragte immer wieder, ob wir etwas zusammen machen wollten und stopfte mich mit irgendwelchen Mittelchen auf Kräuterbasis voll.

Um es einfach auszudrücken, der Horror eines jeden Jugendlichen.
 

~ * ~
 

Sonntagabend, 22.47 Uhr.

Ich grübele abermals, versuche alles einmal ganz neutral zu betrachten und komme immer wieder zu dem Schluss, dass Takahama mich nur ärgern wollte, da ich seine Freundin angemacht hatte. Dass ich mir seine Worte nur eingebildet habe, glaube ich nicht.

Ich gehe ins Bad und wasche mir mein Gesicht... na toll, ein Pickel. Ich tupfe etwas Zahncreme drauf, da man immer wieder hört, dass diese Prozedur helfen soll.

„Weißt du eigentlich wie schön du bist?“

„Scheiße, jetzt ist aber genug. Hör endlich auf darüber nachzudenken!“, schreie ich mein Spiegelbild an.

Hätte er mich nicht einfach ein dreckiges Arschloch nennen, mir ne Szene machen oder mich schlagen können, dann müsste ich jetzt nicht andauernd daran denken.

„Ist alles in Ordnung, Sakuya?“ höre ich die Stimme meiner Mom besorgt durch die Badezimmertür dringen.

„Ähh, ja Mom. Alles Ok.“

Ich gehe zurück in mein Zimmer, lasse mich aufs Bett fallen. Gelangweilt werfe ich einen Ball immer wieder der Zimmerdecke entgegen. Das Fieber ist weg und mir geht es wieder gut, natürlich pünktlich um morgen wieder zur Schule zu gehen, ich hasse Sommerkurse.
 

~ * ~
 

„Steh auf, Sakuya.“

„Was?“

„Ich höre, du bist wieder fit... also hopp hopp, raus aus den Federn.“

„Verpiss dich, Kyo. Geh jemand anderen auf die Nerven.“

„Ok, ich versuche es dann mal bei deiner Mom.“

„Schmarotzer.“
 

Da Kyo und ich nur einen Kurs zusammen besuchen, trennen sich unsere Wege nach der zweiten Stunde. Ich bin spät dran, der Sozialkundekurs fängt gerade an, als ich durch die Klassentür trete. Ich entschuldige mich für mein zu spätes Kommen und überschaue den Raum auf der Suche nach einem freien Platz. Der Kurs ist gut besucht, was auch kein Wunder ist, Sozialkunde ist stufenflächend gehasst. Zu meiner Missgunst muss ich feststellen, dass nur noch zwei Plätze frei sind, und diese sind genau vor und neben... Takahama.

Das kann doch echt nur ein böser Traum sein... ein schlechter Scherz? In den ganzen zwei Jahren sind wir uns vielleicht ein Dutzend Mal über den Weg gelaufen, wenigstens kam es mir so vor, und jetzt zwei Mal in ein paar Tagen. Hatten wir zuvor eigentlich irgendwelche Fächer zusammen?
 

Noch unbemerkt, wähle ich den Platz vor ihm aus. Mit gleichgültigem Blick, der schnell in Verwunderung umzuspringen scheint, sieht er zu mir auf. Ich lasse meinen Rucksack zu Boden gleiten, weiche seinem Blick galant aus, setze mich hin und gebe ihm somit die Sicht auf meinen Hinterkopf preis. Doch das schnell aufkommende, unangenehme Gefühl, zu wissen, dass man beobachtet wird, lässt mich sofort daran zweifeln, dass meine Sitzwahl wirklich so vorteilhaft gewesen ist.

Ich versuche mich abzulenken indem ich ein bisschen auf meinem Heft herumkritzle. Als das nicht funktioniert, versuche ich zum ersten Mal ernsthaft zu begreifen, was der Lehrer uns zu vermitteln versucht... Mann, bin ich tief gesunken.

Ich rede mir ein, dass es nur Einbildung ist, dass er mich beobachtet, immerhin muss er doch nach vorne schauen, und trotzdem versuche ich jede größere Bewegung zu vermeiden.

Die Stunde zieht sich endlos hin, und als das ersehnte Klingeln endlich ertönt, lasse ich mich von meiner schon beinahe steifen Pose locker in den Stuhl fallen.

Ich warte bis Takahama an meinen Platz vorbei gegangen ist, bevor ich meinen Rucksack hoch hieve und mein Heft darin verschwinden lasse, und als ich denke, dass es heute eigentlich gar nicht mehr schlimmer kommen kann, ruft mich Toshiki-sensei zurück und bittet mich noch mal kurz in seinem Büro vorbei zu schauen.
 

~ * ~
 

Wie befohlen mache ich mich auf den Weg ins Lehrerzimmer, dass Kyo jetzt vor dem Schultor auf mich warten muss, passt mir gar nicht. Ich melde mich bei der Sekretärin an und lehne mich gegen die Wand. Was mag er wohl von mir wollen?

Ein kurzes Schwindelgefühl überkommt mich und erst jetzt registriere ich, dass meine Temperatur wohl wieder gestiegen ist. Von einer Sekunde auf die andere fühle ich mich schlecht, komisch wie eine plötzliche Erkenntnis das ganze System zusammenbrechen lässt. Ich schließe meine Augen für einen Moment, und das Schwindelgefühl löst sich in Luft auf.

Die Tür zum Büro öffnet sich, und... ER tritt heraus. Was auch sonst, was ist heute denn bloß los?

Die Sekretärin bittet mich hinein zu gehen, ich stoße mich von der Wand ab. Doch weit komme ich nicht...
 

Als ich meine Augen wieder öffne, finde ich mich gegen seinen Körper gelehnt wieder, er hält mich fest und schaut mich an. Mein erster Reflex schreit “Weg hier“ und genauso versuche ich auch zu reagieren, aber mein Körper scheint noch nicht bereit für diese Handlung zu sein. Toshiki und die Sekretärin schauen ebenfalls besorgt.

„Ryan, geht es ihnen nicht gut? Was ist los?“

Ich schließe noch einmal die Augen, immer noch von ihm gestützt. Weitere Fragen erklingen, doch ich versuche mich nur auf mich selbst zu konzentrieren und so schaffe ich es schon bald mein Gleichgewichtsgefühl wieder zu finden.

Ich drücke mich gegen den Körper, der mich bis jetzt gehalten hat.

„Es... es geht schon wieder.“

„Sind sie sicher? Sollen wir vielleicht doch besser die Schwester holen?“

Den letzten bestehenden Körperkontakt breche ich damit ab, dass ich meine Hand von seinen Arm nehme. Ist es das Fieber oder etwas anderes, was diese aufkommende Hitze in mir hervor ruft?

Vielleicht spielen mir meine Sinne einen Streich, doch fühlt es sich wie ein eisiger Luftzug an, als er sich wegdreht und in Richtung Tür davon geht. Ich schaffe es nicht, mich ebenfalls um zudrehen, was nichts mit meinem gesundheitlichen Zustand zu tun hat, aber ich schaffe es laut genug zu sprechen, so dass er mich versteht:

„Danke... Takahama.“

„Keine Ursache“, antwortet er knapp, und verschwindet.
 

Ich folge Toshiki in sein Büro, wo er mir einen Stuhl und ein Glas Wasser anbietet und sich nochmals nach meinem Befinden erkundigt. Ich versichere ihm, dass alles in Ordnung sei, und frage, warum er mich zu sich gebeteten hat.

Er erzählt mir von Takahamas Englischproblemen, und das ihm nur die Nachholprüfung nach den Ferien noch helfen könnte, da durch zu kommen. Er bräuchte dringend jemanden, der ihn auf die Prüfung vorbereitet und Toshiki bittet mich, ihm diese Hilfestellung zu geben.

Ich zögere kurz, sage dann aber zu.

Wenn nicht gerade dieser Vorfall gewesen wäre, hätte ich garantiert abgelehnt, doch jetzt habe ich das Gefühl, Takahama etwas schuldig zu sein und ich bin nicht gerne der Typ, der jemanden etwas schuldig bleibt.
 

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Kida (by Stiffy)
 

Ich starre auf die vielen dämlichen Buchstaben, die zusammen Wörter oder gar ganze Sätze ergeben sollen, kann mich aber beim besten Willen auf keinen Einzigen davon konzentrieren, geschweige denn, das Geschriebene auch noch verstehen!

Ich bin todmüde... hatte ich doch das gesamte Wochenende über kaum geschlafen.

Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen und ich gähne einmal ausgiebig. Wenn nicht gleich irgendwas passiert, schlafe ich echt noch ein! Kann der dämliche Lehrer nicht wenigstens irgendwas Interessantes sagen?

Meine Gedanken schweifen zu Freitag ab...
 

Nachdem es meiner Schwester erst mit Mühe gelungen war, mich dazu zu bewegen, mich mit ihr zu beschäftigen, war ich ihr danach ziemlich dankbar. Bestimmt drei Stunden lang spielte ich mit ihr jeglichen Kram, den sie sich wünschte, und schaffte es dabei tatsächlich, von meinen Gedanken loszukommen.
 

Mittags war ich mit Sanae verabredet. Hier nun allerdings konnte ich dem vorherigen Tag nicht entkommen. Es war nicht wirklich, dass sie mich drängte, etwas zu sagen, aber nachdem es kaum übersehbar war, dass ich mich mit meinen Gedanken an einem vollkommen anderen Ort befand, war ich ihr wohl langsam eine Erklärung schuldig.

Vollkommen sprachlos starrte sie mich an, als ich ihr von dem Vorfall erzählte. Ich weiß nicht wirklich mit was für einer Reaktion ich gerechnet hatte. Vielleicht, dass sie mir sagte, ich solle das alles nicht so eng sehen...

„Das ist doch ein Scherz, oder?“, fragte sie und versuchte ein Grinsen.

„Ich wünschte, es wäre einer...“

Ich sah sie an, sah ihre Mimik sich verändern, von überrascht ganz langsam zu belustigt. Diese Reaktion passt zu ihr.

„Das heißt mein bester Freund hat mir verheimlicht, schwul zu sein... ja ja, welch Vertrauen...“

Ihr gespielt schmollendes Gesicht brachte mich zum Lachen, auch wenn mir nicht danach war. Schwul... Schon dieses Wort... Und das war sowieso vollkommener Unsinn.

Mit einem Satz landete ich vom Schreibtischstuhl genau über ihr auf dem Bett und drückte sie in die Kissen. Ich beugte mich so weit zu ihr herunter, dass sich unsere Nasenspitzen berührten.

„Ich kann dir ja beweisen, dass ich's nicht bin?“, grinste ich und Sanae lachte leise.

„Habt erbarmen mit einem armen Mädchen!“, rief sie, schlang dann aber im nächsten Moment ihre Arme um mich. „Ist schon gut... ich glaub dir ja.“

„Gut so...“ Ich drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Vielleicht um mir selbst etwas zu beweisen.

„Ich hab dir doch gesagt, dass ich dir glaube...“ Sie lachte. „Nun aber mal im Ernst... seit wann schmeichelst du einem Jungen?“

Ich konnte ihr keine Antwort darauf geben und fand auch das ganze Wochenende über keine.
 

~ * ~
 

Es klingelt zur Pause. Diese verbringe ich mit Sanae bis es schließlich auf den Weg zum nächsten Kurs geht. Sozialkunde... Wie ich es hasse!

Ich sitze als einer der Ersten im Raum, doch die Plätze füllen sich schnell. Hauptsächlich Jungen sind verdonnert, hier zu sein, was vielleicht auch der Grund dafür ist, dass der Platz neben mir frei bleibt. Heute stört es mich nicht wirklich.

Toshiki-sensei kommt pünktlich und noch bevor der Unterricht beginnt, sagt er mir, ich solle nachher in sein Büro kommen... Ich weiß schon, worum es geht... Wieder diese verdammte Englischprüfung...

Wir werden angewiesen unsere Bücher aufzuschlagen, und neben diesem nehme ich auch meinen Diskman aus der Tasche, stecke mir die Stöpsel in die Ohren. Während ich versuche mich auf die Musik zu konzentrieren, starre ich auf die aufgeschlagene Buchseite und frage mich, wie ich diese langweilige Stunde bloß überstehen soll. Plötzlich nehme ich eine Bewegung vor mir wahr.

Als ich aufschaue erkenne ich den Menschen, der mir die letzten Nächte den Schlaf geraubt hat. Er allerdings würdigt mich keines Blickes und lässt sich auf den freien Platz vor mir nieder. Er ist auch hier? Die letzten paar Male war es mir gar nicht aufgefallen...

Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und blicke geradeaus. Das ganze Wochenende hindurch hatte mich sein Anblick verfolgt, hatte sich regelrecht in meinen Verstand gefressen, und auch jetzt ist er der Grund, warum ich dieser Sozialkundestunde wohl keinen müden Gedanken mehr widmen werde. Nicht einmal meine Musik nehme ich mehr wahr.

Aber warum? Was an ihm bringt mich dazu, plötzlich nur noch an ihn zu denken? Was genau ist es, das meine Gedanken fesselt?

Ob er sich noch daran erinnert, was am Donnerstag geschehen ist? Sicher tut er das, schließlich ist es ja nichts alltägliches, weder für ihn, noch für mich...

In mir kommt das Verlangen auf, mit ihm sprechen zu wollen... Vielleicht um zu merken, ob er irgendwie komisch mit mir umgehen würde, oder ganz normal... mich so wie fast alle Jungen behandeln würde... Und vielleicht auch um zu verstehen, was mit mir selbst los ist. Wenn ich einfach nur ein paar normale Worte mit ihm wechseln könnte, würde mir sicher klar, dass er mir genauso egal ist, wie alle anderen Jungen... Und dann ist die ganze Sache in ein paar Tagen schon wieder vergessen...
 

~ * ~
 

Nach der Stunde, in der ich eigentlich die meiste Zeit wirklich nur Sakuya beobachtet habe, mache ich mich auf dem Weg zum Lehrerzimmer.

Toshiki-sensei bittet mich sofort herein und es folgt ein langweiliges Gespräch zwischen Lehrer und Schüler, das, wie erwartet, mein Englischproblem zur Grundlage hat. Er bietet mir an, mir einen Nachhilfelehrer zu besorgen, damit es mir leichter fällt, den benötigten Stoff aufzuarbeiten. An sich ist es schon eine gute Idee, allerdings habe ich überhaupt keine Lust auf irgendeinen Typen, der mir was beibringen soll... Dennoch stimme ich den gut gemeinten Vorschlag zu.

Als ich aus dem Büro heraustrete, fällt mein Blick auf eine Person, die wartend an der Wand lehnt. Sakuya. Auch er wirkt nicht minder überrascht, mich hier zu sehen. Ich spüre mein Herz plötzlich ganz deutlich.

Sein Aufruf erfolgt sogleich und er stößt sich von der Wand ab. Eigentlich will ich schnell an ihm vorbei gehen, als ich sehe, wie unsicher seine Schritte sind... Und schon in der nächsten Sekunde geben seine Beine nach.

Ich halte ihn in den Armen noch ehe ich es wirklich realisiere. Sein Körper lehnt kraftlos an meinem und ich kann ihn nur erschrocken anstarren. Was ist gerade passiert?

Doch da bewegt er sich auch schon wieder. Er hebt den Kopf und sieht mich an. Sein Gesicht ist erschreckend blass.

„Ryan, geht es ihnen nicht gut? Was ist los?“

Toshiki-Sensei und die Sekretärin sind neben uns, stellen die Fragen, die ich nicht über die Lippen bekomme.

Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt, Sakuya...

Seine Augen schließen sich wieder und dann versucht er sich richtig hin zu stellen.

„Es... es geht schon wieder.“, meint er, während seine Hand noch fest meinen Arm hält.

Ich versuche ihm in die Augen zu sehen, doch er wirkt noch immer irgendwie abwesend.... Und dann lässt er meinen Arm los, als Zeichen dafür, dass ich nun nicht mehr gebraucht werde...

Sofort setzte ich mich in Bewegung. Mir ist unglaublich heiß und ich will eigentlich einfach nur noch hier weg. Natürlich hält mich niemand auf, doch als ich die Tür erreicht habe, vernehme ich doch ein paar zögernde Worte.

„Danke... Takahama.“

„Keine Ursache“

Ich verlasse das Lehrerzimmer und lasse mich im Flur gegen die Wand fallen. Das Lächeln, das ich gerade aufhabe, muss echt dämlich wirken... Denn um ehrlich zu sein, habe ich mich noch nie so darüber gefreut, von jemandem beim Namen genannt zu werden...
 

Schnell mache ich mich auf den Weg nach Hause. Kurz nur habe ich überlegt, auf Sakuya zu warten, um ihn zu fragen, wie es ihm geht, doch eigentlich wäre das wohl eine ziemlich blöde Tat gewesen... Ich habe ja eigentlich überhaupt nichts mit ihm zu tun...

Zuhause angekommen, versuche ich mich auf die Aufgaben zu konzentrieren, die uns die Lehrer aufgegeben haben, doch es klappt nicht wirklich.

In mir reift die Frage, warum es so ein tolles Gefühl war, als er in meinen Armen lag...
 

~ * ~
 

Die nächste Sozialkundestunde ist schon am nächsten Tag... Sakuya sitzt bereits im Raum, als ich diesen betrete, und unterhält sich mit seinem Nachbarn. Leider sind diesmal nur noch ein paar Plätze in den hinteren Reihen frei.

Er hat mich nicht bemerkt, und vielleicht ist es gerade das, was mich nicht so einfach an ihm vorbeigehen lässt... Irgendwie will ich, dass er mich bemerkt.

„Hi...“, sage ich, und es wundert mich selbst, wie ruhig ich klinge.

Sakuya sieht auf und sein überraschter Blick trifft meinen. Ich grinse und hoffe, dass ich nicht rot werde... frage mich gleichzeitig, was ich hier eigentlich tue.

Und dann sage ich Worte, die ich schon bereue, als sie noch nicht ganz meinen Mund verlassen haben...

„Sag mir einfach bescheid... Ich fang dich gern wieder auf...“

Ein Rotschimmer legt sich über seine Wangen, als ich meinen Blick abwende und an ihm vorbei zu einem Platz in die vorletzten Reihe gehe.

Alles in mir kribbelt und es ist ein unglaublich komisches Gefühl... Doch noch viel stärker ist das Gefühl, mich nun selbst nicht mehr zu verstehen...
 

Part 02 - Ende
 

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Part 03

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Sakuya (by littleblaze)
 

Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich noch einmal bei Takahama für seine gestrige Hilfe zu bedanken und ihm zu versichern, dass er sich in Punkto Sanae keine Sorgen zu machen braucht.

Abgesehen davon, hatte ich gehofft, dass ich vielleicht noch einmal auf seine Worte zu sprechen kommen könnte, er mir sagen würde, dass es nur ein blöder Scherz war und ich die Sache endlich aus meinem Kopf kriege, aber nach der Nummer, die er gerade abgezogen hat, sind meine Vorsetze natürlich pasé.

Schon alleine diese hochnäsige Art... dieses Grinsen und lässt dazu noch so einen blöden Spruch ab, was hat er sich erhofft damit zu erreichen? Wollte er mich vor Tsuzuki bloß stellen?

Dieser biss natürlich auch sofort an und fragte mich, was ich denn mit DEM zu tun hätte. Takahama war nicht gerade beliebt bei den männlichen Schülern, viele hassten ihn sogar richtig. Was Tsuzuki persönlich gegen ihn hatte, wusste ich allerdings nicht.

„Es ist nicht gut für dich, wenn du dich mit diesem Arsch abgibst“, erklärt er mir. „Das gibt nur Probleme, glaub mir. Lass da lieber die Finger von.“

Ich schweige, sage nichts dazu.

Die ganzen zwei Stunden hindurch folgen weitere Ratschläge und Warnungen, und ich versichere Tsuzuki einige Male, keinerlei freundschaftliche Beziehung zu Takahama zu haben, was ihn jedes Mal erleichtert aufatmen lässt.

„Aber, meine Freunde suche ich mir immer noch selbst aus, auch wenn es dir und der gesamten Schule nicht passen sollte“, füge ich hinzu.

„Natürlich, so war das auch gar nicht gemeint“, stottert er.

„Reden wir nicht mehr davon.“
 

~ * ~
 

Nach dem Sozialkundekurs statte ich dem Baseballfeld meinen üblichen Besuch ab, einfach ein wenig abhängen, auch wenn alle anderen noch in ihren Kursen stecken. Die regulären Sportclubs finden in den Sommerferien nicht statt.

Zwei Mädchen joggen auf dem Nachbarfeld, der Hausmeister, der dem Fußballfeld einen neuen Schnitt verleiht und... NEIN!

Ich lasse meinen Schläger zu Boden gleiten und gehe mit schnellen Schritten auf die Zuschauertribüne zu. Lässig nach hinten gelehnt verfolgt der dort Sitzende meine Bewegungen und schaut mir direkt in die Augen, als ich näher komme. Mein Blick zornig und genervt, schaut er eher ruhig und zufrieden drein.

„Verfolgst du mich etwa?“, brülle ich ihn schon beinahe an.

„Nein, eigentlich nicht, ich war schon vor dir hier. Aber wenn du es dir wünscht, lässt es sich bestimmt einrichten“, antwortet er ruhig, mit einem Lächeln auf den Lippen, was mich zur Weißglut bringt. Gibt es irgendwo ein Nachschlagewerk für blöde Sprüche?

„Was sollte eigentlich der Scheiß im Klassenzimmer? Hast du niemand anderen dem du auf die Nerven gehen kannst?“

„Ehrlich gesagt... nein.“

„Hör zu, ich bin dir wirklich dankbar für deine Hilfe gestern und die Sache mit Sanae im Club war auch nicht gerade in Ordnung von mir, aber ich habe keinen Bock darauf, dass du jetzt zu meinem Schatten wirst und mich bei jeder Gelegenheit versuchst bloß zu stellen. Da habe ich echt null Bock drauf!“

Nachdem ich meinen Spruch vom Stapel gelassen habe, setzt er sogleich wieder dieses blöde Grinsen auf.

„Es war wirklich nicht meine Absicht... dich bloß zu stellen, meine ich.“

Hätte er nur nicht so blöde dabei gegrinst.

„Und glaub ja nicht, dass mir das mit der Nachhilfe Spaß macht. Ich mache das nur, weil mich Toshik...“

„Nachhilfe?“, unterbricht er mich.

„Ja, die Nachhilfe“, antworte ich karg. Er scheint immer noch nicht zu verstehen. „Deine Englischnachhilfe... für die Prüfung.“

Langsam scheint es ihm zu dämmern.

„Du machst Witze? Das... das ist ja geil. Damit hätte ich ja niemals gerechnet“, sprudelt es aus ihm heraus und diese überschwängliche Freude bringt mich vollkommen aus dem Konzept.

Was wollte ich sagen? Ach ja...

„Hey, hör mir zu, ich war noch nicht fertig.“ Ich beuge mich zu ihm herunter, stütze mich an am Geländer ab und schaue ihm direkt in die Augen. „Ich habe keine Lust mehr auf deine blöden Sprüche und schon gar nicht auf eine gute-Freund-Nummer mit dir. Lass mich einfach in Ruhe und wir können beide in Frieden weiterleben. Ich hoffe du hast das jetzt verstanden“, betone ich den letzten Satz ein wenig deutlicher. Sein Grinsen verschwindet.

Ich erwarte keine Antwort von ihm, dass sein nervendes Grinsen verschwunden ist, bringt mir schon genug Befriedigung. Ich stoße mich vom Geländer ab, möchte diesen kurzen Moment des Zögerns seinerseits dafür nutzen, meinen Abgang perfekt zu machen.

„Scheiße!“

Ein kurzer, stechender Schmerz und eh ich meine Hand zurück ziehen kann, hält er sie fest. Er hat einfach nach ihr gegriffen, so als wäre es das normalste der Welt, so als hätte er ein Recht, sie zu halten.

„Ist nur ein kleiner Schnitt, wird schon wieder“, flüstert er schon beinahe zärtlich.

Ich versuche meine Hand wütend aus seiner zu ziehen, aber er hält sie immer noch fest umschlungen.

„Jetzt halt schon still“, mahnt er mich.

Es tut nicht wirklich weh, es ist nur ein sanfter Druck, selbst den eigentlichen Schmerz spüre ich kaum noch.

Sein Blick ist leicht gesenkt, er nähert sich meinem Finger und dann sehe ich ihm dabei zu, wie er etwas tut, das meine Mom immer getan hat, wenn ich mich geschnitten hatte...

„Siehst du, alles wieder gut.“ Er deutet auf meinen Finger.

Ich weiß nicht, ob es Wut oder Hilflosigkeit gegenüber der Situation ist, die mich dazu veranlasst, ihn zu schlagen...
 

Ich schaue ihn nicht noch einmal an, drehe mich einfach um ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, hebe meinen Schläger mit der schmerzenden Hand auf und verlasse das Spielfeld. Für heute habe ich genug Zeit auf dem Feld verbracht, ich will nur nach Hause, ich fühle mich, als würde ich jeden Moment umkippen... mein Herz klopft wie wild.
 

~ * ~
 

Zu Hause angekommen gehe ich sofort ins Bad, versorge die kleine Wunde am Finger und kühle die schmerzende Hand. Sofort beschenkt mich mein Gedächtnis mit einer kleinen Erinnerungsszene des gerade Geschehenden. Ich schüttle heftig mit dem Kopf als ob ich mich so davon befreien könnte. Natürlich klappt dies nicht.

Wie konnte er so etwas nur...

Erschrocken vernehme ich ein Geräusch im Haus. Wer kann das sein? Mom und Dad kommen erst in Stunden wieder.

Ich schnappe mir meinen Baseballschläger den ich gegen die Wand gelehnt habe und schleiche mich in die Richtung, aus der ich das Geräusch vernehme.

Lautlos gehe ich Meter um Meter, schaue vorsichtig um jede Ecke, bevor ich sie umgehe.

Wieder das Geräusch, es kommt aus Dads Arbeitszimmer, ein Einbrecher?

Ich schleiche auf die angelehnte Tür zu und schaue durch einen kleinen Spalt. Im Inneren sehe ich meinen Dad, wie er in seinem Schreibtisch rumwühlt, erleichtert atme ich auf.

„Dad, was machst du den schon daheim?“, frage ich nach.

„Ich habe ein paar wichtige Akten vergessen und musste noch einmal zurück“, antworte er zerknirscht.

Ich schaue mich in dem Zimmer um, neben mir auf dem Schrank liegt ein Aktenordner.

„Sind diese Akten zufällig in einem roten Ordner und tragen einen gelben Erinnerungszettel mit dem Vermerk ‚Wichtig, nicht vergessen’?“

Ich ernte einen erleichterten Blick als ich die Akten vom Schrank nehme und sie hoch halte.

„Danke Junge, was sollte ich bloß ohne dich machen. Aber was hast du denn mit deiner Hand gemacht?“

„Ah, das ist nichts. Baseball, kennst mich doch.“

Ich lächle verlegen, lasse meine Hand hinterm Rücken verschwinden.

„Na ja, übertreibs nicht. Ach, und sag deiner Mutter, dass es heute später werden könnte.“

„Mach ich.“

Auf dem Weg zur Haustür stoppt er noch einmal.

„Ach, da fällt mir noch etwas ein“, meint er freudestrahlend. Sein Gesicht sieht plötzlich so aufgeregt aus, als ob er wieder den Santa Claus spiele und ich wieder 4 Jahre alt sei.

„Wie würde es dir gefallen, bald mal wieder nach Boston zu kommen?“

Diese Nachricht ist um vieles besser, als der blöde Santa.

„Ist... ist das dein Ernst?“, frage ich ihn, aus Angst, er könnte nur einen Scherz gemacht haben. Bitte lieber Gott, lass es kein Traum sein, flehe ich innerlich.

„Natürlich ist das mein Ernst Sakuya. Glaubst du wirklich, ich würde dich damit veräppeln? Ich weiß doch genau, wie gerne du wieder zurück möchtest, und da ich geschäftlich für zwei Wochen runterfliege, dachte ich mir, dass du gerne mitkommen würdest... oder etwa doch nicht?“ Ich falle meinem Dad um den Hals, und die Akten fallen auf den Boden.

„Ja, ja, ja, ja, ich will, will, will.“

„Hey hey, aber nur für zwei Wochen Sakuya, dass wir uns da richtig verstehen.“

Ich lasse von ihm ab, hebe schnell die Akten auf und reiche sie ihm.

„Natürlich... nur für zwei Wochen, Dad. Danke.“
 

Natürlich wäre es viel schöner, für immer da zu bleiben, aber ich hatte mir niemals träumen lassen, vor meiner Volljährigkeit noch einmal zurück zu kommen.

Jubelschreiend renne ich durch das ganze Haus, nachdem mein Dad aus der Tür ist.

Ich gehe zurück, endlich wieder amerikanischen Boden unter meinen Füssen, endlich wieder richtige Hot Dogs, ins Fenway gehen und ein Spiel der Red Sox ansehen und Kevin wieder sehen...
 

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Kida (by Stiffy)
 

Ich lasse mich auf der Zuschauertribüne des Baseballfeldes nieder... Sanae hat noch einen weiteren Block und ich habe ihr versprochen, auf sie zu warten...

Mit geschlossenen Augen lehne ich mich nach hinten und muss an die vergangene Stunde denken.

„Sag mir einfach bescheid... Ich fang dich gern wieder auf...“

Wie konnte ich nur so etwas zu ihm sagen? Ich fühle mich schon peinlich berührt, wenn ich nur darüber nachdenke. Es ist doch beim besten Willen nicht normal, so etwas zu einem Jungen zu sagen, egal wie ich es drehe und wende... Selbst als Scherz geht das nicht mehr wirklich durch. Aber was habe ich mir auch dabei gedacht?

Mit mir selbst unzufrieden öffne ich seufzend die Augen. Du spinnst, Kida Takahama...

Ich sehe mich um. Fast keine Menschenseele ist zu sehen, nur hier und da, aber nichts im Vergleich dazu, wie es hier schon bald wieder zugehen wird... Dann wenn die Ferien vorbei sind und die Clubs wieder stattfinden...

Als ich zum Schulgebäude blicke, entdecke ich Sakuya...

Sofort huscht ein Lächeln über meine Lippen... und ein kleines spannendes Gefühl durchzieht meine Magengegend...

Als er mich bemerkt, verändert sich sein Blick sofort. Wütende Worte, als er bei mir angekommen ist... Natürlich besonders wegen der Situation im Klassenzimmer.... Oh bitte, hör auf davon zu reden... Ich will gar nicht daran denken oder weiter nach einem Grund suchen.

Doch schon findet sich ein neuer Punkt, über den ich mir Gedanken machen kann. Wieso um Himmels Willen freut es mich so sehr, als ich höre, dass er es ist, der mir Nachhilfe geben wird? Wieso habe ich das Gefühl, mir könne heute nichts besseres mehr passieren?

„Du machst Witze? Das... das ist ja geil. Damit hätte ich ja niemals gerechnet“, kann ich meine Freude nicht für mich behalten... eine Reaktion, mit der er wohl nicht gerechnet hat.

„Hey, hör mir zu, ich war noch nicht fertig.“ Er kommt mir näher indem er sich vorbeugt und auf dem Geländer abstützt. „Ich habe keine Lust mehr auf deine blöden Sprüche und schon gar nicht auf eine gute-Freund-Nummer mit dir. Lass mich einfach in Ruhe und wir können beide in Frieden weiterleben. Ich hoffe du hast das jetzt verstanden“

Mein Herz schlägt ganz schnell, vielleicht weil er mir so nah ist... vielleicht auch wegen seiner harten Worte. Es ist schade, fast tut es weh, auch wenn mir solche Dinge eigentlich sonst nie etwas ausgemacht haben...

Du willst also auch nichts mit mir zu tun haben?

Ich kann nichts darauf erwidern.

Er will weg, stößt sich ab... und verletzt sich.

Ehe ich mich versehe, halte ich seine Hand in meiner. Es war purer Reflex.

„Ist nur ein kleiner Schnitt, wird schon wieder.“

Gegenwehr, er will sich befreien, doch ich lasse ihn nicht gehen.

„Jetzt halt schon still“

Ich ziehe seine Hand noch etwas näher an mich heran und schließe meine Lippen um seinen Finger.

Genau in diesem Moment, als ich sein Blut schmecke, beginne ich das Ganze erst wirklich zu realisiere... leider viel zu spät, um diese Katastrophe noch abzuwenden.

Unruhe kommt in mir auf. Was mache ich hier? Wieso mache ich das? Das ist doch nicht normal!

Es kostet alle Kraft, um Ruhe zu bewahren, ihn ohne Hektik wieder freizulassen.

„Siehst du, alles wieder gut.“

Im nächsten Moment spüre ich einen festen Schlag mitten ins Gesicht. Er dreht sich um und geht.
 

Scheiße!

Ich lasse mich zurück sinken.

Ach du verdammte Scheiße!

Was war das? Was habe ich getan?

Wieso schaffe ich es nicht, ihn genauso links liegen zu lassen wie alle andren Kerle?

Warum mache ich mich bei ihm auch wirklich jedes Mal zum Idioten?

Wieso scheint er mir nicht einfach egal zu sein?
 

~ * ~
 

Sanae ist nicht minder erschrocken, als sie einige Minuten später zu mir kommt.

„Was hast du denn gemacht?!“, fragt sie schockiert.

„Was meinst du?“

„Na das!“ Sie deutet auf meine Lippe.

Vorsichtig taste ich danach.

„Sag bloß, du hast das nicht gemerkt?!“ Vollkommen verwirrt schaut sie mich an, beginnt in ihrem Rucksack zu kramen.

„Nicht wirklich...“

Der Rucksack fällt zu Boden und sie setzt sich neben mich.

„Zeig mal...“ Ein vorsichtiges Tupfen... mit einem Mal brennt es höllisch. Warum habe ich das vorher nicht bemerkt?

„Das muss unbedingt desinfiziert werden!“ Schon zieht sie mich von der Tribünenbank hoch und mit sich. „Nun sag schon, was ist passiert!“

In meinem Kopf spiele ich die Situation jetzt schon zum x-ten mal durch, verstehe mein eigenes Handeln immer noch nicht... seines hingegen umso besser.

„Sakuya hat mich geschlagen...“, sage ich kleinlaut.

„Wie bitte?“ Ihre laute, erschrockene Stimme.

„Er hatte allen Grund dazu...“

Ich erzähle ihr von der Situation... beginnend mit dem Vorfall im Lehrerzimmer, dem im Klassenraum... und schließlich der Schlag vorhin.

Ich kann förmlich spüren wie ihr Blick an Ungläubigkeit immer mehr dazu gewinnt, mit jedem einzelnen Wort.

„Du hast was getan?!“ Ich sehe sie an und die Verblüffung ist ihr ins Gesicht geschrieben.

„Ihm am Finger gelutscht...“ Ich lache kurz auf, aber mehr wegen der Abstrusität der Situation... Ich komme mir vor wie ein Idiot.

„Wieso machst du so was... ich meine... das...“

„Es ist nicht normal... das weiß ich...“ Ich bleibe stehen vor ihrem Häuserblock und starre hinauf zu dem Fenster... dem mit der blauen Gardine. „Ich habe keine Ahnung, Sanae... Irgendwas Komisches geht in mir vor...“

„Ich habe da so meine Vermutungen...“
 

„Du magst ihn!“, sagt sie, als sie mich kurzerhand mit hochgeschleift und provisorisch meine Wunde versorgt hat.

Mögen... was meint sie mit mögen? Dass... ich...

„Quatsch!“

„Kein quatsch...“

„Natürlich! Mensch Sanae, das ist ein Kerl!“, ereifere ich mich, fühle mich in eine Ecke gedrängt.

„Ach komm, so unnormal ist das nun auch wieder nicht!“ Sanae legt den Kopf schief und sieht mich skeptisch an. „Warum sonst benimmst du dich so... so...“

„...bekloppt? krank? Irrational?“

„So anders...“ Sie lächelt. „Kida, so kenne ich dich nicht...“

„Glaub mir, ich hab damit auch noch so meine Schwierigkeiten...“ Ich sinke zurück in die Kissen, starre gen Decke. „Aber das kann mit mögen doch nichts zu tun haben...“
 

~ * ~
 

Ihn mögen... als ich abends allein in meinem Bett liege, lassen mich ihre Worte noch immer nicht los...

Aber wenn es tatsächlich so wäre und ich ihn tatsächlich, mal rein hypothetisch... wenn ich ihn wirklich auf diese Weise mögen würde... das würde doch bedeuten, dass ich...

Ich schüttle den Kopf, schalte das Licht aus und versuche an irgendwas anderes zu denken...

Es gelingt mir nicht... auch noch mehr als eine Stunde später liege ich mit genau den selben Gedanken wach...

...Warum sonst suche ich in der Schule alles mit den Augen nach ihm ab, wieso sonst zieht er mich in seinen Bann, wenn er vor mir steht.... wieso sonst habe ich das Verlangen, ihn zu berühren...

Aber das kann es doch nicht sein... nie zuvor ist mir so etwas passiert... immer waren es Mädchen, die mir gefallen haben... das kommt doch nicht von einen Tag auf den anderen... man kann doch nicht ganz plötzlich auf Männer stehen...

Schwul sein... Männer lieben und mit ihnen schlafen wollen... reizt mich das wirklich?

Ich weiß es nicht.. ich weiß es wirklich nicht... ich weiß nur, dass Sakuya mehr ist... dass ich anders bin, wenn ich in seiner Nähe bin... Ich verhalte mich komisch, versuche irgendeinen Schein zu wahren... doch wieso? Was will ich ihm zeigen? Oder was will ich ihm nicht zeigen?
 

~ * ~
 

In den nächsten Tagen sehe ich Sakuya ungewöhnlich oft – oder lege ich es innerlich drauf an? Er hingegen macht einen deutlichen Bogen um mich... es enttäuscht mich ein wenig.

Und außerdem muss ich mich langsam mal um die Sache mit der Nachhilfe kümmern...
 

Am Freitag wird es mir dann einfach zu blöd. Als ich durch Zufall herausbekomme, dass er einen Matheblock hat, beschließe ich, dort auf ihn zu warten...

Wie erwartet wirkt er weniger glücklich darüber, mich zu sehen... wendet seinen Blick sofort ab und will an mir vorbei ins Klassenzimmer gehen.

„Ryan...?“, spreche ich, was ihn nur einen Moment stocken lässt, aber nicht aufhält.

Kurzentschlossen greife ich nach seinem Handgelenk und ziehe ihn zurück. Sofort befreit er sich von meinem Griff.

Ich fühle mich beobachtet... aber es ist mir egal, was sie denken mögen.

„Wegen der Nachhilfe... ich denke, wir sollten mal langsam damit anfangen.“

Er sieht mich an... irgendwie so, als würde er überlegen, wie er mich loswerden kann. Asumo stößt ihn an, macht mit einem Blick unmissverständlich klar, was er von meinem Auftauchen hier hält und geht dann weiter.

„Heute, 3 Uhr, bei mir.“

Damit geht er ebenfalls an mir vorbei ins Klassenzimmer, als mir einfällt, dass da noch etwas fehlt...

„Hey, und wo wohnst du?“

„Du bist doch so ein cleveres Kerlchen, also find es selbst heraus“

Damit ist die Sache erledigt... und schon wieder merke ich, wie nur diese kleine Begegnung mich aufgewühlt hat.
 

Auf dem Weg zum Lehrerzimmer, mit der Hoffnung, dass Toshiki-Sensei noch da ist und mir Sakuyas Adresse geben kann, hält mich ein Mädchen auf. In meinem Kopf beginnt es zu rattert... Ich kenne sie, doch woher?

„Ja? Was gibts?“ Plötzlich habe ich alle Mühe ruhig zu bleiben, so nett wie immer. Ich habe gerade andere Gedanken...

„Willst du... ich meine...“ Sie wirkt nervös, als sie mich ansieht. „Hast du am Samstag... was vor?“

Ich hätte es mir denken können... sie will ein Date...

Innerlich gehe ich durch, wie ich sie am nettesten abblitzen lasse, wenn das überhaupt möglich ist... Ich weiß nicht wieso, aber ich verspüre nicht die geringste Lust, etwas mit ihr zu machen... Und dabei ist sie hübsch...

„Nein, noch nicht...“

„Naja... ich wollte dich fragen, ob du vielleicht...“ Sie schluckt. „Würdest du mit mir... ins Kino gehen?“

Streng genommen ist sie sogar genau mein Typ.........

Also... Wieso eigentlich nicht?

„Klar, wieso nicht...“

„Was?“ Ihre Augen weiten sich und auf ihren Lippen erstrahlt ein Lächeln. „Im ernst?“

„Ja“ Ich versuche ebenfalls ein Lächeln.

Wir verabreden uns für die Abendvorstellung... Strahlend zieht sie von dannen... Nachdenklich blicke ich ihr hinterher.

Es stimmt, eigentlich ist sie tatsächlich mein Typ... wieso freue ich mich also nicht auf Samstag?
 

~ * ~
 

Zuhause stelle ich den Reiskocher an.

„Verdammt! Ich hab dir doch gesagt du sollst dir heute Abend frei nehmen!“ Schreie dringen durch die Wohnung, gefolgt vom Klirren von zerspringendem Glas.

Lynn, die neben mir steht, zuckt zusammen und hält ihren Teddy fest an sich gedrückt. Ich hebe sie auf meine Arme und gehe in mein Zimmer.

„Mama und Papa haben wieder Streit...“, sage ich leise und seufze.

Die beiden streiten sich oft. Anfangs weinte Lynn immer... doch mittlerweile sitzt sie dann nur noch mit traurigen Augen da. Vielleicht hat sie sich daran gewöhnt. Ich wünschte, das wäre nie nötig gewesen...

Ich verstehe auch nicht, wieso die beiden das tun... So oft wie sie unzufrieden miteinander sind, wieso trennen sie sich dann nicht endlich voneinander? Wahrscheinlich wäre uns allen damit geholfen...

Diesmal ist es verhältnismäßig schnell wieder still, nach dem lauten Knallen der Wohnungstür.

„Komm, spiel noch ein bisschen... ich muss gleich gehen...“

Ich gebe Lynn einen sanften Kuss auf die Stirn und bringe sie in ihr Zimmer.

Danach will ich gerade frische Sachen zum Duschen zusammen suchen, als ich mir meine Armbanduhr vom Nachtschränkchen schnappe und einen kurzen Blick hinaufwerfe...

Was? Schon zwanzig nach drei?

Sofort lasse ich meine Sachen wieder fallen.

„Scheiße!“, fluche ich, schlüpfe aus meinem Hemd um ein neues überzuziehen.
 

So schnell es geht renne ich die Treppen hinunter, suche währenddessen in meiner Hosentasche nach dem Zettel mit Sakuyas Adresse.

Ich haste durch die Straßen, springe in die nächste U-Bahn... und bleibe am Ende verdutzt vor einem großen Haus stehen. Wow! Okay, ich wusste schon als ich die Adresse las, dass er in einem Viertel mit Einfamilienhäusern wohnt, aber das... Wahnsinn!!

Beeindruckt gehe ich zur Tür und klingle. Bin ja mal gespannt, wie es drinnen aussieht...

Doch als die Tür mit einem Schwung aufgerissen wird, stockt mir von etwas anderem der Atem. Es ist Sakuya, der vor mir steht... und das Einzige was er trägt, ist eine Jogginghose...

Ich zwinge mich, ihm in die Augen zu blicken.

Als ich meine Stimme wieder gefunden habe, grinse ich ihn an. „Na, das nenn ich einen Empfang!“
 

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Sakuya (by littleblaze)
 

„Du bist bestimmt ganz schön fertig, ich meine wegen Kevin?“

„Ja... Es wird komisch sein, ihn nach so langer Zeit wieder zu sehen, aber ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr ich mich darauf freue.“

„Mach dir keinen Kopf Sakuya. Er wird es verstehen.“

„Das hoffe ich.“
 

Kyo hatte ich von dem Vorfall auf dem Baseballfeld natürlich nichts erzählt und auch über die Nachhilfestunden, wusste er noch nichts. Wie sollte ich ihm auch beibringen, dass ich dem Typ, der sich damals seine Freundin gekrallt hat, Nachhilfe gebe?

Abgesehen davon versuchte ich in den letzten Tagen mehr oder weniger erfolgreich das Thema Takahama schlichtweg aus meinen Kopf zu verbannen, nicht einmal mehr die kleine Wunde erinnert an das Geschehene, da diese bereits weitgehend verheilt war. Doch trotz meiner größten Bemühung, erschien sein Bild spätestens mit dem Schließen meiner Augen. Stundenlang lag ich wach und versuchte nicht daran zu denken.

Machte ich mir viel zu viele Gedanken? Vielleicht war er ja so ein Mensch, der sich gar nichts dabei dachte, wenn er jemanden berührte, umarmte oder an einen verletzten Finger saugte. Entweder dies oder Überlegung 2 oder 3 traten in Kraft. 2 beinhaltete, dass er immer noch versuchte mich zu reizen und mir die Sache mit Sanae heimzuzahlen, und Punkt 3 krallte sich an der Vermutung fest, dass Kida wohlmöglich schwul wäre, was meiner Meinung nach unmöglich ist, dann eher bi. Immerhin waren eine Menge Leute vor gut einem Jahr Zeugen geworden, dass er Frauen liebte, und die Beziehung zu Sanae dürfte in meiner Überlegung natürlich auch nicht fehlen. Punkt um, ich war wieder am Anfang und hatte null Ahnung.
 

„Wann fliegst du eigentlich?“

„Nächste Woche oder so, am Montag kriegt mein Dad von der Firma bescheid.“

„Sollen wir am Samstag ins Tokyo Dome, die Giants spielen gegen die Swallows?“

„Sorry, ich glaube das klappt nicht, am Samstag kommt meine Tante aus Kobe zu Besuch.“

„Ich denke du kannst die nicht leiden?“

„Genau, oder besser gesagt, sie kann mich nicht leiden. Ich spiegle nur ihre Warmherzigkeit wieder und Mom verlangt trotzdem, dass ich da bin. Glaub mir, ich würde alles geben, um dem zu entgehen.“

„Ist doch bestimmt witzig eine Frau zu hassen, die genau wie die Mutter aussieht.“

„Witzig würde ich nicht gerade sagen.“

„Ich könnte zu dir kommen, wenn du magst?“

„Klar, wir könnten die neuen Games ausprobieren.“

„Ich komm dann, wenn wir den Laden geschlossen haben.“

„Bring noch was zu knabbern mit und diese komischen runden Dinger, die ich so gerne mag.“
 

Besagte Tante ist die Zwillingsschwester meiner Mom. Sie mochte mich von Anfang an nicht, was ich allerdings eher in Verbindung damit bringe, dass ich meines Vaters Sohn bin. Sie hasst meinen Vater. Warum habe ich niemals gefragt, doch Theorie 1 besagte, dass sie es nicht ertragen konnte, dass er ihre Schwester wählte und nicht sie, und Theorie 2, dass er meine Mom mit in die USA genommen und ihr somit die geliebte Schwester entrissen hatte.
 

„Was will der denn?“, werde ich meiner Gedankenwelt entrissen.

Ich habe zwar die ganze Zeit nach vorne geschaut, doch realisieren tue ich ihn erst jetzt.

„Was weiß ich...“ Ich zucke kurz mit den Schultern.

Takahama steht neben der Tür des Mathekurses, in den Kyo und ich gehen.

Ich will einfach nur schnell an ihm vorbei, doch seine Anrede reißt mich aus der Hoffnung, nichts mit seinem Hiersein zu tun zu haben. Ich stocke kurz, gehe dann aber trotzdem weiter, doch bevor ich den rettenden Klassenraum erreicht habe, zieht er mich beiseite. Die Berührung löst Panik aus und ich schlage seine Hand weg. Nicht nur mir kommt es so vor, als wäre die Zeit für einen Moment stehen geblieben, auch um uns herum ist es still geworden, Blicke ruhen auf uns.

„Wegen der Nachhilfe...“

Die Nachhilfe! Ich hatte sie glatt vergessen.

„..ich denke, wir sollten mal langsam damit anfangen.“

Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er sich die Nachhilfe sonst wo hin stecken kann, aber unter den Blicken der Anderen versuche ich mich zusammen zureißen und überlege fieberhaft, wann und wo ich das hinter mich bringen möchte.

Ein kleiner Schubs von hinten. Kyo wechselt mit mir einen fragenden Blick. Als ich ihm nicht sofort antworte, geht er ihn den Klassenraum. Na toll, sonst noch was?

„Heute, 3 Uhr, bei mir.“

Ich folge Kyo ins Klassenzimmer.

„Hey, und wo wohnst du?“

„Du bist doch so ein cleveres Kerlchen, also find es selbst heraus“, hallt es durch den Flur.

Während der gesamten Stunde versuche ich zu erklären, warum ich das mit der Nachhilfe vor ihm geheim halten wollte. Er ist nicht sauer, versteht sogar meine Beweggründe, trotzdem erkenne ich die Enttäuschung in seinem Gesicht. Kyo ist mein bester Freund, seit ich in Japan bin und niemals gab es etwas, das ich dachte vor ihm geheim halten zu müssen, doch jetzt habe ich das Gefühl, dass es einige Dinge gibt, die ich ihm nicht sagen kann...
 

~ * ~
 

Ungewöhnlich schnell vergehen die Stunden an diesem Freitagvormittag. Zu Hause angekommen, gehe ich noch schnell unter die Dusche und etwas essen wäre auch nicht schlecht bevor Takahama hier auftaucht.

Meine Haare färben sich dunkel, als sie mit dem Wasser in Berührung kommen. Ob mir schwarzen Haare eigentlich stehen würden?

Ich schließe meine Augen, lasse das heiße Nass einfach an mir hinablaufen, entspanne mich für ein paar Sekunden... noch einmal Kraft tanken, bevor Takahama hier auftaucht. Hoffentlich ist er nicht total blöde, damit ich diesen Nachhilfescheiß relativ schnell hinter mich bringen kann. Worauf hatte ich mich da bloß wieder eingelassen?

Ich schlüpfe in Boxershorts und Jogginghose, den Weg zur Küche, rutsche ich auf dem Treppengeländer hinunter, meine Mom würde mich köpfen, wenn sie davon wüsste.

Durch Schule und Baseball komme ich normalerweise erst so gegen 18.00 Uhr nach Hause, ebenso wie meine Mom von der Arbeit. In den Ferien allerdings, wo die Kurse nur wenig Zeit einnehmen und die Sportclubs ausfallen, bin ich im Punkto Essen auf mich allein gestellt, also schaue ich mich in der Küche um, auf der Suche nach etwas Essbarem. Eier, Speck und Toast, schnell und einfach.

Gerade die Pfanne mit dem Speck auf die Herdplatte gestellt, klingelt es an der Haustür. Wer kann das denn jetzt schon wieder sein? Es würde mich nicht wundern, wenn der Speckgeruch bis zu Kyo vorgedrungen ist und er lechzend vor der Tür stünde. Der Gedanke daran bringt mich zum lächeln.

Mit einem kurzen Sprint erreiche ich die Tür und reiße sie auf.

Takahama!

Er scheint aus der Puste zu sein...

Und dann sein Blick, wie er mich von unten bis oben regelrecht mustert, und wie vor den Kopf gestoßen fällt mir auf, dass ich noch gar nicht richtig angezogen bin.

„Na, das nenn ich einen Empfang!“, grinst er mir entgegen.

Von einer Sekunde auf die andere, erhitzt sich mein Gesicht, ich spüre es genau und mir fällt tatsächlich nichts Besseres ein, als ihm die Tür vor der Nase zu zuschlagen.

Es klingelt erneut.

„Hey, nun mach schon auf“, höre ich ihn durch die Tür rufen. „Es... es war nur ein Scherz...“

Ein wenig sauer auf mich selbst, da ich mich wie ein kleines Kind zu benehmen scheine, steigt mir ein bekannter Geruch in die Nase. Mist!

Ich reiße die Haustür ein weiteres Mal auf, was dazu führt, dass der davor Stehende beinahe auf die Fresse knallt, schreie ihm zu, dass er die Tür gefälligst hinter sich schließen soll und renne in die Küche.

Vor dem Herd steige ich auf die Bremse und ziehe gleichzeitig die Pfanne von der Platte, gerade noch rechtzeitig.

„Äh, darf ich reinkommen?“

„Bleibt mir was anders über?“, antworte ich.

„Natürlich.“

Du solltest mir nicht noch andere Optionen eröffnen, sonst bist du schneller wieder draußen als dir lieb ist, denke ich, deute ihm aber gleichzeitig sich an den Küchentisch zu setzen.

„Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst“, folgt sein Kommentar, während ich das Rühreigemisch in die Pfanne lasse.

„Es gibt so einiges was du nicht über mich weißt.“

„Das könnte man ändern.“

Ich verkneife mir meinen Kommentar darauf und versuche mich auf meine Tätigkeit zu konzentrieren, was mir mit dem durchbohrenden Blick in meinem Rücken nicht gerade leicht fällt.

Speck, Rührei und Toast sind fertig, und ich entschließe mich dazu, ihm etwas anzubieten, da er sich während ich esse auf etwas anderes als auf mich konzentrieren soll.

„Das soll schmecken?“, schaut er ein wenig angewidert.

„Dann lass es halt“, antworte ich ein wenig beleidigt.

„Ok, gib mir was, ich möchte es gerne probieren“, kommt es in ernstem Ton, ohne dieses blöde Grinsen im Gesicht.

Ich teile mein Essen auf zwei Teller auf und hole für ihn ein paar Stäbchen aus dem Schrank.

Es ist schon eine komische Situation, wie wir hier sitzen und gemeinsam essen, auf unsere Teller schauen und keiner ein Wort sagt.
 

~ * ~
 

„Das war wirklich gut“, lobt er, als ich die leeren Teller in die Spülmaschine räume, mein Blick dabei auf die Küchenuhr fällt.

„Sag mal, warum tauchst du eigentlich schon so früh hier auf“, frage ich ihn.

„Was heißt hier früh?“ Er schaut auf seine Uhr, „Bei mir ist es... ääähhh, zwanzig nach drei... genau wie vorhin.“

Ich gehe ein Stück zur Seite und gebe den Blick auf die Küchenuhr frei.

„Uppss“, gibt er kleinlaut zu verstehen.

Ich setze mich wieder an den Tisch, und für einige Momente treffen sich unsere Blicke. Schnell wird mir dieser Blickkontakt peinlich, auch wenn ich nicht verstehe wieso, ich schaue als erster weg.

„Es war eine Lüge.“

„Was?“, frage ich irritiert.

„Das mit der Uhr. Ich hielt es einfach nicht mehr aus.“

„Bitte?“

Blitzschnell greift er nach meiner Hand, will etwas sagen, doch er kommt nicht dazu, da ich ihm mit einem Schwall Kakao, der sich über seinen Kopf und Oberkörper ergießt, zum Schweigen bringe.

„Verschwinde!“

Ich stehe vom Tisch auf.

„Hey! Hey, hey hey, das war nur ein blöder Scherz. Wirklich, ich schwörs. Meine Uhr ist wirklich stehen geblieben.“

„Ich sagte, du sollst verschwinden“, bleibe ich standhaft.

„Komm schon, so kann ich nicht raus“, er deutet auf sein kakaobeschmiertes Äußeres. „Und außerdem brauche ich dich... Äh, ich meine, ich muss diese Prüfung schaffen und ohne deine Hilfe klappt das nicht. Bitte!“

Er verbeugt sich vor mir, der Kakao tropft immer noch auf den Boden. Einige Sekunden ist es einfach nur still im Raum.

„Keine blöden Sprüche mehr?“

„Keine blöden Sprüche.“
 

Wir gehen hoch und ich führe ihn in mein Badezimmer damit er sich die Haare auswaschen kann.

„Ich hol dir ein Shirt.“

„Danke.“

Ich krame meinen Schrank durch und entscheide mich schließlich für ein schwarzes, schwarz passt doch zu jedem, oder? Ich selbst entscheide mich für ein graues.

Als ich zurück ins Bad komme, steht er mit nacktem Oberkörper vor mir. Der Anblick selbst, sollte mich eigentlich nicht weiter irritieren, da es keine Seltenheit ist andere Jungs nackt zu sehen aber hier, in meinem Bad ist es irgendwie komisch.

„Ist was?“

Ich schüttle nur mit dem Kopf, werfe ihm das Shirt zu und verlasse den Raum. Ich setze mich an meinen Schreibtisch und suche die Englischprüfung, die ich natürlich fehlerfrei bestanden habe, heraus. Natürlich werden es in den Nachprüfungen andere Fragen sein, aber ich denke, dass der Aufbau der Aufgabenanforderungen der Selbe sein wird.

„Wo soll das Handtuch hin?“

„Scheiße, musst du so rumschleichen?“ Dem Herzinfarkt nahe drehe ich mich zu ihm um. Seine Haare hängen ihm feucht ins Gesicht und mein Shirt auf seinem Körper sieht plötzlich gar nicht mehr aus wie mein Shirt.

„Ich bin ganz normal gelaufen... Also?“

„Also was?“

„Das Handtuch?“

„Leg es einfach auf den Wannenrand.“

Er stiefelt zurück ins Bad und plötzlich kommt diese Frage wieder in mir hoch, die ich doch so lange versucht habe zu verdrängen.

„Takahama?“

„Ja?“, erklingt es aus dem Bad.

„Kann ich dich mal was fragen?“

Er erscheint an der Tür.

„Natürlich. Doch als erstes hätte ich da eine kleine Bedingung.“

„Bedingung?“

„Nenn mich Kida, nicht Takahama.“

„Kida?“

„Ja, so heiße ich.“

„Das weiß ich auch“, lüge ich. Ich hatte seinen Vornamen zwar schon mal gehört, aber hätte mich jemand danach gefragt, hätte ich ihn nicht nennen können.

„Ok, dann frag.“

„Es geht um die Sache im... Club.“

Er dreht sich weg und geht auf die andere Seite des Zimmers zu, setzt sich auf den dort stehenden Sessel und schaut mich an.

„Du meinst die Sache mit Sanae?“

„Ja... nein, eigentlich nicht direkt.“

Gott, warum fällt mir die Frage auf einmal so schwer? Wie oft hatte ich mir vorgestellt sie aus zu sprechen, im Zorn schreiend, auf einen Zettel stehend, über Sanae gestellt... mir waren bestimmt ein Dutzend Wege eingefallen aber nicht die absurde Möglichkeit, mit ihm in meinem Zimmer zu sitzen und sie in einer ganz normalen Tonlage zu stellen.

„Du willst wissen, warum ich das was ich gesagt habe, gesagt habe?“, nimmt er mir dies plötzlich ab.

„Äh... ja.“

Ein Schulterzucken.

„Ehrlich gesagt, ich weiß es selber nicht.“

„Was heißt, du weißt es nicht?“

„Ich weiß es einfach nicht. Ich sah dich mit Sanae und keine Ahnung wieso, aber ich war plötzlich total sauer, am liebsten hätte ich dich mitten auf der Tanzfläche verprügelt... aber dann... null Ahnung...“

Also war es doch nur eine plumpe Provokation gewesen.

„Das, das mit Sanae. Ich kann dir nur noch mal versichern, dass da wirklich nichts ist. Ich habe nie geplant sie dir auszuspannen oder so.“

„Da mach dir mal keine Sorgen... Sanae ist alt genug, sie fällt nicht direkt auf jeden Anmachversuch rein.“

Ich lächle leicht und als er es erwidert, hege ich für einen Moment das Gefühl, dass man mit ihm vielleicht doch befreundet sein kann.
 

~ * ~
 

Die nächsten drei Stunden vergehen relativ schnell. Seine gute Auffassungsgabe erstaunt mich und lässt mich einige Male irritiert aufschauen, da er es zuvor nicht begriffen haben soll. Nach einer weiteren Aufgabe entscheide ich mich für heute Schluss zu machen. Meiner Meinung nach, hätte er keine Probleme die Prüfung so gerade noch zu bestehen.

Kida steht auf, streckt sich und ich fange an die Arbeitsblätter zusammen zuräumen.

„Machen wir morgen weiter?“

„Sorry, aber morgen habe ich keine Zeit.“

„Sonntag?“

„Nein, ich habe anderes zu tun am Wochenende.“

„Was denn zum Beispiel? Mit deinem Schläger auf einen kleinen Ball eindreschen?“

„Ja, vielleicht.“

„Ich weiß gar nicht, was man daran finden kann.“

Ich vernehme das Geräusch eines aufgefangenen Balls. Ich drehe mich zu ihm um und kann nicht wirklich glauben, was ich da sehe.

„Leg ihn wieder hin.“

„Hä?“ Der Ball wird noch einmal in die Luft geworfen, den Schriftzug kann ich genau erkennen.

„Ich sagte, leg ihn wieder hin.“ Meine Stimme klingt gereizt.

„Den Ball?“

Mein Blick spricht Bände.

„Ok, ok, nicht aufregen. Ich leg ihn ja schon weg.“

Erneut wende ich mich meinem Schreibtisch zu.

„Obwohl... mich würde schon mal interessieren, wie weit ich ihn werfen könnte.“

Sofort schnellt mein Blick zum Regal, der Ball ist immer noch nicht wieder an seinen Platz.

„Was denkst du?“ Sein Blick geht in Richtung geöffnetes Fenster.

„Das wagst du nicht.“ Und kaum den Satz beendet, muss ich mit ansehen wie sich seine Muskeln spannen, sein Arm zum Wurf anlegt. Die paar Schritte die uns trennen habe ich schnell hinter mich gebracht, doch zu spät... der Ball ist mir ein kleines Stück voraus, fliegt durch das geöffnete Fenster. Takahama, den ich beiseite geschubst habe, fällt aufs Bett, zieht mich mit sich hinunter, keine Chance mehr den Ball zu erreichen.

Ich lande nicht gerade weich, will mich sofort losreißen, am liebsten auf ihn einprügeln. Wie kann er es wagen einen von Curtis Montague Schilling handsignierten Ball einfach so aus dem Fenster zu werfen...

„Lass mich los, verdammte Scheiße“, schreie ich ihn an.

„Komm schon, beruhig dich...“

„Lass mich...“

Es gelingt mir, mich zu befreien, doch gerade auf den Beinen werde ich wieder auf das Bett hinunter gedrückt.

„Ich sagte, du sollst dich beruhigen“, schreit er mich an. „Es war ein anderer Ball den ich aus dem Fenster geworfen habe... es sollte nur ein Scherz sein, nur ein Scherz.“

Sein Gesicht ist mir so nahe, dass ich am liebsten hineinspucken würde.

„Krieg dich wieder ein, der Ball liegt unterm Bett und das gerade war ein stinknormaler... OK?“

Ich will ihn von mir wegstoßen, doch schaffe ich es nicht, sein Gewicht drückt mich weiterhin zurück. Ich gebe viel zu schnell auf, das ist mir selber bewusst, aber ich will einfach nur hier raus und ihn hochkantig aus dem Haus werfen, und wenn ich gegen ihn ankämpfe wird sich das wohl nur hinziehen. Doch irgendwie geht mir alles zu langsam, warum gibt er mich nicht endlich frei?

Als ich ihn direkt anschaue, kann ich seinen Blick nicht wirklich definieren und sein Gesicht scheint um ein großes Stück näher an dem meinen zu sein...

„Tut es noch weh?“

Er hebt meine Hand in unser Blickfeld, deutet auf die kleine Stelle, an der ich mich vor ein paar Tagen verletzt habe.

Nein, es tut nicht mehr weh.

Ich sehe ihn wieder an, mein Blick fällt auf seine Lippe.

Schmerzt es?

Die kleine, verkrustete Stelle auf deiner Lippe, tut sie noch weh? Ehrlich gesagt, ist es mir egal. Dieser unschöne blau-grüne Fleck, der deinen Mundwinkel ziert, ist er dir peinlich? Fragt sie dich, wo du ihn her hast. Was hast du ihr gesagt?

„SAKUYA! Schatz, bist du zu Hause?“

Mit einer schnellen Bewegung lässt er von mir ab, geht einige Schritte beiseite. Zum zweiten Mal höre ich die Stimme meine Mom nach mir rufen, dann betritt sie auch schon mein Zimmer. Sie schaut erst mich, dann ihn an.

„Oh, du hast Besuch.“

Sie geht auf Takahama zu und verbeugt sich leicht vor ihm, er tut es ihr gleich.

„Sakuya, was ist mit dir? Du bist ja total blass, du wirst mir doch nicht schon wieder krank?“, redet sie weiter auf mich ein.

„Nein... mir, mir geht es gut“, stammle ich ihr entgegen. „Ich glaube, Ki... Takahama wollte gerade gehen, nicht wahr?“ Ich schaue ihn an, sein Blick wandert von mir zu meiner Mom.

„Ja, so ist es. Hat mich gefreut sie kennen zu lernen, Mrs. Ryan.“

Er verbeugt sich ein weiteres Mal und verlässt das Zimmer, das Haus.

„Wie sieht es denn hier schon wieder aus“, kritisiert meine Mom und ist schon dabei einige Dinge, die nicht an ihrem richtigen Platz stehen, zu ordnen.

„Mom, lässt du mich bitte alleine.“

„Geht es dir...“

„Mom, bitte“, unterbreche ich sie.

„Ok, sag einfach, wenn du etwas brauchst.“

Besorgt verlässt meine Mom den Raum, ich schließe die Tür hinter ihr und bleibe wie angewurzelt im Raum stehen. Was ist hier gerade passiert?
 

Part 03 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Boston

~ Curtis Montague Schilling

~ Fenway Park

~ Hot Dog

~ Santa Claus

~ Red Sox

~ Tokyo Dome

~ Yomiuri Giants und Yakult Swallows
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 04

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Kida (by Stiffy)
 

Eigentlich kann ich nicht sagen, dass es besonderen Spaß macht, ihn zu reizen... auch mag ich es nicht, wenn er wütend ist... aber was ist es dann? Wieso dann mache ich immer wieder irgendwelche Scherze, von denen ich eigentlich wissen müsste, dass sie nicht sonderlich witzig sind... wieso dann bringe ich ihn immer wieder aufs neue auf die Palme?

Auch jetzt wieder... ich habe keine Ahnung, wieso ich das gemacht habe... den Ball aus dem Fenster werfen... Ich weiß doch, dass es ihn aufregen wird, ich weiß doch, dass er mich wahrscheinlich jedes Mal mehr hasst... warum kann ich es nicht einfach lassen?

Er ist mir ganz nah, jetzt, da er unter mir liegt. Mein Gewicht hält ihn ans Bett gefesselt, ebenso wie meine Hände. Ich rieche sein Shampoo... spüre seinen Atem...

Es kribbelt in meinem Bauch...

Ich muss irgendwas tun, sonst....

Sonst was?

Als letzter Ausweg der Schnitt an seiner Hand.

„Tut es noch weh?“, frage ich, obwohl die Frage aus reiner Logik total sinnlos ist. Natürlich nicht mehr...

Er antwortet nicht, schaut mich nur weiterhin an... wehrt sich nun auch nicht mehr.

Es macht mich verrückt... ich sollte aufspringen und weg hier, doch ich kann nicht... ich will nicht... ich mag es, dir so nah zu sein, welchen Grund das auch immer hat...

So nah und noch viel näher...

„SAKUYA! Schatz, bist du zu Hause?“

Ruckartig werde ich aus meiner Gedankenwelt gerissen und als ich vom Bett springe, wird mir sofort klar, dass es mich vielleicht vor einem noch größeren Fehler bewahrt hat... Noch größer als das Ganze ohnehin schon.

Noch einmal die Stimme, dann betritt eine zierliche Frau das Zimmer.

„Oh, du hast Besuch.“

Wir verbeugen uns voneinander. Ihre freundlichen Gesichtszüge... ein wenig sind sie Sakuyas ähnlich.

Sie fragt ihren Sohn, wieso er so blass sei... und ich werde bei dieser Frage rot... Mein Gott, diese Situation ist so unangenehm...

„Ich glaube, Ki... Takahama wollte gerade gehen, nicht wahr?“

Sakuya sieht mich an...

„Ja, so ist es. Hat mich gefreut sie kennen zu lernen, Mrs. Ryan.“

Nach einer weiteren schnellen Verbeugung verlasse ich eilig das Zimmer...

Um ehrlich zu sein, so wie ich vor nur knapp fünf Minuten alles daran gesetzt habe, noch etwas länger hier zu bleiben, so verspüre ich nun tatsächlich den Wunsch nach Flucht.

Ich will nur noch weg hier!

Ich will,... dass dies Herzrasen verschwindet.

Vor der Haustür verlangsame ich meinen Schritt, bleibe auf dem Torfweg stehen und blicke rauf zu Sakuyas Zimmerfenster... danach hinunter zur Wiese. Tatsächlich liegt hier der Ball, den ich zuvor aus dem Fenster geworfen habe...

Zögernd hebe ich ihn auf.

Wahrscheinlich war der Scherz ziemlich gemein... Sein Blick sagte ganz deutlich, wie viel ihm dieser Baseball mit der Unterschrift wert ist... Ich wollte ihm einen Streich spielen, kam auf die Idee, als ich einen anderen Ball auf seinem Bett liegen sah...

Er hat darauf noch heftiger reagiert, als ich erwartet hatte... Ich muss ihm wohl tatsächlich einen riesigen Schrecken eingejagt haben.

Ich drehe den kleinen Lederball in meinen Händen.

Dabei wollte ich ursprünglich nur mit dir reden...

Kopfschüttelnd werfe ich ihn in die Luft, trete einen Schritt zurück und lasse ihn wieder zu Boden fallen.

Als du sagtest, dass die Nachhilfe vorbei war, hatte ich das Bedürfnis noch länger zu bleiben... Es ist unschwer zu übersehen, wie gerne du Baseball magst... Ich wollte mich für dich interessieren, mit dir darüber reden... und habe es doch schon von der ersten Frage an falsch angefangen...
 

„Ist ein schöner Rasen, nicht wahr?“

Erschrocken fahre ich zu der zynischen Stimme herum. Asumo...

„Ha- Hallo...“

„Verpiss dich!“, entgegnet er nur mit finsterem Blick.

Irgendwie macht es mich nervös, dass er mich so offensichtlich in Gedanken vertieft hier im Garten vorgefunden hat. Schnell setze ich mich in Bewegung und spüre seinen stechenden Blick.
 

~ * ~
 

Auf dem Weg nach Hause gehe ich den Nachmittag noch mal durch... Eigentlich habe ich mehr als nur einen Fehler gemacht. So kann es ja nichts werden... Dabei will ich doch gar nicht so viel... Einfach nur sein Freund sein... oder ist da wirklich noch mehr?

Wenn es wirklich nur das ist, warum habe ich dann nach dem Essen wie von selbst nach seiner Hand gegriffen?

Wieso habe ich ihm angeboten, mich beim Vornamen zu nennen?

Und wieso fiel es so schwer, ihm seine Frage zu beantworten?

Diese Frage... zu dieser merkwürdigen Situation im Club...

Ich dachte nicht, dass er mich darauf ansprechen würde... bessergesagt, ich hab es verdrängt und gehofft... Und genau deswegen fehlten mir auch die Worte. Ich konnte ihn nicht ansehen, zumindest nicht so aus nächster Nähe... Er durfte auf keinen Fall sehen, wie nervös mich seine Frage machte.

Und vor allem hätte ich es fast noch schlimmer gemacht...

„Weil es wahr ist...“

Was hätte er getan, wenn ich diese Worte gesagt hätte?
 

~ * ~
 

„Ich glaube, du hattest recht...“

Verdutzt sieht Sanae mich an, als ich mit diesen Worten vor ihrer Tür stehe.

„Aha.. Wow... Es is schön, zu hören, dass du mir zustimmst... Darf ich auch erfahren, wobei?“

Sie geht zur Seite, so dass ich die Wohnung betreten kann. Ihr voran gehe ich in ihr Zimmer, lasse mich dort auf dem Boden nieder. Sie schiebt ihren Stuhl zu mir heran.

„Also?“

„Ich mag ihn...“

Ein verblüffter Blick. „Wie bitte?“

„Naja... ich denke es zumindest...“ Ich stütze meinen Kopf in die Hände. Irgendwie fällt es mir wahnsinnig schwer, diese Worte nun auszusprechen. Auf dem Weg hier hin... ganz langsam wurden sie mir immer klarer, doch sie auch über die Lippen zu bekommen... „Ich... ich glaube, ich empfinde etwas für ihn... ich... weiß nicht, was es ist, aber da ist etwas...“

„Ooookay...“ Sie wirkt ziemlich überrascht über mein plötzliches Geständnis. „Und was bringt dich zu dieser plötzlichen Erkenntnis?“

Ich schildere ihr die Situation in kurzen Worten und meine Gedanken... So wie ich mich verhalte, das ist nicht mehr normal...

„Du wolltest ihn küssen, oder?“, fragt sie, als ich geendet habe.

Erschrocken sehe ich sie an. „Ihn küssen?“

„Na, als er unter dir lag... hast du nicht daran gedacht, ihn zu küssen?“

„Nein! Ich...“ Ich stocke, schlucke. „Ehrlich gesagt, ich weiß nicht... ich hab so vieles gedacht...“ Vor meinem inneren Auge taucht die Situation wieder auf, das Gefühl in mir... Ich habe mir gewünscht, ihm noch näher zu sein... wollte ich es wirklich tun?

„Aber Sanae... ich kann doch nicht... schwul sein...“ Mit jedem Wort werde ich leiser.

„Wieso denn nicht? Vielleicht war bis jetzt einfach kein Kerl dabei, der dir gefällt...“

„Er ist aber schon seit zwei Jahren auf unserer Schule!“

„Kida!“ Ein skeptischer Blick, der mir sagt, dass dieser lächerliche Rettungsanker sicher nicht hält.

Aber sie kann das auch so leicht sagen...

„Trotzdem, es ist....“ ...leider überhaupt nicht abwegig, vervollständige ich in Gedanken.
 

Ich verbringe den restlichen Abend bei Sanae und wir reden noch lange über mich und Sakuya... Ganz langsam beginne ich das Ganze wirklich zu begreifen, verstehe ich, wieso mein Herz immer so fest schlägt, wenn er bei mir ist... wieso ich am liebsten nur noch dort wäre, wo auch er sich befindet... Wieso ich mich so freue, wenn wir uns treffen...

Ich mag ihn... wollte ihn küssen...

Ich bin... verliebt?

Ich weiß es nicht... und nur daran zu denken, macht mir Angst. Ich hatte nicht vor mich überhaupt jemals zu verlieben... Ich kann das nicht gebrauchen...
 

~ * ~
 

Am nächsten Abend mache ich mich auf den Weg nach Roppongi Hills zum Virgin Toho Cinema um mich mit diesem Mädchen zu treffen... Wie hieß sie denn noch mal, sie hat es mir gesagt... Ju... Ju...

„Hallo... äh...“

„Junko... Junko war mein Name!“ Sie lacht mich an und ich werde rot. Peinlich! „Vergiss ihn ja nicht noch mal!“

„Ich verspreche es... Junko...“ Ein schönes Lächeln ziert ihre Lippen. „Sag mal, hast du schon eine Idee, welchen Film wir gucken könnten?“

Sie nickt und deutet auf ein Plakat. Liebesfilm, unübersehbar... Eigentlich kann ich das gerade wirklich nicht gebrauchen... dennoch stimme ich zu und wir kaufen die Karten.

Im Kinosaal haben wir Plätze in der Zweierreihe.

„Es ist schön, dass du ja gesagt hast...“, lächelt sie mich an, nachdem wir uns gesetzt haben.

Ich weiß nichts darauf zu erwidern, kann ich doch schlecht sagen, dass ich eigentlich überhaupt keine Lust habe.

Um die Zeit bis zum Filmbeginn zu überbrücken, stelle ich ihr ein paar harmlose Fragen. In welcher Klasse sie ist, welche Kurse sie hat, und so weiter...

Ich bin froh, als es endlich vollends dunkel wird und der Vorhang aufgeht.
 

Als wir knapp eineinhalb Stunden später den Kinosaal wieder verlassen, muss ich zugeben, dass der Film eigentlich gar nicht so schlecht war. Bei weitem nicht so schnulzig wie ich befürchtet hatte... und er hat meine Gedanken abgelenkt...

„Der Film war wirklich gut...“, meine ich und Junko nickt strahlend.

Wir entscheiden uns dazu, noch etwas trinken zu gehen.

Auf dem Weg läuft sie ganz dicht an meiner Seite. Hofft sie, dass ich irgendetwas tue?
 

Als wir uns gegenüber sitzen, betrachte ich sie genauer. Schwarze Haare, schwarze Augen... schöne Lippen...

Eigentlich wundert es mich selbst, dass ich gar nicht das Bedürfnis danach verspüre, irgendetwas zu tun. Ich hatte den ganzen Abend nicht einmal das Gefühl, sie in den Arm nehmen oder sie gar küssen zu wollen.

Im Gegenteil... Ohne dass ich es will, ertappte ich mich sogar das ein oder andere Mal dabei, an Sakuya zu denken, an seine Augen, seine Lippen...

Ich bin verrückt, dass ich nun lieber bei ihm sein würde... Sogar ein langweiliges Baseballspiel hätte ich dem Film dann vorgezogen.

Mit jeder Minute fällt es mir schwerer, mich auf das Gespräch mit Junko zu konzentrieren. Ich muss wieder daran denken, was Sanae gesagt hat... muss daran denken, dass ich schwul sein könnte... Ist es das? Reizt sie mich deshalb nicht?
 

Nach etwas mehr als einer Stunde machen wir uns auf den Heimweg.

„Es war schön...“, sagt sie leise und läuft neben mir her.

„Ja...“

Eigentlich tut es mir leid... dass ich ihr weniger Aufmerksamkeit gewidmet habe, als sie es verdient hat... Dass ich mir die meiste Zeit jemand anderen herbei wünschte...

Das kann doch nicht sein, so kann es doch nicht weitergehen... Es geht doch nicht, dass mir Mädchen plötzlich egal sind... dass ich tatsächlich plötzlich schwul geworden bin... Das ist so ein Unsinn!
 

An ihrem Häuserblock angekommen, stehen wir uns gegenüber. Sie lächelt und sieht mich fröhlich an. Erwünscht du dir mehr? Willst du dich wieder mit mir treffen? Wäre es nicht gemein, wenn ich dir die Hoffnung lasse?

„Es... es tut mir leid, Junko...“, spreche ich zögernd. Ich muss ehrlich sein, das hat sie verdient, nicht wahr?

„Magst du mich nicht?“ Sie klingt traurig.

„Doch... aber es gibt da jemanden...“

„Ich verstehe...“ Ein karges Lächeln, dennoch wirkt es nicht sauer. „Ist in Ordnung...“

Sie streckt sich und legt mir die Arme um den Hals. Ehe ich mich versehe berühren ihre Lippen kurz die meinen.

„Danke für den Abend...“ Damit dreht sie sich um und geht ins Haus.

Ich bleibe stehen und sehe, wie sie im Fahrstuhl verschwindet, berühre dann kurz meine Lippen.

Der kurze Kuss... nichts hat er mir bedeutet...

Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun.
 

~ * ~
 

Es ist wieder Montag... Sozialkundekurs.

Mit einem mulmigen Gefühl betrete ich den Klassenraum. Ich hab mir am Wochenende so viele Gedanken gemacht... ich glaube, ich könnte ihm gar nicht mehr in die Augen sehen.

Doch dies ist auch nicht nötig, denn Sakuya ist nicht da. Erleichtert mich dies nun, oder enttäuscht es mich?

Ich lasse mich auf meinen Platz fallen und verbringe die Stunde damit, den einzigen leeren Platz anzustarren. Wo bist du Sakuya, warum bist du nicht hier?

In der Pause halte ich ungewollt nach ihm Ausschau, doch nirgends kann ich ihn entdecken. Stattdessen sehe ich Kyo, der mich keines Blickes würdigt. Erst will ich ihn nach Sakuya fragen, aber eigentlich bin ich mir sicher, dass ich ohnehin keine Antwort bekommen würde.
 

Abends mache ich mich auf den Weg zu Sakuya. Wieso tue ich das? Es geht mich nichts an, was er hat... Wieso gehe ich trotzdem zu ihm? Ich bin doch verrückt!

Naja, ich könnte ihn ja wegen der nächsten Nachhilfestunde fragen...

Zögernd betätige ich die Klingel und kurz darauf geht die Tür auf. Sakuyas Mutter steht vor mir und lächelt, als sie mich sieht.

„Hallo! Du willst bestimmt zu Sakuya.“, stellt sie mit freundlichem Lächeln fest und tritt einen Schritt zur Seite. „Er ist oben... Du kannst gerne hochgehen... falls er noch schläft, weck ihn doch bitte und sag ihm, dass es in einer Viertelstunde Essen gibt...“

Nur zögernd trete ich ein und komme mir irgendwie komisch vor. In meiner Magengegend rumort es nervös. Warum habe ich Angst davor, ihm unter die Augen zu treten?

Vorsichtig öffne ich die Tür zu seinem Zimmer und betrete dieses. Es ist abgedunkelt, so dass meine Augen sich erst etwas daran gewöhnen müssen. Sakuya liegt tatsächlich im Bett... und scheint mich nicht bemerkt zu haben. Leise schließe ich die Tür wieder und gehe zum Bett hinüber.

„Sakuya, du-“ Ich breche ab, als ich direkt neben seinem Bett stehe.

Er sieht so hübsch aus... seine Lippen sind leicht geöffnet und seine Haare zerzaust...

Ich knie mich neben ihn und schaue ihn an. Mein Herz schlägt ganz fest...

Zögernd hebe ich die Hand und streiche ihm ein paar Haarsträhnen zurück, die ihm ins Gesicht gefallen sind.

Was hast du wohl?

Ich ziehe meine Hand zurück, fast etwas erschrocken über mich selbst. Was tue ich hier? Ich sollte ihn wecken... ich sollte...

Ich beuge mich zu ihm heran. Sein flacher Atem streicht über meine Haut. Einige meiner Haarsträhnen fallen auf sein Gesicht, aber außer einem kurzen Zucken der Wimpern passiert nichts.

Verdammt Sakuya, warum verliere ich schon wieder die Kontrolle über mich? Aber du schreist nach mir, deine Lippen tun es...
 

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Sakuya (by littleblaze)
 

„Kannst du mir mal bitte sagen, was hier los ist?“

„Mmmhh.“

„Was heißt hier 'mmhh'? Erst treffe ich diesen Arsch von Takahama blöde in deinem Garten rumstehen, und dann dich, wie du in deinem Zimmer Löcher in die Luft starrst.“

„Wir... wir haben nur englisch zusammen gelernt, du wusstest doch von der Nachhilfe.“

„Und warum hatte er eines deiner Shirts an?“

„Shirt?“

„Ja, eines deiner T-Shirts, das Schwarze mit dem kleinen roten Aufdruck am rechten Ärmel.“

„Ich... er...“

„Sag mal, willst oder kannst du mir nicht sagen, was das Ganze hier soll. Die Nachhilfe schön und gut, da ist nichts zu machen, aber dass er plötzlich deine Klamotten trägt, kommt mir schon ein wenig eigenartig vor.“

„Ich habe es ihm geliehen, mehr nicht.“

„Das ist schön“, grinst er. „Und warum, wenn ich fragen darf?“

Plötzlich komme ich mir wie ein kleines Kind vor, dass von seiner Mom wegen einer kaputten Vase ausgequetscht wird. Ich fühle mich ein wenig unter Druck gesetzt.

„Ist es etwa verboten jemanden ein Shirt zu leihen“, verteidige ich mich wohl ein bisschen zu laut.

„Hey, mach doch was du willst.“ Kyo steht auf, wendet sich der Tür zu. „Wenn du daraus unbedingt ein Staatsgeheimnis machen möchtest, dann bitte, tue dir keinen Zwang an. Du weißt genau, was ich von ihm halte, wenn du dich also entscheidest mit ihm Gut-Freund zu spielen, würde ich das nur gerne wissen.“

„Nein, so ist es nicht...“

„Sicher?“

„Ja natürlich. Ich hätte ihn gerade am liebsten umgebracht, weil... na ja, ist ja auch egal. Auf jeden Fall habe ich nicht vor, mehr mit ihm zu tun zu haben.“

„Ok.“

Kyo öffnet die Tür.

„Was machst du?“

„Ich habe versprochen, deiner Mutter in der Küche zu helfen.“

„Oh... ich komm gleich nach. Und... es tut...“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, unterbricht er mich. „Ich kann ihn einfach nicht leiden, das weißt du ja und vielleicht reagiere ich ein wenig zu... du weißt schon.“

Ich nicke und er verlässt den Raum.
 

Ob er mir meine Lüge angesehen hat?

Früher war ich immer leicht durchschaubar, ob es heute immer noch so ist?

Natürlich... ich hätte Takahama gerade am liebsten die Fresse poliert, aber jetzt... im Nachhinein, kann ich doch selbst ein kleines Lächeln über das Geschehene auf meinen Lippen wahrnehmen.

Hatte ich mir kurze Zeit zuvor nicht noch vorstellen können, mit ihm befreundet zu sein, ihn nicht wie fast alle anderen einfach zu ignorieren?

Theoretisch ganz einfach, aber könnte man das jemals umsetzen?

Wie würde Kyo reagieren, würde ich meine Freundschaft zu ihm aufs Spiel setzten wollen?

Nein, würde ich nicht!
 

~ * ~
 

Samstagvormittag, auf die Sekunde genau, erscheint Tante Mayumi mitsamt meiner Cousine Kana.

Von meiner Tante vollkommen ignoriert, ernte ich von Kana einen ihrer üblichen, nicht zu definierenden Blicke.

Kana ist zwei Jahre jünger als ich, also 14. Wir sprachen nur einmal miteinander, auf irgendeiner Hochzeit, die schon so lange zurückliegt, dass ich mich an ihre Stimme gar nicht mehr erinnern kann.
 

Nach dem verspäteten Frühstück, das heute ausschließlich aus japanischen Dingen bestand, gehen Kyo und ich unseren Lieblingsbeschäftigungen im Garten nach, Baseball und Schwimmen.

Mom sitzt mit ihrer Schwester in der Küche, Dad ist gar nicht anwesend, da er ja vollkommen unerwartet an einem wichtigem Seminar mitmachen musste und Kana wird wohl irgendwo im Haus rum schleichen.

„Ich find sie süß.“

„Wen?

„Deine Cousine.“

„Ernsthaft?“

„Natürlich! Du etwa nicht?“

„Keine Ahnung, ich habe mir sie nie so genau angesehen. Ist wahrscheinlich so ein eingefleischtes Gen, das Familienmitglieder von der Liste der schönen Mädchen streicht. Abgesehen davon, stehst du sowieso auf alles, was zwei Beine und nen Busen hat.“

„Ich will halt nur für die Richtige bereit sein“, kontert er.

„Ok, diese Logik versteh ich jetzt zwar nicht so ganz, aber gut.“

Kana, ich hatte sie mir nie so genau angesehen. Ich wusste, dass sie schwarze Augen und Haare hat und wie ein ganz normales Mädchen aussieht, also keine komischen Furunkeln oder so im Gesicht, aber ansonsten...

„Sakuya“, erklingt die Stimme meiner Mutter aus dem Haus.

„Ja?“

„Holst du bitte die Post.“

„Mach ich.“

Ich steige aus dem beheizten Pool, kühle Luft umringt mich, lässt mich kurz zittern. Ich schnappe mir meinen Bademantel vom Haken und gehe um das Haus herum zum Briefkasten. Der Postbote erkennt mich und ich winke ihm zum Abschied zu.

Noch nicht ganz beim Briefkasten angekommen, stupse ich an irgendetwas. Ich schaue hinunter auf das Gras, das langsam mal wieder geschnitten werden müsste und erkenne einen meiner Baseballbälle.

Groß überlegen muss ich nicht, wie er seinen Weg hierher gefunden hat. Ich hebe ihn auf.

Ich drehe ihn einige male herum, irgendwie in der Annahme, dass die Unterschrift von Schilling jeden Moment darauf erscheinen müsste, aber nichts passiert.

Der Ball, die Szenerie in meiner Zimmer, meine Reaktion. Plötzlich ist sie mir peinlich, wie konnte ich mich nur so gehen lassen? Und dann dieser Moment, kurz bevor Mom ins Zimmer gekommen ist...

Zum ersten Mal, kommen mir seine Augen wieder in den Sinn. Was war...

Ein Klopfen am Küchenfenster, mein Blick schnellt herum.

„Sakuya, die Post.“

Ich lasse den Ball in die Tasche meines Bademantels fallen und befreie den Briefkasten von bestimmt zwei Kilo Papier. Unmengen an Kataloge haben ihren Weg in unser Haus gefunden. Ich gehe durch das Haus zurück in den Garten.

„Hast du Bäume auf dem Weg gepflanzt?“

„Nein... ich musste da an was denken.“

Ich setzte mich auf eine der Liegen, Kyo kommt an den Beckenrand geschwommen.

„Und was?“

„Irgendwas war da...“

„Wo? Beim Briefkasten?“

„Quatsch!“

„Wo dann?“

Erst jetzt merke ich, mit wem ich hier bereit bin zu reden.

„Ach, vergiss es. War wohl nur Einbildung.“

„Komm schon, lass hören“, bohrt er weiter.

Aber ich will nicht. Ich schlüpfe aus dem Bademantel, werfe ihn auf die Liege und nehme ein dumpfes Geräusch wahr, während ich mich in Richtung Becken bewege.
 

~ * ~
 

Seid langem hege ich wieder den Drang, nicht zur Schule zu gehen und es sind nicht die nervenden Sommerkurse, die mich zurück halten, sondern viel mehr das Unwissen, wie ich mich Takahama gegenüber verhalten soll.

Sollte ich einfach so tun, als hätte dieses kleine Szenario am Freitag nicht stattgefunden oder mich für meine Überreaktion entschuldigen?

Und obwohl ich ihm theoretisch wie praktisch nicht ewig aus dem Weg gehen kann, immerhin war da ja auch noch die Nachhilfe, erzähle ich meiner Mom am Montagmorgen, dass es mir nicht gut geht.

Ich mache das Einzig für mich sinnvolle und verkrieche mich in meinem Zimmer.

Aber warum verstecke ich mich vor ihm? Was genau weckt in mir solches Unbehagen? Seine Art, sein Vorgehen oder einfach nur die Tatsache, dass ich nicht weiß, wie ich auf ihn reagieren soll?

Und dann ist da noch dieser eine Gedanke, der immer wieder in mir aufkeimt... könnte es sein?

Schwul!

Könnte er vielleicht doch schwul sein? Vieles spricht doch dafür, dieser Spruch im Club, die Szene auf dem Feld, die Sache am Freitag, wo er... ja was eigentlich... mich küssen wollte? Wenigstens sah es ganz danach aus...

Ich vergrabe mein Gesicht in meinem Kissen.

Soll er doch sein was er will, was habe ich damit zu tun? Wenn er mich das nächste Mal blöde anmacht, bekommt er direkt von mir eine in die Fresse, und damit hat sich es dann. Und jetzt Schluss mit dieser Scheißgrübelei wegen diesem Typen.

Ich schnappe mir einen Ball und gehe einer meiner üblichen Tätigkeiten nach. Immer wieder fliegt er fast bis an die Decke und wird erst kurz vor dem Aufprall in meinem Gesicht gestoppt.

Und was wäre wenn, wenn er es tatsächlich getan hätte?

Eine Vielzahl von Gedanken überschwemmen meinen Kopf... was dann? Wegstoßen? Schlagen? Hätte ich mich befreien können? Was wenn....

„HÖR AUF!“

Mit voller Wucht werfe ich den Ball unkontrolliert von mir weg. Dieser trifft mein Regal und einige Bücher werden zu Boden gestoßen.

„Hör doch endlich auf darüber nachzudenken“, flehe ich mich selber an, lasse mich zurück aufs Bett fallen.
 

~ * ~
 

Ein Luftzug, eine Fliege... keine Ahnung was es ist, doch ich reiße erschrocken die Augen auf. Diese haben sich noch nicht an die Lichtverhältnisse gewöhnt, doch spüre ich genau, dass hier etwas ist... träume ich?

Ich schlage oder trete danach, was genau kann ich nicht einmal genau sagen, da ich mir immer noch vorkomme als würde ich zwischen zwei Welten schweben, erst ein Geräusch lässt mich vollends wach werden.

„Mom?“

Mein Herz rast, Angst steigt in mir auf.

Ich stolpere aus dem Bett, erreiche die Tür und drücke den Lichtschalter hinunter und erblicke, Gott sei Dank, nicht meine Mom, die nur nachschauen wollte, wie es mir geht.

Er schaut mich vom Boden, genau vor meinem Nachtschränkchen sitzend an. Mein Herz rast wie verrückt... ich tauche das Zimmer wieder in Dunkelheit.

„Verdammte Scheiße!“ Ich lasse meine Wut an dem Regal neben der Tür aus. „Gott verdammt, bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Du hast mich zu Tode erschreckt...“

„Ich freue mich zu hören, dass du mich endlich duzt“, wirft er ein.

Unüberlegter handeln konnte ich gar nicht, als ich auf ihn los stürze und ihm am Shirt halb zu mir hoch ziehe.

„Du bist... Gott, mir fallen im Moment nicht einmal Worte dafür ein. Am liebsten würde ich dir mal so richtig eine geben, du kannst echt froh sein, dass ich kein gewalttätiger Mensch bin. Aber langsam kann ich sie verstehen, sie alle. Warum sie dich hassen, warum keiner was mit dir zu tun haben will...“

Ich lasse von ihm ab, bewege mich in Richtung Tür. Ich höre wie er sich aufrichtet, und als ich gerade den Lichtschalter erneut hinunterdrücken will...

„Warum alle mich hassen, ich weiß es nicht genau. Aber das hier, das mit dir... glaub mir, so kennt mich niemand. So kenne selbst ich mich nicht. Nur bei dir kann ich meine Handlungen nicht verstehen. Ich...“

Er bricht ab.

„Was um alles in der Welt willst du hier?“

Ich rechne mit allem: ein Coming Out, eine Kriegserklärung, sogar mit einem gestotterten Liebesgeständnis. Würde das nicht alles erklären?

Gerade, was war geschehen? Er was ziemlich nahe an meinem Gesicht... wollte er mich küssen... wieder oder zum ersten Mal? Seine Worte, dass er nur bei mir so ist wie er ist... liest man nicht überall, dass dies genau die Anzeichen für das Verliebtsein sind?

„Ich soll dir von deiner Mutter sagen, dass das Essen in einer Viertelstunde fertig ist“, übermittelt er kühl.

Ich schalte das Licht an.

„Geh!“

Ohne Umschweifen verlässt er mein Zimmer und ich knalle die Tür hinter ihm wieder ins Schloss. Doch anstatt mich zu beruhigen, lodert Wut erneut in mir auf. Doch was genau macht mich so wütend?

Ich hatte schon ein Haufen Liebeserklärungen bekommen, und eigentlich war ich mir ziemlich sicher, dass es darauf hinaus laufen würde, aber warum war ich so sauer, dass es nicht dazu gekommen war? Wollte ich die Genugtuung haben, ihn abblitzen zu lassen oder war da etwas anderes, was mich dermaßen enttäuschte?
 

Ich ziehe mich um und gehe hinunter.

Er ist ein Junge, schon alleine dieser Gedanke sollte mich doch anekeln, aber das Einzige an was ich denke, ist dieses Gefühl in meiner Magengegend, das nicht mehr aufhören will, auf sich aufmerksam zu machen.

Gedankenversunken gehe ich zur Küche hinein und bleibe wie angewurzelt stehen.

Natürlich habe ich damit gerechnet, dass er bereits gegangen wäre, stattdessen finde ich ihn am Küchentisch sitzend vor. Das Einzige was ich für einen Moment kann, ist ihn anzustarren.

„Setz dich Sakuya, es dauert noch eine Minute.“

Beobachtet gehe ich auf den Küchentisch zu, setze mich ihm gegenüber und starre ihn weiterhin verdutzt an.

„Was willst du immer noch hier“, frage ich leise.

Doch bevor ich auch nur auf eine Erklärung hoffen kann, klingelt es an der Tür und Kyo steht uns gegenüber. Er schaut nicht weniger perplex über die ungewohnte Gesellschaft, wie ich mich fühle. Mein Blick fällt auf die Uhr, schon 19.00 Uhr durch.

„Ich glaube, ich gehe jetzt besser.“ Takahama erhebt sich, aber meine Mom, die gerade um den Tisch tänzelt um das Geschirr zu verteilen, drückt ihn zurück auf seinen Platz.

„Kommt gar nicht in Frage, ich habe dich eingeladen, also bleibt es dabei und Kyo, hol dir doch bitte einen Stuhl aus dem Esszimmer.“

„Mach ich, Mrs. Ryan.“

Die Spannung ist geladen, und zum ersten Mal, ist mir Kyos Auftauchen lästig, denn vielleicht hätte ich von Takahama mal eine anständige Antwort bekommen.

Sofort macht sich das Gefühl in der Magengegend wieder breit, und es intensiviert sich noch mehr, als ich meinen Blick hebe und wie automatisch auf Takahamas Lippen starre.

„Gott verdammt!“

Ich lasse meinen Kopf auf meine Arme sinken.

„Du sollst bei Tisch nicht fluchen, Sakuya“, ermahnt mich mein Dad, der gerade die Küche betritt. Takahama schnellt in die Höhe, verbeugt sich.

„Habe ich dir nicht schon mal gesagt, dass deine Freunde das lassen sollen.“

Mein Dad sprich zu Hause immer amerikanisch, was Kida ein wenig zu irritieren scheint.

„Freund würde ich ihn nicht nennen“, gebe ich meinen Dad ebenfalls in der anderen Sprache preis.

„Ach übrigens, wir fliegen in zwei Wochen nach Boston, also sorgt dafür, dass du dann nicht krank bist, sonst muss ich alleine fliegen“, zwinkert mir mein Dad zu.

„Ich werd euch so vermissen“, fügt meine Mom bei.

„Keine Sorge, ich komme weiterhin jeden Morgen vorbei“, grinst Kyo und alle Beteiligten, die Kyos Beweggründe kennen, verfallen in Gelächter.

Mein Blick streift Takahama, eine Seite beglückt es, dass er sich wie ein Außenstehender fühlen muss und die Andere bemitleidet ihn darum.

Nachdem sich die Stimmung gelegt hat und meine Mom anfängt das Essen auf die Teller zu verteilen, schenke ich Takahama ein Lächeln. Warum ich es tue, weiß ich nicht genau und sofort bereue ich es auch schon wieder.
 

Das Essen nimmt seinen gewohnten Gang. Mein Dad diskutiert lauthals die Ereignisse, die in der heutigen Zeitung standen, meine Mom nickt meistens nur und Kyo und ich reden über Dies und Das. Würde mein Blick nicht immer zu Takahama wandern, sobald ihn meine Mom ins Gespräch zieht, würde es fast so sein, als wäre er gar nicht anwesend. Er selber schaut einige Male zu mir herüber, trifft dann aber meistens auf Kyos Blick, was ihm dazu bringt, sich wieder meiner Mom zu zuwenden.
 

Nach dem Essen hilft Takahama das Chaos in der Küche zu beseitigen.

„Jetzt rede endlich, Sakuya, was spielt sich hier eigentlich ab?“

Kyo und ich sind ins Wohnzimmer, mein Dad ins Arbeitszimmer verschwunden.

„Null Ahnung, er stand vorhin einfach bei mir im Zimmer, sagte dass ich Essen kommen sollte, und dann kamst du auch schon vorbei.“

„Also nichts mit Nachhilfe?“, fragt Kyo weiter.

„Echt Mann, ich weiß auch nicht, was ihn hierher geritten hat.“

„Wenn du willst, frag ich ihn mal.“ Ein fieses Grinsen.

„Lass gut sein, wahrscheinlich wollte er nur einen neuen Termin für die Nachhilfe machen“, versuche ich schnell sein Dasein zu entschuldigen.

„Mich kotzt es auf jeden Fall an, dass er andauernd hier abhängt.“

„Sakuya, kommst du mal. Takahama möchte sich verabschieden“, höre ich meine Mom rufen.

Ich stehe auf. Kyo bleibt ohne Aufforderung auf der Couch sitzen und als ich den Flur entlang, auf Takahama zugehe, seinen Blick standhalte, spüre ich plötzlich wieder dieses unangenehme Gefühl in meiner Magengegend.

„Also?“, kommt es über meine Lippen, selbst nicht verstehend, warum ich gerade dieses Wort gewählt habe.

„Also?“, fragt er ebenfalls.

Ich zucke nur mit den Schultern, komme mir wie ein schüchternes Kind vor.

„Man sieht sich.“

Ein weiteres Zucken. Ich drehe mich um und gehe zurück ins Wohnzimmer, hinter mir höre ich die Tür ins Schloss fallen.
 

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Kida (by Stiffy)
 

Was mache ich hier?

Ich lasse meinen Blick über die Personen am Tisch schweifen.

Warum um Himmels Willen bin ich hier?

Das beklemmende Gefühl wird immer stärker, von Sekunde zu Sekunde.

Eine Frage seiner Mutter mit einem Lächeln auf ihren Lippen... eine Antwort, sie bloß nicht zu schnell abwimmeln... noch eine Frage, erneut eine Antwort, ebenfalls ein Lächeln... sie wendet sich wieder ab.

Mr. und Mrs. Ryan, Asumo... und Sakuya. Ich gehöre nicht hier hin... Was mache ich hier also zwischen ihnen am Tisch?

Um ehrlich zu sein, ich glaube noch nie in meinem Leben habe ich mich so fehl am Platz gefühlt. Sie lachen und nur Mrs. Ryan versucht mich mit einzubeziehen. Es ist schrecklich! Eigentlich will ich einfach nur noch weg von hier!

Was hatte ich mir dabei gedacht? Hier auftauchen, zu ihm gehen, mit ihm reden... doch über was? Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung... ich wollte ihn einfach nur sehen.

Unsere Blicke treffen sich... nur kurz, dann wendet er seinen wieder ab und stattdessen spüre ich Asumos Blick. Hass, Abneigung, Unverständnis... Mehr als alle anderen hat er einen Grund dazu, mich zu hassen... ihm kann ich es nicht verdenken.... und doch kann ich diese Ablehnung gerade nicht vertragen...

Ich wende mich wieder Mrs. Ryan zu.

Nach dem Vorfall in Sakuyas Zimmer wollte ich sofort das Haus verlassen, weg hier, ihm bloß nicht direkt wieder ausgesetzt sein... doch dann wurde ich aufgehalten. Freundlich fragte sie mich, ob ich nicht mitessen wolle. Es war schwer diese Einladung abzulehnen.

Wenn sie wüsste, wen sie hier gerade an ihrem Tisch sitzen hat. Wenn sie wüsste, was zuvor passiert ist... fast passiert ist... dass ich ihren Sohn fast...

Wie von selbst erwische ich mich dabei, meinen Blick verstohlen auf seine Lippen zu richten.

Ich wollte dich küssen... und diesmal, das weiß ich, hätte ich es definitiv getan... wenn nicht...

„Es war spitze!“ Asumo reißt mich mit seinem plötzlichen Ausruf aus meinen Gedanken. Schnell wende ich den Blick ab.

Nur kurz darauf stehen Sakuya und Asumo auf und verlassen die Küche. Auch Mr. Ryan tut dies. Unschlüssig erhebe ich mich, greife mach einer Schüssel.

„Es war wirklich toll!“ Ich lächle sie an.

„Das freut mich!“

Ich helfe ihr beim Abräumen und beschließe, danach sofort zu gehen. Was heißt hier beschließen... was sollte ich auch anderes tun?

„Woher kennst du Sakuya eigentlich?“

Ich befürchtete schon, dass so eine Frage kommen würde...

„Wir sind im selben Sozialkundekurs... und er gibt mir Nachhilfe in Englisch...“, antworte ich.

„Wirklich?“ Sie lächelt. „Na, da dürftest du aber bald keine Probleme mehr haben!“

Ich erwidere das Lächeln. Keine Probleme... Also wenn ich daran denke, wie wenig ich von dem Verstanden habe, was Sakuyas Vater zuvor geredet hat, dann wird das noch ein ziemlich langer Weg sein... Ich hatte ja schon Probleme damit, überhaupt die einzelnen Worte zu verstehen, was vielleicht aber auch an seinem Akzent lag... zumindest DAS er einen hat, das konnte ich verstehen...

„Ich muss jetzt leider los...“, sage ich, als die Küche sauber ist.

„Aber du bist doch gerade erst gekommen...“

„Ich... wollte ihm nur die Sachen vorbei bringen, die wir in Sozialkunde bekommen haben...“, lüge ich.

Sie führt mich zur Tür und ruft im selben Moment nach Sakuya. Dann verabschiedet sie sich bei mir und verschwindet wieder in der Küche.

Ich sehe zur Wohnzimmertür... am liebsten würde ich umdrehen und gehen, als im selben Moment Sakuya herauskommt. Unsere Blicke treffen sich und ein fieses Gefühl fährt durch meinen Körper. Ich spüre mein Herz schlagen.

Ich will es noch immer tun...

Der Augenkontakt verliert sich auch nicht, als er vor mir zum Stehen kommt.

„Also?“, fragt er.

Was will er hören? Was soll ich ihm sagen?

„Also?“, gebe ich die Frage wieder zurück.

Er zuckt nur mit den Schultern.

„Man sieht sich“, sage ich und nach einem weiteren Schulternzucken dreht er sich um und geht.

Das wars...
 

Es ist noch warm als ich ins Freie trete und dennoch zieht mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

Mit schnellen Schritten verlasse ich das Grundstück, schaue nur einmal automatisch kurz zurück, hinauf zu Sakuyas Zimmerfenster.

Du hasst mich, nicht wahr?

„I won’t say, he is a friend”

Das habe selbst ich verstanden… es tat irgendwie weh, es so direkt zu hören, auch wenn ich weiß, dass wir diesen Status wirklich noch lange nicht erreicht haben – uns heute eher wieder einen Schritt davon entfernten.

Ich steige in die U-Bahn.

Eigentlich weiß ich nicht, wie viel er wirklich mitbekommen hat... ob er meine Nähe verstand und weiß, was ich im Begriff war, zu tun... Erst dachte ich noch, das sei der Grund, warum er auf einmal um sich schlug, bis er plötzlich angstvoll nach seiner Mutter rief. Er wusste also zuerst nicht, dass ich es war... und sein Blick sprach Bände, als er das Licht anschaltete, die lauten Tritte und wütenden Worte in der anschließenden Dunkelheit noch umso mehr.

Ich konnte in dem Moment nichts tun. Mein Herz war stehen geblieben, zumindest glaubte ich das. Seit wann war er wach? Was hatte er mitbekommen? Was wusste er noch, worüber er sich danach nun Gedanken machen könnte?

„Ich freue mich zu hören, dass du mich endlich duzt“

Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum ich das gesagt habe... ihn damit noch mehr auf die Palme brachte.

Ich wurde hochgerissen und dann schrie er mich an. Worte die weh taten, als er sie aussprach... die ich niemals so hören wollte, nicht von ihm.

Und dabei will ich doch nichts mehr, als gerade von ihm nicht gehasst zu werden...
 

Eine Durchsage erfolgt und lässt mich hochschrecken.

Mist, verdammter!, fluche ich in Gedanken.

Die U-Bahn hält und ich steige aus. Wie um Himmels Willen konnte ich meine Haltestelle verpassen?!

Seufzend gehe ich die Treppen hinauf zur Straße. Die nächste Bahn zurück fährt in zehn Minuten... da kann ich genauso gut laufen.

Weit komme ich nicht, denn schon nach einigen Metern mache ich an einer Bar halt. Zögernd betrete ich diese und gehe zur Theke.

„Ein Bier“, bestelle ich, ernte dafür ein belustigtes Grinsen des Kellners.

„Na klar... wie alt bist du?“

„In zwei Monaten 19...“, versuche ich eine Lüge, auch wenn schon da klar ist, dass er sie nicht glauben wird.

„Da hast du dich wohl um 2-3 Jahre verrechnet, oder?“

Muss mir denn ausgerechnet so einer unterkommen? Das kann ich grad nicht gebrauchen.

Giftig schaue ich ihn an. „Dann bring mir halt irgendwas anderes!“

Ich wende meinen Blick ab, lasse ihn durch den Raum schweifen, als würde mich die Sache nicht interessieren. Erst jetzt wird mir klar, was ich genau jetzt gern getan hätte... mich richtig besaufen!

„I won’t say, he is a friend”

Noch immer lässt mich der Satz nicht los.

Ein hohes Glas wird vor mich gestellt, gefüllt mit einer blaugrünen Flüssigkeit.

„Da ist kein Alkohol drin... aber dafür geht’s aufs Haus...“ Ich sehe zu ihm hoch und er grinst.

„Danke...“

Ich wende mich dem Getränk zu, bemerke, dass er stehen bleibt, bis ich es gekostet habe. Dass ich es nicht gleich angeekelt wegschiebe, scheint ihm genug zu sein.

Ich gehe zu einem der Tische hinüber und lasse mich dort tief in die Polster der Bank sinken.

Eigentlich fühle ich mich gerade ziemlich depressiv, um ehrlich zu sein. Aber wieso? Weil ich kein Freund für ihn bin? Weil er glaubt zu verstehen, warum sie mich hassen? Weil er mich nun auch hasst? Aber tut er dies wirklich? Das winzige Lächeln, dass er mir am Küchentisch schenkte, irgendwie hat es mir Hoffnung gemacht, dass es nicht so ist.

Langsam bin ich mir echt nicht mehr sicher, wie weit dieses „mögen“ eigentlich wirklich reicht. Er ist nett und es wäre bestimmt toll, sein Freund zu sein, aber ist das wirklich alles? Würde ich ihn dann... küssen wollen?

Ihn küssen... verflucht, wieso wollte ich das tun?

Er ist ein Junge, genau wie ich... der Gedanke allein sollte mich abstoßen... wieso aber ziehen seine Lippen mich dann so an, seine Haut, seine Haare... er...

„Was um alles in der Welt willst du hier?“

Dich sehen...

Was wäre gewesen, wenn ich das gesagt hätte? Die Wahrheit?

Das Klingeln meines Handys lässt mich aufschrecken.
 

„Ja?“

„Hey, ich bins!“

„Sanae...“

„Wo bist du? Ich war grad bei dir, aber deine Ma sagt, du bist noch nicht zurück...“

„In einer Bar... Ich besauf mich mit einem alkoholfreien Drink...“ Widerwillig muss ich grinsen.

„Hä? Ist was passiert?“

„Was soll passiert sein?“

„Du warst doch bei Sakuya, oder? Wie ist es gelaufen?“

„Sanae das... Ich erzähl es dir morgen...“

„Aber das-“

„Wann bist du morgen fertig?“ Ich unterbreche sie. Sorry, aber ich will gerade nichts erklären...

„Um zehn...“

„Okay... dann warte ich auf dich... bis dann...“

Zögernd und verwirrt verabschiedet auch sie sich. Seufzend starre ich mein Handy einen Moment an, bevor ich aufstehe, das Glas leere und zur Bar gehe.

„Was macht das?“

„Nichts...“

„Schon gut...“ Ich versuche ein Lächeln und lege fünf 100 Yen Münzen auf den Tisch. „Dankeschön...“

Damit verlasse ich die Bar, setze meinen Weg nach Hause fort.

Kann es sein, dass ich mich tatsächlich... verliebt habe?
 

~ * ~
 

Es fällt mir schwer zur Schule zu gehen. Englisch und danach Sozialkunde... das brauche ich heute wirklich nicht...

Umso näher ich der Schule komme, umso langsamer werde ich. Vielleicht um Zeit zu schinden. Vielleicht hoffe ich, Sakuya so nicht über den Weg laufen zu müssen. Als ich erneut auf die Uhr gucke, ist es schon fast zu spät. Nun beginne ich doch etwas schneller zu laufen.

Tatsächlich entdecke ich zunächst niemanden auf dem Schulgelände, doch plötzlich ist er da. Mein Magen zieht sich zusammen.

Ich bleibe wie angewurzelt stehen, habe das Gefühl, mein Herz würde mir aus der Brust springen. Er sieht mich an und ich weiche seinem Blick aus.

„Lass uns reden!“

Ich nicke widerwillig und gehe ein paar Schritte auf ihn zu.

„Lass uns ein Stück gehen.“

Er setzt sich in Bewegung. Ich folge ihm... Dabei will ich nicht. Ich will nicht wieder irgendwelche unangenehmen Fragen beantworten müssen, will mich nicht noch mehr blamieren oder ihm noch mehr Grund geben, mich zu hassen... Können wir nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert? Aber das ist wohl unmöglich.
 

Hinter den Clubhäusern bleibt er endlich stehen, dreht sich zu mir um.

„Also?“

„Was?“

„Warum wolltest du mich küssen? Bist du schwul?“

Einen Moment lang bleibt mein Herz stehen. Dass er dies nun tatsächlich so direkt fragt...

Ich spüre, wie meine Finger beginnen zu zittern. Ich kann nichts erwidern.

„Hat es dir die Sprache verschlagen, oder was? Nun kotz dich endlich aus“

Vielleicht sollte ich es ihm wirklich sagen... ihm erklären, was ich selbst nicht verstehe, ihm sagen, was in mir vorgeht, dass ich ihn küssen und berühren will... Vielleicht würde er mich dann verstehen... vielleicht würde es mir selbst irgendwie helfen...

Aber so einfach ist das nicht.

„Ich... keine Ahnung...“

Es ist das Gefühl, in die Enge getrieben worden zu sein. Mit einem Mal fühle ich mich ihm ausgeliefert. Warum verlangt er dies plötzlich von mir?

Ich weiß das alles doch selbst nicht!

„Was soll das heißen? Du musst doch schließlich wissen, ob du auf Kerle ste-“

„Entschuldige vielmals, wenn nicht alle so perfekt sind wie du und nicht immer die passende Antwort parat haben!“ Ich kann nicht anders, als ihn in dem Moment einfach nur anschreien. Sofort weicht er ein Stück vor mir zurück. Diese Geste macht mich nur noch... ja was eigentlich? Wütender? Oder enttäuscht sie mich?

„Denkst du mir macht es Spaß vor dir immer wie der letzte Vollidiot da zustehen?“, schreie ich weiter und meine Hände ballen sich zu Fäusten. „Denkst du, ich trete absichtlich von einem Fettnäpfchen ins nächste? Weißt du eigentlich wie scheiße es mir im Moment geht, weil ich mich selbst nicht mehr verstehe, nicht mehr weiß was in mir vorgeht? Nimmst du wirklich an, ich wüsste bescheid? Entschuldige dich enttäuschen zu müssen, aber so ist es nicht...“

Auf einmal fühle ich mich einfach nur noch hilflos. Mein Innerstes dir auslegen? So einfach kann ich das nicht... wenn ich es doch nur selbst...

Ich trete auf ihn zu und sogleich weicht er wieder zurück. Lauf nicht weg vor mir...

„Ich würde alles dafür geben es endlich verstehen zu können“, sage ich und komme ihm noch näher. Diesmal bleibt er stehen und unsere Blicke halten einander fest.

Meine Hände greifen nach seinen und ohne Gegenwehr lässt er es geschehen. Mich durchzieht die Berührung mit Hitze. Ich spüre ein Kribbeln, ein unangenehmes Gefühl.

Ich habe gestern lange darüber nachgedacht, was ich sagen könnte, wenn er eine Erklärung von mir will... mir ist nichts eingefallen. Und genauso leer ist mein Kopf auch jetzt.

Ich weiß nur, dass ich deine Nähe will... dass ich ständig an dich denke...

Doch statt dies zu sagen, ziehe ich ihn vorsichtig ein Stück weiter zu mir heran.

Wieder dieser Drang in mir... dies Verlangen...

„Hilf mir es zu verstehen.“

Ich will dich küssen... nur ein Mal.

„Nein!“, kommt es von ihm, doch ohne viel Nachdruck. Er weicht noch immer nicht zurück, auch nicht, als ich ihm noch näher komme.

„Nicht... Kida....“ Ein letzter Versuch... doch dann berühren meine Lippen ohne Gegenwehr die seinen.

Mein Herz rast... schon wieder oder immer noch... viel fester als sonst.

Wieso wehrst du dich nicht? Warum lässt du es zu, dass ich dich küsse?

Als jegliche Reaktion ausbleibt, ziehe ich mich wieder zurück.

Egal welchen Grund es hat, dass du dich nun nicht wehrst... sollte ich diese Chance nicht nutzen? Meine wahrscheinlich letzte Chance?

Nochmals berühre ich ihn sanft, setze diesmal etwas mehr Druck dahinter.

Dich küssen... dich einmal so spüren... Das ist alles, was ich will...

Und ganz plötzlich seine Antwort. Erst ist es nur gering und doch spüre ich die zaghafte Bewegung seiner Lippen... wie sie sich mir öffnen. Langsam wage ich mich vor, spüre wie seine Zunge meiner entgegenkommt.

Eindrücke überschwemmen mich... und doch spüre ich in diesem Augenblick nur ihn.
 

Part 04 - Ende
 

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~ Roppongi Hills

~ Yen
 

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Part 05

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Sakuya (by littleblaze)
 

Dem gewohnten Morgentrott entronnen, kommen wir schließlich auf dem Schulgelände an. Die üblichen Gesichter, die üblichen Begrüßungen und doch suche ich etwas...

Es klingelt und Kyo und ich trennen uns.

Ich werfe einen kurzen Blick in den Sozialkundekurs, Takahama ist nicht da und ich verstecke mich hinter der nächsten Säule, als ich Toshiki-sensei auf den Klassenraum zugehen sehe. Ist mein Verlangen mit ihm zu sprechen schon so groß, dass ich mich dazu entschließe, den Kurs zu schwänzen?

Anscheinend!

Einiges ist mir in der letzten Nacht durch den Kopf gegangen und nichts davon hat mich weiter gebracht. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es auf keinen Fall so weiter gehen kann. Ein klärendes Gespräch, mehr verlange ich doch gar nicht. Grübeln hat doch keinen Sinn, zu viele Vermutungen und eventuelle Ahnungen ich auch haben könnte, Gewissheit kann mir doch nur einer geben.

Und wenn er schwul ist? Kein Prob, solange er akzeptieren kann, dass ich damit nichts zu tun haben will.

Freundschaft? Leider kann ich sie ihm nicht anbieten...
 

Neben den Fahrradständern lege ich mich auf die Lauer. Einige Schüler kommen zu spät, grüßen mich im vorbeigehen, zum Glück ist niemand vom Sozialkundeunterricht dabei.

Nach zehn Minuten wird mein Warten belohnt und kurz bevor er das Gebäude betreten will, trete ich in sein Blickfeld, sofort bleibt er stehen.

„Lass uns reden.“

Ein verwirrter Blick, ein Nicken und seine Schritte mir entgegen, zeigen mir seine Bereitwilligkeit dazu.

„Lass uns ein Stück gehen.“ Ich weiß nicht, ob ich verhindern will mit ihm oder überhaupt gesehen zu werden.

Wir gehen an den Fahrradständern entlang bis zu den Clubhäusern, in denen während der Ferien eigentlich tote Hose sein müsste.

„Also?“, frage ich ihn als ich mich zu ihm umdrehe.

„Also was?“

„Warum wolltest du mich küssen? Bist du schwul?“, schießt es heraus, obwohl ich doch gar nicht weiß, ob er mich wirklich küssen wollte, ich vermutete es nur. Und wenn diese Vermutung nun doch falsch ist... mache ich mich gerade zum absoluten Vollidioten.

Keine peinlich berührte Reaktion, nichts was mir Aufschluss geben könnte, eher eine unglaublich ruhige Gelassenheit strahlt von ihm aus, oder kommt mir das nur so vor?

„Hat es dir die Sprache verschlagen oder was? Nun kotz dich endlich aus“, versuche ich meine plötzliche Unsicherheit zu überspielen.

„Ich... keine Ahnung...“, kommt es zögernd.

„Was soll das heißen? Du musst doch schließlich wissen, ob du auf Kerle ste....“

„Entschuldige vielmals, wenn nicht alle so perfekt sind wie du und nicht immer die passende Antwort parat haben“, schreit er mich plötzlich an. Ich weiche erschrocken einen Schritt zurück.

„Denkst du mir macht es Spaß, vor dir immer wie der letzte Vollidiot dazustehen? Denkst du ich trete absichtlich von einem Fettnäpfchen ins Nächste?“ Seine Stimme wird immer lauter. „Weißt du eigentlich wie scheiße es mir im Moment geht, weil ich mich selbst nicht mehr verstehe, nicht mehr weiß, was in mir vorgeht? Nimmst du wirklich an, ich wüsste bescheid? Entschuldige, dich enttäuschen zu müssen, aber so ist es nicht...“

Er kommt auf mich zu, ich weiche zurück.

„Ich würde alles dafür geben, es endlich verstehen zu können“, kommt es in einer viel ruhigeren Tonlage, und auf einmal ist er mir ganz nah.

Ich schaue ihn an, er schaut mich an. Ich spüre seine Finger an den meinen, und die Berührung verleiht mir das Gefühl, mich nicht bewegen zu können. Warum tue ich nichts dagegen?

Er zieht mich näher an sich heran.

„Hilf mir, es zu verstehen.“

Und ironischer Weise erkenne ich erst jetzt worauf das hier hinaus laufen soll.

„Nein!“

Er schaut mich weiterhin an, der kleine Einwand meinerseits scheint ihn nicht sonderlich aus der Fassung zu bringen, denn er überbrückt die letzten Zentimeter trotzdem.

„Nicht... Kida...“, bekomme ich gerade noch über die Lippen bevor sie von den seinen verschlossen werden.

Ich stehe einfach nur da, lasse es geschehen. Ein kurzer Kuss, nichts besonderes... wann hatte ich eigentlich zum letzten Mal geküsst...?

Er entfernt sich ein Stück, schaut mich an. Mein Kopf ist leer, vollkommen leer.

Als mich seine Lippen erneut treffen, schließe ich wie automatisch gesteuert die Augen, fühle den leichten Druck, der von ihm ausgeht und bin bereit, diesen zu erwidern.

Ich weiß nicht wer von uns, uns ein Stückchen näher zusammen zieht, könnte nicht sagen, ob ich mich an seiner Hose oder an seinem Shirt festkralle... oder sind es doch seine Hände? Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt, weiß ich im Moment gar nichts, ich kann ihn nur spüren... diesen Kuss.

Wie lange alles dauert bin, ich auch nicht im Stande zu sagen, kommt es mir jedoch nur wie eine Sekunde vor, als wir uns schließlich wieder voneinander trennen, mir endlich bewusst wird, was wir gerade getan haben.

„Entschuldige“, flüstert er verlegen.

Sein Blick ist ein wenig verstört, und mein eigener muss reichlich schwer zu interpretieren sein, da ich selber nicht weiß, was ich damit ausdrücken möchte.

Im nächsten Moment renne ich davon...
 

~ * ~
 

In den darauffolgenden Tagen muss der Sozialkundekurs auf meine Anwesenheit verzichten. Ich habe Toshiki-sensei mitgeteilt, dass ich mich nun intensiver mit Mathematik beschäftigen möchte, da ich ja eigentlich nur eine Nachholprüfung für mein Zeugnis bestehen muss...

...natürlich ist das nicht der alleinige Grund, warum ich dem Kurs fernbleibe.

Ich sehe Takahama einige Male auf dem Schulhof. Meistens steht er dann einfach so da, redet mit Sanae, lacht blöde vor sich hin, und es scheint, als wäre gar nichts passiert...
 

Tsuzuki ist ganz schön angepisst, da er jetzt die Stunden im Sozialkundekurs ohne mich abhängen muss. Ich sage ihm, dass mir das scheißegal ist und ich doch nicht sein alleiniges Unterhaltungsprogramm bin. Es rutscht mir einfach so raus... eigentlich wollte ich das gar nicht sagen.

Aber dies ist nicht die einzige beleidigende Äußerung, die ich in den letzten Tagen gemacht habe. Besonders meine Mom habe ich das ein oder andere Mal vor dem Kopf gestoßen, was mir immer sofort leid tat und trotz meiner vorgebrachten Entschuldigungen fühlte ich mich schlecht, immerhin war es nicht ihre Schuld, dass ich mich im Moment, laut Kyos Aussage, mehr als komisch verhalte.
 

Ist mir das denn zu verdenken, mein komisches Verhalten?

Ich denke nicht, aber leider kann ich mich nicht vor Kyo stellen und sagen: „Hey Kyo... ich habe Kida geküsst und weil mir diese Tatsache im Moment ein wenig zu schaffen macht, verhalte ich mich so. Also nimm mir meine komischen Anflüge von Aggressivität bitte nicht übel.“

Er würde mich fragen, warum ich das getan habe, und ich würde nur blöde mit den Schultern zucken und ihm nicht antworten können. Vielleicht würde er mich sogar fragen, ob es... ob es mir gefallen hätte und ich müsste zugeben, dass es so war.

Ich kann es doch nicht toll finden, einen Jungen zu küssen, oder doch? Und wenn? Was folgt dann als nächstes... das Verliebtsein? Ist es vielleicht schon passiert, ohne dass ich davon etwas mitbekommen habe? Wann genau ist es dann passiert, oder passiert es jetzt gerade, in diesen Moment?

Wo fängt es an... dieses Schwulsein?

Bin ich jetzt schwul, weil es mir gefällt ihn zu küssen, macht es mich dazu?

Ich weiß es nicht, und genau dass versetzt mir dieses unangenehme Gefühl, dass ich nicht loswerde. Ich kann mich selbst nicht mehr verstehen.
 

~ * ~
 

Am Freitagabend helfe ich Kyo und seinem Dad bei einer Groß-Reinemache-Aktion in ihrem Laden.

Kyos Bruder ist kaum noch zu Hause, er besucht Abendkurse an der Uni und hat eine feste Freundin. Kyos Mom ist vor sechs Jahren an Krebs gestorben.

Ich räume Regale aus, säubere sie, und beim Wiedereinräumen zähle ich die Artikel durch, trage sie in die Inventurliste ein. Ich könnte mir Besseres vorstellen an einem Freitagabend, aber wenigstens lenkt es ab.

Kyos Dad singt zu der Musik aus dem Radio und Kyo arbeitet sich durch das Lager.
 

Weit nach Mitternacht sind wir endlich fertig und ich lasse mich auf das Gästefuton vor Kyos Bett fallen.

„Erzählst du es mir jetzt endlich?“, dringt es durch die Dunkelheit zu mir herunter.

„Was?“, frage ich, genau wissend was er meint und froh darüber, dass er mein Gesicht nicht sehen kann.

„Ok, schon verstanden, du willst nicht.“

Ich schweige.

„Sakuya?“

„Ja?“

„Wenn du Probleme, ich meine wirkliche Probleme hättest, würdest du es mir doch sagen, oder?“

Kurz überlege ich und kann dann guten Gewissens antworten.

„Ja, wenn es wirkliche Probleme gibt, sag ich es dir.“

„Dann schlaf gut.“

„Du auch.“

Ein wirkliches Problem sah ich im Moment nicht. Vielmehr tauchten immer wieder Fragen auf wie: Wie ist es dazu gekommen? Was war der Auslöser? Warum hat es mir gefallen, ihn zu küssen?

Dass es mir gefallen hatte, versuchte ich nicht einmal zu leugnen... warum auch, würde ich mich doch nur selber belügen. Es war ein schönes Gefühl gewesen, und um ehrlich zu sein, würde ich, wenn man mir die Augen verbinden würde, keinen großen Unterschied zwischen einem Mädchen- und Jungenkuss feststellen können.

In erster Linie war es einfach nur ein Kuss, der unglaublich toll war. Das Problem daran ist nur, von wem ich ihn erhalten habe...
 

~ * ~
 

Am Vormittag darauf gehen Kyo und ich in den Großmarkt, um ein paar Sachen für den Laden zu besorgen. Auf den Weg dahin kommen wir an einen Bücherladen vorbei. Kyo mag japanischen Comicbücher und gibt den Großteil seines Taschengeldes dafür aus.

Wir ketten die leeren Karren an einen Fahrradständer und gehen hinein. Kyo findet sofort einige neue Bände seiner Lieblingsserien, ich schaue mich nur desinteressiert um. Doch plötzlich bleibt mein Blick an etwas hängen. Nachdem ich mich versichert habe, dass niemand in meiner unmittelbaren Nähe ist, greife ich mir eines der Bücher aus dem Regal.

Zum ersten Mal in meinem Leben verfluche ich mich dafür, dass ich den Kanji-Kurs doch nicht absolviert hatte. Nie hatte ich Interesse daran gehabt und dank meines Vaters, der eine beachtliche Spende an die Schule stiftete, war der Kurs auch nicht von Nöten... ich durfte alle meine Arbeiten, Hausaufgaben in Lautschrift oder Englisch schreiben und bekam Arbeitsblätter übersetzt oder erklärt. Mich würde interessieren, was meinem Vater dieser Service gekostet hat...

„Was schaust du dir da an?“

Vor Schreck schlage ich das Buch zu. Es entgleitet mir und fällt zu Boden. Er ist schneller als ich, hebt es auf.

Er schaut sich das Cover an und ich rechne mit dem Schlimmsten...

„Der erste Band war toll, aber dann ging dieses ganze Liebeszeug los, da hab ich dann die Finger von gelassen.“

Ich bin mehr als platt über diese Aussage und schaue nur verblüfft drein.

„Was ist? Du weißt doch, dass ich mir fast von jeder neuen Serie den ersten Band hole.“

Ich nicke nur und er stellt das Buch zurück ins Regal.

„Heute lese fast nur noch Fantasy.“

Während er seine Bücher bezahlt, stehe ich immer noch wie doof im Gang herum. Irgendwas hält mich fest, und erst als ich mich verstohlen umgesehen habe und das Buch seinen Weg unter mein Shirt gefunden hat, schaffe ich es mich in Bewegung zu setzen und den Laden zu verlassen.
 

~ * ~
 

Den restlichen Samstag, sowie den Großteil des Sonntags, üben wir für die Matheprüfung, ein sich wie Kleister hinziehendes Thema, wenn man mich fragt...
 

Sonntagabend widme ich mich dem geklauten Buch, welches ganz unten in meinem Rucksack versteckt liegt. Ich blättere es durch, ein Mal... ein zweites, sogar ein drittes Mal. Soweit ich es verstehe, geht es um eine zunächst unerwiderte Liebe, aufgezwungenen Sex und anschließende Selbstvorwürfe, und hier endet der Band dann auch...

Dem wirklich etwas abempfinden kann ich nicht, zu aufgesetzt kommt mir das alles vor. Der Sex, viel zu übertrieben dargestellt. Ich bin zwar kein Experte beim Thema Sex, aber das ein oder andere Filmchen hatte selbst ich schon einmal gesehen.

Und überhaupt... hatte ich irgendetwas verpasst? Ist Schwulsein schon so weit fortgeschritten, dass es zur Thematik von unzähligen von Büchern, zu einer neuen Modewelle wird, und wie passt das alles in mein eigenes Leben?

Ok, als der erste Kuss in dem Buch fiel, blieb es nicht aus, dass ich ebenfalls an unseren... an den Kuss denken musste und natürlich kam ich nicht drum herum, mir vorzustellen, dass es sich wie in diesem Buch weiterentwickeln würde... Ich schlage das Buch zu und mit gezieltem Wurf landet es im Mülleimer.

So ein Schwachsinn!
 

~ * ~
 

Doch wenn es so absurd, überhaupt nicht vorstellbar, so schwachsinnig war, warum konnte ich in der vergangenen Nacht kein Auge zutun?

Und plötzlich fiel mir auch endlich ein Grund ein, warum ich Comicbücher hasste... sie regten die Phantasie zu sehr an...
 

Am frühen Morgen bekomme ich einen Anruf von Kyo, dass er nicht kommen kann, da sein Vater sich die Bandscheibe angeknackst hat und er nun im Laden stehen muss. Ich verspreche ihm später vorbei zu schauen und wünsche seinem Dad gute Besserung.
 

Etwas später an diesem Tag tue ich etwas total Verrücktes... ich betrete freiwillig den Sozialkundekurs.

Ich hatte Takahama weder vor noch nach meinem Mathekurs zu Gesicht bekommen. Ging er mir etwa aus dem Weg?

Als ich den Sozialkundekurs betrete, erblicke ich Tsuzuki im Mittelfeld der Klasse. Mir fällt ein, dass ich mit ihm seit meinem kleinen Ausraster letztens gar nicht mehr gesprochen habe... mich unbedingt entschuldigen muss. Ich lächle ihn an, er zurück, doch da in seiner Nähe kein Platz frei ist, setze ich mich hinten ans Fenster. Von Takahama keine Spur.
 

Das ändert sich im Laufe der zwei Stunden auch nicht und langsam fange ich echt an, an meinem Verstand zu zweifeln. Warum war ich hier? Doch nur wegen ihm, oder?

Ich will ihn sehen. Ich will erfahren, wie es mir dabei geht, wenn wir im selben Raum sind, nur Meter von einander entfernt. Ich will wissen, ob es mich wütend, nervös oder sonst was macht... ich will ihn einfach nur sehen...
 

~ * ~
 

Nach der Schule helfe ich Kyo im Laden, es lenkt mich ab und nebenbei schauen wir noch ein wenig in die Mathebücher.
 

Am Abend wieder die gewohnten Gedanken: Schwul, Kuss, Takahama, Ich, mein Weltanschauungsbild...

Fragen über Fragen und jedes Mal ein paar mehr. Die größte und zugleich neuste: Warum eigentlich alles so locker-leger?

Sollte ich mich nicht wenigstens ein bisschen darüber aufregen, dass er mich einfach so geküsst hat? Sollte ich nicht verstört darüber sein, dass ich mit dem Gedanken spiele, schwul zu sein? Wieso versuche ich dieses Gefühl, ihn sehen zu wollen nicht zu unterdrücken? Warum nehme ich das alles irgendwie ganz normal hin... warum schaffe ich es nicht, mich darüber aufzuregen?

Das einzige, was mich im Moment aufregt, dass er heute nicht in der Schule war... vielleicht hätte ich mich selber ein wenig besser verstanden, wenn ich ihn nur hätte sehen können...
 

~ * ~
 

Dienstag, eigentlich ein Tag an dem ich locker zu Hause hätte bleiben können, nur der eigentlich abgelegte Sozialkundekurs findet statt, und trotzdem schleife ich mich zur Schule.
 

Vor dem Kurs sehe ich ihn nicht, habe auch keine großen Erwartungen, dass sich das noch ändern wird, denn mein Blick fällt auf Sanae die mit einigen Freundinnen auf dem Schulhof steht, von ihm keine Spur.

Ein wenig schockiert, wird mir plötzlich klar, dass ich ja ihren Freund geküsst habe, warum war mir das bis jetzt nicht in den Sinn gekommen?

Jetzt habe ich also nicht mit der Freundin von nem Typen, sondern mit einem Freund von ner Schnecke etwas. Innerlich habe ich das Bedürfnis gegen die nächstbeste Wand zu laufen.

Sie und Takahama hatten immer ein bomben Verhältnis, schienen sich alles zu erzählen. Ob sie es weiß?

Mein Blick ruht noch immer auf ihr und eine Freundin scheint dies zu bemerken und stupst sie an, sie dreht sich zu mir um. Erst will ich mich wegdrehen, dann halte ich ihrem Blick aber doch stand. Sie lächelt und winkt mir zu, ich lächele zurück...
 

Der Sozialkundekurs ist die reinste Zeitverschwendung, kein Wort bekomme ich von dem mit, was Toshiki-sensei erzählt. Ich sehe nur wie sich seine Lippen bewegen und einiges an die Tafel gekritzelt wird.

Mein Verlangen Takahama zu sehen wird von Minute zu Minute größer. Was fällt dem überhaupt ein, nicht zur Schule zu kommen, wenn ich extra für ihn hier auftauche...
 

Nach dem Sozialkundekurs fange ich Sanae ab.

„Kann ich dich mal kurz sprechen?“

Sie trennt sich von ihrem Rudel und folgt mir einige Schritte. Die Mädchen kichern wie blöde und starren uns hinterher.

„Was gibt es denn?“

„Kannst du mir verraten, warum... Takahama nicht in der Schule ist?“ Ich schaue fragend in ihr überraschtes Gesicht. „Ich meine... wegen der Nachhilfe, du... du weißt doch sicher davon“, versuche ich schnell mein Interesse zu erklären.

„Sagen wir mal so...“ Sie schaut sich kurz um, zwinkert mir zu. „Ich soll sagen, dass er krank ist.“

„Ah so.. .und wann..?“

Ein Schulterzucken auf die noch nicht ausgesprochene Frage.

„Wenn es wichtig ist, geh doch einfach zu ihm.“

„Zu ihm nach Hause?“, frage ich wohl ein wenig zu verwundert.

„Warum nicht? Ihr könnt doch ebenso gut bei ihm lernen.“ Sie lächelt, auch wenn ich nicht wirklich verstehe wieso, weiß sie es?

„Ich weiß nicht“, gebe ich unschlüssig preis. „Ich kann doch nicht einfach...“

„Natürlich kannst du... Warte, ich schreib dir die Adresse auf.“

Sekunden später halte ich einen rosa, nach irgendeinem Duftstoff riechenden Zettel in der Hand. Ich bedanke und verabschiede mich von ihr, immer noch nicht wissend, ob ich es wirklich tun soll.

„Ach Sakuya...“ Sie holt mich noch einmal ein, flüstert schon beinahe. „Er ist nicht so wie alle denken... und... er und ich... wir sind nicht zusammen.“ Sie zwinkert mir erneut zu und lässt mich ein wenig verdattert drein blickend stehen.
 

Zwanzig Minuten später bin ich endlich am Ziel.

Das Viertel ist mir neu, wenigstens kann ich mich nicht daran erinnern jemals hier gewesen zu sein. Mehrfamilienhäuser, große Betonklötze und kein bisschen Charme. Ich finde das richtige Haus und die dazugehörige Schelle, auf der zu meiner Überraschung noch ein zweiter Name gedruckt ist.

Ich zwänge mich an einer Dame mit drei Kindern vorbei und betrete so den Betonklotz, ohne vorher auf mein Erscheinen aufmerksam machen zu müssen.

Im dritten Stock verlasse ich den Fahrstuhl, schaue erst links, finde dann aber doch rechts, was ich suche. Auch hier sind beide Namen auf der Schelle zu erkennen, ich klingele.

Ein mulmiges Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit, und ich verspüre das Verlangen, einfach wieder die Flucht zu ergreifen, doch zu spät, die Tür wird langsam geöffnet. Was wollte ich eigentlich hier, was will ich ihm sagen?

Ein kleines Mädchen schaut fragend zu mir hoch, überrascht gehe in die Hocke.

„Hallo, wer bist denn du?“

„Das darf ich nicht sagen“, antwortet sie verschüchtert.

„Und warum darfst du das nicht?“

„Weil du ein Fremder bist.“

„Oh! Also, mein Name ist Sakuya“, stelle ich mich vor und strecke ihr galant die Hand entgegen.

„Hallo Sakuya.“

„Ich bin ein Freund von Tak... Kida und wollte ihn gerne besuchen.“

„Kida ist nicht da.“

„Wo is...“

„Ich heiße Lynn“, unterbricht sie mich.

„Lynn? Das ist aber ein schöner Name.“ Ich lächle.

„Kida ist einkaufen, er kommt gleich wieder“, sprudelt es aus ihr heraus.

„Ok, dann warte ich hier auf ihn.“

„Willst du mit mir spielen?“

„Was spielst du denn?“

„Komm mit, ich zeig es dir.“ Sie nimmt mich bei der Hand, und zieht mich hinter sich her, ihre Furcht gegen Fremde scheint schnell bezwungen zu sein. Ein unangenehmes Gefühl überflutet mich als ich ihr folge, immerhin betrete ich einfach so eine fremde Wohnung.

„Wo ist denn deine Mama, Lynn?“, frage ich neugierig und besorgt zugleich.

Sie zeigt auf einen der hinteren Räume.

„Aha.“

Ich streife mir die Schuhe ab, werde in ihr Zimmer geführt. Sie zeigt mir ihre Spielsachen, Barbie, Puppen, Lego, das ganze Sortiment.

Plötzlich ein lautes Poltern, Schreie, ein Wortgefecht. Durch die geöffnete Kinderzimmertür auf den Raum schauend, aus dem der Krach zu kommen scheint, überkommt mich ein wenig Furcht.

Die Tür öffnet sich, das Geschrei wird lauter. Eine Frau, wahrscheinlich Lynns Mom, versucht vor einem Mann zu flüchten. Er jedoch hält sie am Arm fest und fängt an, auf sie einzuschlagen.

Ich traue meinen Augen kaum, und zögere keine Sekunde. Ich laufe zur anderen Seite des Flurs, stelle mich dem Mann in den Weg, der gerade abermals auf die Frau einschlagen will. In letzter Sekunde bemerkt er mich und hält inne, nicht wirklich damit gerechnet, weiche ich dennoch aus und komme ins Wanken. Ich finde keinen Halt und nehme als letztes den Türrahmen wahr...
 

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Kida (by Stiffy)
 

Auch wenn ich weiß, dass es Einbildung ist, glaube ich, ihn noch immer zu spüren. Wie lang ist es her? Zwanzig Minuten? Vielleicht eine halbe Stunde? Gerade erst passiert und doch kommt es mir so lang vor...

Ich weiß nicht, wieso ich es getan hatte... oder wieso ich mich plötzlich nicht mehr beherrschen konnte. Es ging einfach nicht... seine ganzen Fragen, in meinem Kopf... und das Verlangen... Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Ich musste es einfach tun...

Und es war so schön... Ich finde kein anderes Wort, was es besser umschreibt... es war einfach nur schön...

Seine Wärme...

Seine Lippen...

Ich lasse die Tür hinter mir zuknallen, bleibe einen Moment im Flur stehen. Können die Gedanken nicht endlich verschwinden? Ich raffe mich auf und gehe in die Küche etwas zu trinken holen... dann ins Wohnzimmer.

Ich habe ihn tatsächlich geküsst... und er hat es erwidert.... verdammt, er hat es erwidert!

...Und ist dann weggerannt.

Ich lasse mich aufs Sofa fallen, schalte den Fernsehen an.

Es ging so schnell, plötzlich, als der Kuss vorbei war... Kein weiteres Wort, er ist einfach weggelaufen.

Verständlich, irgendwie... Wahrscheinlich war es für ihn ein ziemlicher Schock.

Aber... er hat doch...

Kopfschüttelnd greife ich nach der Fernbedienung, zappe durch die Kanäle. Ich brauch irgendwas, das mich ablenkt... irgendwas... Los, denk endlich an etwas anderes!

Bei einer Reportage über eine Musikgruppe bleibe ich hängen. Gerade wird der Gittarist interviewt, danach der Schlagzeuger. Kurz bleiben meine Gedanken wirklich dort. Bis vor zwei Jahren hatte ich selbst noch Schlagzeugunterricht...

Der Reportage folgen nur wenige Minuten später die Nachrichten.

Was denkst du jetzt wohl?

Widere ich dich an?

Oder fragst du dich genau wie ich nun, warum der Kuss so intensiv geworden ist?

Ich lasse mich in die Polster zurücksinken, starre vor mich hin.

Verstehe ich mich jetzt besser? Ich weiß es nicht... Noch immer ist die ganze Verwirrtheit in mir drin nicht verschwunden, noch immer überfüllt sie meinen Kopf... und doch wird ganz langsam etwas Helligkeit in die Sache gebracht... Irgendwo werden winzige Lichtchen angeknipst...

Und der Gedanke, dass ich mich tatsächlich verliebt habe, scheint schon lange nicht mehr abwegig...

Warum sonst passiert das alles mit mir?
 

Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn das nächste, was ich wahrnehme, ist meine kleine Schwester, die auf mich draufhüpft.

„Lynn!“, kommt die Ermahnung meiner Mutter.

Gähnend setze ich mich auf, fische nach der Fernbedienung und schalte das Gerät aus.

„Du bist schon zu Hause?“

Ein Blick auf die Uhr verrät, dass ich nicht lange geschlafen haben kann... und der Sozialkundekurs gerade erst vorbei ist.

„Mhm... Mir war nicht so gut...“

Ein tadelnder Blick meiner Mutter verrät, dass sie mir nicht glaubt. Sie geht kopfschüttelnd weg.

Lynn kuschelt sich an meine Brust und lässt sich tragen als ich aufstehe, um meiner Mutter in die Küche zu folgen. Erst als ich nun auch noch anfange, beim Wegräumen der Einkäufe zu helfen, will sie runtergelassen werden.

Meine Mutter und ich arbeiten schweigend nebeneinander her.

Nachdem wir fertig sind, setzt sich meine Mutter mit einem Magazin ins Wohnzimmer. Mit einem Glas Saft in der Hand bleibe ich im Türrahmen stehen und betrachte sie.

Warum fragt sie mich nicht, was los ist?

Aber wenn sie es täte... was würde ich ihr antworten? Wie würde sie wohl reagieren, wenn sie wüsste, was im Moment in mir vorgeht? Was sagen, dazu, dass ich solche Gefühle für einen Jungen hege?

„Mama...“, spreche ich zögernd, was sie dazu bringt den Blick von ihrer Zeitschrift zu heben.

„Ja?“

„Ich würde dich gerne etwas fragen...“

Wäre es eine Schande für dich, wenn ich schwul wäre?

Ich drehe das Glas in meinen Händen und beobachte die leichten Wellen, die dabei im Orangensaft entstehen. „Was denn?“, fragt sie und ich höre, wie sie die Zeitschrift beiseite legt, spüre ihren Blick auf mir ruhen.

Ich glaub ein wenig zittern meine Hände sogar...

„Was würdest du sagen... wenn ich...“ Meine Stimme versagt mir den Dienst.

Ich räuspere mich und trinke einen Schluck, sehe meine Mutter aus den Augenwinkeln an. Wieso ist es bloß so schwer, es einfach auszusprechen? Ich glaube eigentlich nicht, dass sie mich verstoßen oder gar rausschmeißen würde... was ist es dann, was ich fürchte?

Das Telefon erlöst mich. Während sie aufsteht um dranzugehen, drehe ich mich um und verschwinde in meinem Zimmer, wo ich mich aufs Bett fallen lasse.

Eigentlich sollte ich dem Anrufer dankbar sein... Doch mein weniger Mut ist nun vollkommen verschwunden...

Ich höre, wie sie das Telefonat beendet und dann verlieren sich ihre Schritte in der Küche.

Warum fragst du nicht noch mal, was ich dir sagen wollte? Interessiert es dich nicht?
 

~ * ~
 

Den Kopf mal wieder über die Englischbücher gebeugt, bekomme ich nur am Rande mit, wie es wenig später an der Tür klingelt... Doch nur nach ein paar Sekunden wird meine Zimmertür aufgerissen.

„Aha! Da bist du also!“

Sanae steht vor mir... und sofort fällt es mir wieder siedendheiß ein.

„Scheiße, das hab ich völlig vergessen...“

„Tja, das hab ich gemerkt!“

Sie schließt die Tür hinter sich und kommt zu meinem Bett hinüber. Ich schaue zu ihr hoch und fühle mich mit einem Mal noch mieser als schon die ganze Zeit. Jetzt vergesse ich auch noch meine beste Freundin wegen dieser Sache...

„Erklärst du es mir? Oder willst du mich noch weiter anstarren?!“ Sie ist wirklich beleidigt. Ich kann es verstehen.

„Ich... ich habe Sakuya geküsst...“

„Und deswegen verse-...“ Ihre Augen weiten sich. „Moment! Du hast was?!“

„Ihn geküsst...“

„Geküsst? Wie? Ich meine... So richtig geküsst?“

„Ja...“

„Nee!!“ Sie springt auf mein Bett. „Im ernst? Und, wie wars?“, fragt sie aufgeregt.

Ich muss lachen, obwohl mir gar nicht danach ist. Irgendwie ist dies gerade eine vollkommen bescheuerte Situation...

Nachdem ich sie einige Sekunden einfach nur schweigend ansehe ohne ein Wort zu sagen, scheint sie zu begreifen, dass ihre Euphorie vollkommen fehl am Platz ist. Ihr Lächeln verblast und macht einer nahezu sorgenvollen Miene platz.

„Es scheint... nicht so gut gewesen zu sein...“

„Im Gegenteil... es war toll... bis er weggerannt ist, jedenfalls...“

„Moooment mal... so weit sind wir noch nicht...“ Sanae hebt die Hände. „Jetzt erzähl mir das Ganze mal von vorne!“

Nach einem Bericht der Dinge ist sie zunächst mal wieder einfach nur sprachlos... ähnlich wie ich mich schon die ganze Zeit fühle.

„Was... was hast du jetzt vor...?“, fragt sie dann nach einer Weile.

„Nichts.“

„Wie nichts?“

Ich lehne mich gegen die Wand, sehe sie an.

„Gar nichts... was soll ich auch machen? Ich hab mich schon so genug blamiert... mehr kann ich nicht tun... mehr will ich nicht tun... und mehr werde ich nicht tun...“

„Aber ich meine... er hat den Kuss doch erwidert...“

Ich schüttle den Kopf. „Schon... aber es war wahrscheinlich auch nur aus der Situation heraus...“

Ich bin so viele Möglichkeiten durchgegangen, wieso er den Kuss erwidert haben könnte... Und alle erscheinen mir wahrscheinlicher als die ‚Er mag mich auch’-Theorie. Es gab genug Zeichen, dass er mich eher hasst.

„Und wenn nicht?“

„Dann ist es nicht an mir, das zuzugeben...“
 

~ * ~
 

Den Rest der Woche versuche ich alles mögliche, um nicht an Sakuya zu denken.... doch meistens werfen die morgendlichen Augenblicke, wenn ich ihn in der Schule sehe, alles wieder über den Haufen. Zum Sozialkundeunterricht am Donnerstag erscheint er nicht... zum Glück?
 

Am Freitag vor dem Englischunterricht werde ich von Toshiki-sensei angesprochen. Er fragt mich, wie es mit der Nachhilfe läuft.

„Gut“, lüge ich.

In Wirklichkeit kann ich die Nachhilfe bei Sakuya wohl vergessen... Wahrscheinlich sollte ich mir irgendjemand anderen suchen, der mir helfen kann... oder der mir wenigstens ein paar Aufzeichnungen oder Übungszettel gibt...

Nach der Stunde habe ich ein paar Mädchen aus meiner Klasse im Kopf, die eigentlich die Prüfungen bestanden haben sollten. Ich mache mich also auf die Suche nach wenigstens einer von ihnen... werde schnell fündig.

Maaya scheint ziemlich überrascht, als ich sie anspreche. Ich hatte vor einiger Zeit mal ein Date mit ihr... allerdings ist daraus nie mehr geworden als nur ein paar Küsse... Von beiden Seiten aus reichte das vollkommen.

Meine Frage bejaht sie und lächelt...

„Willst du mit zu mir kommen? Dann kann ich sie direkt geben...“, fragt sie dann.

Ich zögere einen Moment, bevor ich zustimme. Ich brauch die Unterlagen wirklich... und am Wochenende habe ich wenigstens genug Zeit zu lernen.

Da auch sie heute nur einen Kurs hatte, machen wir uns gleich auf den Weg. Ein belangloses Gespräch entsteht und schnell sind wir bei ihr zu Hause angekommen.

Ich bleibe an der Tür stehen, kann mich nur schwach daran erinnern, dass ich schon mal hier war.

„Da, bitte!“, lächelnd streckt sie mir ein paar Blätter entgegen. „Bekomme ich noch was dafür?“ Auffordernd sieht sie mich an, kommt noch einen Schritt näher. „Treffen wir uns mal wieder?“ Allein ihre Frage, lässt ein unangenehmes Gefühl in mir entstehen. Warum spüre ich überhaupt keine Lust darauf?

Zögernd schüttle ich den Kopf, weiß nicht wirklich, wie ich es erklären soll.

Ihr Blick ist enttäuscht. „Was ist passiert, dass du das Angebot ausschlägst?“

„Vieles...“ Ich versuche ein Lächeln. „Danke für die Unterlagen... Ich geb sie dir nach der Prüfung wieder...“

Damit verabschiede ich mich und verlasse den Wohnblock.

Draußen bleibe ich einen Moment stehen.

Was hast du bloß mit mir gemacht, Sakuya? Ich kann nicht sagen, dass Mädchen mich plötzlich nicht mehr interessieren... Ich glaube, sie sind mir einfach egal geworden...
 

~ * ~
 

Am Nachmittag bekomme ich einen Anruf von Akito. In der Grund- und Mittelschule waren wir sehr gut befreundet, doch in der Oberstufe trennten sich unsere Wege, weil wir verschiedene Schulen besuchten. Unsere Treffen wurden schnell weniger und nur ab und zu noch telefonieren wir oder machen irgendwas zusammen.

An diesem Tag freut mich sein Anruf sehr. Jegliche Art von Ablenkung kommt im Moment genau richtig.

Wir telefonieren fast eine Stunde lang, verabreden uns anschließend für Montagabend.

Als wir aufgelegt haben, mache ich mich auf den Weg zu Sanae.

Kino ist geplant für heute Abend...

Schon als wir dies beschlossen, standen zwei Filme zur Auswahl... Aufs neue beginnen wir nun, darüber zu diskutieren. Sie ist für den Actionfilm, der schon seit einer Woche läuft, ich allerdings eher für den neuen Thriller. Für diese paar Minuten und auch danach, als ich ihr etwas in Mathe erkläre, geht es mir gut.

Erst etwas später, als sie sich fertig macht, muss ich wieder an Sakuya denken.

„Wieso hat er zugelassen, dass ich ihn küsse?“, frage ich mich zum xten Mal seit diesem Ereignis...

Sanae steht vor mir, kämt sich die Haare. Sie seufzt, antwortet nicht. Das hatte ich aber auch nicht erwartet.

Kurze Zeit später machen wir uns auf den Weg.

Und irgendwann... zwischen Karten- und Popcornkauf, meint sie wie nebenbei:

„Er hätte es sicher nicht getan, wenn er es nicht selber gewollt hätte...“
 

Zwar war ich zu dem Schluss irgendwann zuvor auch schon gekommen – obwohl es dennoch unmöglich erschien – aber nun lässt es mich nicht mehr los.

Den ganzen Film über gehen mir ihre Worte nicht mehr aus dem Kopf. Zwar versuche ich wirklich mich auf den Thriller, den immerhin ich ausgesucht habe, zu konzentrieren, aber letztendlich bekomme ich nicht wirklich etwas davon mit. Sanae lacht, als sie danach meine Meinung zu einer Situation hören will, ich sie aber nur irritiert ansehe und frage, ob da so etwas vorkam.
 

~ * ~
 

Das Wochenende verbringe ich zum größten Teil mit Nachdenken... der restliche Teil versucht sich auf Englisch zu konzentrieren. Irgendwann, als mein Kopf dermaßen voll ist, dass ich keine einzige Vokabel mehr hinein bekommen hätte, verlege ich meinen Sitzplatz ins Bett, lese mir die paar Seiten im Sozialkundebuch durch, die wir in den letzten Stunden durchgenommen hatten... Genau wie im Unterricht, kann ich dem Zeug auch jetzt nicht folgen...

Durch das ganze Lernen vergesse ich die Zeit und komme so viel zu spät ins Bett. Prompt überhöre ich am Montagmorgen meinen Wecker... oder hatte ich ihn vielleicht gar nicht gestellt?

Zumindest erwache ich erst um zwanzig nach Zehn... viel zu spät. Englisch ist somit schon so gut wie vorbei und zu Sozialkunde würde ich es auch nicht mehr pünktlich schaffen.

Schnell schreibe ich Sanae eine SMS. Ich sei krank, soll sie sagen...

Über mich selbst verärgert, lasse ich mich anschließend zurück in die Kissen fallen. Naja, zumindest muss ich so Sakuya nicht sehen...
 

Meine Mutter ist sauer, als sie merkt, dass ich noch zu Hause bin. Es kommt zum Streit, in dem ich ihr vorwerfe, dass sie sich ja auch darum kümmern könnte, dass ich pünktlich weg komme... Ich bin gereizt, sie ist gereizt und Lynn profitiert am Ende davon, als ich keine Lust mehr auf die Diskussionen habe, sage, ich habe ihr versprochen, mit ihr zu spielen und in ihr Zimmer verschwinde...
 

Am Abend mache ich mich auf den Weg zum Treffen mit Akito. Meine den ganzen Tag durchweg schlechte Stimmung verschwindet schnell, als wir ein paar Sätze gewechselt haben, schnell beschließen uns in Computerspielen zu messen.

Irgendwann zwischendurch kommt – wie zu erwarten war – die Frage auf, ob der jeweils andere im Moment eine Freundin habe... Ich verschlucke mich an meinem Getränk und huste, Akito lacht und meint, gerade ich solle nicht so schockiert tun.

Ich verneine seine Frage, während er die Gegenfrage bejaht. Seit drei Monaten habe er eine Freundin... Eine geile Schnecke, wie er sagt, vielleicht auch etwas für länger.

Unser Gespräch verliert sich schnell in der gegnerischen Spannung des Spiels, doch ich schaffe es nicht, meine Gedanken ganz darauf zu konzentrieren.

Was hätte ich geantwortet, wenn ich tatsächlich eine Beziehung hätte... mit Sakuya... oder besser gesagt, mit einem anderen Jungen? Hätte ich seine Frage dann auch verneint? Oder hätte ich ihm die Wahrheit gesagt? Wie würde er reagieren?

„Ha ha! Gewonnen!!“, reißt Akito mich aus meinen Gedanken, sieht mich breitgrinsend an.

Ihm könnte ich es sagen, oder?
 

Als wir keine Lust mehr auf die Spiele haben, sehen wir uns einen Film an. Durch irgendeine Situation kommt Akito darauf, dass er seit einiger Zeit einen komischen Fehler auf seinem PC hat. Wir rätseln, spekulieren, und am Ende kann ich nicht anders, als seinen gesamten Computer nach der Ursache zu durchforsten... die ich nach etlichen Umwegen sogar finde.

Nicht zuletzt deswegen ist es ziemlich spät geworden. Als ich mich auf den Weg nach Hause machen will, schlägt Akito vor, dass ich doch bei ihm schlafen könne. Einiges hin und her, plus seine Überzeugungskünste... dann stimme ich zu.

Noch ein Tag, an dem ich in der Schule nicht durch Anwesenheit glänzen werde...
 

Später auf dem Futon erzählt Akito von seiner Freundin. Er schwärmt ziemlich und verspricht, sie mir bald mal vorzustellen.

„Du hast also keine Freundin... hm... bist du verliebt?“, fragt er dann nach einer Weile, was mich schon wieder nervös macht. Wahrscheinlich wäre es okay, ihm die Wahrheit zu sagen, aber so weit bin ich dann doch noch nicht... und außerdem wird aus der Sache wohl eh nix und früher oder später kehre ich zu meinem normalen Leben zurück.

„Nö... nicht wirklich...“

„Nicht wirklich?“

Ich muss grinsen. „Nein, ich bins nicht...“

Damit ist das Thema gegessen.
 

~ * ~
 

Als ich am nächsten Vormittag nach Hause komme, empfängt mich sofort die explosive Stimmung zwischen meiner Mutter und Takehito. Mit mürrischen Gesichtern werde ich begrüßt und Takehito lässt einen Spruch darüber ab, dass ich heut schon wieder nicht in der Schule war... Verdammt, muss er denn gerade dann morgens zuhause sein, wenn ich ausnahmsweise mal nicht in der Schule bin?

„Aus dir kann ja nichts werden!“, setzt er hinterher, was meine Mutter ausflippen lässt.

Ich schnappe mir den Einkaufzettel vom Tisch und das Portmonee meiner Mutter. Ich will diesem Kriegsschauplatz entfliehen...

„Ich erledige das...“, sage ich, auch wenn es wohl nicht gehört wird, da nun wieder Mal ein Streit zwischen den beiden entfacht ist. Ich bin der Grund... und um ehrlich zu sein, bin ich froh, dass es so ist, und sie nicht beide auf mir rumhacken, sondern meine Mutter mich wenigstens noch ab und zu verteidigen will.

Lynn kommt mir im Flur entgegen.

„Die beiden streiten wieder... Ich geh mal kurz einkaufen, bin aber gleich zurück... bleib in deinem Zimmer, ja?“

Ich streiche ihr zärtlich über die zu zwei Pferdeschwänzen gebundenen Haare und sie nickt.

Damit verlasse ich unsere Wohnung.
 

Die Geschäfte sind überfüllt um diese Uhrzeit, weshalb ich ewig an den Kassen stehe. Es vergeht bestimmt eine halbe Stunde bevor ich mich endlich wieder auf den Heimweg machen kann. Hoffentlich ist der Streit vorbei...

Als ich die Tür aufschließe, erwartet mich jedoch ein erschreckendes Bild.

Als erstes sehe ich Lynn, die weinend im Flur steht, und danach...

„Sakuya!“, rufe ich, lasse die Einkaufstüten fallen und bin mit wenigen Schritten bei ihm.

Er liegt am Boden, hält sich den Kopf und scheint mich nicht wahrzunehmen.

„Was ist passiert!?“, fauche ich meine Mutter an, die mit bleichen Gesicht neben ihm kniet. Takehito steht nur da und beachtet mich nicht.

„Er... das...“, meine Mutter ist völlig aufgelöst.

„Der Dummkopf ist einfach dazwischen geraten...“, erklärt mein Stiefvater mir eisiger Stimme.

„Du hast ihn geschlagen!“ Die Wut in mir wird immer größer, droht überzukochen.

„Nein! Der ist so blöd und gegen den Türrahmen gerannt!“

Ich wende mich wieder Sakuya zu.

„Am besten.... du...“

Ich versuche Sakuya in eine aufrechte Position zu bekommen, halte ihn einen Moment, als er mit wackligen Beinen neben mir steht. Mit Mühe und Not und nur mit ein ganz bisschen Hilfe seinerseits, schaffe ich es, ihn in mein Zimmer zu bringen...

Er blinzelt zweimal, als er in meinem Bett liegt und schließt dann die Augen.

An seinem Kopf ist eine riesige Beule... aber zum Glück kein Blut.

Meine Mutter reicht mir einen nassen Lappen, dann verlässt sie mein Zimmer.

Vorsichtig berühre ich die verwundete Stelle an seiner Schläfe.

„Musst du mir immer so einen Schreck einjagen?“, flüstere ich leise, während sich mein Herz ganz langsam wieder beruhigt.

„Nicht...“, entkommt es plötzlich seinen Lippen, und sofort ziehe ich vor Schreck meine Hand zurück.

Er blinzelt wieder und sieht mich an, verzieht das Gesicht vor Schmerzen.

„Scheiße, was ist passiert?“, ist er es, der die Frage stellt.

„Das sollte ich dich fragen, was hast du dir dabei gedacht? Hier einfach aufzutauchen und menschliches Schutzschild zu spielen... Wie doof muss man eigentlich sein?“, wütend fahre ich ihn an. Dabei bin ich im Moment eigentlich einfach nur erleichtert, dass er wieder bei Bewusstsein ist.

„Es war wirklich die beschissenste Idee überhaupt, hier auszutauchen und einer Frau zu helfen, die geschlagen wird... echt beschissen“ Er will sich hinsetzen, doch der Versuch scheitert kläglich. Resignierend schließt er die Augen.

„Er ist nicht mein wirklicher Vater“, sage ich leise, weil ich nicht will, dass er etwas Falsches denkt.

„Oh ja, das minimiert den Schmerz ungemein.“ Sarkasmus seinerseits...

Und ich... kann nichts mehr sagen. Ich schaue auf den Lappen in meinen Händen. Mit einem Mal fühle ich mich hilflos. Verdammt Sakuya, merkst du nicht, wie nervös du mich gerade machst? Du bist hier bei mir, in meinem Bett... Ich habe das Gefühl mich zum Trottel zu machen, egal was ich jetzt tue. Ich will dir so gern helfen, etwas sagen oder fragen, aber ich weiß nicht was. Ich kann nicht einmal geradeaus denken.

Schließlich zu einem Entschluss gekommen, stehe ich auf.

„Wo gehst du hin?“ Sakuyas leicht verwirrte Stimme lässt mich stehen bleiben.

Einen Moment raus hier... „Nur kurz ins Bad.“, sage ich stattdessen und zeige ihm den Lappen.

Gerade will ich weiter gehen, als Sakuya weiterspricht, mich etwas fragen will.

Auch mein kleiner Versuch, ihn davon abzuhalten, hilft nichts. Er unterbricht ihn, schürt so nur noch meine Angst vor der Frage.

Mir bleibt nichts übrig, außer einzuwilligen... Ich zucke mit den Schultern, fingere an dem feuchten Lappen herum. Was soll das jetzt? Was will er?

Und dann, als er seine Frage stellt, lässt es meinen Körper erstarren.

Wie bitte? Um Himmels Willen, wie kommt er gerade auf solch eine Frage? Ich schaffe es weder, mich umzudrehen, doch mich sonst irgendwie zu bewegen. Was soll ich denn bitte nun sagen? Ob es mir gefallen hat? Wenn ich ihm sage, wie toll ich es fand, dann... ja was dann...?

„Ja.“, antworte ich schließlich doch und fühle mich vollkommen ausgeliefert.

Ich drehe mich zu ihm um. Sakuya sitzt bereits im Bett und sieht mich an. Sein Blick ist fest.

Einen Moment lang zögere ich, dann stelle ich ihm schließlich die selbe Frage und versuche in seinen Gesichtszügen lesen zu können, doch kaum etwas verändert sich bei dem schlichten ‚Ja’.

Weiß er überhaupt, was er da sagt?

Die Warnung meines Verstandes ignorierend, gehe ich auf ihn zu, blicke ihm dabei noch immer in die Augen, die mich klar und unverhohlen ansehen. Woher nimmst du gerade diese Kraft? Mir fällt es so wahnsinnig schwer, dich anzusehen...

„Wa... warum hast du es getan?“, fragt er, als ich mich wieder aufs Bett setze.

Ich höre seine Frage kaum... versuche eher, mich selbst zu verstehen. Was habe ich vor, nun zu tun?

Ich hebe meine Hand um ihn zu berühren, doch nur kurz vorher, zuckt er zurück. Das also willst du nicht? Hast du Angst vor mir? Ich senke meine Hand wieder.

„Warum?“, beziehe ich mich nun doch auf seine Frage. Warum ich es getan habe? Weil ich es wollte... weil ich deine Lippen kennen wollte... weil ich es noch immer will... doch warum das alles so ist, das kann ich dir nicht sagen.

„Ja.“

„Ich weiß es nicht und es ist mir auch egal... wenn ich es nur noch einmal tun darf...“

Ich weiß nicht, woher ich plötzlich den Mut nehme, mich ihm wieder zu nähern, wo er mir doch Sekunden zuvor noch ausgewichen ist. Nur ganz leicht lege ich meine Lippen auf seine, noch ehe er protestieren kann. Zweimal küsse ich ihn vorsichtig, wage es nun auch, meine Hand an seine Wange zu legen...

Warum lässt du all das zu?

Willst du es vielleicht auch, Sakuya? Ist der Grund so einfach?

„Tut es sehr weh?“, frage ich, als ich mich wieder etwas von ihm entferne.

„Ein wenig.“ Er ist mir so nah... seine Augen sind so schön.

Verdammt, was mache ich hier eigentlich? Er liegt in meinem Bett und ich kann nichts anderes tun, als ihn wieder in eine Ecke zu zwingen... ihn wieder zu küssen.

Ich ziehe meine Hand wieder zurück.

„Warum bist du eigentlich hier?“, frage ich endlich das, was schon längst überfällig ist.

„Ich wollte dich sehen... denke ich.“, flüstert er und es lässt mein Herz schneller schlagen. Meinst du das ernst? Aber das...

„Warum?“, frage ich.

„Einfach so.“

„Einfach so?“

„Ich finde es... schön, wenn du mich küsst.“, spricht er, während er mich ansieht... danach wendet er sogleich seinen Blick ab.

Wenn du wüsstest, was deine Worte in mir anrichten, Sakuya, wenn du wüsstest wie nervös ich gerade bin... wie viel Angst ich vor jedem weiteren Wort habe, egal ob es deine oder meine Lippen verlässt.

„Ich kann es wieder tun...“, spreche ich nervös.

„Was?

„Dich küssen.“

„Mich küssen?“

Ich nicke und spüre meine Finger zittern. „Immer und immer wieder, wenn du willst.“

„Wenn ich will?“

Wieder bejahe ich dies.

Und dann fragt er mich, ob auch ich es will... Wie kannst du mich so etwas fragen? Ich will es schon die ganze Zeit.

„Ja.“, flüstere ich.

Sieh mich nicht so verwirrt an... Auch ich weiß nicht, was hier gerade passiert.

„Warum?“

Ich berühre zärtlich seine Wange. Wie weit kann ich nun ehrlich zu dir sein? Was kann ich noch verlieren außer meinen Stolz? Habe ich eine Chance, vielleicht viel mehr zu gewinnen?

„Weil...“ Ich flüstere ihm die Worte ganz leise zu, während in mir immer alles nur noch nervöser wird. Und dann senke ich meinen Kopf wieder. Ich spüre seine Lippen ganz leicht unter meinen, nur flüchtig, vielleicht um zu testen, ob er es wirklich zulässt... Kurz sehe ich ihn an... und dann beim nächsten Mal lasse ich meine Lippen auf seinen verweilen, schließe die Augen. Nur dieser schlichte Kontakt und doch toben in mir tausende Empfindungen. Erst recht als wir uns weiter vor wagen... Es ist ein wahnsinniges Gefühl, das mir versucht alle Kraft zu rauben, das mich dahinschmelzen und meine Gedanken vergessen lässt.

Lass es nie wieder enden...
 

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Sakuya (by littleblaze)
 

Schmerzen...

Ich versuche die Augen zu öffnen, was mir allerdings nicht so wirklich gelingt.

Eine Stimme, die ich im ersten Moment nicht zuordnen kann, ein leichter Druck gegen meine Schläfe. Es fühlt sich an, als würde mein Kopf zerspringen.

„Nicht...“, bekomme ich geradeso heraus, und der schmerzende Druck verschwindet.

Ein erneuter Versuch die Augen zu öffnen, und obwohl mich das Licht schmerzlich blendet, kann ich die Person vor mir sofort zuordnen.

„Scheiße, was ist passiert?“

„Das sollte ich dich fragen, was hast du dir dabei gedacht? Hier einfach aufzutau...“

Plötzlich fällt mir alles wieder ein, die kleine Lynn, der Streit und der unerwünschte Türrahmen. Ich taste nach der schmerzenden Stelle, wo mich eine riesige Beule erwartet.

„...chen und menschliches Schutzschild zu spielen... Wie doof muss man eigentlich sein?“

Wut ist in seiner Stimme zu erkennen. Hallo? Sollte ich nicht derjenige sein, der wütend ist?

„Es war wirklich die beschissenste Idee überhaupt, hier auszutauchen und einer Frau zu helfen, die geschlagen wird... echt beschissen“, gebe ich zynisch zurück.

Ich versuche mich aufzurichten, doch ein stechender Schmerz bringt mich sofort wieder in die Waagerechte.

„Er ist nicht mein wirklicher Vater“, kommt es schon beinahe entschuldigend.

„Oh ja, das minimiert den Schmerz ungemein.“

Kida verstummt, ich schließe meine Augen, doch zu wissen, dass er direkt neben mir sitzt, macht mich ein wenig nervös.

Eine Bewegung erweckt meine Aufmerksamkeit, ich öffne die Augen wieder.

„Wo gehst du hin?“

„Nur kurz ins Bad.“ Er deutet auf den Lappen in seiner Hand.

„Kann ich dich mal was fragen?“, halte ich ihn auf.

„Du solltest dich ausruh...“

„Nenne es Schmerzensgeld“, dementiere ich seinen Ratschlag.

Ein Schulterzucken.

Mein Kopf schmerzt. Zu viele Fragen, die ich stellen wollte, und nun fällt mir gerade mal eine ein, mit der ich eigentlich nicht beginnen wollte...

„Hat es dir gefallen... mich zu küssen?“

Einige Sekunden vergehen, bevor er mir antwortet, umdrehen tut er sich allerdings nicht.

„Ja.“

Ich setze mich ein wenig auf, ignoriere den Schmerz, der zwar noch vorhanden ist, aber weitaus weniger als zuvor... oder wird er nur von anderen Dingen überschattet? Takahama dreht sich um, schaut mich an.

„Und dir?“

Lüge oder Wahrheit? Jetzt wo er mich so direkt anschaut, bin ich mir dessen nicht mehr sicher, aber wollte ich nicht ein ehrliches Gespräch? Wollte ich nicht Antworten haben?

„Ja“, antworte ich, mit einem Gefühl im Bauch, das sich nicht wirklich zuordnen lässt.

Er kommt auf mich zu, festigt den Blickkontakt und plötzlich fühle ich mich gefangen, liegend auf seinem Bett, nicht wirklich in der Lage, dem zu entkommen...

„Wa... warum hast du es getan?“, versuche ich von was auch immer abzulenken, auf einmal ist mir seine Gegenwart peinlich.

Er setzt sich aufs Bett. Seine Hand bewegt sich in Richtung meines Gesichts und ich weiche instinktiv ein Stück zurück, was meinen Kopf sofort wieder einen zuckenden Schmerzen zufügt. Ich schließe die Augen, und als ich sie wieder öffne, liegt seine Hand ruhig auf dem Bett.

„Warum?“ Er schaut an mir vorbei.

„Ja.“

„Ich weiß es nicht und es ist mir auch egal... wenn ich es nur noch einmal tun darf...“

Auf eine Erwiderung meinerseits wartet er erst gar nicht. Seine Lippen berühren mich ganz leicht, einmal, zweimal, und entziehen sich mir wieder.

Seine Hand, die, ohne dass ich es bemerkt habe, ihren Weg auf meine Wange gefunden hat, bleibt dort liegen. Sie ist angenehm kühl und am liebsten würde ich mich gegen sie drücken...

„Tut es sehr weh?“

„Ein wenig.“

Ihm scheint die Berührung peinlich zu werden, denn er zieht seine Hand weg. Am liebsten hätte dies verhindert, doch zum ersten Mal in meinem Leben scheint es keinen Weg zu geben, den ich gehen könnte...

„Warum bist du eigentlich hier?“, fragt er unerwartet.

Ja, warum bin ich hier, liege mit einer riesen Beule und einem komischen Gefühl in der Magengegend auf seinen Bett und lasse mich erneut von ihm küssen?

„Ich wollte dich sehen... denke ich.“

„Warum?“, kommt es neugierig.

„Einfach so.“

„Einfach so?“

Am liebsten würde ich jetzt seine Lippen berühren, mit meinem Finger, mit meinen eigenen Lippen. Warum kann ich es nicht einfach, er tut es doch auch?

„Ich finde es... schön... wenn du mich küsst.“

Ich kann noch seinen überraschten Blick sehen, eher ich mich abwende. Warum hatte ich das gesagt, war ich von allen guten Geistern verlassen? Ich erwarte eigentlich einen dieser peinlich stillen Momente, eine Chance meine Gedanken neu zu ordnen...

„Ich kann es wieder tun...“

„Was?“ Ich drehe mich zu ihm.

„Dich küssen.“

„Mich küssen?“

Er nickt. „Immer und immer wieder, wenn du willst.“

„Wenn ich will?“

Er nickt.

„Und du... willst du...?“

„Ja.“

Und mit dem letzten bisschen Widerstand, frage ich noch einmal „Warum?“ vielleicht mit ein wenig Hoffnung verbunden, dass er mir darauf nicht antwortet, ich aufstehe, nach Hause gehe und das alles einfach nur als ein pubertäres Durcheinander abhaken kann.

„Weil...“ Seine Hand streift abermals meine Wange. „...du wunderschön bist.“ Mir werden einige Haarsträhnen nach hinten gestreift. „Und, weil mein Herz ganz laut bumm bumm macht, wenn du nur den Raum betrittst.“

Ein leichter Kuss, dann entfernt er sich wieder ein wenig und ich kann ihm direkt in die Augen schauen. War das die Erklärung auf die ich gehofft hatte?

Der Drang, seine Lippen zu berühren, lässt meinen Körper zittern, schon alleine die Vorstellung, dass es gleich wieder passieren wird, schnürt mir die Luft zum Atmen ab, und lange warten brauche ich auch nicht... Erneut treffen wir uns.

Leidenschaft, Gier, Lust, aber auch Angst und Unsicherheit vereinen sich. Unsere Zungen, wie sie erst vorsichtig aufeinander treffen und sich dann in einem zärtlichen Spiel wieder finden und Finger, die am Körper des Anderen Halt suchen.

Ein Kuss, der droht meine Welt zu zerbrechen. Sollte ich mich dafür schämen, dass ich mich danach sehne?

„Sakuya!“, heißer Atem schlägt gegen meinen Hals.

Er setzt sich auf, zieht mich vorsichtig mit sich. Sofort pressen sich seine Lippen mir wieder entgegen, während er mich zwischen kleineren Pausen von meinem Shirt befreit. Ich wende mich ab, als er bei sich das Selbe tut, werde leicht wieder in die Kissen gedrückt.

Beim nächsten Kuss heftet sich Haut an Haut, ein Gefühl nicht zu beschreiben, es erdrückt mich. Ob er spürt, wie schnell mein Herz klopft? Doch auch in meinem Kopf dröhnt es wie verrückt, kommt es durch den Schmerz oder ist dies ein weiterer Nebeneffekt unseres Tuns?

Seine Lippen bedecken meinen Hals, meine Brust. In mir immer die Worte: Was tust du hier? Hör auf! Doch schiebe ich sie beiseite, will sie nicht hören.

Ich stöhne leicht auf, als sich seine Lippen um meine Brustwarze schließen. Ich beiße mir auf den Finger... wie peinlich!

Seine Hände wandern an meinen Hüften entlang, begleitet von seiner Zunge, die keinen Millimeter meines Oberkörpers auszulassen scheint. Es fühlt sich toll an und meine Hände wollen ihn ebenfalls berühren, doch traue ich mir das nicht zu und verkrampfe mich nur in das Bettlaken.

Er erhebt sich, küsst mich erneut. Ein Blick, als würde er etwas fragen wollen, doch Stille erfüllt weiterhin den Raum. Er streift mit einem Finger neckend über meine Lippen und ich beiße leicht hinein, lutsche sogar daran, als er mir die Chance dazu gibt... er wird rot.

Er zieht seinen Finger vorsichtig zurück und, wahrscheinlich eher um die peinliche Situation zu überbrücken, küsst er mich erneut...
 

Sollte ich jemals ein Buch über diesen Tag schreiben, würde ich diesen Moment zu dem perfekten Moment erklären. Hier hätte die Zeit für immer stehen bleiben können, hier hätte ich eine Ewigkeit verweilen können. Ein Moment, den man unter keinen Umständen auch nur um eine Sekunde verlängern möchte, da man genau weiß, dass das Kommende, dem niemals gerecht werden kann...
 

Seine Lippen wandern abermals meinem Bauch hinab, nicht weniger zärtlich als zuvor, doch auf einmal fühle ich mich unwohl. Die Stimmung hat sich irgendwie verändert und auf einmal bin ich bereit auf meine innere Stimme zu hören...

Er durchdringt den Gummibund meiner Stoffhose mit Leichtigkeit, streift langsam über meine Boxershorts hinweg. Eine Berührung, die mich stocken lässt, mich in eine Art Starre versetzt. Gleichzeitig seine Lippen, die sich gar nicht mehr so schön an meinem Hals anfühlen wie zuvor... seine Hand, die meine Boxershorts zu überwinden versucht...

„NEIN!“

Ich befreie mich panisch von ihm.

Ich will das Bett verlassen, doch überkommt mich sofort ein heftiges Schmerz- und Schwindelgefühl, und ich lande auf dem Boden...

„Sakuya? Was hast du?“

Er geht neben mir in die Hocke, will mir hoch helfen.

„Fass mich nicht an“, schüttele ich seine Hand ab, die nach meinem Arm greift.

Nein, fass mich nicht an... ich will das nicht. Wie konnte es nur so weit kommen? Es war so schnell, so einfach gegangen, wieso?

Ich rappele mich auf, mein Kopf ist dem Zerspringen nahe.

„Mein Shirt“, kriege ich gerade so über die Lippen. Sie beben und mein Körper zittert.

Er reicht mir mein Shirt, und ich schlüpfe, mich an dem Schreibtisch abstützend, hinein.

„Sakuya rede mit mir, sag mir doch was los ist.“

Seine Stimme, sein Blick verwirrt, doch mir geht nur eines durch den Kopf: DAS BIN ICH NICHT!

Ich will keine von diesen verklemmten Schwuchteln sein, die heimlich ein Doppelleben führen...

Und plötzlich sehe ich meine Freunde, meine Klassenkameraden vor mir... ’Schwuchtel’ ’Arschficker’... ’Wir haben es ja schon immer geahnt!’

Ich werde gegen die Wand gepresst

„Rede doch mit mir.“

„Lass mich los!“, schreie ich so gut es mein Kopf zulässt.

„Nein, erst verrätst du mir, was dieser ganze Mist jetzt soll...“

„Du sollst mich los lassen!“ Ich versuche mich zu befreien. „Lass mich los, lass mich... ich hasse dich... ich wollte nie etwas mit dir zu tun haben, du bist der letzte Dreck... du ekelst mich an...“

„Warum sagst du das?“ Seine Arme werden schwächer, gleiten kurz darauf einfach so hinab.

„Ich bin nicht wie du!“, schreie ich weiter auf ihn ein. „Ich bin kein beschissener Arschficker... ich bin es nicht, und will es nicht sein. Hörst du? ICH WILL ES NICHT SEIN!“

Unsere Blicke treffen sich ein letztes Mal, was genau in seinem zu sehen ist, weiß ich nicht, vielleicht einfach der Schock über das Gesagte... ich weiß nur, dass es mir die Tränen in die Augen treibt.

„Sakuya?“ Seine Hand hebt sich.

„Nein, lass das, ich will nicht, dass du mich berührst.“ Meine Tränen werden immer mehr, überlaufen den begrenzten Bereich, meine Sicht verschwimmt.

„Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, verschwinde aus meinem Leben.“

Ich drücke mich vorsichtig von der Wand ab, finde mein Gleichgewicht und lasse den Raum, den Flur, das Gebäude hinter mir.

Draußen nehme ich mir ein Taxi.
 

Der kurze Weg hinauf in mein Zimmer kam mir noch nie so mühselig vor. Oben angekommen lasse ich mich aufs Bett gleiten.

In meinem Kopf sehe ich das Geschehene immer und immer wieder vor mir, und es endet jedes Mal damit, dass es eigentlich meine Schuld war, dass es so weit kommen konnte. Ich hatte ihn regelrecht dazu aufgefordert mich zu küssen, ich wollte, dass er es tut.

Ein Junge, warum mit einem Jungen? Oder besser gesagt, warum er?

Ich verstehe es nicht... und warum, fühle ich mich auf einmal so alleine?
 

Part 05 - Ende
 

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Part 06

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Kida (by Stiffy)
 

Eigentlich hat alles so schön angefangen. Ein paar fragende Sätze, sanfte Worte und schließlich diese Küsse, die mich schlichtweg um den Verstand brachten.

Es ist schwer zu beschreiben, wie ich mich in diesem Moment fühlte, wie mein Körper kribbelte und alles danach schrie ihm noch näher zu kommen... Ich wollte ihn verwöhnen, noch länger küssen... ich wollte nicht wieder aufhören... doch er ließ es nicht zu...

„NEIN!“, hat er geschrieen und versuchte aufzustehen.

Ein plötzlicher Druck in meinem Magen allein durch seinen Blick ausgelöst. Ein plötzlicher Schmerz, Übelkeit... Unverständnis.

Was danach kam, ging alles ganz schnell... viel zu schnell. Ich versuchte ihn zu beruhigen, wollte wissen, was nun plötzlich mit ihm los sei... wollte diese plötzliche abwehrende Haltung verschwinden lassen, doch es ging nicht... Sakuya hielt sie aufrecht, verstärkte sie nur noch, schrie mich an, sagte, er wolle das Ganze nicht.

Und dann diese Worte ... „du ekelst mich an“

Gerade jetzt, in diesem Moment, tun sie höllisch weh.

„Warum sagst du das?“, frage ich leise und lasse meine Arme sinken.

Ich spüre förmlich, wie mein gesamter Körper mit einem Mal eiskalt wird. Ich kann nicht mehr...

Warum, Sakuya? Warum lässt du mich dich erst küssen, berühren... und nun so etwas?

Wieso?

„Ich bin nicht wie du!“ Es folgen die nächsten Worte, immer lauter. Er will es nicht, will nicht so sein... Er will es nicht...

Aber wieso wolltest du es dann noch vor ein paar Minuten? Es kann doch nicht sein, dass das eben alles nicht wahr war... Habe ich nicht in deinen Augen gesehen, wie sehr es dir gefallen hat? Habe ich mir das alles denn nur eingebildet?

Er sieht mich an, mit einem Gesicht, dem ich nichts entnehmen kann...

Und dann plötzlich, in diesen wuterfüllten Augen: Tränen... Nur leicht, und doch ist diese Nässe ganz deutlich.

„Sakuya?“

Ich will ihn berühren, versuchen die Distanz zwischen uns doch zu überwinden, aber er lässt es nicht zu.

„Nein, lass das, ich will nicht, dass du mich berührst.“, schreit er. Mehr Tränen, jetzt sieht man sie deutlich. „Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, verschwinde aus meinem Leben!“

Es sind die letzten Worte, bevor er sich umdreht und wegrennt. Sekunden später fällt die Haustür ins Schloss und ich bin allein.

Das kann doch alles gerade nicht wirklich passiert sein?!

Benommen lasse ich mich nach vorne gegen die Wand sinken und daran zu Boden. Ich habe das Gefühl der völligen Taubheit... Kann man es so nennen?

Alle Gedanken fahren durcheinander, Worte, Sätze, Schreie... Mein Kopf platzt.

Wut in mir, die hinauswill, Tränen ebenso. Ein fester Schlag gegen die Wand soll Erlösung bringen, tut es nicht. Ich kämpfe gegen die Tränen... Ich will nicht weinen, will es nicht... Will nicht der Verzweiflung Platz machen...

„Kida?“ Eine plötzliche Stimme neben mir.

Erschrocken fahre ich herum, sehe in die großen, besorgten Augen von Lynn. Ich ringe nach Atem. Warum muss gerade sie mich so erleben?

„Was hast du?“ Das kleine Mädchen kommt auf mich zu, streckt ihre Hand aus und berührt mich. Ihre warme Hand auf meinem Arm lässt mich zusammenzucken.

Im nächsten Moment greife ich nach ihr. Ich ziehe sie an mich, halte sie fest... voller Sehnsucht.

„Mach, dass es aufhört...“, flüstere ich, und spüre nun erst recht die hartnäckigen Tränen. Ich drücke mein Gesicht in Lynns Haare, während sie einfach nur fließen, unaufhörlich.

„Auu, Kida!“, kommt plötzlich wieder ihre leise Stimme, lässt mich augenblicklich zurückschrecken.

Ich wische mir übers Gesicht und versuche ein kleines Lächeln, das mir wahrscheinlich misslingt

„Tut mir leid...“ Ich spüre wie ich zittere, mein Stimme, meine Haltung nicht mehr lange kontrollieren kann.

„Was hast du Kida?“, fragt sie besorgt.

„Ich...“ Was soll ich ihr sagen... „Ich hab mich an der Hand verletzt...“, sage ich dann, deute auf meine Hand, die vom Schlag gegen die Wand wirklich etwas schmerzt.

Erst will sie nach meiner Hand greifen, lässt es dann aber doch sein.

„Tut es sehr weh?“

„Es geht schon wieder...“ Ich versuche ein aufmunterndes Lächeln. „Geh in dein Zimmer, ja?“

Lynn nickt, zögernd aber merklich, bevor sie aus dem Zimmer geht. Ich sehe ihr hinterher. Erst dann stehe ich auf, gehe mit schnellen Schritten ins Bad. Unter der Dusche drehe ich das Wasser voll auf, lass mich an den Kacheln hinabsinken und vergrabe mein Gesicht in meinen Armen.

Während das Wasser auf mich einhämmert, weine ich immer noch...

Warum tut es so weh?
 

Es dauert lange bis ich mich dazu in der Lage fühle, wieder aufzustehen. Schnell trockne ich mich ab und stehe einen Moment regungslos vor dem Spiegel. Meine Augen sind rot und ich sehe schrecklich aus... Wenigstens weine ich jetzt nicht mehr.

Ich gehe wieder in mein Zimmer und schließe mich ein, lass mich auf mein Bett sinken und vergrabe den Kopf in den Kissen. Bruchsekunden später richte ich mich wieder auf. Ist es Einbildung, dass plötzlich alles nach ihm riecht?

Ich schleudre das Kissen quer durchs Zimmer. Einige Zettel fallen dabei zu Boden. Ich starre sie eine Weile an, bevor ich mich wieder hinlege. Ich ziehe die Decke über mich, krampfe meine Finger hinein.

Wieder Sakuyas Geruch.... Unerträglich!

Bilder tauchen vor mir auf, die ich die ganze Zeit unterdrückt habe.

Sakuya, wie er unter mir lag und mich mit nervösen Augen ansah. Sakuya, wie er mich küsste...

Sakuya... Ich habe das Gefühl dich noch immer zu spüren, noch immer deine Stimme zu hören...

Sakuya...

War es mein Fehler?

Aber warum hast du mir nicht gesagt, dass du es nicht willst?

Warum lässt du dich von mir küssen und erwiderst es auch noch?

Warum ist es so weit gekommen, wenn du es gar nicht wolltest?

Hättest du es mir doch einfach gesagt... Ich hätte es verstanden, bestimmt... Zumindest besser als das hier...

Ich wollte dich doch zu nichts drängen...

Doch ist es wirklich das?

Deine Worte... eigentlich sprachen sie noch von anderen Dingen...

Wolltest du mir wehtun?

Wolltest du vielleicht wirklich genau das?

Hasst du mich so sehr?

...Aber deine Tränen...
 

~ * ~
 

Als ich Sanae am nächsten Tag in der Schule treffe, sieht sie mich schockiert an.

„Wow! Du siehst ja schrecklich aus!“

Ich zucke mit den Schultern, erwidere nichts darauf.

„Was ist passiert?“, fragt sie.

„Ich habe heute Nacht schlecht geschlafen..“

Sie bleibt stehen, hält mich fest. „Was ist los?“

„Nicht jetzt, okay?“, Ich sehe sie seufzend an. „Ich habe jetzt Englisch... Danach komm ich mit zu dir...“

Erst hatte ich nicht vor, heute überhaupt in die Schule zu gehen. Nachdem ich nach nur knapp zwei Stunden Schlaf auch schon wieder vom Wecker geweckt wurde, ging es mir schrecklich. Und die Vorstellung, vielleicht Sakuya zu sehen, machte es auch nicht gerade besser.

Die ganze Nacht über hatte ich nur an ihn gedacht... Doch egal wie lange, ich fand einfach keine Erklärung für das, was geschehen ist.
 

Im Klassenraum lasse ich mich weit hinten nieder. Hoffentlich ist der Lehrer heute so nett und lässt mich in Ruhe...

Ich muss daran denken, was ich tun würde, wenn ich nun auf Sakuya träfe. Ich weiß es nicht genau... Ihn ignorieren? Abhauen? Oder... ihn zur Rede stellen? Ihn bitten, dass er es mir erklärt...
 

Als der Kurs endlich vorbei ist, wartet Sanae draußen schon auf mich...

Einige Zeit gehen wir schweigend nebeneinander her. Ich spüre Finger an meiner Hand. Fast ein wenig dankbar greife ich danach.

Bei Sanae zu Hause fordert ihre zwei Jahre ältere Schwester Rin uns zum Mittagessen auf. Es gelingt mir sogar, ganz normal auf ihre Fragen zu antworten, auch wenn ich mich überhaupt nicht danach fühle. Trotzdem irgendwie dankbar um die wenige Ablenkung, versuche ich ein kleines Gespräch zu führen.

Anschließend wieder in Sanaes Zimmer, beginne ich ihr von den gestrigen Ereignissen zu erzählen, und es fällt mir um einiges schwerer, als ich vermutet habe. Der Schmerz, den ich versucht habe, in den letzten Stunden zu unterdrücken, kommt wieder in mir hoch und lässt mich oft inne halten. Dennoch bin ich erleichtert, mir das Ganze einfach mal von der Seele reden zu können, auch wenn es nicht wirklich hilft, anders als alle immer sagen.

Sanae, die schweigend zugehört hat, sieht mich erschüttert an, als ich fertig bin.

„Warum tut er so etwas?“, frage ich sie.

Einen Moment später finde ich mich in ihren Armen wieder.

„Du solltest ihn...“, beginnt sie nach einer Weile zögernd. „vielleicht doch noch mal darauf ansprechen...“

„Ich bin mir sicher, dass er nicht mit mir reden will...“

Sie schiebt mich von sich und sieht mir in die Augen.

„Aber kommt es nicht auf einen Versuch an?“
 

~ * ~
 

Die darauffolgende Nacht habe ich wieder ziemliche Probleme einzuschlafen. Der Gedanke, Sakuya vielleicht wieder zu sehen, hält mich wach. Was soll ich bloß tun? Ob ich wirklich mit ihm reden soll? Wahrscheinlich schon... habe ich die Kraft, den Mut dazu?
 

Am Morgen überhöre ich meinen Wecker und wache schon fast zu spät auf... Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich es noch schaffen kann. Ich will diesen Unterricht nicht schwänzen... nicht schon wieder fehlen.

Also mache ich mich schnell fertig und komme tatsächlich noch pünktlich bei der Schule an. Als ich dem Klassenraum näher komme, rede ich mir immer mehr ein, dass Sakuya ganz sicher nicht hier sein wird...

Ich werde enttäuscht, denn als ich den fast vollen Klassenraum betrete und meinen Blick schweifen lasse, entdecke ich ihn tatsächlich. Mein Herz setzt für einen Moment aus und als unsere Blicke sich treffen, wäre ich am liebsten sofort wieder umgedreht.

Ich tue es nicht, bewege mich stattdessen vorwärts zu einem der letzten freien Plätze.

Mist! Lass dir jetzt bloß nichts anmerken! Er darf nicht merken, dass er dich verunsichert!, rede ich auf mich selbst ein, versuche so locker und normal wie möglich zu wirken.

Ich hole den Discman aus meiner Tasche, schalte die Musik ein und versuche, an sie zu denken. Ich folge dem Takt, den Schlägen des Schlagzeuges und doch schaffe ich es nicht, nicht an ihn zu denken...
 

Die Sozialkundestunde zieht sich hin, scheint kein Ende nehmen zu wollen. Ich bekomme nichts davon mit, was der Lehrer erzählt, versuche mich einfach nur zu zwingen, nicht an Sakuyas Anwesenheit zu denken.

Doch dies ist schwer, wahnsinnig sogar. Es ist, als würde ich seinen Blick im Rücken spüren... Völliger Unsinn, wahrscheinlich wünsche ich mir nur, dass er mich beobachtet... Oder ich habe Angst davor, dass er es tut, dass er merkt, wie verkrampft ist mich fühle...

„Du solltest ihn vielleicht doch noch mal darauf ansprechen...“

Sollte ich das tun? Sollte ich ihn nach der Stunde bitten, mit mir zu sprechen?
 

Als der Unterricht endlich vorbei ist, ich mich zu ihm umdrehe, ihm dabei zusehe, wie er seine Sachen einpackt, verlässt mich jeglicher Mut. Schnellen Schrittes verlasse ich das Klassenzimmer. Ich kann es einfach nicht...
 

Abends am Telefon redet Sanae noch mal auf mich ein, sagt immer wieder, ich solle mit ihm reden...

Nach langem hin und her stimme ich ihr schließlich zu.

Noch ein Mal werde ich es versuchen. Noch ein Mal mit ihm reden, ein letztes Mal!

Es ist einfach schrecklich, so wie es jetzt ist. Sobald sich unsere Blicke treffen, fängt mein Herz wie wild an zu hämmern. Während dies noch vor ein paar Tagen so schön war, tut es nun weh.

Ich will mit ihm reden, ganz normal, einfach nur, um zu erfahren, warum er so gehandelt hat. Ihn vielleicht auch anschreien können...

Vielleicht geht es mir danach besser...
 

~ * ~
 

Am Freitagmorgen warte ich am Schuleingang auf ihn, warte darauf, dass er endlich durch das Schultor tritt. Natürlich könnte ich auch zu ihm nach Hause gehen, doch vielleicht fehlt mir dazu auch einfach der Mut... Ein öffentlicher Ort... irgendwie ist mir das nun lieber...

Nach einiger Zeit, sehe ich ihn tatsächlich. Er ist mit Kyo zusammen und genau das lässt mein Herz Richtung Erde rutschen. Mit ihm reden, schön und gut, aber in Gegenwart von Kyo?

Einen Schritt nur gehe ich auf die beiden zu, dann bleibe ich stehen. Nein... ich kann es nicht...

Resignierend lasse ich mich auf eine Bank fallen und erkläre mich selbst für unglaublich bescheuert. Einfach nur zu ihm gehen und ihn bitten, sich nach der Schule mit mir zu treffen... was ist daran schon so schwer?

Als ich den Blick wieder hebe, ist Sakuya nicht mehr da... Dafür sehe ich jemand anderen durchs Tor kommen. Wie heißt er noch gleich?

Zögernd stehe ich auf und gehe auf ihn zu. Es ist egal, wie er heißt, aber er hat was mit Sakuya zu tun, da bin ich mir sicher...

„Ähm... Entschuldigung?“

Mit gehetztem Gesicht bleibt er neben mir stehen.

„Hm?“

„Könntest du Sakuya was von mir ausrichten?“

Er guckt auf die Uhr, die ihm verrät, dass die Kurse schon gleich anfangen und nickt dann.

„Sag ihm, dass Kida nachher am Sportplatz auf ihn wartet.“

„Okay... noch was? Ich muss los...“

„Nein... und danke!“

Während er schnellen Schrittes reingeht, bleibe ich noch einen Moment stehen.

Ob Sakuya kommen wird?
 

~ * ~
 

Als ich mittags auf dem Nachhauseweg bin, fängt es an zu regnen. Nur ganz leicht, aber es passt zu meiner Stimmung.

Sakuya ist nicht gekommen.

Bestimmt eine Stunde habe ich dort gesessen und auf ihn gewartet, doch er ist nicht gekommen.

Warum Sakuya, warum willst du nicht einmal mehr mit mir reden?

Aber wahrscheinlich ist es meine eigene Schuld. Wenn ich ihn doch nur direkt angesprochen hätte, heute Morgen... dann wäre er nicht drum herum gekommen, wenigstens kurz mit mir zu reden... aber so? Es war ein Fehler, es einen anderen überbringen zu lassen... so ist es kein Problem für Sakuya gewesen, mir einfach aus dem Weg zu gehen...

Was für ein Idiot ich doch bin.

Aber vielleicht weiß ich jetzt auch, woran ich bin. Fragt sich, welches die schmerzfreiere Methode war.

Es tut weh, zu wissen, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst...
 

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Part 6b - Sakuya (by littleblaze)
 

„…ich hasse dich...“

Lüge!

„…ich will nicht, dass du mich berührst“

Sollte es nicht so sein?

„Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, verschwinde aus meinem Leben.“

Wenn es doch nur so einfach wäre...
 

Warum habe ich all dies gesagt? Aus Angst?

Angst davor, wie andere über mich urteilen würden?

Habe ich Angst vor ihrem Urteil oder davor, mich mir selber zu stellen?

Ich habe keine Probleme damit, in den Spiegel zu schauen, kann mich ohne Scham darin betrachten und wieso interessiert mich die Meinung anderer plötzlich?

Oder waren es seine Berührungen, die mich ängstigten?

Ich mochte es, wenn er mich küsste, wenn sich unserer Zungen trafen, er mich mit den Lippen am Hals berührte... war mir danach alles einfach viel zu schnell gegangen, wollte ich überhaupt so weit gehen?

Wie würde es sich anfühlen mit einem Jungen zu schlafen, würde es wehtun? War Sex wirklich etwas so tolles?
 

Und warum habe ich geweint? Ich habe schon seit einer Ewigkeit nicht mehr geweint.

Als Kind weinte ich immer schnell, ich war sensibel, würden die Spezialisten sagen.

Die damalige Freundschaft zu Kevin veränderte mich und der Abschied von Boston, von ihm, fiel mir sehr schwer, hier weinte ich zum letzten Mal.

Ich schwor mir, niemanden wieder so nahe an mich heran zu lassen und daran hielt ich mich auch. Kyo wurde zwar mein bester Freund, ich erzählte ihm so gut wie alles, aber irgendwo in mir war da immer noch eine riesen Mauer, die mich versuchte zu schützen.

Und jetzt, nach all meiner gewonnenen Stärke, stand ich jemanden gegenüber, von dem ich noch nicht einmal wusste, was seine Hobbys oder sein Leibgericht sind, und weinte...
 

~ * ~
 

„Weil du wunderschön bist, und weil mein Herz ganz laut 'bumm bumm' macht, wenn du nur den Raum betrittst.“

Bumm Bumm.... Bumm Bumm..... BUMM BUMM!!!

Ich reiße die Augen auf... „Nur ein Traum, nur ein Traum“, spreche ich zu mir selbst, während ich mich suchend im dunklen Zimmer umsehe. Mein Blick fällt auf die erhellten Ziffern: 4.32 Uhr.
 

Auf Schlaf ist nicht mehr zu hoffen und so liege ich einige Minuten einfach nur ruhig da, versuche an nichts zu denken.

Ich stehe auf, gehe ins Bad. Ich spüle mir den Mund aus, wirklichen Durst habe ich nicht.

„Weil du wunderschön bist...“

Ein ernster, eher abwertender Blick fällt auf den Spiegel, ich schaue mich an.

Was soll an mir denn so schön sein? Meine grünen Augen, meine blonden Haare... ist es nur, weil ich anders bin, mag er mich deshalb? Würde er es auch tun, wenn ich schwarze Augen und Haare hätte?

Ich spucke das noch vorhandene Wasser aus meinem Mund gegen den Spiegel, das Bild verschwimmt für kurze Zeit.

Was mag ich eigentlich an ihm? Seine Haare und Augen sind schwarz, oder? Höchstwahrscheinlich.

Um ehrlich zu sein, ist da nichts an seinem Aussehen, was mir besonders auffällt. Ich weiß nur, dass ich es mag, wenn er mich küsst. Es gefällt mir, wie sich seine Lippen anfühlen.

Seine Hände, als sie mich berührten... auf dem Schulhof, es war ein unglaubliches Gefühl... dieses falsch und doch richtig, richtig und doch falsch... Macht dies ganze Zweifeln alles so besonders?

Im nächsten Moment dann immer diese schreckliche Angst, die alles Schöne einfach so beiseite fegt. Eine Angst, die nicht wirklich zu beschreiben ist. Man denkt, dass es falsch ist, weiß aber auch, dass abertausende von Personen genauso fühlen... kann es dann eigentlich noch falsch sein?

Warum ist Sexualität denn eigentlich eine vorgeschriebene Sache, kann man wirklich steuern, wen oder was man liebt?

Liebe ich Jungs oder liebe ich das, was er tut?
 

~ * ~
 

Am Morgen merkt jeder, dass mit mir etwas nicht stimmt, aber keiner spricht mich direkt darauf an.

Meine Mom tätschelt mir an der Stirn herum, mein Dad verzieht besorgt das Gesicht und Kyo, der heute wieder zur Schule kann, ist auffallend still.

Erst habe ich daran gedacht, nicht in die Schule zu gehen, mich abermals zu verkriechen, nur damit ich ihn nicht sehen muss. Aber dann, sagte ich mir selbst, dass es das nicht sein kann. Soll ich jetzt neue Kurse wählen, zu spät zur Schule kommen, auf Pausen verzichten und riesen Umwege in Kauf nehmen, nur damit ich ihm nicht begegne? Und außerdem... würde ich mich rar machen, würde er dann nicht denken, dass ich das alles nur wegen ihm tat, würden dann meine Worte ’dass er mir egal sei’ ’dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle’ noch glaubwürdig erscheinen? Auch wenn sie meinen Gefühlen eigentlich widersprechen, sollen sie doch wenigstens so scheinen als seien sie wahr, und das erreiche ich bestimmt nicht damit, dass ich mit Abwesenheit glänze.

Zwei Minuten später fällt meiner Mom dann ein, dass ich mittwochs gar keinen Kurs habe...
 

~ * ~
 

Mit nicht minderndem Herzklopfen betrat ich am Donnerstagmorgen den Schulhof. Das unangenehme Gefühl in der Magengegend hatte sich mittlerweile soweit gesteigert, dass ich mich in den nächsten Minuten schon auf irgendeinem Klo kotzen sah, und trotzdem schaffte ich es mit aufgesetztem Lächeln Freunde und Bekannte zu begrüßen, einigen Mädchen schöne Augen zu machen und mich anschließend auf meinem Platz im Mathekurs zu setzen. Zum Glück war nicht Sozialkunde als erstes dran.
 

Nach dem Mathekurs bekam ich vom Lehrer noch einige Kopien, die ich mir unbedingt ansehen solle, da ich ja in der letzten Woche des Ferienkurses fehlen würde. Die Schule wusste mittlerweile über meinen Flug in die USA bescheid. Gut, dass die Ferien länger als die Kurse gingen, da es sonst bestimmt Ärger gegeben hätte, wenn ich einfach so auf und davon gedüst wäre. Auch wenn die Kurse eigentlich eine freiwillige Sache waren, so sah man es doch nicht gerne, wenn man das Vergnügen über das Lernen stellte und sich somit vielleicht die Chance auf eine erfolgreiche Prüfung verbaute.
 

In der Pause halte ich mich an Kyo und setze mich zu ihm in die Cafeteria. Ich versuche erst gar nicht, meinen Blick schweifen zu lassen.

„Was ist eigentlich mit dir und Tsuzuki los?“

„Gar nichts.“

„Genau das meine ich ja. Ihr redet ja nicht einmal mehr miteinander, ist irgendwas gewesen?“

Er blättert weiter in einem seiner Comicbände und ich hoffe, dass er sich so sehr in ihnen vertieft, dass er mich nicht mehr wahrnimmt.

„Keine Ahnung was er hat“, lüge ich und schnappe mir einen von den Comics.
 

Nach der Pause beeile ich mich, um einer der ersten im Sozialkundekurs zu sein. Ich setzte mich wieder hinten ans Fenster. Ihn nur nicht wieder im Nacken sitzend haben. Ob er heute eigentlich zur Schule kommt, gesehen habe ich ihn noch nicht.

Kurze Zeit später ist der Raum fast voll, nur drei Plätze sind noch frei und sein Nichterscheinen, das mich eigentlich aufatmen lassen sollte, schlägt in Enttäuschung um. Doch plötzlich erscheint er im Türrahmen. Für einen Moment kann ich ihn einfach nur anstarren, mein Herz fängt wie auf Kommando an schneller zu schlagen und erst als sich unsere Blicke treffen, schaffe ich es, mich abzuwenden und aus dem Fenster zuschauen.

Aus den Augenwinkeln heraus beobachte ich seine Sitzwahl, achte zum ersten Mal wirklich auf seinen Gang, seine Haltung, wie er den Stuhl berührt als er ihn nach hinten schiebt, sich locker auf den Sitz fallen lässt.

Ist das noch normal?

Ich versuche mich abzulenken...

Ich schaue zu, wie er seinen Rucksack anhebt, seine Bücher und seinen Discman hervor zieht, sich die kleinen Knöpfe in die Ohren steckt, immer wieder mit dem Stift auf das Papier tippt.

Ist mir eigentlich noch zu helfen?
 

Nach dem Kurs warte ich bis sich die Klasse leert.

„Ist noch was, Sakuya?“, fragt mich Toshiki-sensei, als ich mich nicht wie alle anderen auf den Weg mache.

„Um ehrlich zu sein, ja. Ich möchte aus dem Nachhilfeprogramm raus.“

Ich weiß nicht mal genau, wann mir dieser Gedanke gekommen ist, doch plötzlich wird mir bewusst, dass hier die Wurzel allen Übels liegt.

„Warum denn das Sakuya, du hast bis jetzt immer ganz tolle Arbeit geleistet, und auf dem Zeugnis macht sich so was auch immer gut.“

„Ich... na ja, ich habe nicht mehr so viel Zeit, und ich...“, versuche ich mich zu erklären.

„Ist schon gut, wenn du nicht magst, ich kann daran ja eh nichts ändern. Ich finde es nur sehr schade. Und... falls du es dir mal anders überlegen solltest, meld dich einfach bei mir.“

„Mach ich.“

Ich verlasse den Raum und werde draußen vom grellen Sonnenlicht empfangen. Mein Blick schweift hinauf in den Himmel. Sonne, Sommer, Ferien... eine Jahreszeit, in der man eigentlich viel Spaß haben sollte.
 

~ * ~
 

Am Freitag sehe ich ihn nur kurz auf den Schulhof, nicht einmal lang genug, damit das Herzklopfen seine volle Kapazität erreicht.

Nach der Schule kommt Kyo zu mir, er bleibt übers Wochenende. Ich freue mich wirklich sehr darüber, Ablenkung ist im Moment echt von Nöten.

Wir arbeiten einen Teil der Arbeitsblätter, die ich bekommen habe, durch, bis wir uns gegen Abend entscheiden, ins Kino zu gehen.

„Also, welchen Film sollen wir uns anschauen?“, holt mich Kyo aus meiner kleinen Traumwelt zurück.

Wir stehen vorm Kino und schauen uns die Plakate der Reihe nach an.

„Ist mir egal, solange es nichts mit Liebe zu tun hat“, verlässt es unkontrolliert meinen Mund.

„Ah, jetzt verstehe ich... du hast dich verknallt, deswegen deine komische Stimmung in den letzten Tagen.“

Ist verknallt das richtige Wort dafür?

„Quatsch, wie kommst denn auf den Mist... ich, ich...“

„Ach komm schon, leugnen hat keinen Sinn, du wirst ja sogar rot. Wer ist es denn, kenne ich sie?“

Sie? Wie würdest du reagieren? Würdest du es verstehen? Ich denke nicht! Weil es ER ist, oder weil ich so anders fühle?

„Lass das, ich sagte doch, da ist nichts“, reagiere ich ein wenig schroff.

„Kein Grund so auszurasten.“

„Es tut mir leid.“

„Das höre ich in letzter Zeit ein wenig zu oft von dir, Sakuya. Langsam ist das nicht mehr witzig.“

„Tut...“

Ich verstumme. Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich mich zu oft entschuldige... Aber was soll ich ihm stattdessen sagen, die Wahrheit?

„Lass uns endlich rein gehen, sonst fangen die Filme ohne uns an. Und da du dich ja sowieso nicht entscheiden kannst, übernehme ich das.“

Kyo schiebt mich durch die Tür, kauft Karten, Coke und massig Süßigkeiten und versucht uns, nach Einnahme unserer Plätze, durch vorlesen einiger Kinokritiken auf andere Gedanken zu bringen.

Der ausgewählte Thriller schafft es tatsächlich mich abzulenken...
 

~ * ~
 

Am Samstag, während wir abermals über unseren Mathesachen hängen, wird mir auf einmal bewusst, dass es nur noch knapp zwei Tage sind, bis ich nach Boston fliege. Das unangenehme Gefühl in der Magengegend, diesmal aus anderen Gründen.

Wie wird er reagieren? Wie soll ich mich ihm erklären?

Der Gedanke daran, verschlechtert meinen allgemeinen Gemütszustand noch ein wenig mehr. Aber nicht die Tatsache, dass wir uns trennten oder das ich ihn nach so langer Zeit wieder sehen werde, lässt ein bedrücktes Gefühl in mir aufsteigen, sondern eher, dass ich mich nach dem Umzug nach Japan nicht ein einziges Mal bei ihm gemeldet habe.

Er dagegen hat mir geschrieben, bestimmt duzende von Briefen, und ich habe nicht einen von ihnen beantworten, noch nicht einmal gelesen.

Ich habe es einfach nicht gekonnt.

Nach dem... ich glaube, es war der dritte Brief, habe ich meinen Mom gesagt, dass ich es nicht mehr wissen wolle, wenn welche ankommen. Sie war nicht gerade begeistert davon, immerhin waren wir Freunde seit dem Kindergarten gewesen, wie Brüder aufgewachsen... aber sie respektierte meine Entscheidung. Was ich mir damals genau dabei gedacht habe, weiß ich schon gar nicht mehr.

Seine Telefonanrufe beantwortete ich auch nicht, ich schaffte es nicht damit fertig zu werden. Ich wollte nicht ohne ihn sein.

Der Schmerz hat mit den Wochen nachgelassen, doch stattdessen machten sich Scham und Schuld breit und ich wollte so gerne seine Stimme hören, aber einfach anrufen traute ich mich auch nicht.

Wie sollte ich ihm nach all der Zeit erklären, dass ich seine Briefe nicht hatte lesen könne? Es nicht für nötig hielt, monatelang keinen Kontakt mit ihm herzustellen.

Auch jetzt weiß ich nicht, wie ich mich erklären soll...

Mein Freund. Kann ich denn überhaupt so von ihm sprechen?

Nein, denn er war weitaus mehr für mich, bis zu dem Tag an den ich nach Japan zog. Er war mein bester Freund, der Bruder, den ich nie hatte, und die wichtigste Person in meinem jungen Leben. Ich weiß, das hört sich jetzt echt bescheuert an, aber so war es.

Ich denke immer noch oft an ihn, wünsche mir, er wäre in so mancher Situation bei mir... wünsche, ich könnte alles ungeschehen machen.... ich...

Ein Anstupsen.

„Du weinst.“

„Häh?“ Ich streife meine Augen und finde tatsächlich einige Tränen vor.

„Was ist los?“

„Ich... ein kurzer Ausflug in die Vergangenheit.“

„Kevin?“

„Ja. Ich freue mich so sehr darauf nach Boston zu fliegen, aber andererseits würde ich am liebsten einen großen Bogen um ihn machen.“

„Wovor hast du Angst?“

Ein Schulterzucken.

„Mach dir keinen Kopf. Wenn alles wahr ist, was du mir über eure Freundschaft erzählt hast, dann wird schon alles glatt gehen.“

„Glaubst du?“

„Du nicht?“

„Doch“, hoffe ich.

Er wendet sich wieder seinem Buch zu.

„Ich habe Takahama geküsst.“

Irre oder Todeslust, keine Ahnung was mich geritten hat, doch ich versuche dies Geständnis in ernster Stimme rüber zu bringen.

„Was?“

„Ich habe ihn geküsst... na ja, er hat mich zuer...“

„Du willst mich verarschen, oder?“

„Nein.“

„Ich bring ihn um.“ Ein Zähneknirschen.

Er schnappt sich seinen Handschuh und Baseball, lässt den Ball immer wieder feste in den Handschuh knallen. Eine Stressreaktion und wenn ich ihn nicht so gut kennen würde, müsste ich mir ernsthaft Sorgen darum machen, diesen Ball an den Kopf gedroschen zu bekommen.

„Es war nicht nur ein Mal“, lege ich noch eins drauf.

„Bitte?“, fragt er entgeistert, läuft dabei im Zimmer umher.

„Wenn du dich setzt, erzähl ich es dir.“

Erst scheint er mich nicht zu verstehen, schaut mich nur verwirrend an, doch schließlich setzt er sich mir gegenüber. Ich erzähle ihn alles was zwischen Takahama und mir vorgefallen ist. Einige Male werde ich unterbrochen von Drohungen in Takahamas Richtung, doch nehme ich diese überhaupt nicht ernst. Kyo könnte nicht einmal einer Fliege was zu leide tun, und das meine ich wörtlich.

„Warum?“, fragt er schließlich. „Ich versteh das nicht Sakuya, ich dachte wir wären Freunde, richtige Freunde!“

„Das sind wir.“

„Ach ja, und wie lange hattest du noch vor, es mir nicht zu sagen?“

„Ich hatte einfach Angst davor.“

„Ein ganzer Raum voll Weiber liegt dir zu Füßen und du nimmst dir dieses Ar..“ Ich schaue auf. „Du nimmst dir ihn?“

„Mit Nehmen hat das nichts zu tun. Meinst du ich habe mir das ausgesucht?“

„Aber, warum er... warum nicht irgendjemand anders?“

„Ich weiß es doch selber nicht, verdammt... es fühlt sich einfach toll an wenn er mich küsst....“

„Hör auf, da zieht sich bei mir alles zusammen.“ Er verzieht ein angeekeltes Gesicht. „Ich kann’s nicht fassen, dass du auf einmal schwul sein sollst.“

„Ich auch nicht“, gebe ich offen zu. „Außerdem bin ich mir dessen nicht mal sicher.“

„Wie bitte... wie soll ich das jetzt verstehen?“ Er schaut mich irritiert an.

„Nur weil ich gerne Gemüse esse, muss ich doch noch lange kein Vegetarier werden, oder?“

„Aber warum verdammt noch mal er?“ Ein Kopfschütteln.

Ein Moment Stille.

Ich finde es ein wenig belustigend, dass für ihn Kida ein größeres Problem darstellt, als das Schwulsein an sich.

„Glaubst du, du kommst damit zurecht?“, frage ich vorsichtig nach.

„Mit was? Mit deiner eventuellen Gemüsesucht oder mit deiner Auswahl? Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht.“

„Versuchs du es... oder...“

„Oder was?“, unterbricht er mich. „Denkst du wirklich, dass ich wegen Gemüse und dieser... Tomate meine Freundschaft zu dir aufgeben würde?

„Ich weiß es nicht.“

„Nein, das würde ich nicht“, gibt er preis.

„Danke.“

„Bedank dich nicht zu schnell. Ich werde nicht mit ihm gut Freund werden, nur weil du auf ihn stehst...“

„Das verlange ich auch gar nicht von dir... außerdem...“

„Was denn noch?“

„Keine Ahnung, ob da noch mal was... passieren wird. Ich...“

„Du nimmst es mir jetzt nicht übel, wenn ich für das Gegenteil bete?“

„Nein.“

„Gott, ich kann es immer noch nicht fassen, du und schwul. Wer weiß sonst noch davon?“

„Niemand.“

„Gar niemand, keiner?“

„Nein.“

„Na, ich hoffe auf jeden Fall, dass es nur so ein kleiner Austicker ist und wir bald wieder gemeinsam den Mädchen nachsteigen... eh halt, wenn du schwul bist, bleiben mehr für mich.“ Er grinst schelmisch.

Ich weiß genau, dass er es gar nicht so lustig findet, wie er vorgibt, er versucht wahrscheinlich nur irgendwie aus dieser Ernsthaftigkeit rauszukommen. Ich grinse ebenfalls.
 

~ * ~
 

Sonntagabend, nur noch wenige Stunden bis ich im Flieger nach Boston sitze. Mom wollte erst bei den Wyans anrufen, um zu fragen, ob Kevin in den Ferien eigentlich da ist, aber ich wollte das nicht. Sollte er nicht da sein, würde ich trotzdem mit nach Boston fliegen... ich zögerte alles nur hinaus...
 

Das Gespräch mit Kyo tat mir besser, als ich im ersten Moment gemerkt hatte. Ich fühle mich auf komische Weise frei, da ich es endlich jemanden erzählt hatte und glücklicherweise hatte er es besser aufgenommen als erwartet.

Doch warum habe ich es ihm eigentlich erzählt? Bestimmt nicht wegen meinem schlechten Gewissen.

Wollte ich nicht mit dem Thema schwul und Takahama abschließen? Warum also noch dies Geständnis?

Warum kann ich dem nicht einfach entfliehen? Gefühle, die ich nicht kontrollieren und nicht vergessen kann. Ihn, diese Gefühle, seine Lippen, einfach Alles...

Vielleicht würde mir die Zeit in Boston helfen, einfach nur zu vergessen...
 

Part 06 - Ende
 

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Part 07

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Kida (by Stiffy)
 

„Lass uns heute Abend mal wieder was machen... wie wäre es mit Billard? Ich hab hier in der Nähe einen Laden gesehen, wo man spielen kann.“

„Ich weiß nicht...“

„Ach, komm schon, ich echt Lust mal wieder zu spielen... außerdem, du kannst nicht immer nur Zuhause rumhocken!“

Sanaes Stimme ist aufmunternd und leicht zwingend zugleich. Ich weiß, dass sie es nur gut meint, mich heute Abend mitnehmen zu wollen... Doch sie weiß, dass mir im Moment nicht im Geringsten nach Leuten zu Mute ist.

„Sanae...“, versuche ich erneut abzuwehren.

„Ach, nun komm schon... es wird bestimmt toll...“

Ungefähr fünf Minuten später hat sie mich schließlich überredet. Manchmal hasse ich ihre Hartnäckigkeit.

„Ich hol dich dann um Sieben ab!“, ruft sie fröhlich und legt auf, bevor ich meine Einwilligung wohlmöglich noch widerrufen könnte.

Ich lasse mich seufzend zurück auf meinem Schreibtischstuhl fallen und hänge meinen Kopf über eines der Englischbücher, das jetzt schon bestimmt drei Stunden dort liegt und sich noch nicht eine Seite vorbewegt hat. Erneut versuche ich, mich darauf zu konzentrieren... Ich habe zwar letzt einiges bei der Nachhilfe begriffen, aber dennoch würde es wohl noch nicht reichen, um die Prüfung einigermaßen passabel zu bestehen... Verdammt, ein paar mehr Nachhilfestunden hätten wirklich gut getan...

Kopfschüttelnd stehe ich auf und gehe in die Küche, mir etwas zu trinken holen.

Nicht einmal bei ätzenden Themen wie Nachhilfe und Lernen kann ich ihn vergessen... Im Gegenteil. Ich muss ständig daran denken, wie wir zusammen in seinem Zimmer saßen... wie er mir ganz einfach, aber ziemlich effektiv einige grammatischen Regeln erklärte... wie er mich dabei ab und zu ansah und fast lächelte... wie entspannt und schön diese Situation war...

Verdammt, ich will nicht mehr daran denken!

Mit einem Glas Saft will ich zurück in mein Zimmer gehen, als ich durch Lynns geöffnete Zimmertür Stimmen höre. Zögernd gehe ich hinüber... Sofort bemerkt mich das kleine Mädchen. Sie sitzt auf dem Boden und spielt mit ihren Puppen. Nun strahlt sie mich fröhlich an.

„Spielst du mit mir?“, fragt sie.

„Nein, ich muss...“ Ich stocke. Wieso eigentlich nicht? Ich stimme zu... und für ein paar Minuten beginne ich, einfach nur, an das Hier und Jetzt zu denken...
 

Eine Stunde verbringe ich mit ihr, bevor ich wieder zurück zu meinen Büchern gehe. Seufzend bleibe ich vor dem Tisch stehen.

Es bringt doch eh nichts... Egal wie oft ich diesen Text lese, danach weiß ich kaum ein Wort mehr... Viel zu schnell schweifen meine Gedanken ab... viel zu schnell muss ich wieder an dich denken...

Ich lasse mich auf mein Bett fallen, allein aus gutem Willen heraus mit dem Buch in der Hand.
 

Sakuya war gestern und heute nicht in der Schule, nicht im Sozialkundekurs... Danach sagte Toshiki-Sensei mir dann auch noch, dass die Nachhilfe fürs erste gestrichen sei und er mir einen neuen Lehrer suchen würde... Nur durch ein Gespräch zwischen Mitschülern von Sakuya, das ich zufällig mitanhörte, erfuhr ich, dass er für zwei Wochen in die USA geflogen ist.

Irgendwie ist es eine komische Vorstellung, dass du nun dort bist... tausende Kilometer weit weg, unerreichbar, in einer mir vollkommen fremden Welt...

Eigentlich sollte ich mich wohl gar nicht mehr dafür interessieren... sollte es mir egal sein, wo du bist, was du machst... Es geht mich nichts mehr an... eigentlich ging es das nie...

Aber warum kann ich dann nicht endlich aufhören, über dich nachzudenken? Egal was ich tue... Fast immer begleiten mich Gedanken an dich...

Nicht einmal das Wochenende oder die letzten zwei Tage haben irgendwas gebracht... Noch immer lässt es mich nicht los, will dieses Gefühl nicht verschwinden... Es wird eher immer schlimmer mit jedem Tag, den ich dich nicht sehe...

Du fehlst mir einfach...
 

~ * ~
 

„Hey! Aufwachen!“ Ein Rütteln an meiner Schulter lässt mich aufschrecken.

Sanae beugt über mir.

Ich blinzle ein paar Mal gegen das grelle Licht, richte mich dann auf. Etwas fällt zu Boden... mein Englischbuch.

Sanae lässt sich auf meinem Bett nieder.

„Na? Wieder wach?“

„Mhm...“

Wovon habe ich geträumt? Da war irgendwas... wichtiges?

Gähnend schaue ich sie an. Nur langsam habe ich das Gefühl wieder ins Reich der Lebenden einzukehren.

„Lass mich raten...“, sage ich, als ich mich dazu fähig fühle, aufzustehen, „Ich sollte mich lieber ganz schnell fertig machen?!“

„Erfasst“ Sie grinst und wartet darauf, dass ich mich umziehe.

„Geht’s dir besser?“, fragt sie irgendwann mit ernster Stimme.

Zögernd drehe ich mich zu ihr, ziehe das Shirt über den Kopf.

„Nicht wirklich...“
 

Wenig später machen wir uns auf den Weg. Der Laden, mit dem knappen Namen doubleX ist überfüllt und die Stimmung ist ausgelassen.

Mit ein wenig Glück bekommen wir noch einen der insgesamt drei Billardtische.

Sanae spielt ziemlich gut, ein Talent, welches ihr anscheinend schon in die Wiege gelegt wurde... bei mir allerdings gleicht es eher einem Desaster.

„Es ist schön hier...“, meint sie irgendwann und ich nicke. „Die Billardtische sind klasse!“ Wieder nicke ich... „Hey! Kida!“ Ein tadelnder Blick trifft mich.

„Tut mir leid, Sanae...“, sage ich und seufze. „Ich bin einfach nicht in der Stimmung...“

„Versuch ihn einfach zu vergessen.“

„Das tue ich schon die ganze Zeit... es klappt nicht...“

„Ich-“

„Hallo“, kommt es plötzlich von der Seite. Ich blicke mich um und schaue in ein lächelndes Mädchengesicht. „Ich... wollte mal fragen, ob du nicht eine Runde mit mir spielen willst“, ist ihre Frage an Sanae gerichtet.

Ich werde kurz fragend angeschaut und nicke leicht

„Gerne“, strahlt sie das Mädchen an, und ich persönlich bin eigentlich ziemlich glücklich mit dieser Entscheidung.

„Ich hol mir was zu trinken...“, sage ich kurzentschlossen und lasse die beiden allein, gehe zum Tresen hinüber, wo ich mich auf einem der Barhocker niederlasse.

Ich bestelle mir eine Cola und beginne der Musik zu lauschen, beobachte dabei einen der Barkeeper bei seiner Arbeit. Irgendwann wandert mein Blick zu seinem Gesicht... Er hat braune Augen. Unsere Blicke treffen sich flüchtig, er lächelt, wendet sich dann wieder dem Cocktail zu, den er mixt.

Ich senke meinen Blick auf den Tresen, als nur ein paar Sekunden später ein Glas vor mich auf den Tisch gestellt wird.

„Danke“ Ich will aufstehen, als mich nichts schwarzbraunes, sondern ein blaugrüner Drink anlacht. Verwirrt sehe ich auf.

„Darf ich dir diesmal einen Drink spendieren?“, grinst er breit und in dem Moment wird mir klar, wieso er mir so bekannt vorkommt, dass ich dieser Bar doch nicht zum ersten Mal einen Besuch abstatte.

„Ähm... ja...“

Ich spüre, wie ich rot werde, als er mich noch länger ansieht.

„Erinnerst du dich? Ich glaub er hat dir letztes Mal geschmeckt...“ Er deutet auf das Glas.

„Ja...“ Zögernd lasse ich mich wieder auf dem Barhocker nieder, auch wenn ich nicht weiß, wieso ich das tue.

„Spielst du nicht?“ Er deutet in Richtung der Billardtische.

„Ich bin eine Niete...“

„Kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Ein freundliches Lächeln. „Sie scheint dagegen richtig gut zu sein... Gehört sie zu dir?“

„Ja... nein... wir sind nicht zusammen, wenn du das meinst...“

Wir wechseln noch ein paar flüchtige Worte, als auch schon der nächste Kunde bedient werden will. Ich stehe auf, um zurück zu Sanae zu gehen.
 

Wir bleiben noch eine längere Zeit in der Bar, bevor ich sie nach Hause bringe. Mit dem Mädchen hat sie sich scheinbar richtig verstanden und so verabredeten sie sich sogar für ein anderes Mal.

„Ich freu mich so auf nächste Woche!“, meint Sanae und schlendert vergnügt neben mir her. „Endlich richtige Ferien!“

Ich stimme ihr zu, auch wenn meine Freude durch die Gedanken getrübt werden, dass noch immer die lästigen Prüfungen auf mich warten.

Bei Sanae zu Hause angekommen, entschuldigt sie sich dafür, dass sie mich mitgeschleift hat, worauf ich nur den Kopf schüttle.

„War wahrscheinlich doch ganz gut so...“, lächele ich.
 

Wieder bei der U-Bahnstation angekommen, stelle ich fest, dass meine Bahn gerade weg ist und ich auf die nächste noch knapp 30 Minuten warten müsste. Ich beschließe zu laufen, zumindest bis zur nächsten Station.

Um ehrlich zu sein, habe ich noch gar keine Lust darauf, nach Hause zu gehen... Erst wollte ich gar nicht raus, und jetzt nicht zurück... Ich schüttle den Kopf über mich selbst, lasse meinen Blick über die ganze Leuchtreklame wandern.

Als ich abermals am doubleX vorbeikomme, bleibe ich stehen. Die Bar ist viel leerer als noch zuvor...

Aus Durst und dem Verlangen nach Ablenkung heraus, betrete ich sie erneut, setze mich erneut an den Tresen.

Der Barkeeper bemerkt mich und sein Lächeln zeigt, dass er mich sofort wieder erkennt.

„Noch mal das Selbe...“, sage ich.

Er nickt und nur wenig später steht das Getränk vor mir. Dann kümmert er sich um die Gäste an einem der Billardtische.

Mit dem Strohhalm rühre ich in meinem Glas herum, während mir eine Uhr verrät, dass es schon kurz nach halb elf ist. Wenn meine Rechnung stimmt, ist es bei dir jetzt ungefähr Nachmittag... Was machst du nun? Ob du Spaß hast?

Schon wieder all diese Fragen...

„Na? Wieder in Gedanken versunken?“ Der Barkeeper grinst, als ich ihn erschrocken ansehe.

„Ähm... ja...“

Er steht nur ein Stück von mir entfernt, spült ein paar Gläser.

„Wieso plötzlich ganz alleine?“, fragt er.

„Hatte noch keine Lust nach Hause zu gehen...“

„Keine Freundin, die eifersüchtig auf dich wartet, weil du mit einer anderen unterwegs warst?“

„Nein...“

Er lächelt und stellt die Gläser ins Regal, nimmt eine Bestellung entgegen.

Keiner der auf mich wartet, zumindest niemand in der Richtung... irgendwie deprimiert mich der Gedanke mit einem Mal...

„Irgendeine, für die dein Herz schlägt?“

Verwirrt sehe ich ihn an. Wieso fragt er mich das alles?

„Hey, du weißt doch, Barkeeper sind Seelentröster...“, kommt es lachend, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Ich muss grinsen, sehe auf mein Glas und rühre weiter darin herum.

„Kein Mädchen...“, sage ich dann zögernd.

Als ich ihn wieder ansehe, ist sein Blick noch immer wie zuvor, keine Reaktion auf meine Worte.

„Noch einen?“ Er deutet auf mein fast leeres Glas.

„Gerne, ja...“

Ich beobachte ihn dabei, wie er mir den Drink mixt.

„Wie alt bist du jetzt eigentlich wirklich?“, fragt er und spielt somit auf unser erstes Treffen an.

„16... fast 17...“, antworte ich, erinnere mich beschämt an meine Lüge.

„Na, da hab ich ja gar nicht so schlecht geschätzt!“ Er stellt meine Bestellung vor mich hin. „Ich heiße Okazaki...“

Lächelnd streckt er mir die Hand hin. Zögernd ergreife ich sie.

„Takahama...“

In den Moment kommt jemand zum Tresen und will zahlen. Wieder sehe ich zur Uhr. Wahrscheinlich hätte ich doch nach Hause gehen sollen...Ich leere den Drink zur Hälfte und krame mein Geld hervor. Als Okazaki wieder bei mir ist, lege ich einen Schein auf den Tresen.

„Wie viel macht das?“

„Du willst schon wieder gehen?“

„Ich hab morgen früh Schule...“

Er nimmt den Schein, sucht das Wechselgeld heraus, doch bevor er es mir gibt, sieht er mich fast nachdenklich an.

„Wo wohnst du?“

„Eine Station von hier...“

„Hm... in zwanzig Minuten ist meine Schicht vorbei... wartest du noch so lange, dann komm ich mit zur U-Bahnstation.“

Ich zögere. Was soll ich darüber denken? Der Blick in seinen Augen ist freundlich....

Erst will ich ablehnen, doch dann stimme ich zu. Wieso eigentlich nicht?

„Okay...“, sage ich und setze mich zurück auf den Hocker.

Ein freudiges Lächeln, als er mir zwei Münzen in die Hand drückt.

Die nächsten Minuten kommt es nicht mehr wirklich zu einem Gespräch.

Ich beobachte ihn bei der Arbeit, frage mich noch, wieso ich dem zugestimmt habe... Er ist wirklich sympathisch... unterhält sich mit mir, hat mir sogar zwei Mal etwas ausgeben wollen... Auch wenn ich es nicht verstehe, fühle ich mich fast ein wenig geschmeichelt...

Ich schüttle über mich selbst erschrocken den Kopf und starre in mein halbvolles Glas.

Bin ich eigentlich bescheuert? Er ist immerhin ein Mann! Sakuya hat echt meine ganze Welt verdreht... Bis vor kurzem hätte ich noch nicht mal darüber nachgedacht, doch nun plötzlich... Fast als würde ich in jedem einen Schwulen sehen, dabei bin ich hier wohl der Einzige mit solchen Anwandlungen...
 

Um kurz nach Elf verschwindet Okazaki kurz und kommt in normalen Klamotten wieder zurück.

„Okay, wir können los!“

Ich lächle, stehe auf... Und worüber soll ich jetzt bitte mit ihm reden?

Wir verlassen das doubleX... und schweigen. Viel zu schnell wird es unangenehm. Erwartet er von mir, dass ich etwas sage? Aber was? Worüber soll ich mit ihm reden? Zwar fallen mir einige Fragen ein, die ich ihm stellen könnte, doch fast alle kommen mir dämlich vor. Was mache ich hier überhaupt mit ihm? Ich kenne ihn doch gar nicht!

„Sagst du mir deinen Vornamen?“, fragt er irgendwann in die Stille.

Verdutzt sehe ich ihn an. „Ähm... Kida...“

„Meiner ist Tatsuya... nenn mich bitte so, das mag ich lieber...“ Ich nicke, er lächelt. Und da beginnt er langsam zu erzählen... dass er 22 ist, Elektrotechnik studiert, nun allerdings Semesterferien hat und im doubleX jobbt.

Daraus entsteht ein kleines Gespräch. Wir reden über sein Studium, über meine Schule und dann über allgemeine Dinge...

„Erzähl mir von deinen Hobbys...“, meint Tatsuya nach einer Weile und sieht mich direkt an. „Es würde mich interessieren...“

Ich spüre, wie ich rot werde, wende meinen Blick schnell ab. Er ist ein ganz normaler Mann, der mich fragt, was für Hobbys ich habe. Warum irritiert es mich so? Wieso denke ich plötzlich so anders?

Ich erzähle ihm, dass ich gerne Schlagzeug spiele und manchmal an Computern oder Songtexten rumbastle. Während ich erzähle, berührt etwas meine Hand. Allein aus Reflex ziehe ich sie sofort zurück, versuche aber mit aller Macht mir nichts anmerken zu lassen, meine Stimme ruhig zu halten.

War das Zufall?

War es Absicht?

In dem Moment erst bemerke ich, dass wir eigentlich einen ziemlich großen Umweg gelaufen sind. Ich schaue auf meine Uhr. Schon halb Zwölf...

„Mist... ich muss langsam wirklich nach Hause...“, meine ich.

Tatsuyas lächelt und nickt. „Kein Problem...“

Eine Ecke weiter steht auch schon das nächste U-Bahn-Schild.

„Ich komm noch mit runter...“, meint er.

Schweigend steigen wir die Treppen zu den Gleisen hinunter. Ich sehe ihn an. Ja, ich muss morgen wirklich früh raus, aber ist das tatsächlich der einzige Grund, wieso ich jetzt so schnell weg will? Übertreibe ich und die Berührung war nur ein Versehen? Warum hat sie mich so nervös gemacht? Und was denkt er jetzt? Eigentlich war unser Gespräch wirklich schön... für ein paar Minuten habe ich sogar Sakuya vergessen.

Unten angekommen, hält mir Tatsuya eine Visitenkarte hin.

„Du kannst mich anrufen, wenn du willst...“, meint er lächelnd.

„Danke...“ Auch ich lächle.

Nur wenig später fährt die Bahn ein.

„Das ist meine!“, sage ich und will losgehen, als ich am Arm festgehalten werde.

Im nächsten Moment finde ich mich ganz nah vor seinem Gesicht wieder.

„Ich würde mich freuen, wenn du anrufst...“, flüstert Tatsuya.

Es lässt mich erstarren, und dann tritt er auch schon wieder zurück. Seine Augen sehen mich freundlich an und ich kann nicht anders, als seinen Blick einfach nur erschrocken zu erwidern.

„Nun geh schon, sonst fährt sie ohne dich...“, grinst er.

Es lässt mich aus meiner Trance herauskommen und mich umdrehen.

„Tschüss!“, rufe ich noch schnell, bevor ich in der Bahn verschwinde.

Mit zitternden Knien lasse ich mich auf einem Sitz nieder und bin froh, als die Bahn direkt losfährt.

Was war das eben?

Vollkommen verwirrt starre ich auf die Karte, die er mir in die Hand gedrückt hat.

„Okazaki Tatsuya...“, spreche ich leise, bevor ich das Stück Papier in meiner Jackentasche verschwinden lasse.

Dann war die Berührung im Park also wirklich kein Versehen gewesen.

Verdammt...
 

~ * ~
 

Sanae erzähle ich am nächsten Morgen weder etwas von Tatsuya, noch dass ich überhaupt noch mal im doubleX war. Sie wundert sich zwar, wieso ich so übermüdet wirke, doch sie fragt nicht weiter, schiebt es wahrscheinlich auf Sakuya... Und dabei war es seit langem die erste Nacht, in der ich nicht ausschließlich an ihn gedacht habe...

Ob Tatsuya von Anfang interessiert... an mir war? Deswegen die Drinks? Hätte ich es merken sollen? Aber wie denn? Mein Kopf ist viel zu voll mit anderen Dingen...

Was will er? Schon als er meine Hand berührte... dachte er, ich würde darauf eingehen? Hätte ich es tun sollen... mich auf ihn einlassen? Ob es was gebracht hätte? Mich vielleicht vollends abgelenkt und mir klar gemacht, dass das mit Sakuya nur Kuriosität ist?

Ob ich ihn anrufen soll?

Ziemlich schnell beschloss ich allerdings, es wohl nicht zu tun. Eigentlich nämlich habe ich überhaupt kein derartiges Interesse an ihm... wenn ich mich nun also bei ihm melden würde, erwartet er garantiert etwas von mir...

Ist denn eine normale Männerbekanntschaft so viel verlangt?
 

„Hi!“

Der Gruß reißt mich aus meinen Gedanken heraus. Erschrocken fahre ich herum, lasse meinen Blick über den gesamten Flur huschen. Niemand, tatsächlich nur er und ich...

Vollkommen aus meiner Welt gerissen starre ich Asumo hinterher.

Was war das jetzt? Er hat mich gegrüßt? Mich? Gerade er hasst mich, das weiß ich genau... wieso also...

Er verschwindet in einem der Räume während ich noch immer starr auf meinem Fleck stehe.

Das muss ein Irrtum gewesen sein!
 

~ * ~
 

Nach diesem Vorfall vergehen die letzten Tage der Sommerkurse so normal wie immer. Ich verdränge alle Gedanken, die sich wieder und wieder um Sakuya drehen. Und doch schaffe ich es nicht, sie die ganze Zeit zu unterdrücken...

Dabei sollte ich mich um so viele andere Dinge kümmern, sollte ich endlich Englisch und auch Sozialkunde verstehen... Bis jetzt habe ich noch keine Ahnung, wie ich so die Prüfungen überstehen soll...

Verdammt, ich muss wirklich langsam wieder zum Alltag zurückkommen und nicht ständig über diesen ganzen schwulen Kram nachdenken... Vor ein paar Wochen war noch alles so einfach...
 

~ * ~
 

Am Freitagabend sage ich nicht zu, als Sanae mich wieder mitschleppen will, zu dem Treffen, mit diesem Mädchen... Keine Lust, sage ich, und dass ich lernen sollte, auch wenn wir beide wissen, dass ich das heute wohl eh nicht tun werde...

Tatsächlich verbringe ich einige Zeit vor dem Fernseher, sehe mir irgendeinen Actionfilm an und ignoriere, dass er eigentlich ziemlich mies ist. Ein bisschen lache ich über die schlechten Schauspieler und die noch viel schlechteren Computeranimationen, und als er schließlich vorbei ist und sich wirklich als komplette Zeitverschwendung entpuppt hat, schalte ich den Apparat ab.

Ich schnappe mir meine Jacke und verlasse mein Zimmer.

„Ich geh raus...“, rufe ich ins Wohnzimmer.

„Aber es reg-“

„Ich weiß...“ Die Tür fällt hinter mir ins Schloss.

Wo genau ich hin will, weiß ich nicht. Einfach nur ein bisschen Luft schnappen, Ruhe, die Zuhause zwar leiser wäre, hier draußen aber irgendwie besser zu ertragen.

Als ich in den Regen trete, bleibe ich einen Moment stehen und schließe meine Augen.

Ich mag, wenn es regnet.
 

Mein Weg führt mich zur U-Bahn und ich fahre zum Hafen. Früher als Kinder haben wir oft hier gespielt, so nah am Wasser wie möglich.

Nun bin ich alleine hier am Pier, keine Menschenseele ist zu entdecken. Ich lehne mich gegen das Geländer, starre ins aufgewühlte Wasser.

Dort wo du bist, scheint wahrscheinlich gerade die Sonne... Fühlst du dich wohl dort? Geht es dir gut? Denkst du ab und zu an mich? Als ein winziger, abscheulicher Gedanke? Oder bin ich dir selbst dazu zu wenig wert? Ob du mich... diese Sache schon ganz vergessen... verdrängt hast?

Ich kann es nicht, Sakuya... dich vergessen...

Egal, was ich mache, ich muss an dich denken, auch wenn ich mir immer wieder sage, dass ich es nicht tue... Nichts kann mich vollends ablenken.

Wie kann es sein, dass gerade du mein Herz so sehr berührst?
 

Ich fahre mir mit der Hand durchs Haar. Als ich sie wieder zurück in meine Jackentasche stecke, fällt mir etwas auf. Schon die ganze Zeit habe ich unbewusst damit gespielt.

Ich hole die kleine, jetzt schon etwas zerknickte Karte hervor.

Tatsuya...

Als ich kurz darauf seine Nummer wähle, fühle ich mich irgendwie komisch. Ich hatte ehrlich gesagt nicht mehr vor, ihn wirklich anzurufen. Wieso tue ich es nun doch? Ich weiß nicht einmal, ob ich mich darüber freuen soll, wenn er abnimmt.

„Hallo?“

„Ähm...“ Ich weiß absolut nicht, was ich sagen soll, doch es ist schon zu spät, einfach wieder aufzulegen. Außerdem ist ja eigentlich nichts dabei, mit ihm zu reden... oder?

„Wer ist denn da?“

„Ich bin es...“, spreche ich leise. „Kida...“

Eine Sekunde bleibt es still, dann: „Hey! Schön, dass du anrufst...“

Er klingt erfreut.

„Wie geht es dir?“, fragt er, als ich nicht antworte.

„Es geht...“, schaffe ich es nicht zu lügen.

„Was ist denn?“

„Ach nichts... ich stehe nur grad mitten im Regen, weiß nicht was ich tun soll und...“ Ich breche ab, vor Schreck über meine eigenen Worte. Was labbere ich da für einen Scheiß? Das war ja schon fast ne Selbsteinladung!

Und nicht nur das... er geht auch noch darauf ein. „Willst du vorbei kommen?“

„Störe ich nicht?“

„Quatsch!“

In ein paar schnellen Worten erklärt er mir, wie ich zu ihm komme, und dann legen wir auf. Einige Sekunden lang starre ich mein Handy an, bevor ich es wieder in meiner Tasche verschwinden lasse.

Wieso habe ich das gerade getan?
 

Nur etwas später finde ich mich in einer kleinen Nebenstraße, in einem zweistöckigen Haus, vor einer fremden Wohnungstür wieder.

Warum habe ich ihn angerufen? Warum habe ich auf seine Einladung reagiert? Was wird jetzt von mir erwartet?

Ich drücke auf die Klingel.

„Hi!“ Tatsuyas Gesicht ist fröhlich als er die Tür öffnet. „Komm rein!“

Sofort wird mir angeboten, mich frisch zu machen. Sogar duschen könnte ich hier, doch das lehne ich ab. Irgendwie wäre es mir unangenehm. Mit einem Stoß trockener Sachen verschwinde ich im Badezimmer.

Tatsuya scheint sich wirklich über meinen Besuch zu freuen. Doch eigentlich sollte ich gar nicht hier sein.

Ich sehe in den Spiegel, während ich meine Haare abtrockne.

Warum habe ich ihn angerufen, wenn ich mir doch denken kann, was er will? Wieso bin ich hier?

Vielleicht sollte ich es darauf ankommen lassen. Was ist schon falsch daran? Tatsuya ist nett und er scheint Interesse zu haben... wieso es nicht einfach mal passieren lassen... Wieso nicht einfach mal Spaß haben?

Ob ich mich danach besser fühle? Wahrscheinlich ein dämlicher Gedanken und doch lasse ich ihn so stehen.

Tatsuya sitzt auf dem Sofa. Ich lasse mich neben ihn fallen.

„Wieso warst du bei dem Wetter draußen?“, fragt er.

„Nachdenken...“

„Und? Zu einem Ergebnis gekommen?“

„Nicht wirklich...“

Ich lehne mich im Sofa zurück und lege meinen Kopf nach hinten, sehe Tatsuya an.

Bin ich wirklich bereit, nun alles geschehen zu lassen? Auch wenn ich mich in einen Jungen verliebt habe, kann ich einfach so mit einem... schlafen? Und dann auch noch mit einem anderen? Aber vielleicht... würde es mir ja auch reichen...

„Was hast du die letzten Tage so gemacht?“, fragt er und trinkt einen Schluck, reicht auch mir ein Glas. Ich kann nicht genau sagen, wieso seine Frage mich überrascht.

„Hauptsächlich Englisch gelernt... für die Schule...“

„Hast du da Probleme drin?“

„Ja...“

„Hm... wenn du willst, kann ich dir helfen... Ich habe Verwandte in Australien und hab daher schon früh was mit der Sprache zu tun gehabt...“

„Das wäre echt nett!“ Sein Vorschlag freut mich. „Warst du schon mal da? In Australien meine ich...“

„Nur ein Mal... mein Onkel kommt meist eher uns besuchen, und da er kaum japanisch spricht, hab ich schnell Englisch gelernt...“

„Wie ist es in Australien?“

„So genau kann ich das gar nicht mehr sagen... Ich war sieben oder acht, als wir da waren...“

„Ich war noch nie raus aus Japan... Fukuoka war bisher das weiteste...“ Ich grinse und stelle das Glas wieder auf den Tisch.

„Na, da war ich immerhin noch nie, obwohl ich immer mal hin wollte... erzähl mal, wie ist es da?“

Es beginnt ein kleines Gespräch über Fukuoka und für einen Moment vergesse ich, mit was ich gerechnet habe, als ich herkam... Bis das Gespräch schließlich erstirbt.

Tatsuya schenkt sich noch etwas zu trinken ein, nippt dann aber nur kurz an dem Glas, stellt er zurück und sieht mich an...

Nach einer Weile beugt er sich zu mir heran. Er zögert merklich, als er die Hand hebt und mich im Gesicht berührt... Er lässt mir allen Freiraum um zu verschwinden... doch stattdessen schließe ich meine Augen und warte ab.

Seine Lippen sind warm, als sie sich auf meine legen. Ich erwidere ihren Druck.

Es fühlt sich so anders an...

Ich selbst bin es, der aus dem Kuss mehr entstehen lässt. Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und ziehe ihn zu mir heran.

Was ist schon falsch daran, wenn es sich gut anfühlt?

Tatsuyas Hände fahren unter mein Shirt und ziehen es mir über den Kopf. Nun berührt er vorsichtig meinen Hals mit seinen Lippen, meine Schultern, meine Brust...

Es fühlt sich schön an...

Immer tiefer führen seine Wege, immer weiter wagt er sich vor. In meinem Bauch beginnt es zu kribbeln... Aufregung... Spannung... Neugier... doch es ist nicht nur das...

Angst... und...

Als er wieder zu mir heraufkommt, umschlinge ich ihn erneut, küsse ihn fest. Versuche alles andere zu unterdrücken.

...Sakuya...

Es kann doch nicht sein... warum kann ich es nicht wenigstens jetzt vergessen...

Noch während des Kusses kann ich ein Schluchzen nicht unterdrücken. Sofort lässt Tatsuya von mir ab.

Er drückt mich ein Stück von sich, sieht mich erschrocken an.

„Was hast du?“

„Ich...“ Ich schüttle den Kopf und spreche nicht weiter, wische mir übers Gesicht, merke dabei noch keine Tränen.

Es ist Schwachsinn, wieso bin ich schon wieder so kurz davor zu weinen? Es ist nicht so, dass ich seine Berührungen nicht schön fände... im Gegenteil... Aber was ist es dann? Wieso wehrt sich irgendwas dagegen? Kann ich nicht einfach nur etwas Spaß haben?

Ohne noch lange darüber nachzudenken, rutsche ich wieder näher an ihn heran, küsse ihn erneut. Er wirkt zunächst verwirrt, erwidert es dann aber doch. Wieder streichelt er mich, lässt seine Hände erneut tiefer wandern... Dann berühren sie meine wachsende Erregung durch die Hose...

Und in dem Moment stoße ich ihn von mir, springe auf.

„Lass das!“, schreie ich und nun plötzlich sind da tatsächlich Tränen. Ich zittre am ganzen Körper.

Tatsuya ist entsetzt. Sein Gesicht schreit das Unverständnis förmlich heraus.

„Es tut mir leid!“, sagt er und hebt die Hände. „Wenn du es nicht willst dann-“

„Das ist es nicht, das...“ Wieso heule ich? „Ich... es ist nur...“

Er steht auf und kommt auf mich zu, streckt die Hand aus. Die sanfte Berührung an meinem Arm lässt mich zusammenzucken. Es fällt mir schwer, seinem Blick standzuhalten und so vergrabe ich mein Gesicht schließlich in den Händen. Nur kurz darauf spüre ich, wie er mich in seine Arme zieht. Ich wehre mich nicht dagegen... und schaffe es nun auch nicht mehr, meine Tränen zurückzuhalten.

„Es tut mir leid!“, schluchze ich und drücke mich an ihn. Sein Hände streichen über meinen Rücken... beruhigend... sanft...

Aber das war doch die ganze Zeit so... Seine Berührungen sind so vorsichtig gewesen... so schön... so wie ich es mir wünsche... aber nun weiß ich, sie waren nicht von der Person, von der ich sie mir wünsche...

Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich beruhigt habe, schließlich jedoch lasse ich von Tatsuya ab und wische mir über die Augen, sehe ihn zögernd an, nun ziemlich beschämt.

„Entschuldigung...“, flüstere ich und nehme dankend ein Taschentuch entgegen.

Er sieht mich sorgenvoll an. Ich versuche ein Lächeln.

„Es ist mir schon die letzten Male aufgefallen... dass du tief in deinen Gedanken versunken bist...“ Er reicht mir noch ein Taschentuch und lächelt aufmunternd. „Willst du vielleicht mal darüber reden? Ich bin ein guter Zuhörer...“

Ich nicke, sage jedoch kein Wort. Ich muss es ihm wirklich erklären, das hat er verdient...

Tatsuya setzt sich wieder aufs Sofa, ich tue es ihm gleich.

„Es liegt an ihm, nicht wahr?“ Erschrocken sehe ich ihn an.

„Woher...?“

„Du hast am Dienstag etwas gesagt, was darauf deuten ließ... ich war mir nicht ganz sicher, aber jetzt bin ich es...“ Ein freundliches Lächeln. „Es gibt da jemanden, nicht wahr?“

Ich nicke zögernd. „Ja... Er... er geht auf meine Schule... wir haben uns geküsst und so... doch dann hat er gesagt, dass er ‚so was’ nicht will...“

Es tut immer noch weh, darüber zu reden...

„Magst du ihn mehr als...“

„Ich... Ja...“

„Weiß er es?“

„Ja... nein... ich weiß nicht... ich glaube schon...“ Zögernd zucke ich mit den Schultern, flüstere dann leise: „Ich will nicht mehr so fühlen...“

Tatsuya lächelt und greift nach den Gläsern auf dem Tisch, reicht mir meines. „So einfach ist es nicht, jemanden zu vergessen... ich weiß, wovon ich spreche. Es bringt nichts, das erzwingen zu wollen... aber es wird besser, von Tag zu Tag...“ Ein aufmunterndes Lächeln.

„Das hoffe ich...“, sage ich und nippe an meinem Glas.
 

An diesem Abend bleibe ich noch lange bei Tatsuya. Er bietet mir sogar an, bei ihm zu schlafen, doch ich lehne ab.

Ich fühle mich um einiges besser, als ich seine Wohnung verlasse... nicht mehr wie der begossener Pudel, der ich vor einigen Stunden im wahrsten Sinne des Wortes noch war.

Draußen ist es schon lange dunkel und es hat aufgehört zu regnen.

Wir haben uns für Sonntag verabredet. Ich glaube, ich freue mich wirklich darauf. Ob ich in Tatsuya einen Freund gefunden habe? Einen, wie es auch Sakuya hätte werden können, wären nicht diese Gefühle dazwischen gekommen...?

Ich mache mich auf den Weg zur U-Bahn und verdränge diesen Gedanken.

Kopf hoch, das Leben geht weiter!
 

~ * ~
 

Schon als ich Tatsuya am Sonntag treffe, bin ich mir sicher, dass sich zwischen uns eine Freundschaft entwickeln wird. Woran ich das merke, kann ich nicht wirklich sagen... es ist irgendwie, als lägen wir auf der selben Wellenlänge oder so etwas in der Art...
 

Wir treffen uns im Laufe der nächsten Woche noch zwei weitere Male, und einmal davon schlafe ich sogar bei ihm.

Ich weiß nicht, ob Tatsuya noch was von mir will, geschweige denn, ob das ohnehin je so der Fall war... jedenfalls passierte nichts mehr nach dem Kuss. Und doch ist unsere Freundschaft anders... anders als die, die ich zum Beispiel zu Akito habe. Irgendwie habe ich schon jetzt das Gefühl, sie sei enger, obwohl das natürlich bei weitem noch nicht der Fall ist...

Es ist einfach so, dass die typischen Berührungsängste, die normalerweise zwischen Jungs bestehen, bei uns nicht vorhanden sind... und dass ich schnell das Gefühl habe, ihm alles erzählen zu können...

Ich weiß nicht, wodurch diese Vertrautheit so schnell entstanden ist, aber es stört mich auch nicht. Irgendwie bin ich einfach froh, ihn kennengelernt zu haben. Ich habe das Gefühl, dass er der einzige Mensch neben Sanae ist, vor dem ich mich wirklich ganz und gar nicht verstellen muss, und das, obwohl ich ihn erst seit ein paar Tagen kenne. Und vielleicht versteht er mich sogar besser als sie, immerhin kennt er die Problematik des Schwulseins selbst...
 

In der Nacht, in der ich bei Tatsuya bleibe, erzähle ich ihm alles von der Sache mit Sakuya. Beim letzten Mal waren es nur Bruchstücke, die er erfuhr, diesmal ist es die ganze, eigentlich gar nicht so lange Geschichte. Ich glaube es tut gut, das alles mal zu erzählen, es so noch mal zu durchlaufen und zu erleben... ein wenig zumindest.
 

Durch die Freundschaft mit Tatsuya entstehen in mir allerdings auch andere Gedanken...

Zum Beispiel solche, ob ich das mit Sakuya vielleicht von Anfang an falsch angefangen hatte... Wären wir vielleicht Freunde geworden, wenn ich es nicht auf mehr angelegt hätte?

Und dann frage ich mich wieder, ob mir Freundschaft bei Sakuya wirklich gereicht hätte... Ich weiß nicht, ob meine Gefühle sich dann auch in diese Richtung entwickelt hätten... und wenn ja... ob ich sie dann so unterdrücken könnte, dass eine ganz normale Freundschaft möglich wäre?

Ich weiß es nicht...

Ich weiß nur, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dich einfach wieder zu sehen... und das Gefühl wird von Tag zu Tag stärker...
 

Part 07 - Ende
 

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~ Fukuoka
 

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Part 08

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Sakuya (by littleblaze)
 

Heute lasse ich etwas geschehen, von dem viele nur träumen: ich drehe die Zeit zurück. Leider ist dies nur für mich und ca. 150 andere Personen in diesem Flugzeug von Bedeutung und doch dreht sich mit jeder Minute, die vergeht, die Uhr um ein paar Sekunden zurück...
 

Ich betrete den Logan International Airport mit sechzehn verbrauchten, aber dennoch nur zwei fehlenden Stunden.

Ein wenig komisch ist mir zu mute, doch ist es ein atemberaubendes Gefühl hier mitten unter ihnen zu stehen, unter Menschen, für die ich aussehe wie einer der Ihren.

Ein Mitarbeiter der Firma begrüßt uns, begleitet uns ins Hilton.

Wir checken ein, mein Dad bespricht einige Details mit dem mir fremden Mann, und von Sekunde zu Sekunde wird mein Wunsch größer, einfach hinaus zu rennen, die Innenstadt zu sehen, die Luft des Charles River einzuatmen, die Blumen im Public Garden zu riechen und im Common eine Runde Baseball zu spielen... einfach mal wieder ein ganz normaler Amerikaner zu sein.

Doch auch ein ganz anderes Gefühl macht sich in mir breit... hinaus zu gehen, so vieles zu sehen, was ich die ganze Zeit über vermisst habe, Kevin zu treffen und am Ende mit noch mehr Sehnsucht wieder zurück zu müssen.

Ich schaue aus dem Fenster, kann das East Boston Memorial Stadium sehen. Ein Stückchen dahinter die Brooks Street... sehen kann ich diese nicht, doch ich weiß genau, dass sie da ist, und dann der direkte Weg, der zur East Boston High führt.

„Sakuya?“

„Ja?“ Ich drehe mich vom Fenster weg.

„Ich muss gleich gehen, wenn du Hunger hast, bestell dir einfach was du magst und wenn irgendwas sein sollte... hier, die Nummer vom Büro.“

Ich nehme den kleinen Zettel entgegen.

„Ich würde lieber gehen“, teile ich meinem Dad meinen gerade getroffenen Entschluss mit.

„Oh... ok, warte kurz.“

Er fängt an in seinen Unterlagen zu kramen und hält mir kurze Zeit später einen Umschlag hin.

„200 Dollar und eine Kreditkarte... verlier sie nicht.“

„Werd ich nicht.“ Mit einem Lächeln nehme ich den Umschlag entgegen.

Ich wollte schon seit längeren eine eigene Kreditkarte haben, wurde aber immer nur auf später vertröstet.

Er umarmt mich kurz.

„Pass auf dich auf, und wenn was ist...“ Er formt seine Hand zu einem Telefonhörer und hält ihn ans Ohr.

„Dann ruf ich an“, beende ich den Satz.

Er wirft sich sein Jackett über und schnappt sich seinen Aktenkoffer.

„Und meld dich bei Mom, sonst macht sie sich Sorgen.“

„Mach ich.“

„Bleib sauber... bye.“

„Bye.“
 

~ * ~
 

Kurze Zeit später stehe ich frisch geduscht, mit einem Rucksack bewaffnet und von einem Taxi chauffiert auf der Brooks Street. Ich konnte es mir nicht nehmen, die Straße einfach nur hinauf zu schlendern, die Umgebung in mich aufzunehmen.

Auch wenn die Häuser hier um einiges schlichter sind, so spürt man doch diesen ganz typischen Boston-Charme, der von allen Seiten auf einen einströmt.

Ich lasse die East Boston High mit einem wehmütigen Blick hinter mir, gehe die White Street bis zum Wasser entlang, dann Richtung Süden.

Im Shaw’s Supermarket kaufe ich mir eine Coke, mache einen kleinen Abstecher ins Liberty Plaza und anschließend nehme ich wieder ein Taxi, diesmal in Richtung anderes Ufer. Ich passiere den Sumner Tunnel und lasse mich am State House absetzen.

Orte, an denen ich früher war, mit denen ich Erinnerungen verbinde, und auf den ersten Blick würde ich sagen... es hat sich absolut nichts verändert. Ich erkenne jede einzelne Straße und jedes einzelne Gebäude wieder, und plötzlich, auf einmal dieser bekannte, unverkennbare, wahnsinnige Geruch, der mir in die Nase steigt.

Ich bleibe stehen und erblicke den Hot-Dog-Stand mir genau gegenüber.

Ich verspüre einen Hunger als hätte ich zwei Wochen nichts gegessen, und so überquere ich auf komplizierteste Art die Straße und bestelle mir einen riesigen Hot Dog mit allem drum und dran.
 

Ich folge kauend der Bacon Street, höre die Kinder im Common spielen. An der Ecke zur Charles Street bleibe ich stehen, zum ersten Mal, seit ich durch die Straßen Bostons laufe, wieder dieser unangenehme Gefühl in mir, die Angst, nicht zu wissen was mich erwartet. Doch ich schüttle sie ab, denn es kommt mir so vor, als würde das Wasser mich rufen.
 

Hatch Shell... wie viele Unabhängigkeitstage habe ich hier gefeiert? Wie viele Konzerte mitangesehen?

Ein kleines Stück, einige Schritte. Ich knie nieder, lasse das kühle Wasser des Charles River durch meine Finger gleiten...

„Da... da... Watter...“

„Wasser“, höre ich die Mutter ihr Kind verbessern und Sekunden später schaut mir ein kleines Mädchen direkt ins Gesicht.

„Allo“, strahlt sie mich an.

„Hallo“, erwidere ich.

Ich rapple mich auf, werfe der Mutter einen freundlichen Blick zu.

„Na komm, Ally... Papa wartet auf uns.“

Ally winkt mir zum Abschied und ist dann mit ihrer Mutter auch schon wieder verschwunden.

Ob zufällig oder gewollt fällt mein Blick auf die Armbanduhr, schon 15.35 Uhr. Seit vier Stunden bin ich bereits in Boston und habe es immer noch nicht geschafft, ihm gegenüber zu treten... zögere ich dieses Treffen nur hinaus?

Einen kleinen Abstecher... nur noch einen...
 

Ein anderer Briefkasten am Gehweg, andere Vorhänge an den Fenstern und zwei fremde Autos in der Auffahrt, aber ansonsten sieht das Haus noch immer aus wie immer.

Es ist ein komisches Gefühl, jetzt nicht einfach den Schlüssel zücken und nach oben in mein Zimmer gehen zu können.

Es gehört immer noch uns, das Haus, in dem ich aufgewachsen bin... irgendwann wird es mir gehören. Die Leute, die momentan darin wohnen, sind nur zur Miete da, irgendwie ein beruhigendes Gefühl.
 

Die Straße vor mir... lauter kleine und große Geschichten, die ich erzählen könnte. Ich gehe sie langsam hinauf, während mein Herz mit jedem überwundenen Schritt schneller zu schlagen scheint. Meine Finger berühren ganz automatisch das einzige Schmuckstück, das ich seit meinem vierzehnten Geburtstag trage, und ganz unerwartet tut sich ein schrecklicher Gedanke in mir auf.

Was wenn... wenn er vielleicht verreist ist, wenn er vielleicht in einem dieser Baseballcamps ist, in denen wir jeden Sommer waren... was, wenn er gar nicht in Boston ist, die Chance ihn wieder zu sehen einfach so dahin... Ja, vorher habe ich mir gesagt, dass ich trotzdem hier sein wolle, aber ist das die Wahrheit?

Aus Angst beschleunige ich meinen Schritt und bleibe erst vor der Haustür wieder stehen. Und jetzt? Einfach klopfen, anschellen, oder?

Mein Herz pocht kräftig gegen meine Brust, ein Gefühl, das ich nicht besonders mag, da ich es nicht kontrollieren kann. Alles in mir schreit danach hineinzugehen, aber mein Körper schafft es nicht, mir zu gehorchen. Ich war immer so gerne in diesem Haus, hier war ich nie alleine. Doch wie sollte ich jet...

„...und dann hat er mir nur fünf wiedergege....“

Eine Bewegung zu meiner Rechten, eine bekannte Stimme, die verstummt. Ich drehe mich um und unsere Blicke treffen sich...

Seine Präsenz so plötzlich, so offensichtlich wahrzunehmen, lässt mich kaum atmen. Nur mit Mühe schaffe ich es ihn weiterhin anzusehen, und was ich sehe, gefällt mir nicht. Mit Erschrockenheit, Verwunderung, sogar mit ein wenig Unverständnis habe ich gerechnet, aber mit... Hass...

Ich schüttele leicht den Kopf, nicht weil ich es will, sondern weil ich einfach nur Angst habe. Ich kann es in seinen Augen sehen...

Mit aller Kraft versuche ich mich davon abzuhalten, nun einfach davonzurennen, denn dies ist es, was ich jetzt am liebsten tun würde, doch nimmt er mir diese Entscheidung ganz einfach ab... Was habe ich nur getan?

Und erst jetzt bemerkte ich seinen Begleiter, der ihm laut hinterher ruft, mir einen wütenden Blick zuwirft und ihm dann folgt.

„Was macht ihr hier draußen für einen Krach?“ Eine weitere bekannte Stimme im Rücken. Langsam drehe ich mich in ihre Richtung. Augen, die sich auf halbem Wege wie von selbst schließen. Ich schaffe es nicht sie anzusehen, würde jetzt am liebsten ganz woanders sein. Seine Reaktion... damit habe ich nicht gerechnet, er ist einfach vor mir davon gerannt...

„Sakuya?“

Zaghaft nur öffne ich meine Augen wieder, um ein mir bekanntes Gesicht neu zu entdecken, schaue in die Augen der Frau, die mich wie ihren eigenen Sohn behandelt hat. Wird sie auch einfach davon laufen, mir die Türe vor der Nase zu schlagen?

„Gott, ich kann es nicht glauben. Du bist es wirklich, nicht wahr?“

Ich nicke nur leicht und werde sofort in eine mütterliche Umarmung gezogen, in der ich mich gerne geborgen fühle.
 

Einige Minuten später sitze ich mit Mrs. Wyans, Aaron und Juliet am Küchentisch. Mein Aufenthalt in Boston ist schnell erklärt, und weitere Fragen versuche ich so ausführlich wie es geht zu beantworten.

Aaron und Juliet wollen viel über Japan wissen, Kevins Mom interessiert eher, was ich persönlich so gemacht habe, ob ich immer noch Baseball spiele und wie ich mich so in der Schule mache... eben eine richtige Mutter.

Aaron war zehn, als ich nach Japan ging... von dem kleinen Jungen, der Kevin und mir immer gefolgt ist und uns tierisch auf die Nerven ging, ist nichts mehr übrig.

Juliet ist mittlerweile neunzehn und schon damals ziemlich frühreif gewesen, doch was ich jetzt zu sehen bekomme, lässt mich leicht grinsen... Ich muss daran denken, wie viele Kerle wohl darauf eifersüchtig sein würden, wenn sie wüssten, wie oft ich schon mit ihr in der Badewanne gesessen habe.

Für die Mitglieder der Familie Wyans ist es beschlossene Sache, dass ich meinen Aufenthalt hier verbringe, und nichts wünsche ich mir mehr... doch wie wird er reagieren, wenn er zurückkommt?

„Ist er... sehr wütend?“, frage ich nach zwei vergangenen Stunden nach.

„Wütend ist gar kein Ausdruck“, antwortet mir Juliet als erstes.

„Juliet!“, ermahnt sie ihre Mutter.

„Was? Es stimmt doch.“

Mrs. Wyans schaut auf die große Küchenuhr.

„Hattest du nicht noch ein Date?“

„Oh ja, scheiße.“ Juliet springt auf und verlässt die Küche.

„Er ist nicht wütend auf dich“, versucht sie mich zu beruhigen.

„Nein, wütend wäre das falsche Wort“, pflichtet ihr Aaron bei.

„Aaron!“, ermahnt sie abermals an anderer Stelle.

„Was meldest du dich auch zwei Jahre nicht... nach allem was... Ach verdammt, weißt du eigentlich...“

„Aaron, es reicht“, versucht seine Mutter ihn vergebens zu unterbrechen.

„...wie er darunter gelitten hat? Weiß Gott, diese ersten Wochen waren für ihn die reinste Hölle, er hat....“

„AARON! Ich sagte es reicht!“

Sein verständnisloser Blick trifft mich... Stille, umgeben von einer Anspannung, die ich momentan nicht ertragen kann.

„Ich... ich muss kurz ins Bad“, rette ich mich aus der mir unangenehmen Situation und renne die Treppen hinauf ins erste Obergeschoss. Für mehr fühle ich mich gerade nicht im Stande. Ich reiße die Tür auf und schaffe gerade noch die Toilettenschüssel zu erreichen, als sich auch schon das beißende Gefühl in meiner Kehle bemerkbar macht...
 

Entkräftet sitze ich gegen die Wand gelehnt, ein kalter Lappen im Nacken und die Augen gerötet von Tränen, die ich nicht zurück halten konnte. Keine Tränen des Schmerzes... nein, sondern Tränen der Scham, der Hilflosigkeit.

Warum bin ich hier? Wollte ich nicht alles wieder in Ordnung bringen, mich bei ihm entschuldigen? Ist es vielleicht schon zu spät dafür?

Ich habe nicht gründlich genug nachgedacht, nie daran gedacht, dass ich nicht der einzige bin, der leiden würde... habe ich angenommen, er sei, wie auch sonst... stärker als ich? Er würde es schon irgendwie verkraften, während ich als ein kleines Häufchen Elend am anderen Ende der Welt vor mich hinvegetiere...

Was muss in ihm vorgegangen sein, als ich mich nicht gemeldet habe, wie oft ihn enttäuscht, indem ich keinen seiner Briefe beantwortete? Was um alles in der Welt habe ich mir nur dabei gedacht... habe ich wirklich angenommen, dass er mich einfach so mit offenen Armen empfangen würde?

„Sakuya?“

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür.

„Alles in Ordnung?

„Ja... nur noch eine Minute“, versuche ich sie zu beruhigen.

„Ok... und... Kevin ist jetzt oben und deine Sachen habe ich ins Gästezimmer gebracht.“

Schritte, die verklingen, und ich schieße hoch, reiße die Tür auf.

„W... weiß er... das ich noch hier bin?“

„Nein.“

Ohne mich anzusehen, geht sie wieder hinunter ins Erdgeschoss.

Ich könnte ihr folgen, einfach und still dieses Haus verlassen, mir vieles ersparen... aber ist es das wert? Habe ich in all den Jahren meiner Kindheit nicht so viel Schönes durch unsere Freundschaft erhalten... will ich all dies einfach wegwerfen... einfach so, nur weil ich zu feige bin, ihm gegenüberzutreten?

Ich gehe zurück ins Bad und hebe den Lappen vom Boden auf. Ich lege ihn ordentlich gefaltet auf den Rand des Waschbeckens, spüle mir den Mund einige Male mit einer Mundspülung aus und betrete anschließend die Treppe nach oben. Ganz vorsichtig erklimme ich eine Stufe nach der anderen, nur keinen Laut von mir geben, der mich verraten könnte.

Auf halbem Wege nehme ich das Geräusch von Wasser wahr, das drei Stufen später auch schon wieder verklingt. Was soll ich ihm eigentlich sagen? „Hallo, schön dich wieder zu sehen, was treibst du denn so?“ Ja klar, da kann ich mir auch direkt die Kugel geben.

Ich erreiche die Zimmertür, speichere noch ein wenig Luft in meinen Lungen... vielleicht ja das letzte Mal, dass ich zum Atmen komme. Ich klopfe an.

„Ja?“

Seine Stimme lässt mich stocken, weder meine eigene, noch meine Hand, um die Türklinke zu öffnen, kann ich erheben.

Schritte, ich rechne damit, dass die Tür aufgerissen, er mir gegenüberstehen wird, der Hass in seinen Augen... aber nichts von alldem passiert, nur seine ruhige Stimme, die durch die Tür hindurch dringt.

„Ich will dich nicht sehen... Geh.“

Und für einen kleinen Moment bin ich bereit, seinem Wunsch zu folgen, doch schreit plötzlich alles in mir, nicht so einfach aufzugeben.

„Nein“, erwidere ich.

„Du sollst verschwinden“, kommt es energischer.

„Sag es mir ins Gesicht und ich werde es tun.“

Die Tür wird ruckartig aufgerissen. Ich weiche erschrocken ein Stück zurück.

Blaue Augen, die immer auf mich gerichtet waren, mich bewacht und beschützt haben, blicken mich nun verärgert und verachtend an. Seine Lippen zittern leicht, versuchen die Worte zu formen, doch schaffen es nicht.

Er bricht den Blickkontakt ab, dreht sich wütend um und geht zurück ins Zimmer. Ich folge ihm.

Er murmelt leise etwas vor sich hin und trocknet sich gleichzeitig die Haare ab... sie sind ein wenig länger geworden.

Ich schaue mich im Raum um.

Die Möbel stehen alle noch an ihrem gewohnten Platz, nur vieles in den Regalen und Wänden hat sich verändert. Mein Blick fällt auf den Tisch.

„Du rauchst?“, frage ich ungläubig.

„Nein“, kommt es kühl zurück und sofort springt mir ein heute gesehenes Gesicht vor Augen.

„Der Typ von vorhin“, stelle ich eher fest als zu fragen, woraufhin ich nur einen missbilligen Laut ernte.

„Er scheint oft hier zu sein“, stelle ich aufgrund des überfüllten Zustands des Aschenbechers fest.

Das Handtuch fliegt durch den Raum und mehr ein Schreien als irgendwas sonst trifft auf meine Ohren.

„Ja, er ist oft hier. Sein Name ist Malcolm, ist siebzehn Jahre alt, spielt Baseball...“ Sein wütender Blick trifft auf meinen Erschrockenen. „...und ja, er ist ein prima Ersatz für dich.“

Kurze Zeit ist es still.

„Willst du sonst noch irgendwas über ihn wissen?“, fragt er in ruhigem Ton und ich bin irgendwie viel zu geschockt, um selbst die blödeste Antwort darauf zu formulieren.

„Nein, gut... dann verlass jetzt bitte mein Zimmer. Geh Saku... geh einfach.“

Und er schaut mich dabei an, während er die Worte ausspricht, die ich niemals von ihm erwartet hätte.

Ich weiche zurück, erst auf dem Flur drehe ich mich um. Mein Ziel ist die Treppe, doch kommt mir mein Rucksack in den Sinn und so stürze ich ins Gästezimmer, reiße das Gepäckstück vom Bett und wünsche mir nur noch, dieses Haus zu verlassen.

Ich spüre vieles in diesem Moment... Wut, Verzweiflung, Trauer, eine Menge von weiteren unangenehmen, negativen Gefühlen, doch ist das Einzige, was überlebt, die Trauer, als er mir an der Tür den Weg versperrt.

Die Spuren ihrer Anwesenheit laufen mir unkontrolliert die Wangen hinab, während ich versuche mir einen Weg hinaus zu erkämpfen. Ich will nicht mehr hier sein, ich kann es nicht...

„Hör auf!“ Ein fester Druck an meinen Arm, schon beinahe Schmerz. „Ich habe gelogen... es war nur eine Lüge, Sakuya.“ Meine Arme werden hinuntergedrückt, meine Kraft gebrochen. „Ich... es gibt niemanden, der dich ersetzten kann... niemanden... hörst du?“

Ich schaue ihn an, doch sehe ich in seinen Augen immer noch nicht das gewohnte Bild... was will ich sehen? Vergebung?

„ES TUT MIR LEID!“, schreie ich zwischen weiterem Schluchzen hervor.

Meine Arme werden losgelassen, und ohne den Halt lasse ich mich zu Boden sinken.

„Es tut mir leid, es tut mir leid. Ich... ich weiß nicht, ich... es tut mir leid... ich....“

Immer wieder sage ich es, doch ist mir eigentlich klar, dass es so einfach nicht sein kann. Warum sollte er mir vergeben, weil ich es mir wünsche? Weil ER es ist, weil er mich schon immer mit all seiner Kraft beschützt hat... weil er mir versprochen hat, dass wir immer Freunde bleiben würden?

Warum habe ich bei so etwas Wichtigem eigentlich versagt?

„Hör auf zu weinen.“

Er hockt sich neben mich, schaut mich an, doch ich kann es nicht... nicht aufhören zu weinen, nicht aufhören mir Vorwürfe zu machen. Was verdammt wäre so schlimm daran gewesen seine Brief zu lesen, ihm zu antworten...?

Er steht auf.

„Wenn du dich beruhigt hast...“

Er verlässt den Raum und zieht die Tür hinter sich zu.
 

Ich weiß nicht genau wie lange es dauert, bis ich mich wieder gefangen habe, doch ist es spät geworden, als ich seine Tür öffne.

Das Zimmer ist dunkel, nur der Fernseher erhellt es ein wenig. Ich trete ein, schließe die Tür hinter mir.

Ich schlängle mich zwischen dem Tisch und der kleinen Couch hindurch, um die Sicht auf dem Fernseher nicht zu versperren. Sein Kopf, gebettet auf einen riesigen Berg von Kissen, dreht sich leicht zu mir.

Am Fußende des Bettes angekommen, bleibe ich stehen, und er macht mir wie selbstverständlich auf der linken Seite platz, teilt seinen Berg Kissen in zwei kleinere Haufen auf.

„Du hast es nicht vergessen.“

„Sollte ich?“

Ich zucke nur leicht mit den Schultern und komme mir plötzlich total dämlich vor. Ich gehe zum Bett hinüber, ziehe mir Hose und Socken aus und setze mich auf die freie Fläche.

Als ich das erste Mal in diesem Zimmer geschlafen habe, war ich vier Jahre alt und hatte furchtbare Angst im Dunkeln, war aber zu stolz nach einem Nachtlicht zu fragen. Damals stand das Bett noch an einem anderen Platz.

Ich lege mich hin, schlüpfe unter meinen Teil der Decke, ziehe sie bis zum Kinn hoch und kann es nicht lassen, genüsslich ihren Duft einzusaugen.

Obwohl ich müde bin, verspüre ich nicht den geringsten Drang, schlafen zu wollen, im Gegenteil. Ich würde am liebsten tausende von Fragen stellen, Geschichten lauschen oder einfach nur herumalbern, so wie wir es früher immer getan haben.

„Warum bist du hier?“

„Warum ich hier bin?“, frage ich ein wenig enttäuscht nach.

„Ja, warum tauchst du nach zwei Jahren plötzlich hier auf?“

Seine Stimme klingt kalt, emotionslos, und ich bekomme Angst, etwas Falsches sagen zu können.

„Ich wollte dich gerne sehen, glaube ich.“

„So, das glaubst du also. Und warum jetzt? Warum hast du nicht...“

Er bricht ab.

„Du bist böse, nicht wahr?“

„Böse? Wie alt bist du eigentlich? Ich bin nicht böse...“ Er setzt sich auf. „Ich bin stinksauer, ich hätte dir am liebsten eine in die Fresse geschlagen, als du wie blöde vor meinem Haus standest.“

„Es tut mir Leid, wirklich, ich weiß auch nicht, was...“

„Gott, du weinst ja schon wieder.“

„Nein“, antworte ich trotzig, obwohl mir die Tränen das Gesicht befeuchten, meine Sprechversuche versagen lassen.

Kevin verlässt das Bett, schaltet das Licht an.

„Was soll der Scheiß, Sakuya? Du... du tauchst einfach nach zwei Jahren hier auf, und fängst an rumzuheulen. Was denkst du, das du damit erreichst? Weißt du eigentlich wie ich mich gefühlt habe, als du auf Tod gemacht hast, wie scheiße es mir ging... ich... denkst du, dass deine Tränen irgendwie helfen, dass es besser wird?

Ich habe versucht dich zu hassen, so oft habe ich mir eingeredet, dass ich dich nicht brauchen würde, und jetzt... jetzt, nach all der Zeit, liegst du in meinem Bett und weinst, denkst, dass alles wieder so sein kann wie früher... denkst du das?“

Ich bin nicht einmal fähig ihn anzusehen, geschweige denn zu antworten.

Ich wische mir einige Tränen weg und er schaltet das Licht wieder aus... wahrscheinlich um meinen Anblick nicht länger ausgesetzt zu sein, er konnte es noch nie verkraften mich weinen zu sehen. Versuche ich unbewusst diese Schwäche auszunutzen?

„Vielleicht, wäre es besser gewesen, wenn ich nicht gekommen wäre.“

Stille... unertragbar. Was soll ich nun tun? Warum sagt er nichts? Wäre es wirklich besser gewesen?

„Lass uns schlafen, bevor ich noch etwas sage, was mir leid tut.“

„Ich...“, versuche ich noch einmal alles ungeschehen zu machen.

„Ich bin müde, Sakuya. Lass uns jetzt bitte schlafen“, unterbricht er jeglichen Versuch.

„Ok.“

Ich beobachte, wie er den Fernseher ausschaltet und zu Bett geht.

Ich spüre seine Anwesenheit und fühle mich gleichzeitig weiter als jemals zuvor von ihm entfernt.

Ich kann das nicht besonders lange ertragen und so suche ich seine Hand, drücke sie leicht.

„Ich kann nicht einschlafen, solange du sauer bist“, teile ich mich auf kindischste Weise mit.

„Dann wirst du eine lange Zeit kein Auge zutun können.“

„Wie kann ich es wieder gut machen?“

„Das kannst du nicht.“

Worte, die mir die Hoffnung nehmen, doch mildert sie der plötzliche Druck gegen meine Hand.

„Aber was immer auch passiert ist, du bist Sakuya Michael Ryan... Für mich wirst du immer der kleine, schweigsame Junge sein, der vor Schilf mehr Angst hatte als vor riesigen Fischen, der es liebte komische Bilder zu malen und bei dem kleinsten Problem in Tränen ausbrach... Nie wird es etwas geben, was mich dazu bringen könnte, endgültig mit dir zu brechen. Du gehörst zu meiner Vergangenheit... und hoffentlich auch zu meiner Zukunft.“

Ich ziehe mich näher an ihn heran und einen Moment bin ich einfach nur seiner Wärme, dem Schlagen seines Herzens ausgesetzt.

„Denkst du nicht, dass wir langsam zu alt dafür sind?“, wird meine Geste kommentiert.

Ich schüttle nur den Kopf und kann nicht einmal sagen, ob es Tränen der Trauer, der Erleichterung oder der Freude sind, doch schwöre ich mir innerlich, dass es das letzte Mal sein soll, dass er mich Weinen sieht.

Sein Arm legt sich um mich und er streichelt langsam meinen Rücken entlang.

Ich verstehe nicht, warum ich nicht aufhören kann zu weinen.
 

Talk to me softly

There's something in your eyes

Don't hang your head in sorrow

And please don't cry

I know how you feel inside I've

I've been there before

Something’s changing' inside you

And don't you know
 

Es ist die erste Strophe von Don´t Cry, einem Guns N' Roses Song aus dem Jahre 1991. Er hat ihn früher immer für mich gesungen, als nichts anderes mehr half. Einige Male habe ich nur weiter geweint, damit er für mich singt.

Warum es immer noch wirkt, ist mir ein Rätsel, doch mit jeder Sekunde scheine ich leichter zu werden, verblasst meine Umgebung ein wenig mehr.
 

~ * ~
 

Geweckt werde ich durch wildes Gerenne und ein schreiendes „Du kleine Mistkröte!“

Ich bin nicht alleine im Bett und so schaue ich zunächst eine ganze Zeit lang auf den freien Nacken umgarnt von einigen blonden Strähnen.

Ich stehe auf, blicke mich ein wenig im Zimmer, das mir damals so bekannt war wie mein eigenes, um.

Vieles hat sich verändert. Die Comics wurden gegen Bücher über Archäologie und Ägypten, die Playstation 1 gegen die 2 und die Dinosauriersammlung bis auf einen einzigen, gegen eine beeindruckende Baseballkartensammlung ausgetauscht.

Mein Blick schweift auf die Wand neben der Vitrine, wo ich viele Fotos, auch von mir selber vorfinde. Jedes Bild weckt Erinnerungen, lässt meinen Kopf auf Hochtouren rattern.

Ein weiteres Stück Geschichte, ein Baseballschläger.

„Was interessantes dabei?“

„Erinnerungen“, gebe ich doch schon ein wenig gerührt von mir.

„Mehr ist ja nicht geblieben.“

Ich versuche den traurigen Unterton zu überhören.

„Du hast ihn also doch noch geholt?“ Ich streichle über das glatte Holz.

„Ja.“

Ich fühle mich beobachtet und so drehe ich mich zu ihm um und einige Momente schauen wir uns einfach nur schweigend an.

„Wir sollten uns fertig machen.“ Ein Blick auf die Uhr, der Ausstieg aus dem Bett.

„Wieso?“, frage ich irritiert nach.

„Malcolm.“

Sofort muss ich wieder an den Jungen mit dem wütenden Blick denken... ob er weiß, wer ich bin? Na ja, nach der Bildersammlung zu urteilen ganz gewiss.

Mein Blick schweift noch einmal über die Wand, und tatsächlich finde ich auch Bilder von ihm dort vor.

„Nimm dir was zum Anziehen aus dem Schrank.“

Ich nicke und Kevin verschwindet im Bad.
 

Nur wenige Minuten später klopft es auch schon an der Tür und sie wird, ohne auf Antwort zu warten, aufgestoßen.

Ein wenig überrascht scheint er dreinzublicken, doch schnell fängt er sich wieder.

„Sakuya, das ist Malcolm. Malcolm, Sakuya.“

Malcolm schaut kurz Kevin an, bevor er den letzten Schritt auf mich zukommt.

„Ich weiß, wer er ist“, gibt er Kevin zu verstehen und wir reichen uns die Hände. „Immerhin hängen genug Bilder von dir hier rum“, grinst er mich an.

„Freut mich, dich kennen zu lernen, Malcolm.“

„Ebenso.“

Malcolm nimmt auf der Bettkante platz, schaut sich kurz um.

„Nur so aus Neugier... Was machst du hier?“

„Mal!“

„Sorry, wollte ja nur mal fragen.“

„Ist schon ok. Ich bin zu Besuch, für zwei Wochen.“

Und plötzlich fühle ich mich, als gehöre ich nicht hierher, als habe ich kein Recht, hier zu sein. Warum schafft er es, mir nach so kurzer Zeit schon dieses Gefühl zu vermitteln?

„Zwei Wochen?! Na, wenn dem so ist, dann wollen wir mal ein wenig Spaß zusammen haben, nicht wahr, Kevin?“

Wir?

„Na, wie dem auch sei, die Anderen warten, lass uns gehen. Sakuya kann ja mitkommen, einige werden sich bestimmt freuen ihn wiederzusehen.“

Er grinst mich an, als wäre er Mutter Theresa in Person und auch wenn ich nicht der beste Menschenkenner bin, kommt mir seine Freundlichkeit ziemlich gespielt vor.

„Ich warte dann im Auto, wir sind schon spät dran, beeilt euch.“

Mit einem breiten Grinsen verlässt Malcolm den Raum.

„Ich kann ihn nicht leiden“, gebe ich offen zu.

„Das hat auch keiner von dir verlangt“, kommt es ein wenig missfallend zurück.

„Aber du magst ihn, also kann er doch kein schlechter Mensch sein, oder?“

„Ist er nicht.“
 

„Wenn du lieber vorne sitzen möchtest...“

Zum ersten Mal lächelt Kevin und ich folge seinem Blick zum Wagen, mit dem wir anscheinend fahren werden, und auf Malcolm, der an seinen üblichen Platz zu sitzen scheint.

„Ist schon ok“, gebe ich ebenfalls lächelnd von mir, verschlinge den Rest meines Bagles. Es hätte Kevin zweifelsohne Spaß gemacht, Malcolm nach hinten zu verbannen.

Wir steigen in den Wagen ein und sofort muss ich daran denken, wie wir uns immer vorgestellt haben, wohin wir überall fahren würden, wenn wir endlich unsere Führerscheine haben... ob er diese ganzen Orte jetzt mit ihm besucht?

„Du willst ihn doch wohl nicht spielen lassen?“

„Hast du ein Problem damit? Es ist immerhin nur ein freundschaftliches Trainingsspiel.“

„Aber...“

„Was aber.. .bis jetzt bin ich immer noch der Kapitän der Mannschaft, und ich bestimme wer spielt und wer nicht.“

„Ach, leck mich doch.“

Über die letzte Aussage wird anscheinend großzügig hinweggesehen.

„Ich hoffe, du kannst noch spielen und hast in Japan nicht alles verlernt?“

„Mit mir ist alles bestens“, lasse ich Kevin, und wenn es sonst noch interessiert, wissen.

Lasse ich mich vielleicht zu sehr von meinen Gefühlen beeinflussen, was mein Urteil über Malcolm betrifft? Bin ich eifersüchtig auf ihn, da er ja doch in gewisser Weise meinen Platz eingenommen hat? Geht es ihm da vielleicht jetzt auch nicht anders als mir... vielleicht sieht er in mir eine Art Bedrohung?
 

Am Spielfeld angekommen, werde ich mit einigen alten Freunden konfrontiert und ernte Aussagen wie: „Mensch Alter, dass wir dich noch mal zu Gesicht bekommen.“ „Gott, bist du geschrumpft?“ „Du spielst doch mit oder bist du jetzt auf Karate umgestiegen?“
 

Das Spiel verläuft gut und ausgeglichen, und ich selber scheine wohl den meisten Spaß von allen zu haben. Es scheint einigen sogar wichtiger zu sein, zu sehen was ich noch so alles drauf habe, als dieses Spiel ernsthaft zu gewinnen.

Nach geschlagener Schlacht muss ich mich abermals einer stundenlanger Befragung zu Japan stellen, während wir im Gras sitzen und Hot Dogs und Burger essen.
 

Auf dem Rückweg setzen wir Malcolm Zuhause ab, was ihn nicht gerade erfreut wirken lässt, denn er verlässt einfach den Wagen, ohne einen Gruß des Abschiedes, was Kevin einfach so hinnimmt und wo ich mir verkneife, meinen Senf dazuzugeben.

Zu Hause angekommen, dusche ich zuerst, während sich Kevin versichert, dass sein PC seine Lieblingssendung wirklich aufgezeichnet hat.

Wir essen mit der ganzen Familie zu Abend und reden über Geschehnisse des Tages, so war es schon immer im Hause Wyans. Danach falle ich halb tot ins Bett.

„Müde?“

„Ja.“

„Wenn du möchtest, kannst du auch ins Gästezimmer gehen.“

„Was? Wie kommst du denn da drauf?“

„Ich dachte nur... du hättest deine Ruhe.“

„Red doch keinen Müll... oder stört es dich etwa?“

Ich vermag nicht festzustellen, wie meine Stimme gerade klingt. Das einzige Mal wo ich im Gästezimmer geschlafen habe, hatte Kevin ein gebrochenes Bein.

„Nein.“

Ein Klopfen an der Tür und Sekunden späte, steht ein blondes Mädchen vor mir, das vergeblich versucht ihre Tränen zurückzuhalten.

„Sam?!“

Sie springt mir in die Arme, krallt sich an mir fest.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du wieder da bist. Warum hast du dich nicht gemeldet? Hast du mich vermisst?“

Ich lächele sie an und entferne ihr einige Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Ja, das habe ich.“

„Wirklich?“ Sie strahlt.

„Ja.“

„Woher weißt du es?“, fragt Kevin.

„Malcolm hat mich angerufen. Du...“ Sie zieht mich mit sich in Richtung Kevin und tritt ihn gegen das Schienbein.

„Aua!“

„...hieltst es ja anscheinend nicht für nötig mich zu informieren.“

Sam drückt mich aufs Bett hinunter und setzt sich auf meinen Schoss, schlingt ihre Arme um meinen Hals.

„Sag Sakuya, hast du eine Freundin?“

„Nein“, gebe ich ehrlich und mit unterdrücktem Lachen zu, auch wenn mir für einen kurzen Moment ein bekanntes Gesicht erscheint.

„Wie sind denn die Mädchen in Japan?“, will Kevin wissen.

„Genau wie andere Mädchen auch... denke ich.“

„Aber keine ist so süß wie ich, oder?“ Sam verzieht einen kleinen Schmollmund.

„Nein, keine ist so wie du... da bin ich mir ganz sicher.“

Sam zog mit Elf in die Beacon Hills und besuchte mit uns die Junior High. Wenn man sie in schulischen Dingen mit jemanden vergleichen müsste, würde mir als erstes Hermine Granger aus den Harry Potter Büchern einfallen, doch sobald die Schule vorbei war, vollzog sie eine Verwandlung zu einem aufgedrehten Mädchen, mit dem man Pferde stehlen konnte.

Mit Dreizehn waren wir einige Monate zusammen, machten sozusagen unsere ersten, harmlosen Erfahrungen in Punkto Liebe.
 

Bald verlässt Sam uns wieder, um eine Verabredung mit ihrem derzeitigen Freund einzuhalten. Es lohne sich gar nicht, die Namen ihrer Typen zu erfahren, denn sobald man ihn endlich behalten hat, sei da schon ein neuer, doch Sam vergewissert mir, dass sie für mich jeden Typen sofort fallen lassen würde.
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen stehen Malcolm und Sam pünktlich um 10.00 Uhr in Kevins Zimmer, obwohl ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern kann, mit ihnen ein Treffen ausgemacht zu haben.

Wir gehen shoppen, essen und verabreden uns zu einem Videoabend bei Kevin zu Haus.

Kevin und ich leihen Filme in der Videothek aus, von jedem was... Liebe, Action, und Komödie, danach machen wir uns auf den Weg nach Hause.
 

Das gemeinsame Essen mit der Familie, einige kleine Snacks vorbereitet und das Bett mit einer gewaltigen Anzahl an Kissen ausgestatten, streiten wir uns auch schon darum, welchen Film wir als erstes ansehen.

Wir sind Gentlemans und schauen uns den Liebesfilm zuerst an.

Weich gebettet liegen wir auf Kevins zwei Meter breitem Bett und schauen auf den einszwanzig Flatscreen an der Wand.

Sam liegt dicht an mich gekuschelt, Kevin rechts von mir und ganz rechts außen Malcolm. Abgesehen von seiner Anwesenheit kommt es mir vor, als wäre ich wieder vierzehn und niemals nach Japan gegangen.

Wir waren uns schon immer sehr nah, besonders ich brauchte immer jemanden, an den ich mich anlehnen konnte, wenn es mir nicht gut ging, oder manchmal auch einfach nur so.

Ich denke, gerade das fehlt mir in Japan... es gibt niemanden, bei dem ich einfach so sein kann, wie ich es hier immer war. Vielleicht fühle ich mich deshalb manchmal so alleine....

Lautes Lachen reißt mich aus den Gedanken und ich lache einfach mit, obwohl ich gar nicht weiß, worum es eigentlich geht. Ich versuche mich wieder auf den Film zu konzentrieren aber irgendwie schaffe ich es nicht... warum muss ich ausgerechnet jetzt an ihn denken? Doch gleichzeitig stelle ich mir die Frage, warum ich erst jetzt wieder an ihn denke.

Nach allem was passiert ist, müsste er mir doch eigentlich rund um die Uhr im Kopf herum schwirren, warum war er auf einmal wie weggeblasen? Ist es mir vielleicht doch gar nicht so wichtig, habe ich mich nur in dem Moment verloren?

Ist dies hier, ein Mädchen in den Armen zu halten, doch das einzig Richtige?

Ein Knuff in die Seite.

„Du schaust ja gar nicht hin“, streift es leise mein Ohr. „Ist was?“

„Nein, habe nur gerade an was denken müssen.“

Ich lächele sie an und schmiege mich tiefer in die Kissen hinein, ziehe sie mit mir, drücke sie noch ein wenig mehr an mich. Ich sollte aufhören, an ihn zu denken...
 

~ * ~
 

In den nächsten Tagen unternehmen wir viel. Malcolm ist immer dabei und meistens schließt Sam sich uns an.

Malcolm stänkert meist ein wenig rum, und langsam glaube ich, dass dies einfach nur seine ganz normale Art ist, und es nicht wirklich was mit mir zu tun hat. Sam schleppt eine Freundin, ihre beste Freundin wie sie sagt, an, Alyson. Ein nettes Mädchen, das ein wenig arg aufdringlich zu sein scheint.

Wir besuchen zusammen ein Spiel der Redsox, gehen Segeln und Schwimmen, spielen Baseball und veranstalten eine Grillparty.

Die Tage vergehen schnell, zu schnell wie mir scheint. So schön jeder einzelne Tag auch ist, umso mehr steigt ein bedrückendes Gefühl, das Wissen, sich bald wieder trennen zu müssen, in mir auf, und in so manch seltenen Moment, in denen Kevin und ich alleine sind, schweifen meine Gedanken doch tatsächlich zurück nach Japan.

Was erwartet mich, wenn ich wieder zurück bin? Möchte ich ihn wieder sehen? Und dann? Nach allem was war, kann ich doch niemals mit ihm befreundet sein... bleibt mir nur...

„Ist was?“

„Nichts“, gebe ich leicht erschrocken von mir.

„Worüber hast du nachgedacht?“

„Liebe... denke ich“, gebe ich so trocken wie möglich preis.

„Liebe?“

Warum sollte ich eigentlich nicht mir ihm darüber reden? Ich habe ihm bis jetzt doch immer vertraut, mehr als jeden anderen.

Ich verändere meine Position ein wenig, platziere meinen Kopf auf seinem Bauch, so dass ich ihn ansehen kann.

„Ich glaube“, fahre ich fort. „Es ist nicht gerade einfach... eine Person... jemanden zu finden... na ja, wo man denkt, dass alles so ist, wie es sein sollte, oder?“

„Du willst doch wohl nicht auf Sam hinaus?“

„Nein... Andererseits denke ich mir, dass ich doch noch ziemlich jung bin, und das mir doch ruhig noch ein paar Fehlschüsse unterlaufen können, oder?“ Besonders wenn diese in Form von einer homosexuellen Beziehung ablaufen würden, denke ich weiter.

„Du denkst, dass man in unserem Alter noch nicht die richtige Liebe finden kann?“ Sein Blick ist ernst, seine Stimme emotionslos.

„So habe ich das nicht gesagt“, widerspreche ich. „Ich meine nur, dass man nicht unbedingt damit rechnen muss.“

„Das ist das erste Mal, dass wir über so etwas reden.“ Er schaut mich an, als könne er in mein Inneres blicken, als würde er genau wissen, woran ich gerade denke... ich drehe mich leicht weg.

„Vielleicht hätten wir das früher schon mal machen sollen.“

„Mmhh.“

Sag es doch einfach. Sag, dass du glaubst, dass du eventuell irgendeine Art von komischen Gefühlen für einen Jungen hast, sag es ihm doch.

Habe ich wirklich solche Angst davor, dass seine Reaktion darauf negativ ausfällt, dass er mich auslacht, mich wegstößt, sich vor mir ekelt, sich vielleicht sogar fragt, ob ich deshalb Jahrelang seine Nähe gesucht habe... weil ich schwul bin. Bin ich das?

„Sakuya?“

„Was? Sagtest du was?“

„Lass mich mal hoch.“

Ich rolle mich zur Seite und lasse Kevin aufstehen. Wenn ich zu diesem Thema noch etwas sagen will, muss ich es jetzt tun, gleich ist es zu spät, nicht mehr der passende Moment dafür.

Aber ich schweige, lasse ihn hinausgehen und die Tür sich schließen. Warum kann ich nicht mir ihm darüber reden? Ist mir seine Meinung einfach zu wichtig, könnte ich einen negativen Standpunkt gerade von ihm nicht akzeptieren?
 

...und dann gibt es da noch diese ganz anderen Momente, in denen er diesen komisch verträumten Blick drauf hat und ich mich jedes Mal frage, ob er dann genau an das selbe denkt wie auch ich.

„Noch vier Tage.“

„Ich weiß.“

Er schaltet den Fernseher aus, legt das Pad zur Seite. Er setzt sich auf und ich habe null Ahnung, was jetzt kommen mag.

„Bist du glücklich... in Tokyo?“

„Definiere glücklich.“

„Du weißt, was ich mein.“

Ich setze mich ebenfalls auf. Ehrlich gesagt habe ich nie drüber nachgedacht, ob ich glücklich bin.

„Ich...“, ich stocke.

„Komm schon... ganz ehrlich“, fordert er mich auf.

„Ich weiß nicht, ob man es glücklich nennen kann, ich fühle mich wohl. Es gibt nichts, was mich groß stört oder was ich groß...“, ich breche ab.

„Vermisse?“

„So meinte ich es nicht. Glaub mir, wenn ich die Wahl hätte, würde ich wieder in Boston leben wollen... aber die habe ich nicht...“

Er schaut an mir vorbei, zum Fenster hinaus.

„Diesmal wird es anders“, versichere ich ihm.

„Na, das hoffe ich doch mal.“ Er lächelt mich an. „Trotzdem... ich will nicht, dass du wieder gehst.“ Sein Lächeln verschwindet.

„Ich auch nicht.“

„Dann geh nicht...“ Er springt auf, gestikuliert wild um sich. „Lass uns durchbrennen, in irgendein kleines Kaff, mit gerade mal einer Tankstelle und der nächste Arzt ist 50 Meilen entfernt...“

„Wo man von Kabelfernsehen nur träumen kann“, füge ich lachend hinzu.

„Genau! Du wirst Bürgermeister und ich Sheriff und zusammen gründen wir in unserer Freizeit das beste Newcomer-Baseballteam aller Zeiten... und wir leben glücklich bis an das Ende unserer Tage.“

Er lässt sich rückwärts aufs Bett fallen und schaut zu mir hoch.

„Das wäre ganz toll“, gebe ich ihm Recht und lege mich neben ihn.

„Lass uns einfach nur einen Moment davon träumen.“

„Einverstanden.“

Ich schließe die Augen und ein weiteres Mal spüre ich den Druck seiner Hand an meiner eigenen und keine Ahnung, wie es dazu kommt, doch plötzlich verspüre ich Sehnsucht, Sehnsucht nach ihm.

Könnte ich dies alles einfach vergessen, wenn ich hier in Boston bleiben würde? Kann das sein... dann wäre ich doch eigentlich gar nicht schwul, sondern nur auf Takahama fixiert.

Was ist es denn dann, das mich plötzlich so denken lässt, und warum lasse ich zu, dass es meine kurze Zeit in Boston stört?
 

~ * ~
 

Die Tage darauf sind nicht anders, wie die zuvor... Spaß pur.

Manchmal wünsche ich mir, dass die Zeit einfach stehen bleibt, denn eigentlich will ich gar nicht zurück, doch dann ist da so ein kleines anderes Gefühl... jedes Mal, wenn ich die Augen schließe. Und ich frage mich, was es ist, dass mich gerade so fühlen lässt? Es kommt mir vor, als rufe mich etwas und es wird von Tag zu Tag lauter... so laut, dass es mich in den letzten Tagen nicht einschlafen lässt.
 

Am Abend vor meiner Abreise, sitze ich mit Sam auf der Zuschauertribüne der Schule.

Auf dem Feld wird trainiert, Sam lehnt gegen mich und zusammen lassen wir mit Hilfe der untergehenden Sonne kleine Figuren auf der Wand entstehen.

Irgendwann lasse ich davon ab, fange an, ihre Haare um meine Finger zu wickeln.

„Sag mal, interessiert es dich gar nicht, warum ich mich die ganze Zeit nicht gemeldet habe?“

En leichtes Kopfschütteln.

„Warum nicht?“, frage ich schon ein wenig enttäuscht nach.

Sie dreht sich zu mir um, ihre Augen verraten Traurigkeit.

„Weil es erstens weh tut, wenn ich wieder daran denken muss und zweitens... auch wenn Kevin es dir vielleicht nicht gesagt hat... er... wir, es hat geschmerzt, wir waren enttäuscht, aber trotzdem, konnten wie es irgendwie verstehen. Und drittens... wir wussten sehr genau darüber bescheid, wie es dir in der Zeit ging...“

Mein fragender Blick trifft sie.

„Wir haben einige Male mit deiner Mutter gesprochen, das hat zwar nichts einfacher für uns gemacht, auch nicht dazu beigetragen, dass wir und irgendwie besser fühlten aber gerade deshalb... konnten wir es irgendwie verstehen.“

Sie dreht sich wieder um, lehnt sich gegen mich.

„Wir haben immer gehofft...“, kommt es plötzlich von der Seite. „...dass es irgendwann wieder so sein wird wie früher.“

Kevin lehnt sich gegen Sam und Sam nimmt meine Hand, hält sie zusammen mit der ihren der Sonne entgegen.

„Ja, irgendwann...“, gibt Sam ihre Hoffnung preis.

„Irgendwann“, teile ich sie nur zu gerne mit ihr.

„Ja...“

Kevins Hand trifft auf meine und wir umschließen Sams kleine Hand. Für jeden, der uns sieht, ist es bestimmt ein verrücktes Bild, wie wir hoch oben sitzen, uns aneinanderlehnen und unsere Hände gemeinsam der Sonne entgegenstrecken... aber das... sind Wir!
 

~ * ~
 

„Bleib doch noch bis zum Ende der Ferien.“

„Würde es dir dann leichter fallen mich gehen zu lassen?“

Sam schüttelt energisch den Kopf.

„Ich werde euch vermissen“, spreche ich in die Runde, umarme Kevin.

„Ich werde dich auch vermissen.“

„Na dann, einen schönen Heimflug wünsch ich dir und hey... bist schon in Ordnung, komm bald mal wieder, aber nicht zu bald... und alles immer locker sehen“, drängt sich Malcolm ins Gespräch mit ein, doch ich würdige ihn keines Blickes. Sogar Alyson weint, was ich doch ein bisschen zu übertrieben finde, kenne ich sie doch erst knapp eine Woche.

Meine Augen hängen an den Menschen, die mit mir meine Vergangenheit teilten, und ich muss für einen Moment an unseren letzten Abschied denken, und bin froh, dass es dieses Mal nicht so hart abläuft wie damals. Vielleicht sind wir mittlerweile echt reifer geworden, vielleicht wissen wir jetzt aber auch nur, dass es immer Möglichkeiten gibt, sich zu treffen, für einander da zu sein und, dass sich jede Entfernung doch eigentlich ganz leicht überwinden lässt.

Die Lautsprecherdurchsage erklingt und mein Dad winkt mich zu sich. Zeit zu gehen.

Ich verspreche zu schreiben, diesmal auf elektronischem Wege... dem Internet sei dank. Ich winke noch einmal und befestige kurz darauf auch schon meinen Sicherheitsgurt.

„Traurig?“

„Ein wenig.“

Mein Dad wuschelt mir leicht durchs Haar, lächelt mich an. Ich lehne mich in meinen Sitz zurück, stecke mir die kleinen Knöpfe in die Ohren und versuche so zu weinen, dass es niemand mitbekommt.
 

~ * ~
 

Wir kommen Montagnachmittag auf dem Narita-Flughafen an und ich fühle mich ausgepowert wie schon lange nicht mehr.
 

Am Abend entschließe ich mich, meinen Gefühlen endlich auf dem Grund zu gehen und stehe somit zum zweiten Mal der kleinen Lynn gegenüber.

„Na, kennst du mich noch?“, frage ich das kleine Mädchen. Sie nickt.

„Ist Kida zu Hause“, frage ich weiter.

„Nein, der ist mit Sanae weg.“

„Oh... weißt du denn, wo sie hin sind?“

Sie schüttelt mit dem Kopf.

„Aber du kannst Mama fragen.“

Bei der Aussage wird mir sofort ein wenig unwohl zu mute, doch was bleibt mir groß anderes übrig.

„Könntest du sie bitte mal holen.“

Nur nicht rein gehen, denke ich bei mir selbst, und tatsächlich habe ich einige Minuten später den Namen des Clubs, in dem sich Takahama heute aufzuhalten scheint.
 

Eine dreiviertel Stunde und 1.450 Yen, die mich das Taxi gekostet hat, später, stehe ich dann tatsächlich vor dem kleinen Schuppen mit dem schicken Namen „doubleX“

Ehrlich gesagt habe ich kein großes Verlangen wirklich hinein zugehen, und dass sich Takahama wirklich im Inneren befindet, verrät mir auch ein Blick durch die Fenster hindurch.

Er scheint mit Sanae, einer Freundin von Sanae... mir fällt der Name gerade nicht ein und mit irgendeinem Typen, den ich noch nie gesehen habe, da zu sein.

Ich entscheide mich dafür draußen zu warten, da ich mich drinnen irgendwie in der Falle fühlen würde und mir eigentlich sowieso nicht einmal sicher bin, was ich ihm sagen will. Was heißt sicher, eigentlich habe ich null Ahnung, was ich ihm sagen will, vielleicht sollte ich damit anfangen, mich bei ihm zu entschuldigen...
 

Zwanzig Minuten später und kaum in meinen Überlegungen weiter, tritt die kleine Gesellschaft doch tatsächlich heraus.

Vielleicht doch noch schnell hinter dem nächsten Baum... zu spät, Sanae hat mich entdeckt. Sie gibt Takahama ein Zeichen und ich folge seinem Blick, bis er auf meinen trifft, allerdings kann ich durch die Dunkelheit nicht gerade viel von ihm deuten.

Zum allgemeinen Erstaunen dreht sich Takahama weg und geht weiter seinen Weg. Nicht nur ich bin kurz irritiert und nicht nur Sanae rennt ihm die wenigen Schritte, die er alleine zurückgelegt hat, hinterher, sondern auch ich verringere auf meiner Seite der Straße die Entfernung zu ihm.

Er schaut mich abermals an, Sanae und der unbekannte Typ reden kurz auf ihn ein und Sanaes Freundin winkt mir zu, ich winke zurück.

Es dauert nicht lange, bis wenigstens die Anderen ihren Entschluss getroffen haben und Takahama schon beinahe fluchtartig alleine auf der Straße stehen lassen.

Ich notiere mir innerlich, dass ich Sanae einen Gefallen schuldig bin, und will gerade die Strasse überqueren, als er mir mein Vorhaben abnimmt. Ich weiche auf den Bordstein zurück.

„Was willst du?“, fragt er, als er bei mir ist.

„Mich entschuldigen“, antworte ich genauso schnell.

Ein kurzer Blickwechsel.

„Ich hab’s notiert, bye.“

Er will wieder gehen, doch ich halte ihn auf, indem ich nach seinen Arm greife.

„Was noch?“, fragt er genervt.

„Es tut mir leid“, entschuldige ich mich aufrichtig.

„Das sagtest du schon... war’s das?“

Ich zucke nur mit den Schulter. Er setzt sich wieder in Bewegung, ich lasse ihn los.

Ich habe wirklich keine Ahnung, was oder ob ich ihm irgendetwas sagen will. Ich weiß nur, dass ich nicht will, dass er geht, mich hier alleine stehen lässt. Ich will einfach nur bei ihm sein... mehr über ihn erfahren, wissen, was für ihn wichtig ist... mehr will ich im Moment nicht, doch wie das in Worte ausdrücken, so dass er mich versteht?

„Können wir nicht noch einmal von vorne anfangen?“

Abrupt bleibt er stehen, geht dann aber doch weiter.

„Warum geht es nicht... WARUM?“, schreie ich ihm hinterher.

„DARUM!“, schreit er plötzlich zurück. „Wie bitteschön stellst du dir das vor: Von vorne anfangen?“ Er kommt auf mich zu „WIE, sag es mir!“

Ich strecke ihm die Hand entgegen.

„Hi, mein Name ist Sakuya Michael Ryan. Ich bin sechzehn Jahre alt, liebe es Baseball zu spielen, bin schlecht in Mathematik und ein guter Freund von mir behauptet, dass ich komische Bilder malen würde und bei jeder Kleinigkeit anfange zu weinen.......... Und wer bist du?“
 

Part 08 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Boston Common

~ Charles River

~ Dollar

~ Guns N' Roses

~ Hatch Shell

~ Hilton

~ Logan International Airport

~ Narita International Airport

~ Pad

~ Public Garden

~ State House

~ Sumner Tunnel
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

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Part 09

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Kida (by Stiffy)
 

„Also langsam möchte ich diesen Tatsuya wirklich mal kennenlernen!“ Sanae lässt sich auf mein Bett fallen und grinst mich an.

„Ich treffe mich heute Abend wieder mit ihm... wenn du willst, kannst du mitkommen...“ Ich lege die CD, die ich zuvor von Tatsuya erhalten habe, ins Laufwerk. Eine Englischlernprogramm...

„Hm... ich war nachher noch mit Nori verabredet... ihr geht es im Moment nicht so gut...“

„Und Übermorgen? Nachmittags wollt er mir ein bisschen bei Englisch helfen, aber Abends soll er ein paar Stunden im doubleX aushelfen, da wollt ich noch ein bisschen mit hin gehen...“

„Montagabend also?“ Sanae überlegt kurz und nickt dann. „Okay! Da bin ich ja mal gespannt!“

Grinsend beobachte ich den Balken, der den Brennvorgang anzeigt, während Sanae mir noch ein paar Fragen zu Tatsuya stellt. Sie war ziemlich überrascht, als ich ihr von ihm erzählte und schnell wuchs die Neugierde, ihn kennenzulernen. Von dem Zwischenfall erzählte ich ihr nichts...

Allerdings kamen auch so ihrerseits nicht nur durchweg positiv Reaktionen... so war sie am Anfang schon ziemlich verwundert, als ich ihr sagte, dass er schon 22 ist und folgend dachte ich zum ersten Mal wirklich darüber nach... Zwar würden die sechs Jahre Altersunterschied nicht stören, wenn es sich um einen anderen Zahlenraum handelte, doch immerhin bin ich noch Schüler und er seit mehr als zwei Jahren Student...

Nachdem die CD kopiert ist, schalte ich meinen Computer aus.

„Na dann mal los!“ Ich lasse mich neben ihr aufs Bett fallen. „Kurvendiskussion sagst du? Zeig mal her?“

Für heute Nachmittag ist lernen angesagt... und heute Abend das Treffen mit Tatsuya...
 

~ * ~
 

„Und? Hast du es dir schon mal angesehen?“, fragt Tatsuya, als ich ihm die CD zurückgebe.

„Um ehrlich zu sein, nein... Ich hab Sanae Mathe erklärt, danach musste ich noch einkaufen und-“

„Kein Problem! Wahrscheinlich kannst du das meiste davon sowieso!“

„Das glaubst aber auch nur du!“

Ich bleibe im Wohnraum stehen, während Tatsuya im Schlafzimmer verschwindet.

„Wir werden heut Abend ein paar Freunde von mir treffen“, ruft er mir durch die geöffnete Tür zu. „Ich hab mich mit ihnen verabredet...“

Für einen Moment wird mir ein wenig unwohl. Eigentlich bin ich niemand, der Kontakt mit Fremden fürchtet, doch nun muss ich wieder an Sanaes Worte denken... Für seine Freunde bin ich wahrscheinlich noch ein Kind.

„Cool“, sage ich trotzdem und lächele als er zurückkommt. „Also los!“
 

Die kleine Bar mit dem Namen Chelone ist schon so gut wie überfüllt, als wir ankommen. Heut Abend spielt hier irgendeine Band von der ich noch nie etwas gehört habe, aber Tatsuya meinte, es würde sich lohnen... Und so drängen wir uns nun durch die Menge bis wir am Tresen ankommen.

Tatsuya bestellt uns was zu trinken, während ich mich umsehe, soweit es möglich ist. Die kleine Bühne am anderen Ende des Raumes ist noch leer und davor scharren sich die Leute.

„Ich hab die anderen entdeckt... komm mit.“, sagt Tatsuya, drückt mir ein Glas in die Hand.

An einem kleinen Tisch finden wir uns wieder. Tatsuya wird freudig begrüßt... und dann richten sich die Blicke auf mich.

„Hey, bist du jetzt auf Kinder umgestiegen?“, grinst der eine mich an.

„Nein, er ist nur ein Freund...“, erwidert er ebenfalls grinsend. Dann stellt er mich vor und nennt mir die Namen der anderen: Fuji Okita, Yamamoto Ryouta, Mizuko Hisato und seine Freundin Teichjio Itsumi... sagt, ich solle sie alle beim Vornamen nennen. Und obwohl sie mich alle freundlich anlächeln, fühle ich mich gerade ziemlich unwohl in meiner Haut... Ich wusste doch, dass sie es komisch finden würden... und irgendwie finde ich das auch immer mehr...

Bevor noch irgendwie ein Gespräch entstehen kann, geht plötzlich die Musik aus und dann kommt die Band bestehend aus Schlagzeuger, Gitarristin, Bassist und Sänger auf die Bühne.

Der Auftritt beginnt, ich halte mich an meinem Glas fest und fühle mich fehl am Platz. Ich gehöre nicht hier her...

Itsumi, die neben mir steht, singt leise mit, während ihre Finger auf dem Tisch herumklopfen. Ich beobachte sie dabei und schließlich treffen sich unsere Blicke. Sie hört auf zu singen und lächelt mich an, scheint einen Moment zu zögern und beugt sich dann zu mir heran.

„Und wie lange kennt ihr euch?“

„Knapp ne Woche...“

Ich sehe zu Tatsuya hinüber, der neben Okita steht und sich mit ihm unterhält. Am liebsten würde ich einfach abhauen.

Itsumi sieht mich noch immer an, lächelt ein bisschen verlegen. „Ich hoffe, er hat jetzt nichts Falsches gesagt...“ Sie deutet auf ihren Freund, der mich zuvor so ‚freundlich’ begrüßt hat.

„Schon in Ordnung“, sage ich und nippe an meiner Cola, versuche zu lächeln.

Einen Moment lang schweigen wir und ich überlege, ob ich sie irgendwas fragen soll... mit ihr reden. Wenn ich nur einfach hier rumstehe und schweige, haben sie danach noch mehr Grund um über mich zu reden.

„Wie lange kennst du Tatsuya schon?“, frage ich schließlich.

„Seit ungefähr einem Jahr durch Hisato... Gefällt dir die Musik?“
 

Ich unterhalte mich noch ein bisschen mit Itsumi, zumindest so gut es durch die laute Musik geht. Sie erzählt mir von ihrer Leidenschaft, dem Singen und ich ihr davon, dass ich gerne Schlagzeug spiele... Ich bin froh darüber, wenigstens zu einer von Tatsuyas Freunden langsam Kontakt zu finden. Doch irgendwann schafft sie es, mir das Gefühl von Lockerheit wieder zu nehmen.

„Sag mal, hast du auch Freunde in deinem Alter?“

Sprachlos sehe ich sie an und komme mir doof vor.

„Ja, hab ich...“, antworte ich und dann wende ich meinen Blick ab.

Hält mich Tatsuya vielleicht auch nur für einen kleinen Jungen? Bilde ich mir nur ein, dass wir Freunde geworden sind?

Ich sehe zu ihm hinüber, wie er nun einfach nur der Musik lauscht und total zufrieden wirkt. Warum redet er eigentlich nicht mit mir?
 

Als der Auftritt der Band vorbei ist, gehe ich zu Tatsuya hinüber.

„Ich geh nach Hause...“

„Jetzt schon?“

„Der Kleine muss ins Bett, hm?“, kommt ein Spruch von Okita. In diesem Moment ist es wie Salz in der Wunde.

„Vielleicht.“, entgegne ich trocken und sehe wieder Tatsuya an.

„Ich komm mit.“, meint dieser und kramt in seiner Hosentasche.

„Nein, lass mal... ich find den Weg schon allein...“ Damit drücke ich ihm einen Schein in die Hand. „Wir sehen uns...“ Ich will mich umdrehen, als er mich festhält.

„Kommst du morgen Nachmittag mal im doubleX vorbei?“

„Mal sehen...“ Ich versuche ein Lächeln.

„Okay...“ Er lässt mich frei, schaut jedoch noch immer mehr als verwirrt drein.

„Bis dann!“
 

~ * ~
 

Den Sonntag verbringe ich hauptsächlich vor dem Computer. Englischlernprogramm, Spiele, wieder lernen... alles um nicht über irgendwelchen Kram nachzudenken... Egal ob Tatsuya oder Sakuya, wahrscheinlich soll das beides nicht sein...
 

Irgendwann gegen späten Nachmittag entschließe ich mich dann doch dazu, ins doubleX zu gehen. Vielleicht war auch gestern einfach nicht mein Tag... Ich sollte nicht so viel darauf geben, was andere sagen...

An der kleinen Bar angekommen, erkenne ich durch das Fenster gleich, dass Tatsuya nicht allein ist... besser gesagt, dass Hisato und Itsumi bei ihm am Tresen sitzen. Ich zögere lange und schließlich entscheide ich mich dagegen, mache mich wieder auf den Weg nach Hause...

Es würde nichts bringen, da nun reinzugehen...
 

~ * ~
 

Am Montagmittag rufe ich Tatsuya an und sage ihm ab, sage ich müsse Nachmittags auf Lynn aufpassen, und könne daher nicht zu ihm kommen...

„Kommst du denn wenigstens heut Abend mal kurz ins doubleX?“

„Ja...“

Ich habe Sanae versprochen, mit ihr hinzugehen, ihr Tatsuya vorzustellen... ich will ihr nicht erklären müssen, dass ich mich wahrscheinlich nur in ihm getäuscht habe...

„Ich freu mich... Bis dann“

„Ja, bis dann...“

Ich lege auf und setze mich mit einem Englischbuch ins Wohnzimmer.

„Na, wen hast du da denn angelogen?“ Meine Mutter kommt ins Zimmer.

„Du hast mich belauscht.“

„Quatsch, deine Zimmertür war offen... du warst schwer zu überhören!“

Seufzend lasse ich das Buch aufs Sofa fallen.

„Ich hatte einfach keine Lust...“

„Wer war es denn? Akito?“

Ich zucke mit den Schultern, komme mir ausgehorcht vor. „Ist doch egal, oder?“

„Schon gut, ich frag ja gar nicht mehr!“ Sie will das Wohnzimmer wieder verlassen.

„Ach ja! Mama!“, halte ich sie auf. „Ich geh heut Abend mit Sanae ins doubleX... könnte spät werden!“

Sie nickt und geht.

Ich lasse mich zur Seite in die Polster sinken.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die letzten Wochen eine ganze Menge schief gelaufen ist...
 

Es wird viel zu schnell Abend und als ich mich gerade fertig machen will um Sanae abzuholen, erhalte ich eben von ihr eine SMS.

„Bin noch bei Nori... ihr Freund hat Schluss gemacht und ich bleib noch ein bisschen hier. Vielleicht bringe ich sie nachher mit... Wir sehen uns im doubleX.“

Einen Moment lang tendiere ich dazu, ihr zu antworten, dass ich nicht mehr vor habe, ins doubleX zu gehen, doch dann entscheide ich mich dagegen... Aber nun ganz allein ins doubleX gehen... plötzlich habe ich ein Problem mit dem Gedanken.
 

Dennoch betrete ich etwas später die kleine Bar... Ich sollte wirklich aufhören, mir so viele Gedanken zu machen!

Tatsuya sieht mich kommen und er wirkt erfreut darüber, mich zu sehen. Er bringt eine Bestellung weg, kommt dann zu mir hinüber.

„Schön, dass du gekommen bist...“, lächelt er und ich folge ihm zum Tresen. Erst da erkenne ich Okita, der zusammen mit einem fremden Mann dort sitzt, und mich ansieht.

„Hallo...“, sage ich, und wäre am liebsten sofort wieder umgedreht.

„Nanase Isagi...“, lächelt er und streckt mir die Hand hin.

„Ähm... Takahama Kida...“

Ich lasse mich neben die beiden fallen, fühle mich schon jetzt beobachtet.

„Eine Cola...“, bestelle ich.

„Ach! Ich hab mich jetzt übrigens für ein Thema entschieden!“, wirft Isagi ein.

„Für deine Diplomarbeit?“ Tatsuya stellt das Glas vor mich auf den Tisch und sieht Isagi fragend an.

„Ja... und zwar über das Entwickeln eines Testsystems für Motion-Control-Karten“

„Wow, das klingt interessant... aber glaubst du, du schaffst es darüber 100 Seiten zu schreiben?“

„Ich hoffe es...“ Isagi lacht. „Aber es müsste möglich sein...“

Vollkommen verwirrt sitze ich daneben, während nun neben mir über dieses System gesprochen wird, dessen Namen ich noch nicht mal gehört habe.

Tatsuya hat mir schon mal kurz erzählt, worum es in seinem Studium geht, doch damit konnte ich genauso wenig anfangen, wie mit dem hier nun... Sie reden über Dinge, die mir vollkommen fremd sind... und genau wie schon gestern fühle ich mich wieder vollkommen fehl am Platz.

Eigentlich kenne ich Tatsuya überhaupt nicht, kenne ich sein Leben oder seine Welt nicht... wie konnte ich bloß annehmen, dass wir wirklich Freunde geworden sind? Die paar Tage, die ich mit ihm verbracht habe... sind sie überhaupt etwas wert? Habe ich nicht übertrieben mit meiner Freude, einen guten Freund gefunden zu haben? Nur eine Woche... wie konnte ich so etwas bloß annehmen?

„Ist irgendwas, Kida?“ Als ich aufschaue, trifft mich Tatsuyas fragender Blick.

Ich geh ihm auf die Nerven, nicht wahr? Wahrscheinlich wollte er wirklich nur mit mir ins Bett und ist halt nicht so, dass er nach einer Abfuhr direkt aufgibt... Will er es noch immer? Das ist es, nicht wahr? Es ist lächerlich anzunehmen, dass er mich für einen Freund hält...

„Nichts... Ich... muss noch kurz weg.“ Schnell stehe ich auf. „Sanae abholen...“

Ich lasse ein paar Münzen auf den Tresen fallen.

„Kommt ihr gleich wieder?“

„Wir... ja...“

Schnell verlasse ich das doubleX.

Wahrscheinlich wurde es Zeit, aus den Illusionen zu erwachen... Wahrscheinlich sollte ich diese sogenannte Freundschaft schnell beenden...

Auf dem halben Weg zur Bahnstation kommen mir Sanae und Nori entgegen.

„Was machst du denn hier?“, fragt meine Freundin verduzt.

„Ich wollte... noch ein bisschen frische Luft schnappen...“, sage ich und sehe sofort ihren ungläubigen Blick. Doch sie fragt nicht weiter.
 

Nur wenige Zeit später betrete ich das doubleX erneut. Okita und Isagi sind noch da.

„Lass uns da hin...“ Ich deute auf einen Tisch weit weg vom Tresen.

„Aber-“

„Er hat noch zu tun...“ Damit gehe ich voraus.

Nachdem wir uns hingesetzt haben, kommt Tatsuya auch schon zu uns hinüber.

„Hi... Was wollt ihr denn trinken?“

Wir bestellen, doch Tatsuya zögert.

„Ich hab in ner Stunde frei... musste ja nur kurz einspringen... ihr bleibt doch so lange, oder?“

„Klar!“, antwortet Sanae für mich und lächelt ihn an.

„Schön“ Damit dreht er sich um und geht zurück zum Tresen.

„Der sieht ja toll aus!“, flüstert Nori mir sofort zu.

Sanae nickt und Nori fragt dann nach seinem Alter.

„22...“

„Echt? Wow... Woher kennst du ihn denn?“

„Von hier...“, halte ich auch diese Antwort kurz. Ich habe überhaupt keine Lust über Tatsuya zu reden...

Nori merkt, dass von mir nicht viel zu erwarten ist, und Sanae übergeht meine deutliche Abwehr gegen das Thema einfach... und so unterhalten sich die beiden und ich sitze da, und würde am liebsten einfach abhauen...

Ist es übertrieben, von mir so zu denken? Ich denke nicht, wenn ich überlege, wie übertrieben erfreut ich zuvor über den Kontakt war. Wie konnte ich bloß annehmen, dass ein 22jähriger Kontakt mit einem 16jährigen will?

Ich blicke zum Tresen, wo sich Tatsuyas Freunde gerade von ihm verabschieden. Wahrscheinlich ist es dir ziemlich peinlich, dass du dich mit ‚Kindern’ abgibst, oder? Es ist leicht zu merken, wie sie darüber denken... Wahrscheinlich ist es auch dir lieber, wenn wir einfach nichts mehr miteinander zu tun haben...
 

Die Stunde vergeht zu meiner eigenen Verwunderung ziemlich schnell und dann sitzt Tatsuya auch schon bei uns am Tisch... Schnell haben die beiden Mädchen und er ein Gesprächsthema gefunden und so bin ich am Tischgespräch wieder ziemlich unbeteiligt, bis Sanae plötzlich einen Satz von Nori unterbricht und auf einen der Billardtische zeigt.

„Wie wäre es mit ner Runde? Der Tisch ist gerade frei geworden...“

Während Nori und Tatsuya sofort zustimmen, hält sich meine Begeisterung in Grenzen.

„Na komm schon!“ Sanae zieht mich am Arm hoch. „Es wird wirklich langsam Zeit, dass du das lernst!“

Gesagt, getan... ich bekomme einen Kö in die Hand gedrückt.

„Du weißt doch genau, dass ich das nicht kann...“, murmle ich. „Ich kenne nicht mal die Regeln so richtig...“

„Eigentlich ist es gar nicht so schwer...“, lächelt Tatsuya und reicht mir die blaue Kreide.

Sanae fängt an und entscheidet auch gleich die Verteilung der Kugeln. Als nächstes bin ich an der Reihe. Unentschlossen stehe ich vor dem Tisch.

Ich beuge mich vor, will einfach mein Glück versuchen, als mein Stock hinten ein Stück angehoben wird.

„Nicht so flach!“, meint Tatsuya und grinst... doch auch mit dieser Anweisung, verfehlt die weiße Kugel ihr dunkelrotes Ziel.

„Mist!“

„Halb so wild!“ Er grinst mich an und schlingt mir den Arm um die Schulter. „Aus dir machen wir noch einen Profi!“

Ich versuche ebenfalls ein Lächeln, das aber wahrscheinlich misslingt. Seine Umarmung stört mich. Ist es wirklich nur diese freundliche Geste... oder vielleicht doch ein Anmachversuch?
 

Am Ende des Spieles, das Sanae und Nori wohl nicht zuletzt wegen mir haushoch gewonnen haben. Es folgen drei weitere Spiele... und auch wenn es heißt, Übung macht den Meister, so bleiben meine Stöße dennoch unsicher und ich bekomme nur selten eine Kugel ins Loch.

Schließlich vergeht dann auch endlich den anderen die Lust auf dieses Spiel.

„Wie wäre es, wenn wir noch wo anders hingehen?“, fragt Tatsuya und die Mehrheit stimmt zu.
 

Nicht sofort als wir nach draußen treten, nehme ich die Person auf der anderen Straßenseite wahr, sondern erst als Sanae in seine Richtung deutet.

Sakuya...

Ein unangenehmes Gefühl fährt mir in den Magen und ich schaffe einfach nichts anderes, als mich augenblicklich umzudrehen und weiter zu gehen.

Es geht nicht... er kann doch nicht einfach so hier auftauchen... Das kann ich gerade überhaupt nicht gebrauchen... Ich habe so viel über den ganzen Kram mit Tatsuya nachgedacht... in diesem Moment fühle ich mich einfach wahnsinnig überfordert.

„Kida!“ Sanae kommt mir hinterher und nur zögernd bleibe ich stehen, drehe mich ein Stück, so dass ich ihn aus den Augenwinkeln erkennen kann.

Mein Herz schläft wie wild... und dabei wollte ich doch eigentlich mit dieser Sache abschließen.... wollte ich versuchen, wieder alles so werden zu lassen, wie es noch vor ein paar Wochen war... Wieso bloß geht das nicht so einfach? Warum kann er mir jetzt nicht egal sein?

„Rede mit ihm!“, sagt Sanae eindringlich und dann kommt auch Tatsuya zu mir.

„Ist das dieser Sakuya?“, fragt er zögernd und Sanae nickt.

Nun beginnt auch er... doch ich höre gar nicht wirklich, was sie reden, weiß ich es eigentlich sowieso... Aber ich will es nicht, ich kann es nicht... Jetzt taucht er einfach so hier auf... Ich weiß doch überhaupt nicht, was ich sagen soll!

„Gib ihm eine Chance!“ Ich sehe Sanae an, ihr Blick ist eindringlich, ebenso wie ihre Worte.

Eine Chance? Wozu? Damit er mich erneut beschimpft? Damit er mich wieder von sich weist? Damit... er mir das ganze vielleicht endlich erklären kann?

Kaum merklich nicke ich.

„Viel Glück!“ Und ehe ich es wirklich realisiere, werde ich alleingelassen. Mit schnellen Schritten gehen die drei davon... und ich fühle mich ausgeliefert. Eigentlich ist mir noch immer nach weglaufen.

Aber vielleicht haben sie recht. Vielleicht sollte ich wirklich mit ihm reden. Am besten so schnell wie möglich... und die Sache danach endlich abhacken...

Ich setze mich in Bewegung und gehe auf ihn zu. Mit jedem Schritt werde ich nervöser. Was soll ich sagen oder tun?

„Was willst du?“, frage ich.

„Mich entschuldigen“

Ich sehe ihm in die Augen, spüre wie mein Herz noch schneller rast...

Eine Entschuldigung... Wieso so plötzlich?

„Ich hab’s notiert, bye.“

Erneut will ich flüchten. Ich fühle mich matt... ich habe nicht die Kraft, nun mit dir zu reden...

Sein Griff um meinen Arm hält mich auf.

„Was noch?“, fahre ich ihn an.

„Es tut mir leid“ Seine Worte klingen ehrlich... und dennoch...

„Das sagtest du schon... war’s das?“

Keine Antwort, nur ein Zucken der Schultern. Wenn es das schon war... dann hätte ich genauso gut darauf verzichten können.

Er lässt mich los, als ich weiter gehe.

Wofür entschuldigt er sich so plötzlich? Für seine Worte? Dafür, dass er mich weggestoßen hat? Für die ganze Sache an sich? Wofür soll ich dir verzeihen?

„Können wir nicht noch einmal von vorne anfangen?“

Seine Worte lassen mich erneut stehen bleiben... Von vorne anfangen? Wie stellt er sich das vor? Ich kann nicht einfach vergessen, was er zu mir gesagt hat...

Langsam gehe ich weiter.

„Warum geht es nicht... WARUM?“, Seine Stimme wird lauter, klingt fast ein wenig verzweifelt, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

„DARUM!“, antworte ich ebenso laut, während sich meine Hände zu Fäusten balle. Ich fahre zu ihm herum. Wie kann er bloß denken, dass alles so einfach ist? „Wie bitte schön stellst du dir das vor: Von vorne anfangen? WIE, sag es mir!“

Ich stehe nun direkt vor ihm... Es ist nicht so einfach, verdammt noch mal!

Ich will erneut etwas sagen, ihn anschreien, als er mir plötzlich die Hand entgegenstreckt.

„Hi, mein Name ist Sakuya Michael Ryan. Ich bin sechzehn Jahre alt, liebe es Baseball zu spielen, bin schlecht in Mathematik und ein guter Freund von mir behauptet, dass ich komische Bilder malen würde und bei jeder Kleinigkeit anfange zu weinen.......... Und wer bist du?“

In diesem Moment, als ich in seine Augen sehe, die sich langsam mit Tränen füllen, und er mit einem winzigen Lächeln diese Worte spricht, weiß ich, dass ich verloren habe...

Ich ziehe ihn an mich in eine feste Umarmung.

Eigentlich würde ich so gerne von vorne anfangen. Doch wie soll das aussehen? Wie genau stellst du es dir vor?

Ich spüre seine Hände auf meinem Rücken und dann erwidert er die Umarmung, drückt sich ebenfalls an mich und vergräbt seinen Kopf an meiner Schulter. Es fühlt sich so schön an, dich zu halten...

Lange stehen wir so da, lange genieße ich diese Umarmung und wünsche mir, sie würde nicht mehr enden, bis ich sie dennoch selbst beendet. Vorsichtig drücke ich ihn ein Stück von mir weg, so dass ich ihm in die Augen sehen kann. Sie glänzen ein wenig und seine Wangen sind feucht. Wieso hast du geweint?

Vorsichtig lasse ich die Nässe verschwinden. Er weicht nicht zurück, sondern sieht mich einfach nur an...

Auch wenn ich weiß, dass ich es will, so einfach ist es nicht, Sakuya... Gerade jetzt, in diesem Augenblick würde ich dich so gerne wieder küssen...

Es kommt nicht dazu, denn in dem Moment stolpern zwei Besoffene singend aus dem doubleX.

Sofort weichen wir auseinander. Ich habe vollkommen vergessen, dass wir uns noch immer mitten auf dem Bürgersteig befinden, wo uns jeder sehen kann...

Zu verlegen um ihn gleich wieder anzusehen, schaue ich den beiden Typen hinterher. Ich spüre die Röte auf meinen Wangen. Ob er versteht, dass ich schon wieder kurz davor war, ihn zu küssen?

„Lass uns ein Stück gehen...“, unterbricht Sakuya unser Schweigen. Als ich ihn ansehe, lächelt er.

„Okay...“, sage ich und dann setzen wir uns in Bewegung.

Es wäre ein Fehler gewesen, wenn ich ihn geküsst hätte. Damit wäre der Neuanfang wahrscheinlich sofort wieder zerstört gewesen...

Aber was ist er für dich überhaupt, dieser Neuanfang? Wo fängt er an? Willst du wirklich ganz am Anfang beginnen, dort, wo noch nichts zwischen uns geschehen ist... Willst du eine reine Freundschaft?

Wenn es wirklich das ist, stehe ich genau an dem Punkt, über den ich in letzter Zeit so viel nachgedacht habe: Würde es mir reichen, nur einer deiner Freunde zu sein?

Ich sehe zu Sakuya hinüber. Er hat den Kopf ein wenig gesenkt und spielt mit seinen Fingern. Ich bräuchte nur meinen Arm ausstrecken um nach ihnen zu greifen, seine Hand zu umschließen und festzuhalten... Doch wenn ich nur ein Freund bin, dann darf ich es nicht tun, dann darf ich nicht mal mit diesen Gedanken spielen... Dann darf ich auch nicht daran denken, dich zu küssen.

Ich will neu anfangen, aber ich weiß nicht, ob ich es so kann, wie du es willst.

Unsere Schritte führen uns in einen kleinen Park, etwas später wieder heraus. Noch immer schweigen wir... und langsam wird es unangenehm. Was sollte ich bloß sagen? Erwartest du, dass ich etwas sage? Was? Muss ich es sein, der dies Schweigen bricht?

Mein Blick fällt auf eine Uhr auf der anderen Straßenseite. Sakuya folgt meinem Blick. Es ist schon kurz nach Zehn... seit mehr als zwanzig Minuten laufen wir jetzt schon nebeneinander her... und schweigen.

Sakuya bleibt stehen, ich tue es ihm gleich. Als ich ihn ansehe, deutet er mit dem Kopf in Richtung der Uhr.

„Willst du nach Hause?“, fragt er leise.

„Nein“, antworte ich ebenso leise. Nein, ich will nicht weg... ich will bei dir bleiben, und ich will mit dir reden... auch wenn ich noch immer nicht weiß, wie ich anfangen soll.

Sakuya nickt, dreht sich um und geht weiter. War da tatsächlich gerade ein kleines Lächeln auf seinen Lippen?
 

Gegen halb Elf kommen wir schließlich bei seinem Haus an. Das untere Stockwerk ist voll erleuchtet, als wir eintreten und Sakuyas Weg führt in die Küche.

„Bin wieder da...“

Seine Mutter, die gerade am Herd steht, begrüßt mich freundlich und fragt dann, ob wir noch eine Kleinigkeit essen wollen, sie koche eh gerade etwas für ihren Mann. Sakuya sieht mich fragend an, und ich signalisiere ihm, dass es mir egal ist... Und so finden wir uns auch schon am Küchentisch wieder.

„Schläfst du heut Nacht hier?“, fragt Mrs. Ryan, während sie in einer Pfanne herumrührt.

Zögernd sehe ich zu Sakuya hinüber, der wiederum sofort nickt. „Ja, tut er!“

Und auch wenn es mich in diesem Moment freuen sollte, werde ich gerade vollends nervös. Ich soll die Nacht hier verbringen?

„Gut... Soll ich das Gästezimmer noch schnell fertig machen oder reicht ein Gästefuton?“

„Ein Futon reicht vollkommen!“

„Okay... hm... Kida, willst du deinen Eltern noch schnell bescheid sagen?“

„Ähm... nein, ist schon okay...“ Ich schüttle den Kopf. Wahrscheinlich würde mein Stiefvater ausrasten, wenn er hört, dass ich schon wieder nicht zu Hause schlafe. Gerade jetzt habe ich keinen Lust auf den Ärger.

Ich sehe Sakuya an, doch nicht lange schaffe ich es, seinem Blick stand zu halten. Wenn ich gleich wieder mit ihm alleine bin... werden wir wieder nur schweigen? Ich muss mir unbedingt ein Gesprächsthema einfallen lassen...

„Ach Sakuya, da fällt mir ein...“, unterbricht Mrs. Ryan meine Gedanken. „Dein Vater und ich sind am Freitag nach Yokohama eingeladen... einer von Dads Leuten feiert Silberhochzeit... Ich nehme nicht an, dass du vor hast mitzukommen...“

„Nee danke, du weißt ja, was ich von so was halte... Bleibt ihr über Nacht?“

„Wir denken schon...“ Sie stellt uns jedem einen Teller vor die Nase.

Ein wenig verwundert starre ich auf das gekochte. Bestimmt irgendwas amerikanisches...

Sakuya sieht mich an. „Trau dich ruhig, es schmeckt!“

Und das tut es wirklich...
 

Als wir mit dem Essen fertig sind, gehen wir schließlich in Sakuyas Zimmer. Noch immer macht mich der Gedanke, heute Nacht hier zu übernachten, ziemlich nervös.

„Warte kurz, ich hole das Futon...“, damit lässt mich Sakuya auch schon wieder alleine.

Zögernd sehe ich mich in seinem Zimmer um. Mein Blick bleibt an einem großen Foto hängen, auf dem eine Luftaufnahme irgendeiner Stadt zu sehen ist. Es ist mir schon letztes Mal aufgefallen.

„Das ist Boston...“, wird hinter mir erklärt. Erschocken fahre ich zu ihm herum. Er breitet gerade das Futon aus. „Da hab ich gelebt, bevor ich hier her kam...“

Ich sehe erneut zu dem Foto. „Es sieht schön dort aus...“

„Ist es auch... Nicht so grau und hässlich wie Tokyo...“

Ich nicke, bleibe dabei unschlüssig im Raum stehen. Ich fühle mich gerade wahnsinnig befangen.

„So! Fertig!“ Er deutet auf das Futon. Dann lässt er mich wieder allein.

Zögernd schlüpfe ich aus meiner Hose. Schon mit dieser einfachen Handlung habe ich das Gefühl, irgendetwas falsches zu tun. Sollte ich vielleicht gar nicht hier sein?
 

Als Sakuya wenig später wieder aus dem Bad kommt, trägt er auch nur noch eine Boxershorts und ein T-Shirt. Ein ungewohnter Anblick, der mein Herz rasen lässt.

„Ich hab dir ein frisches Handtuch hingelegt...“, sagt er.

Schnell gehe ich an ihm vorbei ins Bad.

Wie soll ich mich verhalten, wenn ich gleich wieder dort raus gehe? Wir werden in unseren Betten liegen und über irgendetwas reden... doch über was? Zum momentanen Zeitpunkt kann alles so unglaublich wichtig sein...
 

Es ist fast dunkel im Zimmer, als ich das Bad wieder verlasse. Nur Sakuyas Nachttischlampe brennt und erhellt ihn, wie er im Bett liegt und mit einem Baseball spielt... Seine nackten Schultern verraten, dass er sein Hemd ausgezogen hat. Mir wird heiß.

Sakuya sieht mich erst an, als ich mich zögernd neben seinem Bett auf dem Futon niederlasse, und ehe ich mich versehe, wirft er mir auch schon den Ball zu. Viel zu erschrocken darüber, schaffe ich es nicht, ihn zu fangen und er prallt gegen meine Schulter.

„Oh sorry, ich wollt dich nicht treffen!“ Ein entschuldigender Blick.

„Kein Problem... Fangen ist nicht gerade meine Stärke...“, erwidere ich und werfe ihm den Ball zurück.

„Man sieht’s“, grinst er. Wieder wirft er mir den Ball zu, diesmal so einfach, dass ich ihn eigentlich unmöglich hätte nicht fangen können. „Als ich damals hier her gezogen bin, habe ich befürchtet, ich könne nie wieder Baseball spielen...“ Er fängt den Ball wieder. „Ich hätte nie gedacht, dass Baseball hier so beliebt ist...“

„Oh doch! Und wie! Mein Vater war ganz verrückt danach... Er hat kaum ein Spiel verpasst...“

„Und da bist du nicht in seine Fußstapfen getreten?“

„Nein, irgendwie nicht... obwohl er mich zu jedem Spiel mitgenommen hat...“

„Kann ich gar nicht verstehen...“, meint er, während der Ball nun wieder der Decke entgegen fliegt.

Das kurze Gespräch droht zu verebben, und so suche ich nach einer weiteren Frage... Mein Blick bleibt an dem Bild hängen.

„Und? Vermisst du Boston?“, frage ich, während ich unschlüssig unter meine Decke krabble, mich hinlege.

Sakuya fängt den Ball auf und lässt ihn dann neben sich ins Kissen rollen.

„Ja, sehr...“ Dann dreht er sich auf den Bauch, verschränkt die Arme am Rande der Bettkante und sieht darüber hinweg auf mich hinunter. „Es gibt keine schönere Stadt für mich...“

„Na, da muss ich sie ja unbedingt mal kennenlernen...“

„Ja, solltest du...“ Er stützt seinen Kopf auf seinen Armen ab, lächelt ein wenig.

Ich suche nach einer weiteren Frage. „Du warst die letztes zwei Wochen in Boston, oder?“

„Ja...“

„Und? Wie wars? Was hast du gemacht?“

„Es war toll! Endlich hab ich meine Freunde wiedergesehen und konnte mal wieder was mit ihnen machen!“

Er strahlt... und dann beginnt er zu erzählen. Ich höre ihm einfach nur zu, und ich tue es gern. Es ist schön, ihm zuzuhören. Seine Stimme klingt so fröhlich, als er von dieser Welt spricht, die ich nicht kenne. Mit einem Mal bekomme ich wirklich Lust, sie auch kennenzulernen... sie mit ihm zu erkunden.

Doch als er geendet hat und mit zufriedenem Ausdruck auf dem Gesicht verträumt die Augen schließt, spüre ich noch etwas anderes in mir... Bin ich etwa eifersüchtig? Eifersüchtig auf diese Stadt und diese Leute, die ihn so glücklich machen können? Es ist falsch von mir, so zu denken, aber ich kann nicht anders. Wie gerne würde ich dich so lächeln sehen, wenn es um mich geht...

Und in diesem Moment wird es mir klar... Es ist schön, sich mit dir zu unterhalten, mit dir zu lachen, Dinge aus deinem Leben und über dich zu erfahren... Es muss wahnsinnig schön sein, dir ein Freund zu sein... und doch merke ich genau jetzt, dass ich noch mehr will... ich will, dass du mit einem solchen Lächeln an mich denkst, von mir sprichst... und dass dein Herz in einem solchen Augenblick für mich schlägt.

Es ist unvernünftig und dennoch tue ich es. Ich strecke meinen Arm nach ihm aus, ziehe ihn am Nacken zu mir hinunter. Seine Augen öffnen sich erschocken und im nächsten Moment kann er sich nicht mehr halten und rutscht von der Bettkante... es tut kurz weh, dennoch lasse ich nicht von ihm ab. Ich berühre mit meinen Lippen die seinen.

Aus Angst vor der Reaktion in seinen Augen, habe ich meine geschlossen... und genauso wage ich auch nicht, mich jetzt noch irgendwie zu bewegen. Bitte stoße mich nicht wieder schreiend von dir!

Doch er tut es nicht... statt dessen merke ich einen sanften Gegendruck und das Entspannen seines Körpers... Zögernd lege ich meinen Arm um ihn, spüre seinen nackten Rücken darunter. Es fühlt sich wunderschön an.

Einige Minuten oder Sekunden später, endet diese sanfte Berührung auch schon wieder. Sakuya entfernt sich ein Stück von mir und als ich die Augen zögernd öffne, erkenne ich einen verwirrten Blick. Wenigstens ist es keine Wut...

„Entschuldige...“, flüstere ich leise, als ich des Sprechens wieder sicher bin.

„Sch- Schon in Ordnung...“ Damit richtet er sich wieder vollends auf, steigt zurück in sein Bett.

Auch ich setze mich wieder hin, habe Angst vor dem, was nun kommen wird.

„Lass uns schlafen...“, spricht er dann, und es ist der vollkommene Abbruch dieser ganzen Situation, dieses schönen Abends.

Er schaltet das Licht aus und ich höre, wie er unter die Decke schlüpft. Ich ziehe meine eigene höher, vergrabe mich in der Dunkelheit und fühle mich schlecht.

Ist jetzt alles wieder vorbei? Habe ich schon wieder alles falsch gemacht? Wie konnte ich so etwas auch tun? Warum konnte ich mich einfach nicht beherrschen?
 

~ * ~
 

Nach einer nahezu schlaflosen Nacht, werde ich am nächsten Morgen durch das leise Quietschen des Bettes neben mir geweckt... anschließend das Öffnen einer Tür. Als ich die Augen öffne, sehe ich gerade noch, wie die Badezimmer ins Schloss fällt. Ich bleibe liegen und starre gegen die Decke. Meine Augen brennen vor Müdigkeit, doch schlafen will ich nicht mehr... könnte es jetzt, da ich weiß, dass er wach ist, wohl auch nicht mehr.

Das Schweigen am gestrigen Abend war schrecklich. Wie gerne hätte ich ‚Gute Nacht’ gesagt, doch aus Angst, keine Antwort zu bekommen, habe ich geschwiegen.

Stattdessen habe ich nur immer und immer wieder meine Lippen berührt. Der Kuss war so schön gewesen... und auch wenn ich weiß, dass es falsch war, so bereue ich es dennoch nicht ganz.

Einen Neuanfang, das wolltest du, Sakuya... doch so einfach geht das nicht. Ich kann nicht einfach vergessen, was passiert ist, kann meine Gefühle nicht vergessen... oder wie es war dich zu küssen.
 

Nachdem ich aufgrund des Drucks meiner Blase endlich aufgestanden bin, vergeht der Rest des Morgens eigentlich ziemlich schnell. Als wir ins untere Geschoss gehen, treffen wir gerade noch Sakuyas Mutter, die auf dem Weg zur Arbeit ist. Sie sagt uns, dass in der Küche etwas zu essen für uns steht...

Beim Frühstück frage ich Sakuya zögernd, was er heute noch vor hat, erfahre dann, dass er heute zu Asumo gehen wollte. Ein wenig enttäuscht es mich, auch wenn ich das ungerne zugegeben hätte... denn so ist unser gemeinsamer Tag, auf den ich dämlicher Weise schon ein bisschen gehofft habe, gestrichen.

Als wir fertig mit Frühstücken sind, beschließe ich, nach Hause zu gehen.

„Sehen wir uns heute noch?“, frage ich zögernd, obwohl ich eigentlich schon um die Antwort weiß.

Unsere Blicke treffen sich und dann schüttelt er den Kopf. „Ich denke nicht...“ Und fühle mich mit jeder Sekunde trauriger und ein wenig bestätigt darin, dass er mich nicht mehr sehen will, als er noch etwas hinterher setzt. „Ich weiß noch nicht, ob ich heute wiederkomme... Aber morgen wollt ich mal wieder ein bisschen Shoppen gehen... Ich brauch ein paar neue Klamotten... Ich würde mich freuen, wenn du mit kommst, dann kannst du Kyo auch mal richtig kennenlernen...“

„Gerne.“, sage ich und fühle mich schon wieder viel wohler in meiner Haut. Weißt du eigentlich wie viel Hoffnungen deine Worte hervorrufen? Also hast du unseren Neuanfang noch nicht ganz aufgegeben?

Schnell planen wir Zeit und Ort an dem wir uns treffen wollen... und dann ist es der Augenblick zu gehen.

„Also dann!“, sage ich und gehe an ihm vorbei zur Tür, bleibe dann jedoch mit der Türklinke in der Hand stehen. Zögernd drehe ich mich wieder zu Sakuya um, der nur unmittelbar hinter mir steht, mich verwundert ansieht.

Es ist krass, aber vielleicht muss ich es tun... alles oder nichts... Ich will wissen was du denkst.

„Darf ich dich küssen?“, frage ich leise und versuche seinem Blick standzuhalten.

Sofort wird er rot, doch auch er wendet seinen Blick nicht ab... Und dann nickt er sogar. Ohne noch lange darüber nachzudenken, gehe ich den letzten Schritt auf ihn zu und setze meine Frage in die Tat um.

Seine Lippen sind ganz warm, als ich sie berühre und sogleich erwidern sie meinen sanften Druck. Doch erst als ich plötzlich seine Hände an meinen Armen spüre, traue ich mich weiter. Vorsichtig lecke ich über seine Lippen, lasse mehr aus diesem Kuss entstehen... und verliere mich darin.
 

Den ganzen Nachhauseweg über, bekomme ich nicht wirklich etwas mit. Ich habe das Gefühl, ihn noch immer zu spüren. Dieser Kuss war zwar nicht besonders lang, doch dafür wunderschön... und vor allem in gegenseitigem Einverständnis. Um ehrlich zu sein, hätte ich wirklich gedacht, dass er meine Frage schockiert verneinen würde... aber nun, da er es nicht getan hat... ist es in Ordnung sich Hoffnungen zu machen?

Ich schließe die Tür zu unserer Wohnung auf und will sogleich in meinem Zimmer verschwinden, als die Stimme meiner Mutter mich zu sich in die Küche ruft.

„Wo warst du?“, fragt sie und man erkennt sofort, dass sie sich Sorgen gemacht hat.

„Bei einem Freund...“

Vielleicht hätte ich gestern doch anrufen sollen... Eigentlich wusste ich doch, dass sein Ärger jetzt nur noch viel größer ist. Und irgendwie bekomm ich jetzt schon ein schlechtes Gewissen.

„Und da hältst du es nicht für nötig, Bescheid zu sagen?“

„Du hättest mich doch auf meinem Handy anrufen können...“

„Hab ich!“

Ein Blick auf mein Handy bestätigt ihre Aussage... und die durchgestrichene Note in der oberen Ecke erklärt mir, wieso ich das Klingeln nicht gehört habe.

„Oh mist...“, murre ich, sehe meine Mutter wieder an. „Es tut mir leid... Nächstes Mal sag ich’s dir vorher... okay?“

Ein Nicken ihrerseits und auch wenn ich weiß, dass sie nicht ganz zufrieden mit meiner Aussage ist, spreche ich ein leises ‚Danke!’ und verlasse die Küche.

In meinem Zimmer überklicke ich die unbeantworteten Anrufe und schreibe Sanae eine Nachricht... Sie könne vorbeikommen, wenn sie wolle.
 

Und so steht sie nur knapp eine Stunde später tatsächlich vor meiner Tür.

„Wie war’s?“

Eigentlich sind die Ereignisse schnell erzählt und so sieht sie mich schon bald ungläubig an.

„Das heißt also...“

„Dass ich weiterhin noch einen Schritt vom Abgrund entfernt bin... ein Fehler und ich bin tot...“

Ein Lachen. „Na, jetzt übertreibst du aber!“

„Nein... im Moment sieht es nicht so aus, als würde er mich unbedingt auf diese Weise haben wollen...“ Ich seufze und lasse mich zurück in mein Bett sinken.

„Aber immerhin hat er dich auch geküsst! Das heißt schon was!“

„Ich weiß es nicht... Ach mist, ich hab genug anderen Kram, über den ich nachdenken sollte!“
 

Das Gespräch mit Sanae hilft mir nicht wirklich weiter und als sie am Abend nach Hause geht, steh ich noch immer am selben Punkt wie auch noch ein paar Stunden zuvor. Ich habe beim besten Willen keine Ahnung, was ich von der Situation halten soll!

Gerade als ich mich mal wieder ein bisschen dem Englischlernen widmen will – immerhin schreibe ich ja bald diese verdammte Prüfung– klingelt mein Handy. Es ist Tatsuya...

Ich starre mein Handy an und führe meinen Finger zum roten Hörer. Noch so eine Sache, über die ich nachdenken muss. In wie weit gibt es wirklich Aussicht auf eine Freundschaft mit Tatsuya?

Doch bevor ich mich entschieden habe, welche Taste ich denn nun drücken soll, hört es auf zu klingeln. Seufzend lasse ich mein Handy auf den Tisch fallen. Was soll ich bloß machen?
 

~ * ~
 

Am Mittwoch bin ich schon knapp zehn Minuten zu früh an unserem Treffpunkt. Nervös trete ich von einem Fuß auf den anderen.

Ich habe noch nie ein vernünftiges Wort mit Asumo gewechselt... wie stellt Sakuya sich dieses Treffen vor? Sein bester Freund und ich... glaubt er wirklich, dass er uns auch nur irgendwie zusammenführen kann, ohne dass es Streit oder giftige Sprüche gibt? Oder weiß er es und hofft einfach, dass wir ihm zuliebe friedlich miteinander umgehen? Zumindest was mich angeht, so werde ich es versuchen... immerhin, eigentlich habe ich noch immer ein ziemlich schlechtes Gewissen, was Asumos damalige Freundin angeht...

Punkt Elf treten die beiden um die Ecke und sofort spüre ich die Nervosität um vielfaches wachsen.

„Hallo!“ Sakuya lächelt, als er vor mir steht, Asumo hingegen scheint ebenso wie ich nicht genau zu wissen, was er nun tun soll.

„Hi!“, sage ich und sehe zwischen ihnen hin und her. Asumo erwidert meinen Gruß und versucht sogar, freundlich zu schauen.

Schweigen... und ich fühle mich schrecklich beklemmt, als würde von nun an jeder Schritt von mir beobachtet. Wie viel weiß Asumo eigentlich? Wie hat Sakuya ihm erklärt, dass er mit mir verabredet ist? Ob er... die Wahrheit kennt?

„Na dann mal los!“, unterbricht Sakuya die Stille und wirkt dabei selbst ein wenig unnatürlich.

Er geht los, wir folgen ihm... und betreten schnurstracks einen der teuersten Klamottenläden von Roppongi Hills.

„Sakuya, auf dich hab ich gewartet.“, wird er sofort überschwänglich von einem der Mitarbeiter begrüßt. Es ist ein Junge unseres Alters und kommt mir irgendwie bekannt vor.

„Hey Kyo, auch hier?“, grüßt er auch Kyo, doch sofort wird die fröhliche Miene wieder ernst als er mich ansieht. „Und... Takahama?!“ Er sieht Sakuya irritiert an, doch dieser stellt ihm sofort eine Frage, was ihn davon abhält, irgendetwas zu sagen...

Mir wird zunehmend unwohl.

Es geht um irgendeine Jacke, die Sakuya scheinbar haben wollte... wir folgen den beiden weiter nach hinten und ich lasse meinen Blick über die naheliegenden Preisschilder gleiten, als ich diesen Typen sagen höre: „Inklusive Steuern: 108.000 Yen“

Und während mir in dem Moment das Herz stehen bleibt, reagiert Sakuya nur mit den Worten „Ist ja fast ein Schnäppchen“, und fragt dann schon weiter, was denn noch so da sei...

„108.000 YEN??“, hauche ich „Für eine... Jacke?“ Jetzt fühl ich mich erst recht wie in einer fremden Welt...
 

Es folgen Stunden, wie ich sie noch nie erlebt habe... Zwar hat mich Sanae schon des öfteren zum Shoppen mitgeschleppt, doch es ist etwas ganz anderes als dieses hier. Die Läden sind schicker, die Klamotten ausgefallener und die Gesellschaft... nun ja, sowieso etwas ganz besonderes.

Doch was den Punkt angeht, so ist es nicht Asumo, dem ich in diesen Momenten mein Unwohlsein zu verdanken habe, sondern dieser Typ... Masaki heißt er, und in dem Moment als ich das zufällig höre, fällt mir auch wieder ein, woher ich ihn kenne... er geht auf unsere Schule und ist einer von denen, die gerne auf Schwächeren rumhacken... Ich frage mich, was genau Sakuya mit ihm zu tun hat.

Solange wir in diesem Laden sind, ist Masaki die meiste Zeit bei Sakuya und berät ihn... Mir schenkt er dabei den ein oder anderen abfälligen Blick. Ich weiß zwar, dass ich nicht in seinen idealen Freundeskreis passe, aber dass er eine solche Abneigung gegen mich zu haben scheint, ist schon verwunderlich... und es verursacht, dass ich mich nicht gerade wohl in diesem Laden fühle, davon abgesehen, dass ich ohnehin nicht hier her passe.

Was Sakuya ansonsten angeht, so scheint er vollends in seinem Element zu sein. Er läuft zufrieden von einem Regal zum nächsten als wäre er hier zu Hause... und kauft dabei neben der Jacke auch noch andere Sachen, für die ich nie im Leben so viel Geld ausgeben würde, selbst wenn ich es hätte... Sachen, von denen ich noch nicht mal erwartet hätte, dass sie so viel kosten.
 

Nach diesem Klamottenladen folgen noch zwei weitere und einmal bietet Sakuya mir sogar ein Shirt an, welches ich aber sofort ablehne. So etwas kann ich nicht annehmen... und außerdem muss ich in dem Moment daran denken, dass irgendwo bei mir zuhause ja auch noch das andere rumliegt, welches er mir mal geliehen hat... Mir wird bewusst, wie teuer es gewesen sein muss und gleichzeitig schicke ich Stoßgebete zum Himmel, dass meine Mutter es beim Waschen nicht verfärbt oder geschrumpft hat...
 

Nach einigen anderen Läden, treibt uns der Hunger an einen der vielen Stände. Mit etwas essbarem bepackt, lassen wir uns an einem Tisch nieder... Und hier komme ich zum ersten Mal wirklich mit Kyo ins Gespräch...

Bis jetzt war deutlich zu spüren, dass wir nicht gerade auf der selben Wellenlänge liegen, auch wenn man nichts davon merkte, dass er mich zuvor zu seinem bittersten Feind erklärt haben muss... Nur dann und wann haben wir ein paar Sätze gewechselt, die uns nicht gerade näher brachten... Wer hätte gedacht, dass sogar wir beide an diesem Tag noch ein Gesprächsthema finden würden...

Es geht um einen Manga, den er sich gekauft habe. Die anderen Bände der Serie habe ich zuvor mal gelesen, da Takehito sie sich regelmäßig holt... Und aus wirklichem Interesse daran, entsteht nun eine kleine Diskussion über die Story und den Hauptcharakter Kenichi von Gundam XY-Force.
 

Als wir mit dem Essen fertig sind, ist es zwanzig nach vier und so machen wir uns auf den Weg zu Sakuya nach Hause. Hier verebben wieder jegliche Gespräche und das unangenehme Schweigen kommt erneut auf.

Ich starre auf die vollen Tüten in Sakuyas Händen.

Ich kann nicht wirklich sagen, was das für ein Tag war, ob er toll oder schrecklich war... Auf jeden Fall aber war er äußerst interessant... und vielleicht beginne ich ja ganz langsam sein Alltagsleben ein bisschen kennenzulernen, beginne ich ihn kennenzulernen...

So haben mir diese paar Stunden zum Beispiel eines deutlich bewusst gemacht... Wie es scheint sind wir noch viel verschiedener als ich dachte, leben wir in noch unterschiedlicheren Welten, als ich zunächst angenommen habe... denn während ich noch nie in solch teuren Geschäften war, scheint es ihn überhaupt nicht zu stören, diese Menge an Geld dort zu lassen...
 

Als wir das Haus betreten, werden wir sofort von Sakuyas Mutter ins Wohnzimmer gerufen...

Und was wir dort vorfinden, das verschlägt wohl nicht nur mir die Sprache... Vor uns steht ein blondes Mädchen, zusammen mit einem ebenso blonden Jungen.
 

Part 09 - Ende
 

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Part 10

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Sakuya (by littleblaze)
 

Das Wiedersehen, das schweigende Nebeneinanderherlaufen, der Kuss...

Ich blicke über den Rand des Bettes auf die schlafende Person am Boden. Ehrlich gesagt habe ich nicht damit gerechnet, dass es so schnell wieder zu einem Kuss kommen würde, eigentlich bin ich mir nicht einmal sicher gewesen, ob ich ihn überhaupt küssen wollte.

Was habe ich mir eigentlich genau unter dem Punkt: Neuanfang vorgestellt? Und was stellt er sich darunter vor?
 

Ich umschließe den Anhänger meiner Kette, um ja keinen Krach beim Aufstehen zu machen, und verschwinde ins Bad. Dort stehe ich vor dem nächsten Problem, da mich der Lärm der Toilettenspülung davon abhält, diese zu benutzen.

Ein Blick in den Spiegel offenbart mir, dass ich echt scheiße aussehe. Duschen wäre jetzt toll, doch auch hier hält mich der Geräuschpegel zurück. Vielleicht sollte ich mich einfach wieder ins Bett legen und warten bis er aufwacht. Und dann?

Wie mit ihm reden, wie mich verhalten? Wie erwartet er, dass ich mich ihm gegenüber verhalte? Könnte es vielleicht irgendwie doch noch klappen, einfach nur Freunde zu sein, oder ist da schon so viel Anderes, dass es kein Zurück mehr gibt?

Wünsche ich mir das: Eine einfache, normale Freundschaft mit ihm? Ich weiß es nicht!

„Sakuya?“

Ich schrecke auf. „Ja?“

„Ich müsste mal aufs Klo.“

„Ok... warte kurz.“

Ein Sprint zur Toilette. Ich benutze nachträglich die Spülung und versuche meine Haare wenigstens ansatzweise in eine richtige Lage zu bringen, bevor ich die Tür öffne und ihn an mir vorbei gehen lasse.

„Morgen“, lächelt er.
 

Nach dem verspätetem Frühstück verabschiedet er sich und ich stehe an der Tür, schaue ihm hinterher. Als er außer Sichtweite ist, berühre ich die Lippen, die er kurz zuvor geküsst hat, und frage mich, warum es sich so falsch anfühlt, wenn er geht.
 

~ * ~
 

Den Rest des Tages verbringe ich bei Kyo. Er freut sich, als ich unangemeldet im Laden auftauche.

Ich erzähle ihm von Boston, von Kevin, dass jetzt alles wieder in Ordnung ist, und... ich erzähle ihm von Kida.

„Du bist jetzt mit ihm zusammen?“

„Nein.“

„Aber ihr habt euch geküsst?

„Ach, komm schon, du müsstest doch am besten wissen, dass ein Kuss nichts bedeutet.“

„Es hat dir nichts bedeutet?“, fragt er ungläubig. „Soweit ich weiß, ist es das erste Mal, dass ich dich vom Küssen sprechen höre, und du willst mir ernsthaft sagen, dass es dir nichts bedeutet?“

„Nein, so mein ich es doch gar nicht.“

„Was meinst du dann? Habt ihr jetzt was miteinander oder nicht?“

„Nein... ich denke, ich weiß... “ Ich lasse mich resignierend auf einen Stuhl fallen. „Ich weiß gar nichts mehr.“

„Na herrlich, lang lebe die Unwissenheit.“
 

Ich gehe bei Kyo ins Internet, schreibe Kevin eine E-Mail, dass ich gut angekommen bin und schon anfange, sie alle zu vermissen, und dass es noch ein paar Tage dauern kann, bis ich ihm regelmäßig schreibe, da mein Dad sich dazu entschlossen hat, mir einen neuen PC zu kaufen.

Danach setzen Kyo und ich uns abermals über die Mathebücher. Es ist nicht gerade einfach, aber ich versuche mit allen Mitteln jegliche ablenkende Gedanken aus meinen Kopf zu verbannen, zu wichtig ist diese Prüfung. Doch ab und zu lässt sich das ein oder andere Gespräch eben nicht vermeiden.

„Kommst du morgen mit uns einkaufen?

„Uns? Du meinst dich und Takahama?“

„Ja, ich brauche ein paar neue Klamotten und dachte mir, es wäre eine gute Gelegenheit für... “

„Ich weiß nicht“, unterbricht er. „Was soll ich den mit DEM reden“, kommt es abwertender als ich befürchtet habe, und ich frage mich sofort, ob das alles vielleicht doch ein Fehler ist...

„Jetzt guck nicht so deprimiert, ich komm ja schon mit... aber versprechen kann ich dir nichts, und wehe ihr fangt an rumzuknutschen oder so.“ Er verzieht angeekelt das Gesicht.

„Danke.“

Er boxt mich leicht in die Seite.

„Ich meine es ernst Sakuya, wenn er irgendwas Tuntiges macht, knall ich ihm eine.“

Ich muss lachen, da seine Mimik im Moment einfach zu komisch ist.

„Sag mal, wie hat eigentlich Kevin auf die Gemüsestory reagiert?“

Sofort vergeht mir mein Lachen, zu schnell…

„Was ist?“

„Ich hab’s ihm nicht erzählt.“

„Hä? Warum denn nicht?“

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Zu Feige?“

Ein weiteres Schulterzucken.

„Hat er was gegen Schwule?“

Ich zerknülle ein Blatt Papier, lasse es wie einen Baseball zwischen meinen Händen hin und her fliegen.

„Keine Ahnung.“ Der Papierball landet mit gekonntem Wurf im Mülleiner. „Aber was, wenn er es hätte? Ich wollte das Risiko nicht eingehen.“

„Ich verstehe.“

„Nicht, wo endlich wieder alles in Ordnung ist“, füge ich noch hinzu.

„Lass uns weitermachen“, schlägt Kyo vor, und so vergehen weitere zwei Stunden in denen ich mit aller Macht versuche, sämtliche störende Gedanken zu verbannen.
 

Da es mittlerweile spät geworden ist, entschließe ich mich bei Kyo zu übernachten. Ich rufe zu Hause an.

„Mom, ich bleibe heute bei Kyo.“

„OK, Schatz... wann kommst du denn morgen nach Hause?“

„Keine Ahnung... wieso, ist was?“

„Warte mal kurz... “

Meine Mom verschwindet aus der Leitung und ich zucke nur mit den Schultern als Kyo mich fragend anschaut.

„Sakuya?“

„Ja, bin noch dran.“

„Sei doch so lieb und sei morgen um Fünf zu Haus.“

„Ok, darf ich auch fragen wieso?“

„Sei einfach um Fünf da.“

„Ok...“

„Ich hab dich lieb Sakuya.“

„Ich dich auch Mom.“

„Was war?“, fragt Kyo, nachdem ich aufgelegt habe.

„Keine Ahnung, sie will, dass ich morgen um Fünf zu Hause bin, und sagt mir nicht warum... komisch, oder?“

„Freu dich doch, hört sich nach ner Überraschung an.“
 

~ * ~
 

Das Frühstück bei den Asumos besteht immer aus dem frischesten Gebäck, da dieses schon gegen fünf Uhr morgens in den Laden geliefert wird. Ich liebe es hier zu frühstücken, genauso wie Kyo es liebt, bei uns zu essen.

Nach dem Frühstück und Duschen liefern wir noch einige Bestellungen aus und machen uns dann auf den Weg nach Roppongi Hills.

Mit jedem Schritt auf Kida zu werde ich nervöser und das hat nicht wirklich etwas mit dem Zusammentreffen von Kyo und ihm zu tun.

Der erste Eindruck ein wenig verspannt, dennoch freundlich und so entschließe ich mich schnell, meinen Einkaufsbummel zu beginnen, um die Situation ein wenig zu lockern.

Wir betreten einen meiner Lieblingsläden, wo mir sofort ein bekanntes Gesicht entgegen springt.

„Sakuya, auf dich hab ich gewartet.“ Masaki, der Sohn des Ladeneigentümers, sowie Schulkamerad und Mannschaftskollege lächelt mich breit an. „Hey Kyo, auch hier?“ Er begrüßt Kyo mit einem Handschlag und schaut dann ein wenig perplex unseren Dritten im Bunde an. „Und... Takahama?“

„Also, was hast du für mich?“, frage ich schnell nach, um Masaki von Kidas Hiersein abzulenken.

„Äh... du weißt doch noch, die Jacke von Hugo Boss, die du immer haben wolltest?“ Er grinst abermals breit und winkt mich mit sich in den hinteren Teil des Ladens.

„Wir waren letzte Woche auf einer Messe und...“ Er greift hinter einen Vorhang... „TADA!“

„Scheiße Mann, wo hast du die bekommen?“

„Wie gesagt, von der Messe. Mein Vater hat alles abgegrast und siehe da, wir hatten Glück.“

Ich nehme das Kleidungsstück an mich, kann im Moment nicht mehr als hypnotisiert darauf starren.

„Na los, zieh sie an“, ermutigt mich Masaki.

Ich lasse mich nicht zweimal bitten und schmiege mich in den angenehmen Stoff.

„Und?“

„Sitzt perfekt... und der Preis?“

„Inklusive Steuern: 108.000 Yen“

„Ist ja fast ein Schnäppchen“, zwinkere ich ihm zu. „Was hast du noch?“

„Lass mal überlegen... von Calvin Klein haben wir eine neue Kollektion, besonders viel Unterwäsche ist dabei, dann Tonnen von neuen Sportklamotten von Adidas, Nike, na ja die üblichen Marken halt und neue Sachen von Bruno Banani müssten rein gekommen sein.“

„Klasse, ich mag seine Klamotten.“

„Dann komm mit, ich zeig dir was ich habe.“

Ich probiere ein Teil nach dem anderen an, während Kyo an seinem Tee schlürft und mir immer ein paar Worte zu meiner momentanen Auswahl zuwirft. Kida hingegen scheint eher gelangweilt zu sein und so kürze ich den Besuch in meinem Lieblingsladen um einiges ab.

Zum Schluss entscheide ich mich für die Jacke, drei Shirts und eine Menge neuer Unterwäsche.

In einem weiteren Laden finde ich zwei Hosen und ein weiteres Shirt, das mir sofort ins Auge springt. Ich kaufe Kyo ebenfalls eines, in einer anderen Farbe, Kida lehnt dankend ab.

Leider muss ich zugeben, dass Einkaufen für mich wie ein kleines Hobby ist. Ich liebe es einfach mir neue Sachen zu kaufen.
 

Nach einem CD-Laden und einem Büchergeschäft, in dem sich Kyo mit einigen Comics eindeckt, gehen wir etwas essen.

Zuerst sitzen wir, umringt von vielen Anderen, nur still an unserem Tisch, schweigend auf den großen Bildschirm vor uns starrend, doch kurz darauf haben Kida und Kyo ein gemeinsames Thema gefunden.

Ich weiß zwar nicht, über welche Figur aus welchem Comic sie da gerade reden, doch ich finde es schön, ihnen einfach nur zuzuhören, wie sie sich auf einmal ganz ungeniert miteinander unterhalten.
 

Nachdem sich die Stimmung ein wenig entspannt hat, fällt es uns nicht mehr so schwer, noch ein wenig weiter durch die Klamottenläden zu kramen. Dabei heraus kommen zwei paar Schuhe und zwei weitere Shirts.
 

Kurz nach 17.00 Uhr kommen wir bei mir zu Hause an.

„Bist du sicher, dass es in Ordnung ist, wenn wir mitkommen?“, fragt Kida ein wenig nervös.

„Klar, warum nicht? Bin gespannt was anliegt... außerdem wollten wir doch gleich noch ins Kino“, beruhige ich ihn.

Ich schließe die Tür auf und wir treten hinein.

„Bist du das Sakuya?“

„Ja“, rufe ich durch den Flur hindurch. „Wer soll es denn sonst sein?“

„Komm zu uns ins Wohnzimmer“, höre ich meine Mom rufen.

„Ich habe Kyo und Kida mitgebracht“, informiere ich sie und trete bei der letzten ausgesprochenen Silbe durch den Eingang ins Wohnzimmer. Abrupt bleibe ich stehen.

„Scheiße, das gibt’s doch nicht.“

Ich lasse die Tüten fallen und stürze auf meine Freunde zu.

„Verdammt, was macht ihr denn hier?“

„Wir haben dich vermisst“, gibt Sam zuerst preis, küsst mich leicht auf den Mund.

„Warum die Ferien nicht hier verbringen, in Japan waren wir schließlich noch nie“, grinst mich Kevin an.

„Ich glaub’s nicht... Ihr hier... IRRE!“

Ich hebe Sam in die Höhe, lasse sie kurz über mir schweben.

„Wie lange bleibt ihr?“

„Zehn Tage.“

„Nur Zehn?“, kommt es enttäuscht.

„Die Schule fängt wieder an, da ist nicht viel zu drehen.“

„Da hast du Recht.“ Ich drücke Kevin an mich.

Dieses Gefühl... einfach nicht zu beschreiben. Sie beide hier zu haben, hier bei mir ist einfach nur unglaublich...

„Freunde von dir?“, fragt Sam plötzlich und mein Blick schwenkt zurück zur Tür.

„Oh ja...“ Ich nehme Sam bei der Hand und ziehe sie mit mir. „Sam, Kevin, das sind Kyo und Kida, meine besten Freunde hier in Japan“, spreche ich auf Amerikanisch. „Kyo und Kida, das sind Sam und Kevin, meine längsten und besten Freunde aus Boston“, stelle ich auf Japanisch vor.

Ein wenig umständlich wird sich begrüßt und danach scheinen alle Augen auf mir zu ruhen, und ich habe natürlich keine Ahnung, wie es jetzt weiter gehen soll. Einige Sekunden schauen wir uns einfach nur an.

„Ich habe Hunger“, teilt Sam sich mit und mit ihrem Bedürfnis hilft sie mir unbewusst aus dieser Situation hinaus.

„Wie wäre es mit Pizza?“

„Ja, toll.“

„Kevin?“

„Einverstanden.“

Auch Kyo und Kida haben gegen die kleine Planänderung nichts einzuwenden und so gehen wir zu fünft in die nächstgelegene Pizzabude.
 

Ein wenig umständlich vergeht die nächste Stunde. Kyo und Kida sind mit der Bostoner Aussprache ein wenig überfordert und verstehen nicht wirklich viel, andersherum sieht es gleich null aus und so verbringe ich die meiste Zeit damit, Dolmetscher zu spielen.
 

Nach dem Pizzaessen verabschieden sich Kyo und Kida von uns, zuvor bereden wir aber noch die Planung des nächsten Tages, immerhin muss Tokyo den beiden Besuchern doch was bieten.

„Ich kann erst gegen Nachmittag, muss im Laden aushelfen“, entschuldigt sich Kyo.

„Ich habe Zeit“ erklärt Kida.

„Klasse“, lächele ich ihn an. „Bring doch Sanae mit, dann hätte Sam ein wenig weibliche Unterstützung“, schlage ich vor und zwinkere Sam zu, die mich daraufhin fragend anschaut.

„Ich schau mal, ob sie Zeit hat.“

„Super.“

Kida schaut kurz an mir vorbei, winkt Kevin und Sam zum Abschied zu und bleibt dann noch einmal an meinem Blick hängen.

„Ich... es hat mir heute sehr viel Spaß gemacht.“

„Wirklich?“

„Nein, nicht wirklich“, gibt er zu. „Aber ich war bei dir, und das fand ich sehr schön.“

Ich erschrecke kurz über seine Aussage, stehen Sam und Kevin doch nur wenige Meter hinter mir.

„Ich fand es auch schön“, gebe ich zurück, nachdem mir die unterschiedlichen Sprachkenntnisse wieder bewusst geworden sind.

„Na dann... “ Er schaut noch einmal in die Richtung von Kevin und Sam. „Bye.“

„Bye.“

Kyo, der noch schell auf der Toilette war, läuft an mir vorbei. „Ciao Leute... hey Kida, warte doch... “

„Ein wenig arg still der Typ.“ Sam lehnt sich von hinten gegen mich.

„Es ist halt nicht jeder so aufgedreht wie du.“ Ich drehe mich um, tippe ihr leicht gegen die Stirn.

„Ich habe schon wieder Hunger.“

„Wie wäre es mit einem Eis?“

„Au ja!“

„Das war es wohl mit der Diät“, zieht Kevin sie auf, woraufhin er nur eine rausgestreckte Zunge erntet.

Ich nehme Sam bei der Hand und führe sie ins Haus hinein. Irgendwie fühle ich mich im Moment nicht so wirklich glücklich, obwohl ich doch wirklich alles habe... oder etwa nicht?
 

~ * ~
 

Den Vormittag verbringen wir im Tokyo Tower. Angefangen über das Wachsmuseum, gefolgt vom Aquarium, über den Souvenirshop bis hin zum eigentlichen Event... die Aussichtsplattform.

Die Erste ist mir eigentlich schon viel zu hoch, mit Höhe hatte ich es noch nie so, doch Sam und Sanae, die sich übrigens trotz ihrer Kommunikationsschwierigkeiten prima zu verstehen scheinen, wollen unbedingt noch auf die Zweite hinauf.

Die Rundumverglasung gibt mir nicht wirklich ein sicheres Gefühl und so klammere ich mich lieber an einem Stück Geländer fest, als den eigentlich doch interessanten Ausblick zu genießen.

Die abschließende Fahrt hinunter lässt mich völlig erliegen und so setzen wir uns in das towereigene Restaurant und verschaffen mir eine kleine Auszeit.

„Geht’s wieder?“

Kida schaut besorgt und Kevin tritt an mich heran.

„Hier.“ Er reicht mir ein Glas Wasser und eine Tablette. „Die ist noch aus dem Flieger.“

Ich nehme beides entgegen und einige Minuten später geht es mir schon wieder gut, obwohl ich nicht wirklich glaube, dass die Tablette was damit zu tun hat.
 

Als wir das Tokyo Tower Gelände wieder verlassen, hat sich unsere Konstellation ein wenig verändert. Sam hat meine Finger umschlossen und schleift mich ungeduldig die Straße hinunter, Kevin und Sanae laufen ein Stückchen hinter uns, versuchen sich angeregt zu verständigen und Kida läuft rechts neben mir her.

Obwohl mich Sam mit Fragen über das Gesehene nur so bombardiert, versuche ich Kida den Großteil meiner Aufmerksamkeit zu schenken. Zu einem richtigen Gespräch kommt es allerdings nicht.
 

Unser nächstes Ziel ist der Hama-Rikyû Garten.

„Oh... Sanae, Sanae... ich will ein Eis... ein Eis“, versucht sich Sam verständlich zu machen, deutet auf dem Eisverkäufer und schleift Sanae von Kevin weg, ich kann ihnen für einen Moment nur verträumt hinterher schauen.

„Möchtest du auch ein Eis?“ Kida lächelt mich an.

„Ja, unheimlich gern.“

Kida zieht ebenfalls in Richtung Verkäufer und ich steuere gefolgt von Kevin eine Bank an.

„Es ist unheimlich voll hier“, lässt mich Kevin wissen.

„Du meinst Tokyo?“, frage ich nach.

„Ich glaube nicht, dass dies eine Stadt für mich wäre... zu voll, zu laut, zu schnell.“

„Ich versteh, was du meinst, mir ging es am Anfang genauso.“

Sanae und Sam lassen sich bepackt mit ihrem Eis am Wasser nieder.

„Ich finde es toll, dass sie sich so gut verstehen.“ Ich deute in die Richtung der Mädchen.

„Sanae ist ein wirklich nettes Mädchen“, pflichtet er mir mit einem Grinsen bei.

„Du magst sie!“, lächele ich, stoße ihm leicht in die Rippen.

„Definiere: Mögen.“

„Ok, nächstes Thema... “

„Da kommt dein Eis“, informiert er mich.

Als ich mich umdrehe, hält mir Kida ein Eis vor die Nase. Ich schaue auf die andere Eistüte, die er hält... ebenfalls Schokolade.

Ich strecke meine Hand aus, nehme das Eis entgegen, so als hätte ich wirklich vor, es zu essen.

„Danke.“

Kida setzt sich neben mich und ich starre weiterhin auf das Eis.

„Aber sonst geht’s noch...“ Kevins besorgt wütender Blick trifft mich und er nimmt mir das Eis ab. „Ich hol dir ein Neues.“

Er steht auf und nach einem freundlichen „Thank you“ an Kida gerichtet, fängt er an das Eis selber zu essen, geht in Richtung Eisverkäufer davon. Kida schaut mich verdutzt an.

„Er meint es nicht böse“, fange ich an. „Ich esse keine Schokolade... ich habe eine Theobromin-Allergie.“

Ein erschrockener Blick.

„Du konntest es nicht wissen, ist schon in Ordnung. Es ist auch nicht tödlich oder so, na ja, wenigstens nicht in normalen Mengen.“

„Sorry, ich wollte nicht... “

Ich winke ab.

„Ich war fünf, als es zum ersten Mal passierte“, erkläre ich. „Als ich wieder mal bei Kevin geschlafen habe, stibitzten wir uns einige Süßigkeiten und verputzen sie vor dem Schlafengehen unter der Bettdecke. Irgendwann bin ich dann aufgewacht, es juckte überall. Als wir versuchten dem Jucken mit Kratzen entgegenzutreten, tat es weh. Wir machten das Licht an und als wir den Ausschlag und die aufgekratzten Stellen sahen... Na ja, ich konnte nicht mehr aushören zu weinen und Kevin schrie das ganze Haus vor Angst zusammen.“

Mein Blick streift Kevin, der versucht dem Verkäufer irgendetwas begreiflich zu machen.

„Da ist wohl sein Beschützerinstinkt erwacht“, füge ich hinzu.

Ich schaue Kida an, der immer noch ein wenig entschuldigend dreinblickt.

„Komm schon“, versuche ich ihn aufzumuntern. „Du konntest es wirklich nicht wissen... und beim nächsten Mal weißt du bescheid.“ Ich zwinkere ihm zu und Sekunden später halte ich ein riesiges Erdbeereis mit Unmengen an bunten Streuseln in der Hand.
 

Auf den Weg Richtung Heimat passieren wir die ein oder andere kleine Einkaufsstraße, in der Sam ihrem ganz persönlichen Kaufrausch nachgeht.

Kevin findet ein Geschenk für seine Mom. Darüber hinaus präsentiert er Sanae ein kleines Geschenk.

„Schmeichler“, lache ich.

Und wie ich Sanae dabei beobachte, wie sie leicht errötet als Kevin versucht sein Geschenk an die Frau zu bringen, merke ich, dass mir dies überhaupt nichts ausmacht. Komisch, denn irgendwie war Sanae doch immer das Mädchen, dass ich als einzige an meiner Seite akzeptiert hätte, woher jetzt diese plötzliche Gleichgültigkeit?

Wirklich verliebt war ich eigentlich nie, nur wenn schon eine Freundin, dann wäre sie meine erste Wahl gewesen. Wann ist das Umdenken eigentlich geschehen oder habe ich wegen der Sache mit Kida nur vergessen, an sie zu denken?

Überhaupt hätte ich niemals damit gerechnet, dass sie irgendwann einmal zu meinem Freundeskreis gehören, mir nahe sein würde... und nun, wo es so ist, halte ich ein anderes Mädchen bei der Hand.

Wenn ich jetzt mal eine kleine Inventur meiner Begleitung machen würde, wäre ich mit meinem besten Freund, dem Mädchen, das ich auserwählt hätte, dem Mädchen, mit dem ich in der Vergangenheit mehr verband als nur Freundschaft, und dem Jungen, mit dem ich mehr körperliches austauschte, als irgendwas sonst, unterwegs. Bin ich eigentlich noch ganz dicht? Wie habe ich es nur geschafft, so viele potenzielle Beziehungskandidaten um mich zu scharren?

Ich schaffe es nicht, den gerade entstandenen Blickkontakt standzuhalten, ich schaue weg...
 

Gegen 16.00 Uhr kommen wir Zuhause an.

„Mir ist so heiß“, klagt Sam. „Ich brauche unbedingt ne Abkühlung.“

„Nichts leichter als das“, grinse ich fies, komme auf sie zugerannt.

„Nein, nein... tu das nicht... Sakuya... meine Handtasche, meine Schuhe... wag es dich ja nicht... aaaaaaahhhhhhhhhh...“

Kurz muss ich ihr hinterher rennen, da sie meine Absicht erkannt hat. Zweimal um Sanae herum, ein Tisch zwischen uns, doch dann kann ich sie endlich packen, lasse ihre geliebte Handtasche auf den Rasen gleiten.

„Neeeeeeeiiiiiiiiiinnnnnnnnn... tu es nicht... bitte... Kevin, hilf mir doch.“

„Da halt ich mich raus“, hebt Kevin resignierend die Hände.

Ich schleife Sam in Richtung Pool, doch wird mir das schnell zu anstrengend und so hebe ich sie auf meine Arme. Sie strampelt energisch und als wir am Beckenrand ankommen, lasse ich mich mit ihr zusammen hineinplumpsen.

Während des Falls sucht sie kraftvoll Halt an mir, was mir meine Luftreserven aus der Lunge treibt. Ich tauche schnell wieder auf, Sam immer noch an mich geklammert. Es dringt noch kurz ein kleiner Aufschrei an mein Ohr, ehe auch schon die nächsten zwei Personen neben uns in den Pool fallen.

Sanae taucht direkt vor meinem Gesicht auf, was sie schnell wieder nach hinten treiben lässt. Sam hat sich mittlerweile von mir losgeeist und versucht jetzt auf Biegen und Brechen mich unterzutauchen.

Gleichzeitig treten zwei Personen in den Garten.

Meine Mom: „Was treibt ihr denn da?“ und Kyo: „Doch nicht ohne mich!“

Er streift sich die Schuhe ab und springt ebenfalls mit seinen Klamotten in den Pool. Eine Wasserschlacht zwischen allen Parteien beginnt, bis mein Blick plötzlich suchend über den Rasen schweift.

Kida hat es sich auf einen der Gartenstühle bequem gemacht und schaut uns aus sicherer Entfernung zu.

Ich winke ihm zu, signalisiere ihm ebenfalls hinein zu kommen, doch er winkt lächelnd ab.

„Ne Spaßbremse ist er also auch noch... “

Doch eh ich in irgendeiner Form darauf antworten kann, nutzt Sam die Gelegenheit und drückt mich unter Wasser...
 

Etwas später sitzen wir alle in trockenen Klamotten gehüllt auf den Rasen. Sam hat Sanae einige Sachen geliehen und Kyo hat sich aus meinem Schrank bedient.

„Also, was machen wir heute noch?“, fragt Kyo überschwänglich.

„Wie wäre es mit einem Club oder dem Velfarre?“, schlägt Sanae vor. „Wir könnten auch ne Runde Billard im doubleX... “

„Nein!“, unterbricht sie Kida schnell, was alle Blicke auf ihm ruhen lässt.

„Ok, also kein Billard“, versuche ich die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich übersetzte Kevin und Sam den Vorschlag mit dem Discobesuch, der auch sogleich gut aufgenommen wird.

„Also ins Velfarre oder woanders hin?“, frage ich erneut in die japanische Runde.

„Velfarre klingt gut, wir waren schon lange nicht mehr da.“

„Ok, also das Velfarre.“ Ich schaue auf meine Uhr. „Dann würde ich sagen, wir treffen uns um 21.00 Uhr vor dem Velfarre, dann haben wir alle noch genug Zeit um was zu essen und uns fertig zu machen.“
 

~ * ~
 

Kurz nach 21.00 Uhr betreten wir das Velfarre. Da drei blonde Jugendliche ja nicht schon auffällig genug wären, trägt Sam ein mehr als Aufsehen erregendes Shirt. Eigentlich ist es nicht mal ein richtiges Shirt... ein BH mit kleinen Ärmelchen, würde es wohl besser beschreiben.

„Habe ich eigentlich schon mal erwähnt, dass ich gar nicht so der Discotyp bin“, werfe ich in die Runde, als mir der viel zu volle Innenraum bewusst wird.

„Drücken gilt nicht.“ Kyo schiebt mich weiter nach vorne.
 

Nach Minuten des Drängelns und Quetschens kommen wir tatsächlich an einem kleinen Fleckchen an, wo man sich noch einigermaßen bewegen kann.

Kyo stürzt in Richtung Bar davon und will versuchen uns was zu trinken zu ergattern. Nach meiner Einschätzung kommt er nicht vor Morgenfrüh wieder, und Sam zieht Sanae mit sich auf die Tanzfläche, Kevin schließt sich ihnen an.

Weitere Minuten vergehen, in denen ich nur blöde umherschaue. Eigentlich würde ich gerne mit ihm reden, nur fällt mir im Moment nicht ein über was...

„Wa on mal er?“, kommt es plötzlich von der Seite.

„Was?“, schreie ich schon beinahe zurück. „Ich habe kein Wort verstanden.“ Ich deute zur besseren Verständnis an mein Ohr, da ich mir nicht sicher bin, ob er ein Wort von mir verstanden hat.

Er beugt sich etwas vor.

„Warst du schon mal hier?“, erklingt seine Stimme nahe an meinem Ohr.

„Ja, einmal“, beuge ich mich ihm diesmal ein wenig entgegen. „Es war aber bei weitem nicht so voll.“

„Ich mag Discotheken eigentlich gar nicht“, erklärt er mir.

„Ich auch nicht“, stimme ich ihm zu.

„Ich würde jetzt gerne ganz woanders sein.“ Ein wenig überrascht von seiner Aussage, doch noch perplexer bin ich darüber, als sich seine Finger an den meinen wieder finden.

Ich lasse seine Berührung, die leicht über meine Handfläche streichelt, geschehen, und schaue einfach nur gebannt nach vorne. Dass er mich einige Male von der Seite ansieht, versuche ich zu ignorieren, könnte ich seinem Blick eh nicht standhalten. Seine Berührungen kitzeln ein wenig, fühlen sich schon schön an, aber auch hier kann ich keine Erwiderung erbringen. Für den Moment wäre es vielleicht die richtige Wahl, aber bin ich eigentlich schon so weit, irgendeine Wahl zu treffen? Alles zeigt mir doch, dass er mehr will als nur eine bloße Freundschaft, doch was will ich?

„Gott ist der Schuppen heiß.“

Kevin stolpert gegen meine Seite und sofort bricht der Kontakt zwischen mir und Kida ab... keine Ahnung, ob ich glücklich darüber sein soll.

„Nichts zu trinken in Sicht?“ Kevin schaut sich suchend um.

„Kyo wollte was holen, aber bis jetzt ist er noch nicht wieder da“, gebe ich Auskunft.

„Steht er nicht da vorne?“ Kevin deutet in eine Richtung, ich folge seinem Blick und tatsächlich erkenne ich Kyo, der mit einem Mädchen wild am Flirten ist.

„Da können wir ja lange warten.“

„Na komm, wir besorgen was, sonst verdurste ich noch.“

Kevin legt mir den Arm um die Schultern und schleust mich in Richtung Theke, Kida lassen wir zurück.
 

Knapp eine Stunde später haben wir genug vom Velfarre und genießen die abgekühlte Luft, die uns draußen geboten wird.

Da wir von hier aus getrennte Heimwege haben, kommen wir kurz noch auf den morgigen Tag zu sprechen.

„Lasst es uns auf jeden Fall was ruhiger angehen“, schlage ich vor. „Der Tag heute hat echt gereicht.“

„Ich kann morgen gar nicht, mein Bruder hat Geburtstag und da wollte ich da sein, weil ich ihn in letzter Zeit nicht so oft sehe.“

„Schade... also, irgendwelche Vorschläge“, frage ich zweisprachig.

„Kino wäre ja sinnlos und Videos ausleihen würde ja auch nicht so viel bringen“, erklärt Kevin.

„Ja, du hast Recht“, pflichte ich ihm bei, übersetze das Gesagte.

„Halt mal, die große Videothek hat doch auch viele Untertitelte Filme, vielleicht lässt sich da was finden“, schlägt Kyo vor.

„Natürlich, daran habe ich gar nicht gedacht, obwohl ich auch schon das ein oder andere Mal da einen ausgeliehen habe.“

Ich teile Sam und Kevin unsere Erkenntnis mit und beide scheinen mit dem Vorschlag einverstanden zu sein.

„Und wir grillen!“, schlägt Sam lauthals vor. „So richtig Amerikanisch... Steaks, Burger und wir machen Hotdogs.“

„Super Idee.“

Kida und Sanae sind ebenfalls einverstanden und Kyo ein wenig enttäuscht, dass er nicht dabei ist.

„Am besten schlaft ihr alle bei mir... natürlich nur wer darf“, richtet sich mein Augenmerk auf Sanae. „...und am Samstag gehen wir dann auswärts schwimmen.“

„Da komm ich dann aber auch mit“, meldet sich Kyo.

„Also abgemacht, morgen um 19.00 Uhr bei mir zu Hause, meine Eltern wollten sowieso morgen nach Yokohama, da können wir es uns im Wohnzimmer bequem machen.“

Wir verabschieden uns von Kida, Sanae und Kyo und nehmen ein Taxi nach Hause...
 

~ * ~
 

Den halben Freitag verbringen wir damit, alle Zutaten für unser kleines Barbecue zusammen zu tragen, gar nicht so einfach die richtigen Zutaten und Soßen zu finden.
 

Am Nachmittag, nachdem sich meine Eltern auf den Weg gemacht haben, springen wir in den Pool und lassen uns noch ein wenig von der Sonne verwöhnen, bevor wir uns dann endlich aufraffen können, kurz in der Videothek vorbei zu gehen und alles weitere für den Abend vorzubereiten. Ein Glück, dass Sam auch gerne in der Küche hantiert, so dass wir ihr das Zubereiten eines Salates und das Marinieren der Steaks anvertrauen können.

Kevin und ich stellen die Elektrogrills und die Zutaten fürs Grillen auf der Terrasse auf, sogar ein paar Lampions haben wir in der Abstellkammer gefunden.
 

Kurz vor Sieben klingelt es dann auch an der Tür, ich öffne.

Sanae erstrahlt zuerst in meinem Blickfeld.

„Gott, du siehst einfach klasse aus“, bewundere ich aufrichtig.

„Dankeschön“, lächelt sie verlegen.

„Und mit wem habe ich jetzt das Vergnügen“, lächele ich die mir fremde Person an, die mir kurz darauf gegenübersteht.

„Noda, Noda Junko“, stellt sich das Mädchen vor.

„Ich hoffe es ist OK, dass wir noch eine Freundin mitgebracht haben?“, fragt mich Sanae vorsichtig.

„Natürlich, umso mehr, umso besser“, beruhige ich sie. „Komm doch rein“, bitte ich den unerwarteten Gast hinein.

Junko verbeugt sich vor mir und ich tue es ihr gleich.

Zum Schluss betritt Kida das Haus und mir bleibt gerade mal ein kleiner Augenkontakt Zeit, eher ich mich auch schon darum kümmern muss, wo die Mädchen ihre Sachen unterbringen können.

„Geht ruhig schon durch, ich schau mal eben was Sam noch in der Küche treibt.“

Ich betrete die Küche, wo Sam einige noch fehlende Sachen auf ein Tablett schaufelt.

„Warte, ich helfe dir.“

„Sind alle da? Dann kann ich den Salat aus dem Kühlschrank holen.“

„Ja, alle da... Sanae sieht übrigens toll aus.“

„Sie hat sich bestimmt nicht für dich so hübsch gemacht“, kommt es sarkastisch zurück.

„Ich weiß...“

„Na komm, träum nicht, du wolltest doch helfen, oder?“

„Klar, sorry.“

Ich nehme Sam einige Sachen ab und trage sie hinaus auf die Terrasse.

„Zwei oder Drei, was denkst du?“

„Dreh ruhig voll auf“, rate ich Kevin, der an den Wärmereglern der Elektrogrills spielt.

„Hast du Sanae gesehen?“

„Ja, total süß...“

„Das ist nur für dich, Alter.“

„Mach dich nicht lächerlich.“

„Du magst sie doch, oder?“

„Schon, aber was soll ich mit einer Freundin, die ich vielleicht zwei Mal im Jahr zu Gesicht bekomme?“

„Sieh das nicht so eng“, rate ich ihm. „Immerhin weiß sie doch, dass du bald wieder weg sein wirst, also mach dir da keinen Kopf.“

„Mach ich nicht“, versichert er mir. „Gibst du mir mal das Fleisch rüber.“

Ich nehme das Tablett, schwinge es galant in seine Richtung, und schaffe es nicht rechtzeitig zu stoppen, als Kida plötzlich durch die Tür tritt und das Tablett auf seine Brust trifft.

„Scheiße... tut mir leid“, entschuldige ich mich sofort.

„Wenigstens ist das Fleisch noch oben... “

Kevin nimmt mir das Tablett vorsichtig ab und lässt so erkennen, dass ein Großteil der Marinade seinen Weg auf Kidas Shirt gefunden hat.

„Was ist passiert?“ Drei fragende Mädchengesichter tauchen in der Tür auf.

„Nichts weiter“, gebe ich bekannt, deute auf Kidas Shirt und kann auf einmal mein Lachen nicht mehr zurückhalten.

„Vielleicht sollten wir ihn auf den Grill schmeißen?“, gibt Kevin seinen Kommentar dazu ab, bevor er sich von mir anstecken lässt.

„Ja, er sieht richtig lecker aus.“ Sam streicht über Kidas Shirt und leckt die Marinade vom Finger.

Sanae und Junko fangen ebenfalls an zu lachen, ob sie den Witz jetzt verstanden haben oder aus anderen Gründen anfangen... auf jeden Fall bin ich mehr als froh, dass Kida es auch von der lächerlichen Seite zu nehmen scheint und ebenfalls lacht...
 

„Es tut mir Leid... wegen dem Lachen, mein ich. Ich weiß auch...“

„Ist schon in Ordnung, es sah ja auch ziemlich dämlich aus“, unterbricht er mich und nimmt mir das Shirt ab, dass ich ihm hinhalte. „Dein anderes habe ich übrigens wieder mitgebracht.“

„Mein Anderes?“

„Dein Shirt, das du mir damals geliehen hast... wegen dem Kakao.“

„Oh, das hatte ich vollkommen vergessen. Aber warte mal...“ Ich fange an in meinem Schrank zu kramen. „...dann müsste ich ja auch irgendwo eines von dir haben...“ Ich finde ein mir unbekanntes Shirt. „Ist es das?“

„Ja, danke... dann kann ich das ja direkt anziehen.“ Er reicht mir mein Shirt zurück und ich schaue ihm zu, wie er sich umzieht.

„Ist was?“, fragt er auf einmal.

Ich schüttele heftig den Kopf.

„Aber sag mal...“

„Ja?“

„Dieses Mädchen, Junko... sie ist mit dir hier, oder?“

Er schaut mich direkt an, so als wolle er wissen, warum ich diese Frage jetzt stelle, und ehrlich gesagt, habe ich selber keine Antwort darauf.

„Ja“, antwortet er.

„Das dachte ich mir“, lächele ich und gehe in Richtung Tür. „Ich geh dann schon mal runter, das dreckige Shirt kannst du in die Badewanne legen.“

Er nickt und ich verlasse den Raum, gehe die Treppe hinunter und versuche mein Herz wieder ruhiger schlagen zu lassen... warum passiert das bloß immer wieder...
 

Beim Grillen haben wir alle eine Menge Spaß. Wir hören Musik, versuchen unsere japanischen Gäste von der Köstlichkeit amerikanischem Essen zu überzeugen und diskutieren um den perfekten Inhalt eines Hot Dogs.

Sogar Sam gibt Kida endlich eine Chance, versucht sich zum ersten Mal aus eigenem Interesse heraus sich mit ihm zu verständigen und dieser scheint heute sowieso so ganz anders zu sein... fröhlicher und um einiges aufgeschlossener... ob das an diesem Mädchen liegt?
 

Weit nach 22.00 Uhr legen wir dann den ersten Film in den DVD-Player ein und wählen die Option japanische Sprache mit englischem Untertitel, etwas anderes hätte ja eh keinen Sinn. Die Möbel im Wohnzimmer haben wir ein bisschen näher an die Wand mit dem Fernseher geschoben, damit wir den Untertitel auch gut lesen können.

Auf einer Couch hat es sich Kevin der Länge nach bequem gemacht, Sanae sitzt brav in der anderen Ecke ebenfalls auf „seiner“ Couch.

Kida, Junko, Sam und ich sitzen paarweise und in Ecken getrennt auf der anderen Couch. Ich habe die zwei Sessel aus dem Arbeitszimmer geholt, damit wir unsere Beine darauf ausstrecken können. Sam drückt sich in meine Arme.
 

In der folgenden Spielfilmzeit haben auch Kevin und Sanae etwas näher zusammengefunden. Kevin hat sie irgendwann in der Mitte des Filmes einfach zu sich heran gezogen. Erst wirkte das Bild ein wenig steif, aber immer mehr verfeinerten sich die Konturen und mittlerweile kann man bei dem schwachen Licht im Raum gar nicht mehr ausmachen, wo der eine Körper anfängt und der andere aufhört.

Kida und Junko wirken ebenfalls sehr vertraut miteinander und immer wieder flüstert sie ihm etwas zu, was kann ich allerdings nicht verstehen. Dass es mich irgendwie stört, kann ich nicht abstreiten... erst die erneuten Küsse, die Annäherung gestern im Velfarre und heute taucht er mit diesem Mädchen hier auf.

Hat mein Nichtstun von gestern ihm zu verstehen gegeben, dass ich mir nicht sicher bin, hat er eingesehen, dass es so am besten ist, sich entschieden, einfach mit einer normalen Freundschaft weiterzumachen?

Und wenn ja... ist es so am besten, nicht wahr...?

Nicht wahr...?

„Was tust du?“ Ich drücke Sam von mir, alle Augen richten sich auf mich.

„Ich wollte dich nur küssen“, gibt sie süßlächelnd von sich und drückt mich der Länge nach auf die Couch hinunter. Ich kann mein Gleichgewicht nicht halten, mein Kopf kommt an Kidas Seite gedrückt zum Erliegen und im selben Moment spüre ich ihre Lippen auf den meinen.

Zuerst will ich mich gegen den aufgezwungenen Kuss wehren, doch als ich nach oben blicke, an den blonden Haaren vorbei, kann ich ein schwarzes paar Augen erkennen, das auf mich hinab blickt. Ein Blick, der mir für den Moment alle Kraft raubt.

Vielleicht kann dieser Kuss uns beiden wieder den richtigen Weg zeigen, denke ich noch und erwidere ihn. Es ist nichts falsches daran, ein Mädchen zu küssen, so soll es doch eigentlich sein, oder nicht?

Aber warum, verdammt noch mal, fühle ich nichts dabei...?
 

Es bleibt nicht bei diesem einzigen Kuss. Immer wenn der Film mal ein wenig langweilig wird, sucht Sam meine Nähe und ich gebe mich dem einfach so hin.

Einmal habe ich sogar das Gefühl, dass Kida und Junko sich ebenfalls küssen, schaffe es aber nicht mich zu ihnen zu drehen, um mich zu vergewissern.

Der wohl aber spektakulärste Kuss an diesem Abend findet auf der anderen Couch statt.

Ich bin nicht nur darüber verwundert, dass Sanae sich von ihm küssen lässt, sondern auch darüber, Kevin küssen zu sehen.

Es ist ein wirklich schöner Kuss, es scheint eine Menge Gefühl darin zu stecken und sofort wird mir klar, dass ich genau das vermisse...
 

In der Mitte des zweiten Films geben wir uns der Müdigkeit geschlagen und gehen, nachdem wir das nötigste aufgeräumt haben, ins Bett. Wir Jungs schlafen in meinem Zimmer, die Mädchen im Gästezimmer. Trotz der gerade noch herrschenden Müdigkeit, scheinen die Mädchen wieder topfit zu sein, wie man unschwer an dem lauten Gekicher erkennen kann.

„War es schön sie zu küssen?“, frage ich Kevin leise, der neben mir liegt und schon beinahe eingeschlafen ist.

„Ja... warum fragst du?“, kommt es müde.

„Nur so.“

„War es schön sie zu küssen?“, fragt er.

Ich zucke mit den Schultern.

„Schlaf gut, Sakuya.“

„Du auch.“

Einige Minuten vergehen, in denen immer noch die Laute der Mädchen an mein Ohr dringen, über was sie wohl reden? Ein paar andere Geräusche zeigen mir, dass Kida ebenfalls noch nicht eingeschlafen ist.

„Bist du noch wach?“, frage ich vorsichtig nach.

„Ja.“

Und damit war mein Fragenpotenzial auch schon wieder ausgeschöpft. Stille.

„Darf ich dich was fragen?“

Ich erschrecke kurz, da seine Stimme plötzlich von viel näher zu kommen scheint, wahrscheinlich hat er sich aufgesetzt.

„Natürlich.“

„Sam... was bedeutet sie dir eigentlich?“

Mit dieser Frage habe ich weiß Gott nicht gerechnet. Ich könnte ihm natürlich sagen, dass sie eine Freundin ist, könnte ihm erzählen, wie lange ich sie kenn und was wir alles miteinander erlebt haben, aber ich glaube, dass nicht dies es ist, was ihn interessiert.

„Eigentlich ne ganze Menge“, fange ich an. „Als ich dreizehn war, waren wir mal einige Monate zusammen... aber, ich will keine Beziehung mir ihr, wenn es das ist, was du meinst.“

Stille.

„Und du?“

„Ich will auch keine Beziehung mit ihr“, gibt er lächelnd preis.

Ich muss ebenfalls kurz auflachen, wodurch sich Kevin wohl in seinem Schlaf gestört fühlt, sich kurz unruhig bewegt und dann nahe an meinem Körper wieder liegen bleibt.

„Ich meinte eigentlich, wie viel dir Junko bedeutet?“, frage ich flüsternd, um Kevin nicht ein weiteres Mal zu stören.

„Gar nichts.“

„Gar nichts?“, frage ich erstaunt nach.

„Gar nichts“, bestätigt er mir.

„Aber warum hast du sie dann mitgebracht, und warum hast du sie...“ Das Wort geküsst kann ich irgendwie nicht aussprechen, da ich mir nicht einmal sicher bin, ob es wirklich passiert ist.

„Sanae turtelt die ganze Zeit mit Kevin rum, Sam klebt an dir wie ne Fliege in nem Spinnennetz und ich... “ Seine Stimme klingt traurig. „... ich hätte nur blöde dagesessen und dürfte euch beim Knutschen zugucken... und da dachte ich mir... “

„Hör auf“, bitte ich ihn.

Ich befreie mich vorsichtig von meiner Decke, verlasse mein Bett über das Fußende und rutsche über den Boden entlang bis zum Futon vor meinem Bett.

„Sorry, wenn es dich verletzt hat“, entschuldige ich mich, nachdem ich denke, in seiner unmittelbaren Nähe zu sein.

Seine Hände suchen in der Dunkelheit nach meinem Gesicht, ein Finger streift sanft über meine Lippen und schon, als er sich meinem Gesicht zaghaft nähert, bin ich mir sicher, dass sich dieser Kuss richtiger anfühlen wird, als alles zuvor. Als sich seine Lippen leicht auf meine legen, wünsche ich mir, dass vielleicht auch dieser Kuss im Stande ist, mir irgendeinen Weg zu zeigen, und als er mich dazu bringt, ihm Einlass zu gewähren, mir zeigt wie tief ein einziger Kuss mich fühlen lassen kann, bin ich bereit alles um mich herum zu vergessen...
 

Part 10 – Ende
 

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~ Hama-Rikyû Garden

~ Sakuyas Kette

~ Theobromin

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

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Part 11

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Kida (by Stiffy)
 

Manchmal ist es schwer, für andere zu lachen und manchmal ist es schwer, so zu sein, wie andere einen haben wollen... Aber am schwersten ist es wohl, immer man selbst zu bleiben.

Ich finde mich im Moment in einer Lage wieder, die durch all diese Dinge sehr gut zu beschreiben ist... und es ist ein unglaublich mieses Gefühl.

Dabei versprach die Shoppingtour den Anfang einer Wendung... Eine Wendung trat zwar tatsächlich ein, aber nicht so, wie ich sie mir erhofft hatte.

Ehrlich gesagt habe ich mir schon den gestrigen Abend ganz anders vorgestellt... Doch als da plötzlich dieses Mädchen und der Junge, Sam und Kevin, vor uns standen, wusste ich irgendwie sofort, dass alles anders laufen würde. Dabei weiß ich eigentlich nicht mal wirklich, wieso ich dies Gefühl hatte, sah ich doch da noch keine Gefahr in ihrem Auftauchen, auch nicht, als er besonders Sam so überschwänglich begrüßte.

Heute allerdings sieht alles schon ganz anders aus... Jetzt da sie so deutlich zeigt, was sie will, jetzt da sie ständig an ihm hängt, jetzt da ich plötzlich nichts weiter bin als eine Art flüchtiger Bekannter, kein Teil seines Lebens oder wenigstens dieser Gruppe.

Ich weiß nichts über ihn... Das Problem mit Höhen oder diese Allergie... Natürlich kann ich es noch nicht wissen, aber ich würde es nun mal so gern... Jede Minute macht mir deutlicher, wie gern ich all das über dich wüsste, was für diese beiden ganz normal ist.

Und das schlimme daran ist, dass sie eigentlich genau merken müssen, dass ich nicht dazu gehöre... Anders als Sanae schaffe ich es nicht, die sprachlichen Hürden zu überwinden und so locker wie sie alle zu sein, mit ihnen zu lachen ohne Hintergedanken oder einfach zu ihnen in den Pool zu springen... mit ihnen Spaß zu haben. Egal was ich tue, ich fühle mich beobachtet, abgeschätzt, gerade so akzeptiert... es ist ein schreckliches Gefühl... und umso länger es anhält, desto mehr Angst habe ich, dass du auch so denken könntest, dass du merkst, dass ich nicht hierher gehöre... Ich will nicht, dass unser gerade begonnener Anfang schon wieder endet.

Doch was soll ich tun? Wie dir deutlich machen, dass ich bei dir sein will, dass ich es Wert bin, an deiner Seite zu sein? Wie zeige ich, dass ich mehr will, dass ich nicht nur deine Hand halten will, sondern dich, dein Herz... dass du mir sehr viel bedeutest...

Es ist so schwer den Mut dazu aufzubringen, wenn man dich die ganze Zeit mit ihr sieht... Sie, ein Mädchen aus deiner Vergangenheit, die mit jeder Geste deutlich macht, wie viel ihr an dir liegt... Ist es mir überhaupt möglich, mit ihr zu konkurrieren? Sie ist hübsch, witzig... eigentlich sehr liebenswert... Habe ich überhaupt eine Chance gegen sie? Mit ihr könntest du Hand in Hand durch die Straßen laufen, sie könntest du ohne störende Hintergedanken deinen Freunden vorstellen... sie hat so vieles, was ich nicht habe. Und im Moment hat sie dich... im Moment hängt sie wahrscheinlich noch immer an deiner Hand....

„Also Leute... ich muss jetzt hier lang!“, reißt mich Asumo aus meinen Gedanken. „Viel Spaß morgen Abend... und bis Samstag!“ Er grinst und verwindet dann in eine andere Richtung. Kurz sehe ich ihm hinterher. Er war es, der mir gestern sagte, dass Sam und Kevin nichts von Sakuyas und meiner ‚Vorgeschichte’ wissen. Ob es vielleicht alles etwas leichter wäre, wenn sie es wüssten? Oder noch schwieriger?

„Hey!“ Sanae umfasst meinen Arm. „Hast du was?“

„Nein, nichts!“, lächle ich meine aufgedrehte Freundin an.

„Gut!“ Sie grinst und zieht mich dann mit sich.

Ein paar Minuten laufen wir weiterhin schweigend nebeneinander her, bis sie plötzlich anfängt zu schwärmen.

„Findest du nicht auch, dass er toll aussieht?“ Sie lehnt sich an meine Seite. „Er hat so schöne Augen... und er ist so lieb...“

„Ja, und du hast dich die ganze Zeit an ihn rangeschmissen.“

Abrupt bleibt sie stehen und lässt meinen Arm los. „Wie bitte?“

„Ist doch so! Es war unmöglich zu übersehen, wie toll du ihn findest!“

Aus großen Augen werde ich angesehen während sie knallrot anläuft. Dann schüttelt sie den Kopf und geht weiter. „Danke! Du hast es geschafft mir den Abend zu vermiesen!“

Erst da wird mir klar, was ich da gerade gesagt habe...

„Sanae! Warte...“ Ich versuche sie festzuhalten, doch sie reißt sich los. „Bitte... das meinte ich doch nicht so, ich...“

„Hör mir mal zu, Kida!“, funkelt sie mich wütend an. „Ich hatte wirklich Spaß heute! Dass Sakuya sich an Sam ranschmeißt, dafür kann ICH nichts!“

Worte die gesessen haben... und eisige Stille, wie es bisher zwischen uns noch nie der Fall war. Ich bin wütend, auf Sakuya, auf Sam und auf mich... aber eigentlich nicht auf Sanae... Wieso also ist ausgerechnet sie es, die meinen Ärger zu spüren bekommt?

„Es tut mir leid...“, spreche ich leise. „Das war gemein von mir...“

„Von mir auch...“, kommt es ebenso kleinlaut zurück, gefolgt von einem winzigen Lächeln. „Lass uns nicht streiten...“

Ich nicke und dann gehe ich zögernd das letzte Stück auf sie zu und ziehe sie an mich. „Es freut mich, dass es dir Spaß gemacht hat! Wirklich!“

Eine feste Umarmung, die es schafft, mich wenigstens etwas zu beruhigen. Als wir uns wieder auf den Weg machen, schallen ihre Worte dennoch in meinem Kopf. Ist es vielleicht nicht die ganze Sache an sich, sondern nur dieser eine Punkt, der mich so sauer macht? Dass Sakuya Sams Annäherungen alle erwidert? Dass er ihren Händedruck erwidert, anders als er es noch vor etwas mehr als einer Stunde bei mir getan hat?

Habe ich vielleicht schon verloren?

„Glaubst du... dass Sam etwas von Sakuya will?“, frage ich nach einer Weile zögernd, obwohl ich die Antwort doch eigentlich sowieso kenne.

„Ich denke schon, ja...“

Ich seufze und nicke, lege den Arm um Sanae und ziehe sie an meine Seite.

„Und er?“, frage ich weiter, bekomme allerdings darauf keine Antwort außer ein Schulternzucken. „Sie passt besser zu ihm als ich... einer Beziehung mit ihr würden viel weniger Dinge im Wege stehen...“

„Sie wohnt ewig weit weg...“

Ich lache leise auf. „Mal ehrlich... wenn es wirklich nur das ist, was ihn davon abhält, dann habe ich andere Probleme.“

„Heißt das, du willst ihn aufgeben?“

„Vielleicht sollte ich das... Was soll ich auch sonst tun?“

„Sag ihm, was du empfindest... oder frag ihn, was er für Sam empfindet... oder mach ihn eifersüchtig...“ Ich sehe sie an und sie zuckt mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht, aber du solltest auf jeden Fall etwas tun, sonst bist du selbst Schuld, wenn bei den beiden was wird...“

„Na das ist ja eine tolle Aussicht...“, lache ich sarkastisch.
 

Wenige Minuten später kommen wir an ihrem Wohnblock an.

„Was dich angeht...“, grinse ich. „Schmeiß dich ruhig noch weiter an ihn ran!“

Sie boxt mich in die Seite. „Idiot!“

„Ich meins ernst... ihr seid süß zusammen...“
 

~ * ~
 

Nach einer gedankendurchzogenen Nacht greife ich am nächsten Morgen zum Telefon.

„Nado?“

„Hallo, hier ist Takahama Kida... es tut mir leid falls ich störe, aber könnte ich bitte kurz mit ihrer Tochter sprechen?“

Eine positive Antwort und so werde ich einen Moment zur Seite gelegt, während ihr Vater im Hintergrund nach Junko ruft.

„Kida?“, ertönt es nur kurz darauf am anderen Ende der Leitung. „Wow, was verschafft mir die Ehre?!“

„Hallo...“ Ich versuche so fröhlich wie möglich zu klingen. „Heut Abend steigt ne kleine Party... ich wollt fragen, ob du Lust hast mitzukommen...“

„Im Ernst?!“ Sie klingt vollends begeistert. „Klar!“

„Toll... Ich hol dich ab... So gegen halb sieben, okay?“

„Ja! Gerne!“

„Ach ja...“ Ich stocke. Soll ich sie wirklich fragen? Geht das nicht etwas zu weit?

„Was ist?“

„Naja... wir werden alle da schlafen... Sanae und ein anderes Mädchen sind auch dabei... wenn du also willst...“

Auch dem stimmt sie begeistert zu, fügt aber noch hinterher, dass sie dennoch mit ihren Eltern darüber reden müsse. Dann ist das Gespräch beendet... und schon in dem Moment, als ich den Hörer auf mein Bett fallen lasse, weiß ich, dass ich nun genau das Falsche getan habe. Wieso bin ich auf diese bescheuerte Idee gekommen? Wegen Sanaes Worten, ihn eifersüchtig zu machen? Geht das überhaupt?

Verdammt... warum habe ich nicht noch etwas länger darüber nachgedacht! Jetzt nutze ich auch noch Junko aus, weil ich nicht mehr weiter weiß...

Seufzend krame ich mein Handy aus der Hosentasche um Sanae zu schreiben, dass sie schon etwas eher herkommen solle... wir müssten noch jemanden abholen.

Das Erste allerdings, das mich nun erwartet, ist ein Anruf in Abwesenheit... Tatsuya?

Schnell bringe ich die SMS hinter mich und widme dann meine Gedanken wieder dem Anruf. Gestern Nachmittag... wieso habe ich nicht mitbekommen, dass jemand versucht hat, mich anzurufen?

Doch was hätte ich gemacht, wenn ich es gesehen hätte? Seit Dienstag hatte ich keine Zeit mehr, mir Gedanken über diese Sache zu machen. Tatsuya... nur zwei-, dreimal habe ich kurz an ihn gedacht, dann zum Beispiel als das Gespräch aufs doubleX kam... Was soll ich in seinem Fall bloß tun? Auch hier ist es das Gefühl, nicht dazu zu gehören... ähnlich wie bei Sakuya, nur dass mich hier meine Zweifel schon in Richtung Aufgeben gelenkt haben... Sollte ich auch da versuchen, den Kontakt beizubehalten? Sollte ich mit Tatsuya reden und ihm sagen, was ich für Sorgen unserer Freundschaft bezüglich habe... Sollte ich das bei Sakuya auch tun?

Noch während ich auf mein Handy starre, beginnt es plötzlich zu vibrieren. Klingelton ausgestellt... wahrscheinlich habe ich es deshalb nicht mitbekommen.

„Ja?“, melde ich mich. Warum ruft Sanae jetzt an?

„Jemanden mitnehmen? Was hab ich verpasst?“

Ich hätte es mir denken können, dass sie nachhacken würde... „Ich hab Junko eingeladen, mitzukommen...“

„Junko? Das Mädchen mit der du vor ein paar Wochen im Kino warst?“

„Genau...“

„Und wieso? Sag bloß du willst ihn tatsächlich eifersüchtig machen?“

„Quatsch!“ Ich lasse mich zurück ins Kissen sinken. „Das würde eh nicht klappen...“

„Wieso dann?“

„Ich... weiß nicht...“, gebe ich zögernd preis. Was genau habe ich mir eigentlich dabei gedacht?
 

~ * ~
 

Es wird Abend, viel zu schnell meiner Meinung nach... Um viertel nach Sechs steht Sanae vor meiner Tür und wir machen uns auf den Weg zu meiner ‚Verabredung’.

Junko strahlt, als sie die Tür öffnet... noch mehr als ich sie begrüße. Doch dieses freudige Gesicht macht mir nur umso deutlicher, dass ich einen Fehler gemacht habe.

Unserem Ziel immer näher kommend, beschließe ich, das Beste aus diesem Abend zu machen... Jetzt, da es so gekommen ist, sollte es vielleicht so sein... Ich sollte versuchen, mir nicht die ganze Zeit Gedanken zu machen, sollte versuchen mit ihnen, seinen Freunden, zu lachen, mit ihnen zu reden, so gut es nun mal geht, auch wenn ich kaum ein Wort verstehe, das sie von sich geben... Vielleicht sollte ich versuchen trotz allen Hindernissen Spaß zu haben... und vielleicht hat dieser Abend ja dann auch irgendwas Gutes, auch wenn ich noch keine Ahnung habe, wie das aussehen soll...
 

Diese Vorsätze so gut wie möglich in die Tat umsetzend, vergeht der erste Teil des Abends ohne große Zwischenfälle. Nur für den Moment in seinem Zimmer, als er mir ein neues, beziehungsweise mein Shirt gibt, brauche ich eine Menge Kraft, um mir nichts anmerken zu lassen... Ansonsten passiert nichts besonderes, auch nicht was Sam betrifft, vielleicht abgesehen von der Tatsache, dass sie tatsächlich versucht mit mir zu reden, dabei das deutlichste Amerikanisch spricht, das ich in den letzten Tagen gehört habe...

Ansonsten, wie gesagt, keine Zwischenfälle... doch dafür ist der zweite Teil des Abends voll davon.

Zum einen hätten wir da Sanae und Kevin, die sich prächtig verstehen... Nach einer Weile kuscheln sie auf ihrem Sofa. Eigentlich freue ich mich für sie, wäre da nicht der Punkt, dass er bald wieder abreisen wird...

Was Sakuya und Sam angeht... so stört mich schon die Tatsache, dass sie überhaupt in seinen Armen liegt, doch als es nicht dabei bleibt, ist alles irgendwie Positive an diesem Abend vergessen und ich würde am liebsten aufstehen und gehen. Sein Blick als sie ihn küsst... es tut weh, noch mehr, als er die Augen schließt.

Danach kann ich mich beim besten Willen nicht mehr auf den Film konzentrieren. Es fällt mir schwer, auf die Fragen und Aussagen von Junko zu reagieren und nicht die ganze Zeit zu Sakuya und Sam hinüber zu blicken. Denn da bleibt es nicht bei einem Kuss... doch egal wie viel Lust ich hätte, ihm das heimzuzahlen, küsste ich Junko nicht, als sie es versucht, sondern halte sie nur im Arm. Es würde nichts bringen, es würde Sakuya nicht stören, doch dafür würde ich ihr wehtun. Wenigstens das will ich nun nicht...
 

Schließlich im Bett frage ich mich wieso ich eigentlich noch hier bin. Eigentlich wäre es möglich gewesen noch rechtzeitig eine Bahn zu erreichen... warum bin ich dann nicht einfach gegangen? Ich ertrage es nicht, morgen aufzustehen und sie weiter turteln zu sehen...

„Bist du noch wach?“, unterbricht plötzlich Sakuya die Stille.

„Ja“, antworte ich zögernd, woraufhin jedoch nichts erwidert wird.

Also bin ich es, der weiterspricht, der ihm schließlich eine Frage stellt, die mir seit gestern auf der Seele brennt... Seine Antwort dann, ich weiß nicht, ob sie mich beruhigt... Sie waren ein Paar, doch er will dies nicht wiederholen... Gut oder schlecht? Und warum küsst er sie dann?

Nun fragt er, und wir kommen zu dem Punkt, dass ich ihm tatsächlich die Wahrheit über Junko sage, auch wenn er mich danach wohl für einen Idioten hält. Doch dann plötzlich unterbricht er meine Erklärung, und Geräusche zeigen, dass er zu mir hinüber kommt.

„Sorry, wenn es dich verletzt hat“, flüstert er plötzlich ganz nah bei mir.

Mein Herz rast mit einem Mal wie wild und ich fühle mich... schwach. Ich kann nicht anders als ihn in der Dunkelheit zu suchen, ihn zu berühren, ihn schließlich zu küssen... Es ist so verdammt unvernünftig, doch ich kann nicht anders.

Noch während des Kusses sinken wir zurück aufs Futon. Ich drücke ihn an mich, streiche ihm immer wieder durch die Haare... und habe zum ersten Mal das Gefühl, ihm ein winziges Stück nahegekommen zu sein, als uns ein lautes Krachen aus dem anderen Zimmer aufschrecken lässt. Starr bleibe ich liegen, während Sakuya über mir sich etwas mehr entfernt.

„Was...“, beginnt er, endet jedoch nicht, steht auf und krabbelt zurück in sein Bett.

Vorbei die einmalig schöne Situation...

„Gute Nacht“, flüstere ich um ihm vielleicht irgendwie deutlich zu machen, dass ich es nicht bereue, was gerade passiert ist. Doch es kommt keine Antwort darauf.
 

~ * ~
 

Am Morgen, oder besser gesagt frühen Mittag, werden wir von den Mädchen geweckt. Man kann gerade noch realisieren, dass die Tür aufgerissen wurde, als sie sich auch schon auf uns stürzen. Vollkommen verschlafen bekomme ich Junko aber schnell in den Griff und halte sie fest. Sie zieht mich in die Aufrechte und strahlt mich an... und als ich es gerade erwidern will, sehe ich Sam, die Sakuyas Armen festhält, sich vorbeugt und ihn küsst.

„Ich muss mal“, sage ich, schiebe Junko von mir und verschwinde im Bad. Dort lasse ich mich auf dem geschlossenen Klodeckel nieder und stützte meinen Kopf in die Hände.

Das kann ja wohl nicht wahr sein!

Nicht lange werde ich meinen frustrierenden Gedanken überlassen, denn Kevin fordert mich auf, ihm das Bad zu überlassen. Seufzend stehe ich auf und öffne die Tür, als mir einfällt, dass ich wenigstens die Klospülung hätte betätigen sollen. Zu spät... Ich lasse Kevin an mir vorbeigehen und fühle mich den restlichen Menschen in diesem Zimmer ausgeliefert. Junko sieht mich verwirrt an, während Sakuya, der gerade aufsteht, meinem Blick ausweicht.

Am liebsten würde ich so schnell wie möglich wieder verschwinden...
 

Beim Frühstück wird über das bevorstehende Schwimmen geredet... Nach einer Weile wende ich mich an die schweigsame Junko, die zusammen mit Sanae und Sam an der Spüle steht und mit ihnen den Abwasch macht.

„Willst du auch mitkommen?“

Verwundert sieht sie mich an und lächelt, nickt dann. „Ich würde gerne, aber ich habe keine Sachen dabei...“

Kurz überlegen sie und Sanae, woher man jetzt wohl noch schnell Schwimmzeug bekommen könnte, als Sakuya sich einschaltet und Sam fragt, ob sie nicht zwei Bikinis dabei habe... schnell wird Junkos Problem aus der Welt geschafft.

Und meins? Ist es gut, dass sie mitkommt? Wahrscheinlich schon, denn was soll ich sonst so allein zwischen den beiden... ‚Pärchen’.

Während ich noch daran denke, lässt mich etwas anderes zusammenschrecken. Das Vibrieren und lautstarke Klingeln meines Handys. Die Nummer auf dem Display ist mir unbekannt, die Stimme am anderen Ende der Leitung dafür umso bekannter.

„Hi, ich bins.“

Überrascht stelle ich mein Glas zu laut auf den Tisch zurück und stehe sofort auf, verlasse die Küche.

„Da bin ich ja froh, dich endlich zu erreichen...“

„Ja...“, sage ich, um überhaupt etwas zu sagen, gehe dabei nervös ein Stück den Flur entlang. Das bedrückende Gefühl, das ich das letzte Mal in seiner Gegenwart hatte, kommt wieder hoch.

„Wie geht es dir?“

„Ganz gut...“, lüge ich ihn an.

Er stellt mir ein paar weitere Fragen, die ich kurz und knapp beantworte, dann ist es mit einem Mal still. Unwohlsein, das sich in mir ausbreitet. Gestern noch dachte ich daran, unsere mögliche Freundschaft nicht wegzuschmeißen, jetzt frage ich mich aber schon wieder, ob das wirklich funktioniert...

Und außerdem kann ich jetzt gerade auch nicht stundenlang mit ihm quatschen, habe eigentlich im Moment ganz andere Sorgen...

„Kida?“

„Hm?“

„Willst du überhaupt noch etwas mit mir zu tun haben?“

Seine Frage überrascht mich mehr als alles andere. Ich bleibe stehen.

„Wi- Wieso fragst du so etwas?“

„Seit Sakuya wieder da ist, hast du dich nicht mehr gemeldet und wirkst jetzt auch so abweisend...“

„Das liegt nicht daran... bei mir läuft alles drunter und drüber.. außerdem dachte ich...“

Ich zögere und schweige... und komme mir gerade vor mir selbst vollkommen bescheuert vor. Wenn er sich meldet, heißt das nicht, er hat Interesse an einer Freundschaft?

Als ich nach einer Weile noch immer nichts gesagt habe, ertönt ein zögerndes Lachen in der Leitung.

„Magst du nachher vorbeikommen?“

„Ich... geh gleich mit ein paar Freunden schwimmen...“

„Hm... okay... wie wäre es mit morgen Mittag?“

Zögernd stimme ich zu und dann legen wir auf. Sollte wenigstens einer von meinen Kontakten eine Zukunft haben?

Einen Moment noch stehe ich nachdenklich im Flur, als plötzlich Sam aus der Küche kommt. Sie ruft irgendwas mir unverständliches zurück in den Raum, rast dann die Treppe hoch.

Sakuyas Blick trifft meinen, als ich wieder die Küche betrete, doch diesmal bin ich es, der ihn nicht lange erwidern kann.
 

~ * ~
 

Der Besuch im Schwimmbad läuft ähnlich ab, wie die letzten zwei Tage, mit einem kleinen Unterschied: Zwar sucht Sam, wenn sie nicht gerade Sanae oder Junko mit auf den Sprungturm schleift, auch jetzt wieder ständig Sakuyas Nähe, doch dieser nimmt ihre Annäherungen nicht so leichtfertig an wie in den letzten Tagen. So lässt er sich nicht küssen, nicht lange berühren... Ich beobachte dies Schauspiel interessiert. Woran liegt seine plötzliche Distanz? An unserem Kuss gestern Nacht? Ich kann nicht anders als ein wenig Mut in mir aufkeimen zu lassen...

Irgendwann etwas später, als wir ausnahmsweise mal als einzige zusammen auf den Handtüchern liegen, komme ich schließlich mit Asumo ins Gespräch. Ich erzähle ihm von dem Film, den wir gestern gesehen haben, von ein paar unwichtigen Kleinigkeiten des Tages an sich... Und überlege gleichzeitig sogar, ihn zu fragen, ob Sakuya schon vorher mal von Sam erzählt hat... oder besser gesagt, was er über sie erzählt hat. Letztendlich stelle ich die Frage nicht... komme stattdessen nach reichlicher Überlegung zu dem Entschluss, das Ganze so bald wie möglich mit Sakuya selbst zu klären...

Nur kurz darauf setze ich dieses Vorhaben auch schon in die Tat um. Und zwar als Sakuya sagt, er wolle Eis holen gehen.

„Ich komm mit“, sage ich und stehe auf.

Er nickt, geht voraus und zwei Ecken später, aus dem Blickfeld der anderen verschwunden, fasse ich Mut.

„Sakuya?“

„Ja?“

„Bitte lass uns kurz reden.“

„Okay...“, erwidert er zögernd und im nächsten Moment greife ich nach seiner Hand und ziehe ihn mit.

In einer Umkleidekabine finden wir uns wieder. Hier greife ich nun auch nach seiner anderen Hand und drücke ihn gegen die Wand.

„Kida... wa-“

„Ich ertrag das nicht!“, unterbreche ich ihn laut, werde mir dann erst bewusst, dass mich hier jeder hören kann.

Sakuya erwidert nichts. Er öffnet den Mund um etwas zu sagen, doch kein einziges Wort verlässt ihn. Resignierend stütze ich meinen Kopf gegen die Wand neben seinem, lasse dann meine Hände sinken und ihn somit frei.

Stille... in der ich nach den besten Worten suche. Jetzt ist die Möglichkeit da, mit ihm zu sprechen... jetzt muss ich sie nutzen. Doch was genau will ich ihm eigentlich sagen? Was will ich loswerden in diesem Moment?

Eine Forderung? Ja, eigentlich schon... Am liebsten würde ich ihn vor eine Entscheidung stellen... Sie oder ich... Doch das kann ich nicht tun, so in die Enge treiben kann und darf ich ihn nicht... Dazu habe ich wahrscheinlich noch überhaupt kein Recht.

Und so verlässt auch nach einer Weile kein Wort meine Lippen...

Irgendwann lässt er seinen Kopf gegen meinen sinken.

Eine sanfte, irgendwie vertraute Geste, die mich nur noch nervöser macht.

Ich öffne meine Augen, die ich zuvor geschlossen hatte. Die Spitzen seiner Haare und seine Haut tauchen in meinem Blickfeld auf... und dann passiert es wieder. Ich lege meine Lippen auf die leichtgebräunte Haut seiner Schulter. Ein kurzes Zucken fährt durch seinen Körper, aber er lässt es geschehen... Zärtlich küsse ich ein Stück seine Schulter entlang, bevor ich mich wieder zurückziehe.

Ich sehe ihn an und sein Blick ist ruhig an meinen geheftet. Vorsichtig streiche ich ihm über die Wange.

„Was tust du nur mit mir?“, spreche ich leise, worauf ich aber keine Reaktion erhalte.

Und doch... Wenn du mich in diesem Moment so ruhig ansehen kannst, heißt es nicht, dass es dir auch gefällt?

In seinem Nacken lasse ich meine Hand zur Ruhe kommen.

Heißt es das nicht?

Ich beuge mich an ihn heran, schließe meine Augen... und bald nachdem unsere Lippen sich treffen, erwidert er diesen Kuss und Arme schlingen sich um mich. Sein erhitzter Körper drückt sich gegen meinen, während der Kuss immer tiefer wird.

Seine warme Haut unter meinen Fingern... sanft streiche ich darüber, berühre ihn an so vielen Stellen. Es ist ein schönes Gefühl, ihm nah zu sein... Es ist etwas, dass ich nicht einfach wieder gehen lassen will.

Es ist so schön.

„Nicht!“

Sein plötzlicher Ausruf lässt mich sofort innehalten, zurückweichen, während mir bewusst wird, an was für gefährliche Gegenden ich mich herangewagt habe. Ich war einfach gefangen von diesem Moment.

„Sorry... es war nur...“, stotterte ich und weiß nicht, was ich denken soll.

Wollte er es vielleicht gar nicht?

Oder war es ihm einfach zu viel?

Bin ich... zu weit gegangen, ohne es wirklich zu merken?

„Lass uns zurückgehen“, versuche ich aus dieser Situation zu entkommen, doch er zieht sofort seine Hand weg, als ich danach greife.

„Ich kann noch nicht“, kommt es leise.

Seine Wangen glühen, versuchen irgendwas zu verbergen... und als ich meinen Blick senke, auf das, was seine Hände verbergen, verstehe ich. Mein Herz beginnt wie wild zu rasen. Er hat tatsächlich...

Ich sehe ihn wieder an... fühle mich plötzlich noch viel unsicherer als zuvor. Beim besten Willen habe ich gerade keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Ich fühle mich hilflos mit einem Mal...

„Soll ich mit dir warten?“, frage ich und komme mir gleich blöd dabei vor, als er den Kopf schüttelt.

Gehen also... einfach so? Zögernd beuge ich mich vor, küsse ihn auf die Wange, drehe mich dann um zur Kabinentür.

„Spiel nicht mit mir“, verlassen in dem Moment Worte meine Lippen, die ich hier und jetzt gar nicht aussprechen wollte... die mir irgendwann zuvor nur in den Sinn kamen und in diese Situation gerade überhaupt nicht passen... Schnell schließe ich die Tür wieder von außen. Wieso habe ich dennoch gerade jetzt darum gebeten?
 

Den Rest unseres Schwimmbadbesuches erlebe ich wie von weit weg. Die meiste Zeit bleibe ich einfach auf meinem Handtuch liegen und sehe den anderen zu, sehe so gut wie nur Sakuya zu. Seit er mit dem Eis zu uns zurück kam, ließ er sich mich keiner Sache anmerken, dass irgendwas geschehen ist... nur weicht er meinen Blick aus, wann immer ich versuche seinen zu fangen.

Es wird später und als die Mädchen endlich genug haben, machen wir uns gegen Ende des Nachmittags auf den Heimweg. Asumo verlässt uns als erster, kurz darauf sind Sanae und ich an der Reihe. Als die Bahn vor der Haltestelle, an der wir aussteigen müssen, beginnt zu bremsen, beuge ich mich in Sakuyas Richtung.

„Es ist schwer, zu gehen... und dich mit ihr allein zu lassen...“, flüstere ich, warte erst gar nicht auf eine Antwort, sondern stehe schnell auf und gehe zur Tür.

Das kurze Stück, das Sanae und ich von dieser Haltestelle aus zusammen gehen, schweigen wir. Es fällt mir schwer, mit ihr darüber zu reden... vielleicht, weil sie im Moment so glücklich zu sein scheint, vielleicht, weil sie und Sam sich angefreundet haben oder vielleicht auch, weil ich Angst vor ihrer Reaktion habe.
 

~ * ~
 

Der Sonntag verläuft ganz anders als die Tage zuvor. Kein Treffen mit Sakuya und den anderen ist in Planung, sondern das mit Tatsuya...

Auch eine Sache, die mir noch immer Kopfzerbrechen bereitet, selbst wenn ich dennoch die meiste Zeit nur an Sakuya denke.

Tatsuya begrüßt mich fröhlich, als ich am Sonntagmittag vor seiner Tür stehe.

„Hereinspaziert... ich hoffe du hast noch nicht gegessen!?“

„Nein...“, erwidere ich und fühle mich trotz seiner lockeren Begrüßung irgendwie beklemmt.

„Na dann!“ Er grinst. „Ich dachte wir kochen was!“

Gesagt, getan und so vergeht eine halbe Stunde, in der wir in seiner Küche stehen und kochen... Zu meiner Überraschung beginnt Tatsuya nach ein paar Minuten mit mir englisch zu sprechen und ich soll ebenso antworten. Leicht ist es nicht gerade und so vergesse ich allein durch die Mühe für ein paar Minuten jegliche Probleme... Außerdem ist es gutes Training für Dienstag.

Erst etwas später, als wir mit dem Essen fertig sind und es uns aufs Sofa verschlägt, kommen alle unerwünschten Gedanken zurück. Ich entscheide mich dazu, wenigstens den einen Teil jetzt gleich loszuwerden...

„Bin ich dir eigentlich zu jung?“, frage ich also direkt heraus, was mir einen verdatterten Blick einbringt.

„Wie bitte?“

„Ich meine... Ich bin viel jünger, wenn ich dich nerve, dann sag es ruhig...“

Ein Lachen. „Also wenn du mich nerven würdest, hätte ich dich nicht angerufen!“

„Hm... deine Freunde schienen mich aber nicht gerade zu mögen...“

„Erstens interessiert es mich nicht, was sie sagen... und zweitens kennen sie dich noch gar nicht...“ Er setzt sich auf und sieht mich genau an. „Warum plötzlich so viele komische Gedanken?“

„Weil... ich habe das Gefühl, nirgends hinzugehören... Ich bin so anders wie du und Sakuya...“

„So anders bist du gar nicht“ Ein aufmunterndes Nicken. „Du machst dir einfach zu viele Gedanken!“ Er steht auf und geht zum Kühlschrank, kommt mit einer Flasche Saft und zwei Gläsern zurück. „Außerdem...“ Er füllt die Gläser und reicht mir eins. „Man muss nicht gleich sein, um befreundet zu sein... Ist doch langweilig, wenn man schon alles über den anderen weiß oder ihn ohne weiteres immer versteht...!“
 

Als ich Stunden später wieder zuhause bin, fühle ich mich besser. Tatsuyas Worte haben geholfen, zumindest ein wenig positiver zu denken. Er redete mir gut zu, als ich ihm von den vergangenen Tagen erzählte, machte mir Mut... Ich bin froh, dass ich bei ihm war... und ich bin froh, dass somit wenigstens die Sorge mit unserer Freundschaft aus der Welt geschafft ist.

Zu Hause beschäftige ich mich noch ein bisschen mit meinen Englischübungen... und gehe irgendwann kurz vor Mitternacht schlafen, viel zu spät, immerhin ist morgen Schule...
 

Was mich allerdings schon sehr bald wieder aus meinem traumlosen Schlaf reißt, ist nicht mein Wecker. Dieser steht auf 0:37 Uhr und schweigt vor sich hin, weswegen ich mich verschlafen umdrehen und weiterschlafen will, als mir ein erneutes Klingeln zeigt, dass ich mich nicht getäuscht habe.

Wer um Himmels Willen kann das sein?

Gähnend gehe ich durch den dunklen Flur zur Gegensprechanlage.

„Ja?“

„Ich bins...“

„Sakuya?!“ Perplex starre ich gegen den schwarzen Kasten. „Was machst du denn hier?“

„Ich... kannst du kurz runter kommen?“

„Ja... warte, ich bin gleich da...“

Meine Finger zitternd, als ich in mein Zimmer sprinte und mir schnell eine Hose und ein Shirt anziehe, dann zurück zur Tür und die Treppe hinunter stürze.

Was zum Henker macht Sakuya hier? Um diese Uhrzeit?

Unten angekommen, steht er mit gesenktem Kopf vor der Tür. Sein Blick richtet sich auf mich, als ich die Tür öffne.

„Hey, was-“

„Sorry, ich hab deine Nummer nicht, sonst hätte ich angerufen...“, unterbricht er mich und wirkt fast ein wenig... unsicher?

„Das macht doch nichts!“ Langsam gehe ich auf ihn zu, versuche irgendwas in seinen Augen zu erkennen, doch ich kann es nicht.

„Wieso... bist du hier?“, frage ich zögernd, hab eigentlich ziemliche Angst vor der Antwort. Irgendwas muss doch passiert sein... Ich habe das unheimliche Bedürfnis ihn in den Arm zu nehmen.

„Ich wollte dich sehen...“ Er lässt seine Hände in den Hosentaschen verschwinden, wendet seinen Blick ab und sieht an mir vorbei. „...und ich wollte dir sagen, dass wir uns erst mal nicht sehen sollten...“

Es ist das Gefühl zu fallen, ganz tief in ein schwarzes, endloses Loch. Mit offenem Mund starre ich ihn an.

„Was?“, frage ich, hoffe, dass ich mich irgendwie verhört habe. Er kann doch unmöglich...

„Ich weiß, es ist wirklich verrückt, beides in einem Satz zu sagen... aber das ist genau das, was ich im Moment fühle. Ich kann dir da jetzt auch nichts groß erklären... wir sollten uns einfach nicht mehr treffen im Moment... das ist besser so...“

„Für wen?“

„Für uns beide...“

„Ach ja? Bist du dir da sicher? Ist es nicht nur besser für dich?“ Ich bin enttäuscht... habe ich mir doch am Samstag noch Hoffnung gemacht. War das denn so falsch? War all das, was du am Samstag zugelassen hast... war es nur ein Teil des Großen Ganzen, was du nun beenden willst? Langsam spüre ich Wut in mir aufsteigen. „Erst sagst du mir, wir sollen von vorne anfangen, und dann, wenn es kompliziert wird, läufst du weg!“, schreie ich und fühle mich den Tränen nahe, versuche mit aller Mühe sie zu unterdrücken.

„Von vorne anfangen? Der Witz ist gut, ich kann mich nicht erinnern, gesagt zu haben, dass ich SO von...“ Mitten im Satz bricht er ab, während sich der Rest davon sogar unausgesprochen tief in mein Inneres frisst. „Ich wollte nur... Kida, das…“

„Ach, hör doch auf!“, unterbreche ich ihn wütend, balle meine Hände zu Fäusten. Zwar hat er nie dergleichen gesagt... aber warum hat er dann so viel zugelassen? „Es war lustig, nicht wahr? Hast du dich mit den anderen über mich kaputt gelacht?“

Mit einem Mal kommen die Tränen. Egal wie sehr ich es versuche, so kann ich ein paar nicht davon abhalten, meine Augen zu verlassen. Schnell wische ich mir übers Gesicht.

„Das stimmt nicht!“

„Nein? Da habt ihr aber was verpasst! Über nen Schwulen kaputtlachen! Mach ruhig weiter so, es kratzt mich nicht!“

Damit drehe ich mich um, gehe mit schnellen Schritten zurück in den Wohnblock. Sakuya ruft nicht nach mir... und ehrlich gesagt verletzt gerade das mich ein wenig. Ich renne die Treppe hinauf, während die Tränen erst richtig anfangen zu fließen.

Das war es nun also? Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, nicht wahr? Und was wenn ich lieber Zweiteres gewählt hätte?
 

~ * ~
 

Am Montagmorgen sehe ich zum ersten Mal seit langem einen richtig besorgten Blick mir gegenüber in den Augen meiner Mutter. Sie spricht mich auf meine roten Augen zwar nicht an, aber deutlich sieht man, dass sie sich fragt, was ich habe. Dennoch komme ich nicht darum herum zur Schule zu gehen... Ich will nicht, habe Angst davor, Sakuya zu begegnen. Was soll ich denn dann tun?

Als erstes werde ich an diesem Morgen allerdings mit Sanae konfrontiert, die mich erschrocken ansieht.

„Was ist denn mit dir los?“, fragt sie besorgt.

„Hab zu wenig geschlafen...“ Eigentlich habe ich keine Lust, ihr den Grund darzulegen... doch als wir am Ende vor den Aushängetafeln stehen, an denen die Aufteilungen der verschiedenen Kurse angebracht sind und ich feststellen muss, dass ich einige Kurse in Zukunft mit Sakuya besuchen werde, kann ich mir ein leises Fluchen nicht verkneifen.

So kurz wie möglich erzähle ich Sanae von der letzten Nacht... und ihr Blick zeigt deutlich, dass sie nie mit so etwas gerechnet hätte.

„Aber wieso?“

„Keine Ahnung... Vielleicht bin ich langweilig geworden...“, erwidere ich und fühle mich scheußlich.

„Quatsch! Das glaub ich nicht!“

„Was wenn doch... oder was wenn er jetzt überall herumerzählt, dass ich schwul bin?“

„So ist er nicht! Das würde er nie machen!“

„Ach nein? Woher weißt du das? Kennst du ihn jetzt schon so gut?“, fahre ich sie an. Erschrocken erwidert sie meinen Blick, doch ich schüttle nur den Kopf. „Ich jedenfalls kenne ihn nicht... Ich weiß nicht, wie er ist...“, spreche ich nun wieder ruhiger.

Nichts was Sanae in den nächsten Minuten versucht, zeigt Wirkung. Keines ihrer Worte schafft es irgendwie, mir ein besseres Gefühl zu geben... im Gegenteil.

Und als sie mich am Ende allein lässt, in einem anderen Gang verschwindet als ich, bin ich fast schon froh darüber.
 

Mit Zwang sitze ich meinen sechsstündigen Schultag ab, beschließe danach, den Musik-Club für heute sausen zu lassen. Vielleicht hätte ich doch irgendeinen Sport wählen sollen... dabei hätte ich mich wenigstens richtig ausgepowert. Das würde am Schlagzeug zwar auch funktionieren, doch glaube ich nicht wirklich, dass ich ohne weiteres gleich heute am ersten Tag dort ran gekonnt hätte.

Ich mache mich nun also so schnell es geht wieder auf den Weg nach Hause.

Dort endlich angekommen, hänge ich mich über die Bücher... Lernen ist zwar nicht die beste Ablenkung, aber mal wieder muss es sein... Immerhin ist die Prüfung ja schon morgen Nachmittag. Irgendwie ging es mit einem Mal viel zu schnell!

Der Tag vergeht schleichend. Irgendwann widme ich mich meiner kleinen Schwester und schließlich einem kurzen Telefonat mit meiner Großmutter, mit der ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen habe... und dann ist es wieder Abend...

Und als ich allein im Bett liege, schaffe ich es nicht mehr, an etwas anderes zu denken. Egal wie sehr ich versuche, so taucht sein Gesicht doch immer wieder vor mir auf. Wieso hat er das getan? Wieso ist er zu mir gekommen und bat um einen Neuanfang, wenn das alles nun in Scherben liegt? Was hat er bloß erwartet? Was habe ich erwartet? Und woran genau liegt es, dass es nun gescheitert ist?

Es wäre alles ganz anders verlaufen, wenn Kevin und Sam nicht aufgetaucht wären... Ob wir es dann geschafft hätten, miteinander umzugehen? Nicht einmal das kann ich nun mehr glauben... Es wäre anders verlaufen, aber besser? Diese eine Nacht, in der ich das erste Mal bei dir geschlafen habe, du hast dich zwar küssen lassen, aber war es vielleicht wirklich nicht das, was du wolltest? Habe ich schon da wieder alles falsch gemacht?

Aber wieso hast du mich dann am Freitag geküsst? Wieso bist du auf mein Futon gekommen, obwohl die Gefahr bestand, dass Kevin es mitbekommt? Wieso hast du mir diese Zärtlichkeit gegeben, wenn du doch mit ihr nicht umgehen kannst?

Wieso tust du mir bloß so weh? Und wieso tut es überhaupt so weh?
 

~ * ~
 

Als ich am nächsten Morgen mit Sanae auf dem Weg zur Schule bin, merke ich gleich, dass irgendwas nicht stimmt. Doch sie streitet es ab, versucht zu lächeln und verschwindet im Gang in eine andere Richtung als ich.

Die ersten zwei Stunden an diesem Tag sind Englisch... Und mit Überraschung stelle ich fest, dass ich der anfänglichen Wiederholung tatsächlich ganz gut folgen kann. Es macht Mut für die spätere Prüfung.

Was Chemie angeht, so betrete ich den Raum mit einem mulmigen Gefühl, doch als Sakuya nicht auftaucht, verschwindet es langsam wieder. Vielleicht habe ich mich geirrt und er ist doch in einem anderen Kurs.

Informatik ist ein Kinderspiel, macht dafür aber ziemlich Spaß... und nach der Mittagspause treffe ich im Kurs „japanische Geschichte“ auf Asumo. Er grüßt mich, lässt sich dann aber auf der anderen Seite des Raumes nieder.

Sakuya taucht auch hier nicht auf und langsam frage ich mich, ob ich den Plan tatsächlich falsch gedeutet habe oder ob er einfach nur nicht da ist...

Zu gerne würde ich Asumo nach dem Unterricht darauf ansprechen, doch erstens finde ich dazu nicht den rechten Mut und zweitens muss ich mich auf den Weg zu meiner Englischprüfung machen...

Was diese angeht, so stelle ich fest, dass das ganze Lernen tatsächlich gefruchtet hat. Die meisten Fragen kann ich ohne große Probleme beantworten, selbst den kurzen Brief einigermaßen flüssig schreiben. Ich fühle mich unglaublich erleichtert.

Dieser Tag war doch nicht so schlimm, wie ich heute morgen befürchtet habe... zumindest sage ich mir das, bis ich wieder Sanae gegenüber stehe... die mit ihrem fröhlichen Gesicht scheinbar noch immer ringt. Ob sie eine Abfuhr von Kevin bekommen hat?

Doch sie sagt nichts und wir machen uns auf dem Weg nach Hause. Erst als wir in meinen Zimmer angekommen sind, rückt sie endlich mit der Sprache heraus.

„Sam und Sakuya haben... na ja, wie soll ich sagen...“

Vollkommen erschrocken sehe ich sie an, ahne schlimmstes. „Sie haben... was?“, hake ich nach.

„Naja, so genau weiß ich das auch nicht... aber es ist wohl fast passiert...“

„Passiert? Was ist passiert?“

„Stell dich nicht dümmer als du bist! DAS natürlich!“

Mit diesem Worten bricht in mir alles zusammen. Plötzlich verstehe ich, wieso Sakuya mich nicht will, plötzlich weiß ich, dass alle Eigenvorwürfe Unsinn waren... Er war nur die ganze Zeit scharf auf sie! Es ist das Gefühl, gegen irgendeine durchsichtige Wand zu laufen und das wieder und wieder... Ich habe mich zu einem solchen Idioten gemacht!

„Und da hat er noch nicht mal den Mut um mir ins Gesicht zu sagen, dass er sich für sie entschieden hat?!“, schreie ich und trete gegen meinen Stuhl, der daraufhin gegen den Tisch knallt. „Wer glaubt er eigentlich, wer er ist?“

„Kida! Bitte... Ich weiß nicht, wie weit sie gega-“

„Das ist doch vollkommen egal!“ Ich trete auf irgendwas anderes ein, während Tränen, die ich gerade überhaupt nicht ertragen kann, in meinen Augen brennen.
 

Einige Schreie, Tritte und eine mütterliche Ermahnung später, finde ich mich zusammen mit Sanae auf meinem Bett wieder. Und mittlerweile ist meine Wut den Tränen gewichen.

„Ich bin so ein Idiot! Wieso hab ich es nicht bemerkt? Wieso hat er... wieso...“

Wie konnte ich bloß daran denken, mir Hoffnungen zu machen?
 

~ * ~
 

Am nächsten Tag gehe ich mit der Hoffnung in die Schule, Sakuya nicht anzutreffen. Sie wird zumindest zunächst erfüllt und vielleicht geht es mir dadurch auch unwesentlich besser.

Erst als ich mich nach den eigentlichen Unterrichtsstunden auf den Weg zum Musikclub machen will, sehe ich ihn.... Und er ist nicht alleine.

Ich beschleunige meinen Schritt, während meine Stimmung Richtung Keller sinkt. Doch an der Tür zum Gebäude, in dem auch der Musikclub stattfindet, hält seine Stimme mich auf. Ich will nicht stehen bleiben und doch tue ich es, bin zu schwach um ihn einfach zu ignorieren.

„Können wir kurz reden“, fragt er, während sich in mir alles dagegen sträubt.

„Ich denke nicht, dass es da irgendwas gibt, was wir zu bereden hätten.“, sage ich, drehe mich um und will meinen Weg fortsetzen... will einfach nur weg von ihm.

„Bitte“, kommt es leise hinter mir.

Kurz schließe ich die Augen, bevor ich mich zu ihm umdrehe um ihn anzuschreien. Doch gerade da kommt irgendein Typ auf uns zu und so greife ich nur nach Sakuyas Arm und ziehe ihn grob zur Seite.

„Was, verdammt noch mal, willst du von mir?“, spreche ich.

Warum verlangt er jetzt etwas von mir, nachdem er mich am Wochenende abgewiesen hat, nachdem er mit Sam...

„Reden... Lass uns endlich einmal wirklich reden, oder hör dir wenigstens an, was ich zu sagen habe.“, bittet er und sieht dabei so aus, als wolle er es wirklich. Aber was soll es da schon geben, über das wir reden sollten?

Ich will ablehnen, will etwas sagen, auch wenn ich nicht weiß was, als die Glocke über den Schulhof ertönt.

Sofort wird Sakuya unruhig, sagt, er müsse zur Prüfung. „Also?“

„Ich denke nicht, dass-“, beginne ich, doch werde unterbrochen.

„Pass auf.“ Er hebt den Arm und deutet aufs Baseballfeld. „Ich werde am Samstag um 15.00 Uhr genau da auf dich warten... Komm oder...“ Er sieht mir in die Augen, beendet seinen Satz nicht und dann ist er mit einem „Bye“ verschwunden.

Ich stehe noch einen Moment da und starre auf den Punkt, auf dem er soeben noch stand.

Er will mit mir reden? Über was? Darüber, dass alles vollkommen falsch gelaufen ist und wir das Ganze am besten vergessen? Oder will er erneut neu anfangen, diesmal gleich mit dem Vorsatz ‚nur Freunde zu sein’... Stellt er sich das alles wirklich so einfach vor? Ich glaube, ich ertrage es nicht, auch nur eins von beidem direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen.
 

Mit geballten Fäusten setze ich meinen Weg fort und erst vor dem Musikraum bleibe ich wieder stehen. Ein weißer Zettel an der Tür hindert mich daran hinein zu gehen: „In der ersten Wochen finden noch keine Clubtreffen statt.“

Ich trete einmal gegen die Tür. „Scheiße!“

Ablenkung... verdammt noch mal, die hätte ich jetzt wirklich gebraucht!
 

~ * ~
 

„Was machst du denn hier?“ Ein erschrockener Blick trifft mich, als ich mich vom Boden aufrapple.

„Ich weiß auch nicht genau... ich glaube, ich brauche... jemandem zum Reden, ist das okay?“

„Natürlich“ Tatsuya sieht mich sorgenvoll an, schließt dann seine Wohnungstür auf, vor der ich die ganze Zeit hockte. „Wie lang wartest du schon hier?“

„Seit... einer Stunde oder so...“

Ein Kopfschütteln. „Du hättest doch auch ins doubleX kommen können... Ich hatte Schicht.“

„Nein, ist schon gut so...“, versuche ich ein Lächeln.

„Wenn du meinst...“ Er legt seine Tasche ab. „Ich geh mich kurz umziehen... draußen ist es sauheiß... setzt dich doch schon mal...“

Erst will ich dem nachgehen, doch dann folge ich ihm zögernd ins Schlafzimmer wo er sich gerade von seinem leicht verschwitzten Hemd befreit. Ich gehe auf ihn zu, er dreht sich um... doch bevor er noch etwas sagen kann, habe ich meine Arme schon um ihn geschlungen.

„Woah, woah, woah... Kida, das-“

„Nur einen Moment, okay?“, frage ich leise, vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter.

Irgendwie brauche ich im Moment diese Nähe, egal wie peinlich und dämlich ich mir vorkomme.

Was macht diese ganze Sache bloß mit mir... Noch nie war ich so weich, so leicht zu erschüttern oder so nähebedürftig... Und plötzlich sehnt sich mein ganzer Körper danach, einfach festgehalten zu werden, einfach nur in Sakuyas Armen zu liegen... Bin ich schon so verweichlicht?

„Was ist denn passiert?“, fragt er zögernd, nachdem er seine Arme um mich gelegt hat, die Umarmung nun erwidert.

„Er... Sakuya hatte was mit Sam...“, spreche ich an seine Schulter und vergrabe mein Gesicht noch näher an der nackten Haut.

Er erwidert nichts darauf, beginnt nur irgendwann zögernd mir über den Rücken zu streichen. Diese sanfte Geste lässt meine verkrampfte Haltung ein wenig entspannen, lässt zu, dass ich mich einfach nur gegen ihn lehne und diese Nähe genieße.

Was hast du mit ihr gemacht, Sakuya? Hat es sich gut angefühlt? Willst du es wieder tun?

Ich öffne meine Augen und drehe meinen Kopf ein Stück. Tatsuya hat sein Kinn auf meine Schulter gelegt. Ob seine Augen geschlossen oder offen sind, vermag ich nicht zu erkennen, denn die schwarzen Strähnen verdecken es. Plötzlich habe ich das Verlangen danach, sie zu berühren und so streiche ich seinen nackten Rücken hinauf, fahre durch seine Haare... und im nächsten Moment lege ich meine Lippen an seinen Hals.

Wenn Sakuya es kann, wieso ich dann nicht auch?

Tatsuya zuckt zusammen, scheint im ersten Moment zurückweichen zu wollen, doch dann lässt er es geschehen. Ich streiche ihm die Haare hinters Ohr, küsse dieses. Im selben Moment zieht er die Luft scharf ein.

„Kida, du solltest-“

Ich unterbreche ihn, indem ich aus purem Affekt heraus meine Lippen auf seine presse. Seine Augen weiten sich, doch zurückweichen tut er auch jetzt nicht... Und dann küssen wir uns, fest und gierig, lassen uns zurück auf sein Bett sinken und verfallen in immer leidenschaftlichere Küsse.

Warum ich dies tue? Ich weiß es nicht... ich weiß es wirklich nicht... doch gerade frage ich auch nicht danach.

Ich beginne meine Hände wandern zu lassen, fahre immer wieder über seinen Oberkörper und seine Arme entlang. Es ist ein anderes Gefühl als bei Sakuya... Intensiver schon deswegen, da ich es bei ihm nie tun konnte... aber auch so anders, dass ich zwar nervös bin, aber nicht so viel in mir tobt, wie die Male zuvor als ich Sakuya küsste.

Tatsuya zieht mir das Hemd über den Kopf, küsst meinen Hals hinunter... und dreht uns dann herum, so dass ich plötzlich unter ihm liege. Sein Blick trifft meinen und wir sehen uns an. Die Frage, ob dies alles so passieren soll, steht in seinen Augen geschrieben... Ich habe keine Ahnung, doch in diesem Moment will ich einfach nicht weiter darüber nachdenken. Ich ziehe ihn zu mir herunter, küsse ihn erneut und schlinge wieder meine Arme um ihn.

Es ist Zeichen genug, und so begibt er sich langsam in tiefere Gegenden, küsst meine Schultern, meine Brust und fährt mit seiner Hand hinunter zu meinem Hosenbund. Als der Knopf aufspringt, kurz darauf auch der Reißverschluss geöffnet wird und er so meiner wachsenden Erregung Freiraum gewährt, kann ich ein Stöhnen nicht unterdrücken.

Tatsuyas Lippen sind an meinem Bauch angekommen, der sich darunter zusammenzieht, was er nun mit seiner Hand macht, dass er seine Finger ein paar mal neckisch über meine Erektion streifen lässt.

„Ich...“ Das Wort geht über in ein lautes Stöhnen, als er meine Shorts überwindet und seine Finger hineinfahren lässt. Keine Ahnung was ich sagen wollte... Es ist vollkommen egal.

Ich drücke mich ihm entgegen während ich meine Hände in der Bettdecke vergrabe. Mein Gott... im Moment sehnt sich in mir alles nach dem, was noch folgen mag.

Die Hose wird mir von den Beinen geschoben, seine Lippen wandern immer weiter hinab... und dann umschließt mich dieses warme Gefühl.

Ich bäume mich auf, werfe den Kopf in den Nacken und kann nicht anders als laut aufzustöhnen. Das was seine Lippen, Zähne und seine Zunge in den nächsten Augenblicken anstellen, treibt mich voran... bringt mich dazu immer lauter zu keuchen, mich am Ende nach vorne zu beugen und meine Finger in seinen Rücken zu graben. Und so kralle ich mich an ihn, stöhne ich ganz nah an seinem Ohr als dieses wahnsinnige Gefühl sein Ende findet...

Doch in dem Moment, als es vorbei ist, fährt mir der Schreck ganz tief in die Glieder. Wie konnte so etwas bloß passieren?

Ich weiche zurück, als Tatsuya sich aufsetzt, sehe ihn erschrocken an, sehe auf die Beule in seiner Hose und fühle mich vollkommen überfordert.

Was haben wir da gerade getan? Was habe ich gerade mit ihm, einem Freund... einem Mann getan?

„Was... das...“, will ich beginnen irgendetwas konfuses zu reden, als er mich blitzschnell zu sich heran in seine Arme zieht.

„Beruhig dich, Kida...“, spricht er mit sanfter Stimme und hält mich plötzlich auf eine ganz andere Art fest, als er es noch zuvor getan hat... Irgendwie noch viel fester und tröstender.

Ich drücke mich dieser Umarmung trotz aller Scham entgegen.

„Es tut mir leid... ich... das...“

„Sei still“, fordert er sanft auf und verlagert sein Gewicht so, dass wir zurück auf die Matratze sinken.

Ich spüre Tränen, fühle mich scheiße deswegen und weiß beim besten Willen nicht, was ich tun soll...

Wie ist es bloß so weit gekommen?

Wir liegen lange so da und während seine Finger sanft durch meine Haare streichen, schlafe ich ein.
 

Als ich wieder aufwache, liege ich noch immer in seinem Bett, nun aber ohne ihn und dafür von der dünnen Decke umgeben.

Sofort laufe ich knallrot an, vergrabe mein Gesicht im Kissen.

Ich habe... besser gesagt Tatsuya hat mir... Ich kann es noch nicht mal klar zuende denken... Aber so was hätte auf keinen Fall passieren dürfen!

„Wie ich sehe bist du aufgewacht...“, ertönt er in dem Moment von der Zimmertür.

Nur ganz zögerlich hebe ich meinen Kopf und sofort als unsere Blicke sich treffen, wende ich meinen ab, suche wie wild den Boden nach meiner Hose und meinen Shirt ab und entdecke sie schließlich auf dem Schreibtischstuhl. Am liebsten würde ich nun dort hin flüchten, aber ich tue es nicht... der Gedanke, nur in Shorts vor ihm zu stehen, schreckt mich plötzlich ab.

Noch während ich darüber beratschlage wie ich nun am besten von hier verschwinde, kommt Tatsuya zu mir hinüber und hält mir ein Glas Wasser hin.

„Da, trink erst mal was...“

Er setzt sich auf die Bettkante und sieht mich abwartend an. Zögernd greife ich nach dem Glas, drehe es unschlüssig in meinen Händen und starre hinein.

Ich benehme mich wohl gerade vollkommen bescheuert...

„Sieh mich mal an...“, fordert Tatsuya mit sanfter Stimme auf und nur zögernd tue ich es. Ein Lächeln liegt auf seinen Lippen. „Hör auf dir Vorwürfe zu machen, okay?“

„Aber-“

„Kein aber... Manche Sachen passieren einfach... selbst wenn es vielleicht nicht ganz richtig war, wir können es nicht mehr ändern... und es bringt nichts, wenn du dir darüber Gedanken machst.“

„Es tut mir leid...“, flüstere ich.

„Schon in Ordnung.“

Zögernd nippe ich an dem Glas und als ich es auf dem Nachttisch abstelle, zeigt mir die Uhr, dass es schon halb Elf ist. Erschrocken springe ich auf.

„Mist, ich muss nach Hause...“

Während Tatsuya sitzen bleibt, sprinte ich zum Schreibtisch, greife nach meinem Hemd.

„Wenn du willst, kannst du heute Nacht hier bleiben...“, kommt es hinter mir und sogleich glühe ich wohl wieder von Kopf bis Fuß.

„Nein... ist schon okay... ich-“

„Kida!“, kommt es energisch. Erschrocken sehe ich zu ihm.

„Aber... ich... meine Mutter...“

„Ich will nicht, dass du mir jetzt nicht mehr in die Augen sehen kannst... Lass uns darüber reden, ja?“

Es dauert noch einen Moment, bis ich mich endlich dazu bereit erkläre und meine Mutter anrufe.

Als das erledigt ist, drückt Tatsuya mir eine Schüssel in die Hand und schiebt mich in Richtung Sofa.

Während wir still essen, überlege ich, was ich nun am besten sagen könnte. Ich will ihm nicht das Gefühl geben, dass es mir nicht gefallen hat, dass ich es gar schrecklich fand... aber auch das gegenteilige Gefühl soll er nicht bekommen. Wie fasse ich das, was im Moment in mir vorgeht, am besten in Worte? Wie erkläre ich ihm, dass ich in dem Moment einfach nur Nähe gesucht habe, auch wenn ich es vollkommen falsch angefangen habe? Wie ihm sagen, dass es eigentlich nur eine Verzweiflungstat war...?

„Mach dir keine Sorgen...“, ist er es, der die Stille unterbricht. „Ich weiß wie scheiße es einem geht, wenn man ne Abfuhr bekommen hat... da passieren schon mal ein paar Fehler... Ich mach mir jetzt nicht irgendwelche Hoffnungen oder so...“ Er lächelt. „Außerdem... für so etwas sind wir wohl auch einfach altersmäßig zu weit auseinander... Ich will dich gerne als Freund, aber für andere Dinge bevorzuge ich eher jemanden meines Alters...“ Ein Zwinkern, das mich kurz auflachen aber auch wieder erröten lässt.

„Und wieso hast du dann am Anfang... Ich meine...“

„Okay, ich gebe zu, am Anfang fand ich dich echt niedlich... und da dachte ich nicht, dass man sich vielleicht anfreunden könnte... Aber mittlerweile mag ich andere Dinge an dir...“

Ich weiß nichts darauf zu erwidern, aber dafür beruhigen seine Worte mich wenigstens. Hat diese Sache unsere Freundschaft also nicht kaputt gemacht?

„So!“, grinst er schließlich, als er unsere Schüsseln weggeräumt hat und sich wieder zu mir aufs Sofa fallen lässt. „Nun teil mal ein paar intimere Sachen mit mir...“ Verwirrt sehe ich ihn an, woraufhin er lachend gegen meine Stirn tippt. „Deine Gedanken zum Beispiel... Erklär mir mal genau, was da mit Sakuya los war...“

Von einer Sekunde auf die andere weicht mein lockeres Gefühl wieder, allein schon durch die Erwähnung seines Namens. Zögernd erzähle ich ihm von den neusten Ereignissen, beginne dabei am Sonntag, wo er nachts zu mir kam... ende bei dem kurzen Gespräch heute in der Schule.

„Ich hab keine Ahnung was ich denken soll... Irgendwie komme ich mir verarscht vor...“, sage ich.

Tatsuya sieht nachdenklich aus, legt den Kopf auf die Lehne und weicht mit seinem Blick nicht von mir.

„Vielleicht sollte ich jetzt sagen, dass du ihn am besten einfach vergisst, aber... ich weiß wie schwer so etwas ist, besonders dann, wenn die Sache nie wirklich geklärt wurde...“

„Du meinst also ich sollte...“

„Ja, am besten solltest du am Samstag hin gehen...“

„Aber was, wenn es dann entgültig vorbei ist?“

„Wenn du nicht hingehst, ist es das auch... nur dass du dich dann immer fragst, was er dir wohl sagen wollte...“, antwortet er, und als ich nichts darauf erwidere, fügt er hinzu: „Habt ihr euch schon mal richtig lange unterhalten? Mir scheint es, als würde er genau das wollen... und vielleicht solltet ihr es auch endlich mal tun...“
 

Es fällt mir schwer einzuschlafen in dieser Nacht... wahrscheinlich weil ich schon vorher geschlafen habe, vielleicht weil mir seit heute nur noch viel mehr Dinge durch den Kopf schwirren.

Irgendwann gegen zwei Uhr stehe ich auf und schleiche mich aus dem Zimmer hinaus auf den Balkon. Einen Moment bleibe ich am Geländer stehen und lasse mir die warme Nachtluft um die Nase wehen, bevor ich meinen Kopf in den Armen vergrabe.

Auch wenn Tatsuya sagt, die Sache zwischen uns habe nichts zu bedeuten, so kann ich dem nicht zustimmen... denn eines hat sie mir ganz deutlich gemacht: Ich bin schwul... na ja, zumindest bi. Ich habe kein Problem damit, Männer zu küssen, sie anzufassen und andere Dinge mit ihnen zu machen, im Gegenteil.

Mich erschreckt diese Erkenntnis, habe ich mich doch insgeheim ein wenig an die Hoffnung geklammert, dass es nur Sakuya ist, mit dem ich solche Dinge tun will... Zwar stimmt das in sofern noch immer, dass ich es am liebsten nur mit ihm tun würde... doch es stimmt nicht, dass ich es auch nur bei ihm kann...

Aber warum habe ich dann vorher nie gemerkt, dass mich auch Männer anziehen? Und warum merke ich es ernst dann, wenn mein Herz schon an einen bestimmten vergeben ist, so dass mich außer er eigentlich kein anderer wirklich interessiert?

Warum musste es bloß so weit kommen?

„Kannst du nicht schlafen?“, höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Eine Hand legt sich auf meine Schulter.

Zögernd hebe ich den Kopf. „Nein...“

„Denkst du an ihn?“

„Ja...“ Es ist ein schreckliches Gefühl, verliebt zu sein... bei weitem nicht so schön, wie immer alle sagen... zumindest dann nicht, wenn es nicht erwidert wird.

„Sag mal...“, beginne ich irgendwann. „Hast du schon mal jemanden richtig geliebt?“

„Ja.“

„Und? War es ein schönes Gefühl?“

„Nein... weil er mich nicht wollte. Er konnte damit nicht umgehen und hat unsere Freundschaft beendet...“ Ein Seufzen, und der Druck auf meiner Schulter wird fester. „Ich vermisse ihn... als Freund...“

Seine Worte machen mich neugierig... wäre es ihm genug, wenn er nur das nun noch hätte, die Freundschaft dieses Mannes?

„Lass uns zurück ins Bett gehen... du musst morgen früh raus...“, sagt er schließlich, bevor ich noch irgendetwas sagen oder fragen kann.

Ich nicke und folge ihm.

Sollte es mir auch genug sein, Sakuya nur als Freund zu haben? Eine Frage, die ich mir nicht zum ersten Mal stelle, dafür nun aber wieder so lange, bis ich schließlich endlich einschlafe.
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen werde ich von einer vollkommen verwirrten Sanae vor dem Schulgebäude erwartet.

„Wo warst du? Deine Mutter sagte, du hättest bei einem Freund geschlafen...“

„Ja, bei Tatsuya...“

„Huch... Wie kam es denn dazu?“

„Kein besonderer Grund...“, lüge ich und wir betreten die Schule.
 

Dieser Tag und auch der nächste laufen verhältnismäßig ruhig ab. Ich verbringe den halben Tag in der Schule – am Donnerstag länger aufgrund der Sozialkundeprüfung, die ich irgendwie vollkommen vergessen habe - und den restlichen Tag zu Hause. Sanae ist bei Kevin und Sakuya, wovon sie mir nur ganz kleinlaut berichtet und Tatsuya arbeitet... Aber irgendwie habe ich ohnehin keine Lust mit irgendwem was zu machen. Einmal telefoniere ich kurz mit Akito, verneine aber seine Frage, ob ich Lust habe wegzugehen.

Zuhause sitze ich die meiste Zeit vor dem Fernseher oder dem Computer, spiele irgendwelche Spiele oder schaue langweilige Reportagen, Filme und Animes.

Was Sakuya angeht, so versuche ich so wenig wie möglich an ihn zu denken, versuche ich nicht daran zu denken, dass wir am Samstag so gut wie verabredet sind und ob ich hingehen soll oder nicht. Denn auch nach dem langen Gespräch mit Tatsuya bin ich noch immer unschlüssig, was ich tun soll. Er hat schon recht, wenn er sagt, dass ich mir wenigstens anhören sollte, was Sakuya zu sagen hat um mit der Sache abschließen zu können... doch so einfach ist das nicht. Ich habe Angst vor den Worten, die er zu mir sagen könnte...
 

~ * ~
 

Am Samstag geht es mir nicht viel anders, außer, dass ich schon den ganzen Morgen nicht aufhören kann daran zu denken, dass er um 15 Uhr auf dem Baseballfeld stehen wird und auf mich wartet. Davon lenkt mich auch der morgendliche Musikkurs nicht ab, in dem ich schon drei Jungs vom Musikclub kennenlerne, ebenso wenig wie das eigentlich ziemlich langweilige Fach ‚Historische Geschichte’.

Wieder zuhause ist alles Schulische gleich wieder vergessen und erneut frage ich mich, was ich tun soll. Eigentlich habe ich am Mittwoch, als er mich um das Treffen bat, beschlossen nicht hinzugehen, doch je näher der Zeitpunkt rückt, desto mehr frag ich mich, ob es richtig ist...

Sollte ich hingehen und wenigstens kurz hören, was er zu sagen hat?

Sollte ich hingehen und ihm endlich mal richtig die Meinung sagen?

Oder sollte ich hingehen, um das Ganze selbst zu beenden?
 

Um 13:52 Uhr habe ich mich entschieden, nicht hinzugehen... Mit einem Buch in der Hand, das ich schon seit Ewigkeiten mal weiterlesen wollte, lasse ich mich auf meinem Bett nieder, versuche mich auf die Worte zu konzentrieren und die Zeit zu vergessen...

... Um Drei fällt mein Blick auf die Uhr. Ob er jetzt wirklich auf dem Baseballfeld steht und auf mich wartet?

... halb Vier. Ob er noch immer da ist? Wahrscheinlich entscheidet er sich gerade dazu, wieder zu gehen... Ein komisches Gefühl kommt in mir auf, doch definieren kann ich es nicht, will es auch gar nicht. Ich will mir die Fragen nicht stellen.

... Um kurz vor Vier tue ich es doch: Habe ich falsch entschieden? Hätte ich doch hingehen sollen und mit ihm reden? Doch was dann? Was hätte ich von einem Gespräch schon zu erwarten?

... Zwanzig nach Vier. Ich klappe das Buch zu, nachdem ich in diesem mehr als zwei Stunden gerade mal elf Seiten weitergekommen bin. Zögernd stehe ich auf. Ob du es schade findest, dass ich nicht da war? Oder ist es dir schon wieder egal?

... Halb Fünf. Noch immer stehe ich unschlüssig herum. Mittlerweile sind es viele Fragen in meinem Kopf... Ich hätte hingehen sollen, nicht wahr?

... Zwei Minuten noch, dann habe ich mich endlich entschieden. Mit schnellen Schritten verlasse ich unsere Wohnung, gehe zur U-Bahn-Station und stehe um kurz vor Fünf vor der Haustür der Ryans.

All die Fragen, die ich habe... ich sollte sie ihm stellen. Aber ob er jetzt überhaupt noch mit mir reden will?

Nachdem ich geklingelt habe, erfahre ich, dass Sakuya nicht zuhause ist, dass nicht sicher ist, wann er wieder kommt. Schnell verabschiede ich mich, stehe dann unschlüssig auf der Auffahrt... und entscheide mich schließlich, es wenigstens zu versuchen. Meine Schritte tragen mich zum nächsten Gleis, dann weiter Richtung Schule. Es ist quatsch... wahrscheinlich ist er schon längst woanders... er wird schon lange nicht mehr hier-

In mir fährt alles zusammen, als ich ihn plötzlich vor mir sehe. Einige Meter entfernt in der Mitte des Baseballfeldes mit einem Ball und einem Schläger in den Händen...

Er ist... noch immer da?

Und was nun? In mir schreit es nach abhauen, aber jetzt, wo ich schon mal hier bin... wo er schon so lange hier ist...

Doch was dann? Wie erklären, dass ich erst jetzt komme?... Muss ich mich erklären?

Was wird er mir sagen wollen? Kein Wiedersehen oder... ein neuer Anfang? Kann ich das wirklich? Kann ich all das, was geschehen ist, wirklich einfach so vergessen? Brauchst du mich nicht nur, weil sie nun wieder weg ist? Kann ich bei dir sein ohne ständig daran zu denken?

Ich glaube es geht nicht, so einfach geht es nicht.

Wahrscheinlich wäre es wirklich das Beste, das Ganze ein für alle mal zu beenden...

Doch auch als ich mir dessen irgendwie sicher bin, schaffe ich es lange nicht, zu ihm hinüber zu gehen, bleibe stattdessen weit genug entfernt stehen, so dass er mich nicht sehen kann...

Ich beobachte ihn dabei, wie er seinen Ball in die Luft wirft und immer wieder mit dem Schläger nach oben schlägt, dabei einen Blick auf seine Uhr wirft. Fast fünfzig Minuten sehe ich ihm zu, bevor ich meinen Mut zusammennehme und beschließe die Sache nun endlich zu klären, zu beenden...
 

Part 11 – Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 12

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Sakuya (by littleblaze)
 

...in eine Kabine gezogen, die Tür verschlossen, leicht in den hinteren Teil des kleinen Raumes gepresst und Sekunden später seine Hände, die mich gegen die Wand drückten.

Dicht stand er vor mir und schnell machte sich die Nervosität breit. Seine Augen fixierten mich regelrecht, so dass ich dachte, auch ohne den geringsten Körperkontakt an der Wand haften zu können.

„Kida... wa...“

„Ich ertrag das nicht!“, unterbrach er mich.

Ich erwiderte nichts, und er ließ seinen Kopf gegen die Wand kippen und mich frei. Nach einigen Momenten, in denen keiner ein Wort hervor brachte, ließ ich meinen Kopf gegen seinen sinken.

Weiterhin standen wir schweigend da und es waren nicht Worte, die unsere Starre brachen, sondern seine Lippen, die sich leicht auf meine Schulter legten, langsam meinen Hals hinauf tasteten.

Er entfernte sich von mir, sein Blick schweifte über mein Gesicht hinweg, er näherte sich mir wieder und ich kam ihm wie selbstverständlich ein wenig entgegen, doch er entzog sich mir, schaute mich nur an, als wäre diesmal er es, der sich gar nicht so sicher war, was er hier vorhatte.

Seine Finger glitten leicht über mein Gesicht.

„Was tust du nur mit mir?“, suchte er abermals einen intensiven Blickkontakt und ich hatte vor zu lächeln, doch nichts passierte. Es waren seine Berührungen in meinem Gesicht, denen ich versuchte zu folgen, das leichte Kitzeln auf der Haut weiter zu spüren, und sachte schmiegte ich mich dem entgegen.

Er stoppte.

Für einen kurzen Moment dachte ich daran, vielleicht etwas Falsches getan zu haben, doch dann festigte sich sein Griff wieder und er zog mich zu sich heran.

Seine Lippen legten sich auf meine und es war kein bisschen Vorsicht oder Zurückhaltung zu spüren, viel mehr war sein Kuss von einer gewissen Kraft, Leidenschaft begleitet. Ich gab mich dem hin, erwiderte den Druck seiner Lippen, das Spiel seiner Zunge.

Erst als ich seine Hände auf meinem Rücken, meinen Armen und auf meinen Beinen spürte, wie sie über die von Sonne und Erregung erhitzte Haut hinwegstreiften, kam wieder dieses bekannte, bedrückende Gefühl in mir auf.

Geräusche überall um mich herum, und plötzlich sah ich wilde Sexszenen auf dreckigen Toiletten in meinem Kopf...

„Nicht!“, kam es heftig.

Er schrak sofort zurück, sein Blick unschlüssig, erschrocken.

„Sorry... es war nur...“

Wir schauten uns einige Sekunden an und schnell überdeckte Peinlichkeit die gerade auf anderthalb Quadratmeter zugetragene Situation.

„Lass uns zurückgehen“, lächelte er leicht und griff nach meiner Hand.

Rasch zog ich sie zurück, worauf ich erneut einen erschrockenen Blick erntete.

„Ich kann noch nicht“, erklärte ich mich.

Sein Blick zuerst fragend, und ob es jetzt die leichte Röte in meinem Gesicht oder die Haltung meiner Hände war... er verstand.

„Soll ich mit dir warten?“, fragte er vorsichtig nach, als ob das hier nicht schon peinlich genug für mich war. Ich schüttelte den Kopf.

Er küsste mich leicht auf die Wange und ließ mich mit dem Versuch, meine aufgekommene Erektion zu bewältigen, alleine, während seine letzten ausgesprochenen Worte in meinem Kopf hallten:

„Spiel nicht mit mir.“
 

~ * ~
 

Wieder zu Hause treffen wir in der Küche auf meine Mom.

„Ich habe doch gesagt, dass wir das machen“, deute ich auf die sauberen, aufgestapelten Elektrogrills.

„Wofür ist eine Mutter denn da?“ Sie küsst mich auf die Stirn. „Sam?“

„Ja?“

„Möchtest du mir gleich ein wenig in der Küche helfen?“

„Au ja“, gibt Sam erfreut von sich.

„Und was machen wir?“ Kevins Blick trifft auf meinen.

„Wir könnten uns mal wieder so richtig auspowern“, schlage ich vor.

„Auspowern?“

„Ja.“ Ich grinse. „Mom, wir gehen runter.“

„Aber mach die Musik nicht wieder so laut“, mahnt sie mich.

„Ok, aber abschließen werde ich, ich bin ja nicht alleine.“

„Ist gut, und bring mir bitte die saubere Wäsche mit hoch, wenn ihr fertig seid.“

„Roger. Na komm, lass uns mal so richtig ins Schwitzen kommen“, boxe ich Kevin leicht gegen die Schulter und er folgt mir die Treppe in den ausgebauten Keller hinunter.

„Jetzt versteh ich... oh, eine Sauna habt ihr auch...“

„Ja, mein Dad hat auf seine alten Tage nen Tick gekriegt von wegen guter Körper und so, deswegen die ganzen Geräte. Wenn du willst können wir nach dem Trainieren auch noch in die Sauna?“

„Na klar, ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr in einer.“

Ich stelle die Sauna an, bevor wir mit dem Training beginnen.

„Soll ich es dir einstellen?“

„Ja, bitte.“

„Setz dich.“ Ich trete hinter Kevin und stelle das Gerät auf einen effizienten Gegendruck zu seiner Kraft ein.

„Gut so?“

„Ja.“

Er steht nochmals auf und entledigt sich seiner Kleidung bis nur noch die gerade getragene Schwimmshorts über ist, ich tue es ihm gleich.

„Machst du das öfter?“, fragt er während er seine Muskeln aufwärmt und ich die Musik auf eine angenehme Lautstärke aufdrehe.

„Zu Hause eigentlich nicht so oft, wenn dann in der Schule, die haben tolle Geräte da und mit mehreren macht es einfach auch mehr Spaß.“

Er schaut mich an.

„Lass uns schauen, wer zuerst schlapp macht“, fordert er mich heraus.

„Vom mir aus“ grinse ich.
 

Knapp zwei Stunden, eine Niederlage und einen Saunabesuch später, lege ich schlapp auf meinem Bett.

„Mir tun alle Knochen weh“, bemitleide ich mich selbst.

„Du hast es übertrieben, nur um mithalten zu können.“

„Du hättest mich ja auch einfach gewinnen lassen können“, kontere ich.

„Ja klar.“ Er lacht kurz auf.

Ich spüre seine Finger auf meinem Rücken, einige Knochen knacken leicht unter ihnen, eine Begabung, die er sich zweifelsohne von seiner Mutter abgeguckt hat.

„Macht deine Mom das eigentlich immer noch?“ frage ich zufrieden seufzend nach.

„Die medizinischen Massagen?“

„Ja“, stöhne ich leicht auf.

„Nur noch bei Privatpatienten.“

„Mmhh“, ist das einzige was ich als Antwort hinaus bekomme und so lasse ich mich einfach nur auf diese Weise verwöhnen.

„Du hast ziemlich viel zugelegt... an Muskeln mein ich.“

„Das hoffe ich doch mal.“

Seine Finger gleiten über meine Schulterblätter hinweg, drücken sich an meiner Wirbelsäule entlang und legen sich schließlich am rechten Oberschenkel ab. Als er am anderen Bein ankommt, stockt er kurz.

„Die Narbe ist kaum noch zu sehen“, nimmt er überrascht wahr.

„Mmhh“, bringe ich nur hervor.

„Was war eigentlich heute los?“

„Was meinst du?“, frage ich erschrocken nach, hat er vielleicht doch etwas mitbekommen?

„Bei dir und Sam?“

„Ach so“, seufze ich kaum merkbar auf.

„Gestern noch dieses Rumgetue und heute hast du sie dir regelrecht vom Leib gedrückt... dreh dich um.“

Ich drehe mich auf den Rücken.

„Es ging mir einfach ein wenig auf die Nüsse, diese ganze Knutscherei.“

„Sie mag dich eben.“

Keine Lust mich dazu zu äußern, genieße ich weiter die angenehmen Berührungen auf Brust und Armen.

„Ok, Schluss für heute, sonst pennst du noch weg.“

„Wie gemein“, gebe ich bekannt, nachdem sich seine Finger meinen Körper entzogen haben. Ich setze mich auf und nehme einen beleidigten Gesichtsausdruck an.

„Werd erwachsen“, grinst er und wirft mir ein Shirt zu. „Ich habe Hunger, lass uns schauen, was die Küche so macht.“

„Gute Idee.“

Auf den Weg nach unten stürzen wir beinahe die Treppe hinunter, da wir es nicht lassen können, ein kleines Wettrennen zu veranstalten.

„Immer noch kein bisschen klüger“, schaut uns meine Mom böse an, nachdem wir die Küche betreten haben.

„Wann gibt’s essen, Mom?“

„Wenn du den Tisch gedeckt hast“, kontert sie.

„Hier, fang“, erschrecke ich Kevin und werfe ihm die Platzdeckchen zu, die er trotz der nur kleinen Reaktionszeit gelungen fängt.

„Wehe ihr werft die Teller“, warnt uns meine Mom und ich deute einen Wurf mit einem gerade aufgenommenen Teller an, woraufhin ich einen leichten Klaps auf den Hinterkopf erhalte.

„War doch nur ein Scherz“, entschuldige ich mich und werfe den ersten Teller erst, nachdem sie mir den Rücken zugewandt hat.

„Sakuya!“

„Sorry, Mom“, lache ich auf.

Fünf Minuten später, sitzen wir dann auch wirklich alle brav am Tisch mit vielen dampfenden Schüsseln vor uns.

Ich schöpfe mir von jedem etwas auf, mein Blick fällt zurück auf meine Mom. Sie schaut ein wenig verträumt auf den Tisch und ihr Teller ist immer noch leer.

„Mom?“

Sie schaut auf.

„Ist was?“, frage ich nach, mittlerweile ist es nicht mehr nur mein Blick, der sie trifft.

„Nein Schatz, wo ich euch alle nur mal wieder so beisammen sehe, habe ich gerade nur ein wenig in Erinnerungen geschwelgt.“ Sie lächelt in die Runde. Kevin und ich schauen uns an.

„Bestimmt nur schlechte“, lacht Kevin.

„Ja, eure Tischmanieren sind miserabel“, fügt Sam hinzu und alle fallen ins Gelächter, jeder wahrscheinlich mit seiner ganz eigenen Erinnerung im Kopf.

„Ach übrigens“, lenkt mein Dad ein. „Toshiki-sensei hat angerufen um bescheid zu sagen, dass die Matheprüfung am Mittwoch um 15.30 Uhr stattfindet.“ Ein prüfender Blick. „Ich hoffe du warst fleißig?“

„Natürlich“, versichere ich. „Morgen lernen Kyo und ich noch ne Runde“, informiere ich ihn.

„Kannst du dich denn überhaupt konzentrieren mit dem vollen Haus?“

„Da war ich dir wieder mal einen Schritt voraus, Kevin und Sam unternehmen was mit einer Freundin von mir.“

„Na dann. Ich habe ihm übrigens auch gesagt, dass du diese Woche noch nicht in die Schule kommen wirst, außer zur Prüfung natürlich.“

„Danke Dad, das ist klasse.“

„Wenn du magst, kann ich dir Karten für das Baseballspiel am Donnerstag besorgen“, bietet er an.

„Ja, natürlich...“

„Wie viele brauchst du?“

„Äh... fünf, oder besser doch sechs“, gebe ich nach kurzer Überlegung, bei der ich besonders an Junko denken muss, preis.
 

~ * ~
 

Von Mittag bis zum frühen Abend hin sitzen Kyo und ich am Sonntag in meinem Zimmer und lernen für die Prüfung am Mittwoch. Nach der letzten Aufgabe sind wir mächtig stolz auf uns selbst und hoffen wenigstens mit einer knappen Punktzahl den Test bestehen zu können.

„Gott in deinen Schuhen möchte ich nicht stecken“, lässt er mich wissen, nachdem ich ihn in meine momentanen Gedankengänge eingeweiht habe.

„Es ist ja nicht so, dass es mich groß stört, wenn sie mich küsst und was soll ich denn jetzt auch so ein Drama daraus machen, immerhin ist sie doch eh bald wieder weg“, versuche ich mein Handeln zu entschuldigen. „Gut, wir haben uns früher nicht ununterbrochen geküsst, aber wir waren uns schon immer sehr nahe, wir alle drei... ich kann sie doch nicht einfach von mir schubsen, mit welcher Begründung denn? Dass einer meiner Freunde das gar nicht gerne sieht?“

Kyo prustet vor Lachen.

„Sehr witzig“, gebe ich zu verstehen, dass ich die Situation gar nicht zum Lachen finde.

„Also willst du jetzt definitiv aufs andere Ufer wechseln?“

Ein Blickkontakt, ein Schulterzucken.

„Na, was gibt es dann für ein Problem? Du kannst doch nicht jedes Mal auf ihn Rücksicht nehmen, wenn du was mit einem Mädchen anfangen willst. Wenn ihr nicht zusammen seid, kann dir doch eigentlich egal sein, was er denkt.“

„Ahhhhhhhh, du verstehst mich nicht.“

„Was versteh ich nicht?“

„Egal, ob so oder so... ich will ihm nicht weh tun. Ich will einen Freund einfach nicht verletzen. Gerade du solltest das doch am besten wissen.“

„Ja klar, und du hast mir nicht das Messer in den Rücken gerammt, als du mir erzähltest, dass du jetzt was mit dem Typen hast, der mir damals die Freundin geklaut hat.“

„Ich dachte...“

„Du dachtest was? Natürlich habe ich einen auf cool gemacht, aber im ersten Moment hätte ich dir schon an die Gurgel springen können.“

„Warum hast du nichts gesagt?“, frage ich ein wenig schuldig und enttäuscht zugleich nach.

„Ach hör auf, was hättest du denn damals getan, ihn fallen gelassen?“

„Ja“, gebe ich ohne Umschweife von mir.

Ein prüfender Blick.

„Im Ernst?“

„Ja.“
 

~ * ~
 

Nachdem Kevin, Sam und Sanae wieder aus der Stadt zurück gekommen sind und wir alle zusammen zu Abend gegessen haben, verabschieden sich Kyo und Sanae von uns. Wir verabreden uns für den morgigen Tag zur Karaoke.
 

„Gott, Mädchen sind wie Vamps, wenn es ums einkaufen geht.“

Kevin lässt sich müde aufs Bett fallen.

„Ich bin auch ziemlich gut geworden in dieser Disziplin“, versichere ich ihm.

„Wie können Klamotten nur so schwer sein.“

„Du tust mir echt leid“, gebe ich gespielt bemitleidend und fange ganz selbstverständlich an, ihm über den Rücken zu streichen.

„Fester und ein bisschen tiefer.“

Seinen Anweisungen folgend, setzte ich meinen Druck zwischen den Schulterblättern frei.

„Warte.“ Er streift sich das Shirt vom Körper und lässt es auf den Boden gleiten. Ich setzte meine Bemühungen, die richtigen Stellen zu treffen, bestimmt eine halbe Stunde lang fort.
 

In den weiteren zwei Stunden duellieren wir uns auf vielfältigste Weise auf der Playstation, bis auf einmal Sam im Zimmer steht und mich bittet, in zehn Minuten zu ihr rüber zu kommen.

„Was war das?“, frage ich perplex zur wieder geschlossenen Tür starrend.

„Keine Ahnung“, zuckt Kevin mit den Schultern und die folgenden vier Kämpfe gewinne ich.

„Wenn ich in zehn Minuten nicht wieder zurück bin, schick das Suchkommando los“, zwinkere ich ihm zu, bevor ich mein Zimmer verlasse und durch die Tür des gegenüberliegenden Gästezimmers schreite.

Sie steht mitten im Raum, mit einem Kimono bekleidet und lächelt mich an.

„Was gibt’s?“, frage ich ein wenig irritiert von ihrer Aufmachung.

„Komm her.“

Ich trete näher und mit dem letzten Schritt in ihre Richtung, gleitet der Kimono an ihrem Körper hinab. Ich folge seinem Weg hinunter und nur langsam bewegen sich meine Augen wieder nach oben. Ich bleibe an Spitze, edlem Stoff und an weichen Rundungen hängen, und als meine Augen nach einer schieren Ewigkeit wieder auf ihre treffen, berühren ihre Finger meine nackte Brust.

„Äh... schönen Kimono hast du da... vielleicht... solltest du ihn wieder anziehen.“ Ich will ihn vom Boden aufheben, doch hält sie mich auf, zieht mich wieder hoch.

„Gefällt dir denn nicht, was du siehst?“ Eine ruhige, betörende Stimmlage trifft auf meine Ohren.

„Ich... äähhmm...“ Mit aller Kraft versuche ich nicht wieder an ihrem Körper hinunter zu schauen, fixiere ihre Blick, aber auch hier fällt es nicht gerade leicht hineinzuschauen, sieht er doch so ganz anders aus als sonst.

„Du wirst dich noch erkälten“, kommt es plump von meiner Seite.

„Sei ruhig“, kommt es befehlend zurück.

Ich stoße gegen das Bett, keine Ahnung, wann sich mein Körper in Bewegung gesetzt hat, keine Ahnung, wie ich gerade hier her gekommen bin. Ich werde bestimmt hinunter gedrückt. Warum verdammt noch mal habe ich eigentlich nichts weiter als eine Jogginghose an?

„Ich sollte wirklich wieder rüber... Kevin wartet mit dem Spiel auf mich“, versuche ich mich aus meiner beklemmenden Lage zu befreien. Hat sie wirklich das vor, was ich denke?

Ich werde weiter hinuntergedrückt, schließlich geben die Kissen mir halt und einen Bruchteil lang spüre ich ihre Lippen, ihre Hände streifen leicht über meinen Hals hinweg und ihr Körper bewegt sich über mir.

Ihre Zunge wandert, während sie ihrem Becken immer wieder dem Befehl gibt, über dem meinen zu kreisen, und obwohl ich es gar nicht will, mir nicht vorstellen kann, wie es zustande kommt, nehme ich die Reaktion auf ihr Tun mit Schrecken wahr.

„Hör auf“, kommt es viel leiser als eigentlich gewollt über meine Lippen.

Weitere Bewegungen und mein Körper ist bereit sich dem hinzugeben, es geschehen zu lassen... doch mein Verstand sträubt sich dagegen, will dem ein Ende bereiten...

„Ich... kann nicht...“, ziehe ich mit dem Gesprochenen scharf die Luft ein. Kann sie mich nicht hören oder will sie nicht verstehen... ihre Hand wandert weiter abwärts, setzt an meinem Hosenbund an, der schnell überwunden ist... Eine Geste, die mich innerlich brennen lässt...

Ich greife nach ihrem Arm, ziehe ihre Hand wieder aus meiner Hose heraus und alles stoppt. Für einen Moment dreht sich alles in mir, mein Atem geht schwer, mein Puls ist beschleunigt.

„Was ist los mit dir?“

Meine Hand umschließt immer noch ihren Arm.

„Nichts... ich... ich kann das nur einfach nicht“, stottere ich leicht.

„Warum nicht?“ Abermals küsst sie mich.

„Lass das doch“, drücke ich sie von mir. „Es geht nicht.“

Sie schaut mich erschrocken an.

„Gefällt es dir nicht?“ Sie deutet auf ihren Körper

„Das ist es nicht, du siehst wirklich klasse aus“, versichere ich ihr, halte mich zurück abermals mit Blicken über ihren fraulich gestylten Körper zu gleiten, setzte mich stattdessen auf.

„Was dann? Liebst du mich nicht mehr?“, kommt es unverstehend.

„Natürlich liebe ich dich... aber seit damals, hat sich nichts geändert“, erkläre ich.

„Also...“ Sie bricht ab, ihre Augen füllen sich mit Tränen.

„Hey, nicht weinen.“

Ich wickele sie in die Bettdecke und drücke sie an mich. „Es tut mir leid, aber ich kann nichts daran ändern, ich liebe dich eben nur wie eine Schwester... und... es wäre falsch, wenn wir... miteinander schlafen würden.“

Sie drückt sich an mich, krallt sich leicht in meine Haut.

„Ich hasse dich“, kommt es unter Tränen.

„Ich werd’s überleben.“

Ich bleibe bei ihr, bis sie eingeschlafen ist.

Während wir zusammen auf dem Bett liegen, ich sie in den Armen halte, lässt mich die Frage nicht los: Warum habe ich nicht mir ihr geschlafen?

Täglich schlafen Tausende miteinander, ohne dass sie in irgendeiner Form Liebe füreinander empfinden, manche kennen sich nicht einmal und trotzdem tun sie es... Ist Liebe denn wirklich von Nöten für eine sexuelle Beziehung, ist sie für mich selber von Nöten?

Oder hat das gar nichts damit zu tun, dass ich es nicht wollte, dass ich sie abgewiesen habe?

Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich noch nicht wirklich bereit dazu, jemanden so nah an mich heran zu lassen, mich auf diese Weise mit jemanden zu teilen.

Sex war für mich bis jetzt nicht wichtig, nie habe ich mir darüber Gedanken gemacht... Aber ist das auch die ganze Wahrheit, oder bin ich durch diesen ganzen Schwulseinscheiß schon so geblendet, dass mir ihre Berührungen unangenehm sind? Sind sie das denn?

Warum verdammt noch mal kann ich mir selbst auf so eine einfache Frage keine Antwort geben? Doch eine kleine Erleuchtung habe ich erhalten, denn langsam verstehe ich, dass ich etwas ändern sollte, wenn ich den Personen, die mir wichtig sind, nicht wehtun möchte.
 

In meinem Zimmer schlüpfe ich ohne große Erklärungen in meine Sachen.

„Was soll das werden, wenn es fertig ist?“

„Ich muss ein wenig raus.“

„Was ist passiert?“

„Nichts weiter.“

„Soll ich mitkommen?“

„Nein, schon gut, ich muss einfach nur mal raus.“

Ich lasse Kevin blöd schauend auf dem Bett sitzend zurück.

Obwohl ich es mir selber nicht wirklich eingestehen will, wissen meine Füße ganz genau, wohin sie mich zu tragen haben, und so bleibe ich einige Zeit später wieder einmal vor dem hässlichen Häuserblock stehen.

Spät ist es mittlerweile geworden, und kurz frage ich mich, ob ich es wirklich wagen soll, noch bei ihm zu klingen. Aber was wäre die andere Option? Mit ihm in vorgespielter Fröhlichkeit Karaoke singen gehen und immer darauf bedacht, nur nichts zu tun, was ihn verletzten könnte?

Für wen bin ich eigentlich bereit, dass jetzt zu tun? Für ihn oder für mich? Will ich unangenehmen Situationen aus dem Weg gehen oder ihn wirklich vor Leid schützen? Ich denke ein wenig von beidem.

Es wird besser sein, wenn er und Sam nichts mehr miteinander zu tun haben, hat er mir doch schon deutlich gezeigt, dass er nicht damit zurecht kommt, ihre Annäherungen mit ansehen zu müssen... es wird besser sein... für ihn und für mich...

Ich möchte die Zeit doch noch genießen können, in der die Beiden hier sind, und nicht immer Angst davor haben, dass ihn irgendeine Handlung von Sam verletzt. Es sind doch nur noch fünf Tage...
 

Irritiert steht er wenige Minuten später vor mir.

„Hey, was...“

„Sorry, ich hab deine Nummer nicht, sonst hätte ich angerufen...“, unterbreche ich ihn.

„Das macht doch nichts!“ Er kommt auf mich zu, und mit jedem Schritt wünsche ich mir mehr, dass er endlich stehen bleibt. „Wieso... bist du hier?“

Ich werde nervös, schaffe es nicht ihn anzusehen. Wie soll man sich erklären, ohne sich wirklich erklären zu müssen?

„Ich wollte dich sehen und ich wollte dir sagen, dass wir uns erst mal nicht sehen sollten...“

„Was?“, fragt er, scheint nicht weniger von dieser Aussage verwirrt zu sein, wie ich selber.

„Ich weiß, es ist wirklich verrückt beides in einem Satz zu sagen... aber das ist genau das, was ich im Moment fühle. Ich kann dir da jetzt auch nichts groß erklären... wir sollten uns einfach nicht mehr treffen im Moment... das ist besser so...“, hoffe ich damit genüg gesagt zu haben.

„Für wen?“, gibt er nicht so schnell auf, wie ich gehofft habe.

„Für uns beide...“

„Ach ja? Bist du dir da sicher? Ist es nicht nur besser für dich? Erst sagst du mir, wir sollen von vorne anfangen, und dann, wenn es kompliziert wird, läufst du weg!“ Er schreit mich an und obwohl ich die aufkommenden Tränen gut erkennen kann, fühle ich gerade kein Mitleid, eher fühle ich mich angegriffen durch seine Worte.

„Von vorne anfangen? Der Witz ist gut, ich kann mich nicht erinnern, gesagt zu haben, dass ich SO von...“ Aus Angst zu weit zu gehen, breche ich ab. „Ich wollte nur... Kida, das..“

„Ach, hör doch auf!“, unterbricht er mich wütend, ballt die Hände zu Fäusten. Warum reagiert er jetzt so verdammt hart? Habe ich wirklich so etwas Schlimmes mit meiner Bitte geäußert?

„Es war lustig, nicht wahr? Hast du dich mit den anderen über mich kaputt gelacht?“

Wie geplättet stehe ich da... Bitte? Was geht jetzt ab, was läuft hier verdammt noch mal schief?

„Das stimmt nicht!“, verteidige ich mich.

„Nein? Da habt ihr aber was verpasst! Über nen Schwulen kaputtlachen! Mach ruhig weiter so, es kratzt mich nicht!“

Er dreht sich um, geht zurück ins Gebäude.

Vielleicht hätte ich es ihm doch erklären sollen, ihm sagen, warum ich mich für diesen Schritt entschlossen habe, versuchen die Tränen in seinem Gesicht zu trocknen, doch hat seine gerade ausgesprochene Meinung über mich mir das Gefühl gegeben, als hätte ich zum ersten Mal klar gesehen, er mir zum ersten Mal gezeigt, was er wirklich von mir denkt...
 

Eine Stunde später komme ich wieder zu Hause an.

Erst habe ich einfach nur weiterhin vor dem großen Häuserblock gestanden und mich immer wieder gefragt, wie ich mich nur so in ihm irren konnte. Ich meine, immerhin muss es doch einen Grund geben, warum ihn so viele Leute nicht leiden können, hat er ihn mir heute Abend endlich gezeigt?

Immer noch total durch den Wind, verpasste ich die letzte Bahn und musste darüber hinaus auch noch feststellen, dass ich mein Geld zu Hause vergessen hatte, also auch kein Taxi.

Als ich die Auffahrt betrete, erhebt sich die Gestalt vor mir vom Treppenabsatz.

„Du kommst spät.“

„Es hat dich keiner gezwungen zu warten“, gebe ich patzig zurück und sofort bereue ich dies.

„Ich denke nicht, dass ich in irgendeiner Weise verantwortlich für deine schlechte Laune bin, also zügle dich in deiner Wortwahl.“

Ich bin wie erstarrt.

„Bin ich ein schlechter Mensch?“, frage ich schließlich nach, obwohl ich mich eigentlich für das Gesagte entschuldigen will.

„Geht’s dir noch gut?“, trifft mich seine Gegenfrage, mehr als fassungslos schaut er mich an.

„Nein“, schluchze ich in die gerade hervortretende Traurigkeit hinein.

„Nun sag schon, was los ist“, verlangt er, nähert sich mir und zieht mich in seine Arme.

„Ich will... will... nicht mehr“, schluchze ich erneut auf.

„Was willst du nicht mehr?“, forscht er nach, drückt mich leicht weg, um mir in die Augen sehen zu können, doch lasse ich dies nicht zu, drücke mein Gesicht wieder gegen seine Schulter.

„Nicht mehr lügen, nichts mehr verheimlichen, mich nicht mehr verstellen müssen, nicht mehr...“

Ich schüttele meinen Kopf energisch hin und her während ich spreche, bis ich durch eine feste Umklammerung gestoppt werde. Seine Hände um mein Gesicht drücken mich nach hinten, seine Stirn legt sich gegen meine, sein Blick ist fest.

„Keiner zwingt dich dazu“, kommt es behutsam, was meine Augen nur noch mehr mit Tränen füllt. Er wischt sie weg, wieder und wieder, gibt mir wie auch früher das Gefühl, dass alles wieder in Ordnung kommt.

„Du bist kleiner geworden“, lässt er mich plötzlich wissen, immer noch Stirn an Stirn mit mir vor dem Haus stehend. Ein verkniffenes Lächeln meinerseits.

„Stimmt gar nicht“, protestiere ich beleidigt.

„Lass uns nach oben gehen.“ Er schiebt mich vorwärts, die Treppe hinauf, bis in mein Zimmer. Geduldig wartet er ab.

„Es tut mir leid.“

„Was tut dir leid?“, erkundigt er sich.

„Das ich dich belogen habe, dass ich nicht ehrlich zu dir war, obwohl wir uns geschworen haben, uns immer alles zu sagen.“

„Vielleicht solltest du mit erst einmal sagen, um was es hier eigentlich geht.“

„Ich... das kann ich nicht.“

„Wieso nicht?“

„Weil... das ist einfach zu peinlich“, versuche ich mich rauszureden.

„Zu peinlich?“, fragt er verdutzt nach. „Peinlich war, als du mich damals erwischt hast, als ich mir einen runtergeholt habe. Kann noch was peinlicher sein?“

„Nein“, lache ich auf. „Dann sagen wir... es fällt mir unheimlich schwer“, werde ich schnell wieder ernst.

„Pass auf, Sakuya. Sag es oder lass es, zwingen kann ich dich eh nicht... aber vielleicht hilft es dir ja, wenn ich dir sage, dass ich es schon weiß.“

„Ja klar, mit dem Trick hast du Aaron oft genug was aus der Nase gezogen, aber das klappt doch nicht bei...“

„Nein, wirklich“, stoppt er mich. „Glaub mir, ich weiß es.“

Fragend schaue ich ihn an, versuche abzuschätzen, ob er mich jetzt auf den Arm nimmt oder nicht. Aber woher sollte er es wissen?

„Und was denkst du zu wissen?“, versuche ich ihn aus der Reserve zu locken.

„Ne ne, so einfach mach ich es dir nicht Sakuya. Ich sagte dir, dass ich es weiß und das ist auch die Wahrheit, aber trotzdem möchte ich es von dir selber hören.“

„Du weißt es wirklich?“, vergewissere ich mich.

„Ja.“

„Ich denke, ich bin schwul“, eröffne ich ihm nun ohne weitere Umschweife.

Ein kurzer Moment als würde die Zeit stehen bleiben, als könnte man jedes Staubkörnchen in der Luft wahrnehmen.

„Ok, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet“, eröffnet er mir.

„Was?“

„Nur ein Scherz“, grinst er. „Wirklich, nur ein Scherz.“

Es fällt mir schwer ebenfalls zu lächeln und auch er hört schnell wieder auf.

„Und, was sagst du?“, will ich wissen.

„Was soll ich sagen?“

„Na, was du denkst?“

„Worüber?“

„Über DAS.“

„Ich habe nicht das Recht mir irgendeine Meinung dazu zu bilden.“

„Wenn nicht du, wer sonst?“

Ein Blick und ein Lächeln, das nicht wirklich auf sein Gesicht zu gehören scheint, eine Bewegung. Er lässt sich einfach auf das Bett fallen, dreht sich zur anderen Seite, und während er dies tut, fängt er an zu lachen, was mich mehr aus der Fassung bringt als alle anderen Reaktionen, mit denen ich gerechnet habe.

„Was ist, glaubst du mir nicht?“ Ich spüre Wut in mir aufkeimen, endlich habe ich es geschafft ihm davon zu erzählen und er lacht mich aus. Ist die Vorstellung, dass ich schwul bin, denn wirklich so abwegig?

„KEVIN!“

Mit heftigem Schwung drehe ich ihn zu mir um, das Lachen verklingt sofort, seine Augen blicken direkt zu mir auf. Was will ich ihm jetzt eigentlich sagen? Was denkt er jetzt eigentlich von mir?

„Es ist in Ordnung. Wirklich, ich habe kein Problem damit“, versichert er mir mit einem beruhigenden Blickkontakt.

Er dreht sich weg, setzt sich auf.

„Wirklich?“

„Ja, ist es.“

Und dann ist es still, eine ganze Weile lang. Keine Fragen, keine Antworten, nicht der geringste Laut ist zu hören, bis er sich dazu entschließt, sich von seinen Klamotten zu befreien. Doch statt dem Bad einen Besuch abzustatten, wie ich angenommen habe, rollt er sich vom Bett und bleibt anschließend wie angewurzelt auf dem Boden liegen.

„Wo willst du hin?“, frage ich beunruhigt.

„Nirgends... ich bin genau da, wo ich sein möchte.“

„Auf dem Boden?“

Ich krabble über das Bett hinweg auf die Kante zu, schaue vorsichtig über den Bettenrand und blicke neugierig auf die am Boden liegende Person hinab.

„Wie hat das eigentlich angefangen?“

„Du meinst...“

Ein Nicken.

Ich spüre die zunehmende Hitze in meinem Gesicht und drehe mich auf den Rücken damit er sie nicht bemerkt, lasse meinen Hinterkopf leicht über den Bettenrand ragen. Irgendein Gegenstand spiegelt sich an der Decke wieder, zieht mich für einen kurzen Moment in seinen Bann.

Als er abermals nachfragt, erzähle ich ihm von mir und Kida.

Ich versuche ihm zu erklären, dass ich mir eigentlich über nichts wirklich sicher bin, nicht wirklich weiß, was in mir vorgeht und zum Schluss vom heutigen Abend, der mir irgendwie noch mehr das Gefühl gibt, dass all dies bis jetzt einfach nur falsch war. Er hört mir zu ohne mich auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen.

Als ich ende, ein fester Griff an meinem Arm, ich lehne mich dem Gewicht entgegen, als er sich zu mir hochzieht, und schaue in blauen Augen, die von Nahem so ganz anders ausschauen. Er setzt sich zu mir aufs Bett.

„Ehrlich gesagt, kann ich dir da nicht viel raten, du musst schon selber rausfinden, was du willst. Aber ich denke, dass du ihn heute ganz schön vor dem Kopf gestoßen hast. Das heißt aber nicht, dass es in Ordnung war, was er zu dir gesagt hat... Dazu kommt noch, dass du von Natur aus schon immer ein sehr sensibler, freundlicher Mensch warst. Ich kann nicht wirklich einschätzen, ob du eine Freundschaft zu ihm haben möchtest oder ob da wirklich mehr von deiner Seite aus ist. Dir hat es schon immer schwer zu schaffen gemacht, wenn du dachtest du könntest jemanden verletzen... vielleicht versuchst du nur zu sehr, es anderen Recht zu machen. Du solltest mehr auf dich selber hören.“

„Und wie?“

„Ich würde sagen, versuch doch einfach in den nächsten Tagen nicht an ihn zu denken, versuch schlichtweg ihn zu vergessen. Wenn es dir gelingt, dann kann da nicht viel an Liebe sein, wenn nicht... dann solltest du dem vielleicht eine Chance geben und versuchen dich mit ihm auszusprechen.“

„Und wenn er mir nicht zuhören will?“, frage ich besorgt.

„Dann ist er es sowieso nicht wert.“

Wieder muss ich an unser heutiges Treffen denken. Ist er es vielleicht wirklich nicht wert, sollte ich endlich damit anfangen, ihn vergessen zu wollen? Ich habe nichts getan womit ich seine ungerechte Behandlung, seine aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen verdient hätte.

„Vielleicht bist du ja auch gar nicht schwul“, wirft Kevin in den Raum. „Vielleicht hast du dich ja auch nur in diese eine Person verliebt.“

„Aber kommt das nicht aufs selbe raus?“, frage ich nach kurzer Überlegung.

Ein Schulterzucken.

„Die Zeit wird die Antworten schon bringen, auf all deine Fragen“, fügt er hinzu.

„Das hoffe ich“, klinge ich nicht wirklich davon überzeugt.

„Ich bin müde.“ Ein Blick auf die Uhr. „Lass uns pennen.“

Sofort schlägt sich ein unangenehmes Gefühl in mir nieder, wie weit geht sein nicht vorhandenes Problem, dass ich vielleicht schwul sein könnte?

Es ist das eine, es zu sagen, aber etwas ganz anderes, in ein und demselben Bett zu schlafen.

Ich schaue in das Gesicht der Person neben mir. Als würde er schon seelenruhig schlafen, liegt er da, ein Anblick, den ich schon mein ganzes Leben lang kenne.

„Möchtest du vielleicht lieber woanders schlafen?“

Seine Augen öffnen sich wieder. Er schaut, registriert die Nervosität in meinem Blick.

„Denkst du, ich habe jetzt Angst dich zu berühren?“ Mit seinen Worten, zieht er mich zu sich heran, bettet meinen Kopf auf seiner Brust und fängt an mich leicht im Nacken zu kraulen.

„Du hattest Recht... dafür sind wir nie zu alt.“
 

~ * ~
 

Den Montagvormittag verbringen Kevin und ich damit, meinen angekommenen Computer aufzubauen.

Ich verstehe von dem ganzen Zeugs eigentlich so gut wie nichts, doch bei Kevin scheint, wie in Routine, ein Griff dem anderen zu folgen.

Zwei Stunden später ist der PC, abgesehen von der Internetleitung, die erst morgen verlegt wird, einsatzbereit.
 

Sams Verhalten hat sich wieder normalisiert, man könnte denken, es wäre überhaupt nichts geschehen.
 

Am Abend gehen wir dann mit Kyo und Sanae zur Karaoke.

Obwohl das männliche Team einen Spieler mehr hat, sind uns die Mädchen haushoch überlegen.

Den Spaßfaktor, Kevin beim Singen von „Vestige“ von T.M.Revolution und Sam „Shine we Are“ von BoA trällern zu hören, lässt es mir persönlich nicht gerade schwer fallen, nicht an Kida zu denken.
 

~ * ~
 

Der Dienstag fährt ganz die kulturelle Schiene, wir besuchen zwei Museen. Bevorzugt werden dabei alte Geschichte und wichtige Ausgrabungen.

Während Kevin fast ein Gigabyte an digitalen Fotos verschießt, schaffen es Sam und ich nicht, einem Gegenstand mehr als zehn Sekunden Aufmerksamkeit zu schenken.

An diesem Tag, werde ich von Erlebtem in punkto Kida nur so heimgesucht. Immer wieder gehen mir Sätze, die er gesagt hat, Dinge, die er getan hat, durch den Kopf.

Meine Wut auf ihn hat mittlerweile nachgelassen, trotzdem gibt es vieles, was ich ihm gerne einmal sagen würde...
 

~ * ~
 

Am Mittwochmorgen schaue ich ein letztes Mal in mein Mathebuch, doch habe ich mit jeder Minute mehr das Gefühl, alles zu vergessen und so schließe ich es wieder.
 

Um 15.00 Uhr betrete ich zusammen mit Kevin und Sam die Schule. Sanae hat angeboten nach dem Unterricht bei ihnen zu bleiben, und ich wollte, dass Kevin einmal sieht, was die Japaner in Baseball so zu bieten haben.

„Ich komme mir irgendwie beobachtet vor.“ Sam drückt sich ein wenig näher an mich heran.

„Du liebst es doch, im Rampenlicht zu stehen.“ Kevin gibt ihr einen leichten Schubs, woraufhin sie ein, zwei Schritte weiter nach vorne geht.

„Warte erst einmal, bis gleich Schulschluss ist, da wird es erst richtig voll hier“, verkünde ich lächelnd.

Ein paar Minuten später ist es dann auch schon so weit und wir werden von interessierten Blicken nur so bombardiert. Sanae trifft sich mit uns an der vereinbarten Stelle und so halte ich suchend nach jemanden von der Mannschaft Ausschau, bis ich auf Masaki treffe.

Ich bitte ihn darum, meinen Besuch mit zum Spielfeld zu nehmen und ihnen eine kleine Kostprobe von ihrem Können zu geben.

„Das ist toll...“, will ich mich gerade bei ihm bedanken, als ich stocke und mein Blick an der Person hängen bleibt, die sich in Richtung Clubhäuser bewegt.

„Also, bis später“, wende ich mich noch einmal kurz an ihn und lasse Sam, Sanae und Kevin mit ihm gehen. Ich warte nicht lange, bis ich mich ebenfalls in Bewegung setze, und kann Kida gerade noch erkennen, wie er das Gebäude betreten will.

„Warte“, rufe ich und nicht nur er schaut sich zu mir um. „Können wir kurz reden?“, frage ich ein wenig unsicher.

„Ich denke nicht...“ Er dreht sich weg. „...dass es da irgendwas gibt, was wir zu bereden hätten.“ Er greift abermals nach der Türklinke und gleichzeitig bewegt sich meine Hand in seine Richtung, doch halte ich mich Millimeter vor seinem Arm selber auf, nach ihm zu greifen.

„Bitte“, kommt es stattdessen.

Er dreht sich um, packt nach meinem Arm und zieht mich nicht gerade unsanft ein Stück zur Seite. Ein Junge kommt an uns vorbei, schaut uns fragend an.

„Was verdammt noch mal willst du von mir?“, fragt er in einer Stimmlage, die ich bis jetzt nicht von ihm kannte.

„Reden“, gebe ich schnell preis. „Lass uns endlich einmal wirklich reden, oder hör dir wenigstens an, was ich zu sagen habe.“

Kurz ist es still, sein Gesichtsausdruck zeigt Unschlüssigkeit, und als ich gerade noch etwas sagen will, um ihn in seine Entscheidung zu beeinflussen, erklingt die Schulglocke.

„Ich muss gehen...“, kommt es eilig von mir. „...ich darf zur Prüfung nicht zu spät kommen. Also?“

„Ich denke nicht, dass...“ Sein Gesichtsausdruck wandelt sich wieder ins Negative.

„Pass auf, ich werde am Samstag um 15.00 Uhr genau da auf dich warten.“ Mein Finger geht in Richtung Baseballfeld, sein Blick folgt ihm. „Komm oder...“ Ich stocke, lasse mich noch einmal auf einen kurzen Blickkontakt ein. „...bye.“
 

Die Prüfung läuft meiner Meinung nach ganz gut... na ja, wenn das, was ich da hin gekritzelt habe, auch wirklich der Wahrheit entsprechen würde.

Am Spielfeld werde ich freudig überrascht, da ich Kevin nicht auf der Zuschauertribüne, sondern mitten im Spiel vorfinde. Ich setze mich zu Sam und Sanae, die irgendwas aus Wolle entstehen lassen.

„Er spielt schon die ganze Zeit“, informiert mich Sam.

Ich schaue zum Spiel hinüber, es ist toll ihm einfach nur mal wieder zusehen zu können, er ist ein klasse Pitcher.

„Bist du vorhin Kida hinterher gelaufen?“

Ihre Frage erschreckt mich kurz, Sanae schaut mich an.

„Ja, ich wollte mir ihm reden.“

„Ich... ähm, was hat er denn gesagt?“ Die Röte in ihrem Gesicht und das plötzliche Interesse kann ich nicht deuten.

„Nicht viel... wieso fragst du?“, hake ich nach.

„Ach, nur... weil...“

„Gott, war das klasse“, werden wir unverhofft unterbrochen. „Hätte gar nicht gedacht, dass die so gut sind.“

„Ja“, gebe ich nur kurz bestätigend in Kevins Richtung, wende mich dann wieder Sanae zu, die allerdings den Blickkontakt schon wieder mit Sam teilt und über irgendwas am Lächeln ist...
 

~ * ~
 

Am Donnerstag ist Baseball angesagt, zu fünft betreten wir das Stadion, die Plätze sind spitzenklasse.

Eigentlich ist es ein toller Tag, bis Sanae sich mitten im Spiel zu mir hinüber beugt.

„Ich denke, ich muss dir da was sagen“, erweckt sie meine Neugierde.

„Was denn?“

„Ich habe es Kida erzählt“, beichtet sie.

„Was hast du Kida erzählt?“, frage ich verunsichert nach.

„Das mit Sam.“

„Das mit Sam?“

„Ja, und es tut mir auch leid, aber Kida ist mein bester Freund und ich...“

„Warte mal“, unterbreche ich sie. „Was hast du ihm denn erzählt?“

Sie wird rot als ich sie so direkt anschaue, das Weitersprechen fällt ihr Zusehens schwer.

„Dass ihr... na, du weißt schon.“

„Dass wir... was?“ Ich ahne Schlimmes, will es aber irgendwie noch nicht so recht glauben.

„Muss ich es wirklich sagen?“

„Ja verdammt“, schreie ich sie schon beinahe an, Kevins Blick trifft mich.

„Sag es mir“, bitte ich leiser.

Sie erzählt und ich bitte sie, es noch einmal in der genauen Wortwahl zu wiederholen. Eigentlich hat sie nicht einmal etwas Unwahres gesagt, denn irgendwie wäre es ja auch beinahe passiert... Trotzdem hört es sich so ganz anders an, als das, was wirklich war.

„Und wann war das?“

„Am Dienstag. Bist du jetzt sauer auf mich?“

„Nein“, beruhige ich sie, bevor meine Gedanken wieder woanders hingehen. Also wusste er es gestern schon, als ich mit ihm gesprochen hat, kein Wunder, dass er so abweisend reagiert hat.

Doch bin ich deswegen eh nicht sauer auf ihn. Das mit Sam hat absolut nichts mit der Sache vom Sonntag zu tun, damit, dass er so negativ reagiert hat...
 

~ * ~
 

Der Freitag ist der stillste Tag dieser Zeit. Sam ist mit meiner Mom mitgegangen, mein Dad ist ebenfalls bei der Arbeit und Kevin und ich sitzen die meiste Zeit im Garten. Komisch, dass morgen wieder alles vorbei sein soll, dass sie einfach wieder weg sein werden.

Die zwei Jahre ohne Kevin sind in diesen dreieinhalb Wochen fast schon wie vergessen, und wieder habe ich das Gefühl, dass mir etwas sehr wichtiges einfach so genommen wird.

Davon mal ganz abgesehen, gibt es so viele Dinge, die ich immer noch nicht gefragt hatte: Wie viele Freundinnen er in den zwei Jahren hatte. Wie es bei ihm in der Schule lief. Ob es schwer war, den Führerschein zu bekommen. Ob es in seinem Leben neue Wünsche und Träume gibt, von denen ich noch nichts weiß.

Bestimmt drei Dutzend Fragen fallen mir ohne groß überlegen zu müssen ein, doch stelle ich keine einzige von ihnen. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, gerade bereit bin, ihn irgendwas zu fragen, habe ich nur noch das Verlangen, ihn in den Arm zu nehmen und festzuhalten, aber auch dies tue ich nicht. Nicht, dass er es nicht zugelassen hätte, oder dass ich mich irgendwie komisch dabei fühlen würde... nein, ich will nur nicht wieder so viel Schwäche preisgeben, obwohl ich mir eigentlich ziemlich sicher bin, dass er genau weiß, wie es in mir aussieht.

Wenn ich so richtig drüber nachdenke, ist es vielleicht dieser innigen Freundschaft zu verdanken, dass ich kein Problem damit habe, Jungs zu küssen. Hat mich dieses vertraute Verhältnis vielleicht wirklich offener für so etwas gemacht?

„An was denkst du schon wieder?“

Ich schaue von der Tastatur auf, lasse den Stuhl sich drehen.

„Dies und das... was liest du?“

Er hebt das Buch in die Höhe.

„Neu-Griechisch?“

„Ja, ziemlich interessant die Sprache.“

„Was ist mit Latein und Französisch?“

„Schon durch.“

„Gut, da weiß ich ja, wem ich meine Französischhausaufgaben mailen kann.“ Ich wende mich wieder dem PC zu, nicht wirklich wissend, was ich vorhabe damit zu tun.

Das Interesse für Sprachen hat er schon ziemlich früh entdeckt. Mit Elf aus Versehen ein französisches Buch aus der Bücherei ausgeliehen, gab dem Ganzen einen Anfang.

Danach verliebte er sich in Latein. Jede freie Minute sah man ihn mit irgendeinem Fremdsprachenbuch sitzen, beim Baseballtraining murmelte er Vokabeln vor sich hin, und den ein oder anderen Abend, schenkte er seine Aufmerksamkeit mehr dem MP3-Player als der Playstation.

Als wir in die Junior High kamen, hatte er den Großteil Französisch schon drauf, belegte einen Fortgeschrittenenkurs darin und einen Lateinkurs.

„Lass uns irgendwas machen.“

„Und was?“

„Es ist unser letzten Tag, lass uns das machen, was uns am meisten Spaß macht.“

Wir ziehen uns um, bepacken uns mit Schläger, Handschuh und Ball und finden uns zwanzig Minuten später auf dem Baseballfeld der Schule wieder, wo wir uns bis in die frühe Nacht hinein verausgaben...

„Ich will nicht, dass du gehst“, bin ich es diesmal, der dies ausspricht, starre dabei hoch zu den Sternen, damit sich unsere Blicke nicht treffen können.

Er dreht sich leicht auf die Seite und ich kann hören, wie er immer wieder an einigen Grashalmen zupft.

„Was ist, wenn ich dich brauche?“, bin ich immer noch der Einzige, der das Wort ergreift. „Was ist, wenn es mir mal nicht reicht, mit dir zu telefonieren oder dir ne Mail zu schreiben? Was wenn...“

Ich stoppe, als ich den festen Druck gegen meine Hand spüre.

„Dann sag es mir, und ich werde mich ins Flugzeug setzen und zu dir kommen.“

„Versprochen?“

Ich versuche in seinem Blick die Ehrlichkeit seiner Aussage festzustellen.

„Ich verspreche es dir.“

Der Druck gegen meine Hand wird fester...
 

~ * ~
 

Der Samstag verlief besser für mich, als ich geglaubt hatte. Natürlich war es ein komisches Gefühl sie wieder gehen zu sehen, zu wissen, dass sie eine ganze Weile nicht so dicht an meiner Seite stehen würden, wie ich es mir wünschen würde, doch verspürte ich kein bisschen Angst oder Unsicherheit aufgrund unseres Abschiedes. Ich wusste, dass ich niemals wirklich alleine sein würde... jetzt wusste ich es.
 

In der Früh tauchte Sanae bei uns auf und begleitete uns zum Flughafen. In der ersten Zeit versuchte sie stark zu sein, doch so näher der Zeitpunkt des Eincheckens kam, umso nervöser wurde sie. Gegen Ende weinte sie sogar... es tat weh, sie so zu sehen, vielleicht erinnerte mich das Bild aber auch nur an etwas Vergangenes.
 

Den ganzen Weg nach Hause halte ich Sanae im Arm. Ich schweige, während sie sich einige Gedanken durch den Kopf gehen lässt und diese auch ohne Umschweife mitteilt:

„Zu Hause wartet doch bestimmt schon eine Andere auf ihn, so toll wie er ist.“

„Glaubst du, dass er mir schreibt?“

„Denkst du, wir werden sie mal wieder sehen?“

Ich schweige weiterhin.

Ich kann ihr nicht sagen, ob er schreiben wird, kann ihr nicht versprechen, ob sie ihn jemals wiedersehen wird, doch ihre Fragen brechen das in mir auf, was ich bis jetzt nicht verspürt habe, und lassen mich trotz all meiner Vorsätze nun doch wieder traurig sein.

Ihre weiteren Worte lasse ich nicht mal mehr in mich vordringen, ich drücke sie einfach nur noch ein wenig näher an mich heran, würde am liebsten irgendetwas tun, nur damit sie endlich aufhört von ihm zu reden...
 

Zu Hause angekommen, fällt mein Blick zum ersten Mal wieder auf die Uhr, 13.38 Uhr.

„Scheiße, schon so spät“, rutscht es mir raus. Die letzten Stunden habe ich nicht einmal an Kida gedacht und nun muss ich mich ihm gegenüberstellen.

„Was ist?“, ertönt es von der Seite.

„Ach nichts, ich muss nur noch wohin“, erkläre ich Sanae und aus Gründen, die ich selber nicht wirklich verstehe, sage ich ihr nicht, dass ich mich mit ihrem besten Freund treffe.

„Na, ich werd dann mal.“ Ein schiefes Lächeln.

Ich kann nicht anders und nehme sie noch einmal in den Arm.

„Glaub mir, der Richtige wird schon noch kommen“, versuche ich zu trösten.

„Er fühlte sich aber so verdammt richtig an“, kommt es traurig zurück.

Ob sie wieder anfängt zu weinen, kann ich nicht wirklich sagen, aber einige Minuten später, als sie sich wieder von mir entfernt, sind ihre Augen mehr gerötet als zuvor.

„Wir sehen uns“, winkt sie mir zu, läuft die Auffahrt hinunter, die Straße hinauf.

Kurz bleibe ich wie angewurzelt stehen, bis mein Blick abermals auf die Uhr fällt, 13.52 Uhr.

Ich stürze ins Haus hinein, entledige mich schon auf der Treppe nach oben meiner halben Kleidung und komme splitterfasernackt vor der Dusche an. Ich brause mich kurz ab, lasse es zu, dass meine Haare durchnässt werden, bei dem warmen Wetter, das momentan noch herrscht, sollte ihr Trocknen kein Problem darstellen.

Vor dem Kleiderschrank verfalle ich in eine mir unbekannte Unsicherheit: Was soll ich anziehen?

Ich krame einige Minuten herum, bis mein Wecker mich nach einem khakifarbigen Shirt greifen lässt. Ich stürze die Treppen hinunter, rufe meiner Mom zu, dass ich nicht weiß, wann sie wieder mit mir rechnen kann und verlasse um 14.34 das Haus.
 

Einen verpassten Zug später, komme ich um 15.03 Uhr auf dem Baseballfeld an. Yushi, der das Equipment einräumt, von Kida keine Spur.

„Hi.“

„Sakuya?“

„Sag mal, kennst du eigentlich Takahama?“, frage ich ohne groß zu überlegen.

„Na ja, kennen wäre da zu vie...“

„War er hier... ich meine in den letzten Minuten?“, unterbreche ich ihn.

„Nein, warum sollte er denn?“, fragt er neugierig nach.

„Er hat noch einige Unterlagen von mir... ich brauche sie dringend zurück“, spreche ich die erste eingefallene Lüge aus.

Er schaut mich ungläubig an, bis ich mich gegen ein Geländer lehne und er ihn seiner Tätigkeit fortfährt.

Ich habe ganz vergessen, dass heute der erste Samstag im Monat ist und somit Unterricht war. Ein späterer Zeitpunkt für unser Treffen wäre von Vorteil gewesen.

Wieder die Uhr im Auge, 15.11 Uhr.

Ob er vielleicht auch einen Zug verpasst hat? Vielleicht hat er sich ja aber auch wirklich dazu entschlossen, nicht zu kommen. Er ist ja von Anfang an nicht wirklich begeistert von der Idee gewesen.

„So, fertig“, holt mich Yushi aus meinen Gedanken. „Bis Montag... du kommst doch Montag wieder, oder?“

„Klar.“

Er lächelt leicht und fängt an den Wagen in Richtung Geräteschuppen zu schieben.

„Warte mal“, halte ich ihn auf. „Leihst du mir das?“ Ich ziehe einen Schläger hinaus, nehme mir einen Ball aus dem Eimer.

„Du weißt doch, dass es verboten ist.“

„Ja, ich weiß. Aber ich bring es bestimmt wieder“, versichere ich ihm.

„Na ja, ausnahmsweise... aber dafür bist du mir was schuldig.“

„Einverstanden“, lächele ich.

„Bis dann“, verabschiedet er sich von mir und ich bleibe mit meinen zwei neu gewonnenen Freunden alleine zurück.
 

Mir kommt es vor als seien Stunden vergangen... genau weiß ich es nicht einmal. Gegen halb Vier habe ich mich von meiner Uhr getrennt, sie weit weg gelegt und nicht mehr drauf geschaut. Der Standort des Baseballfeldes verwehrt mir ebenfalls die Aussicht auf die große Uhr auf dem Schulhof... nur von Vorteil, da es mich irre machen würde, jede Minute auf sie zu starren und mich zu fragen, warum er nicht endlich kommt.

Entschlossen, einfach nur zu warten, wenn es sein muss meinetwegen bis es dunkel wird. Was soll’s, etwas anderes habe ich heute eh nicht vor, und das bisschen Extratraining schadet mir bestimmt auch nicht.

Das Einzige, was mich momentan wirklich wahnsinnig macht, ist der schreckliche Durst, den ich verspüre, doch traue ich mich nicht, auch nur für wenige Minuten meinen Platz zu verlassen, ihn vielleicht zu verpassen. Keiner soll mir später vorwerfen können, dass ich es nicht wenigstens versucht habe...

Pause! Ich lege mich ins Gras, schaue zum Himmel empor... Sterne wären jetzt schön.

Und wenn er doch nicht kommt? Soll ich dann einfach aufgeben, wirklich vergessen? Doch irgendwie bin ich mir sicher, dass er kommen wird, auch wenn es noch weitere Stunden dauert, irgendwann wird ihn zumindest die Neugierde hierher führen... ich bin mir sicher... eigentlich...

Ich setze mich auf und schauen in Richtung meiner Uhr, dem Verlangen, einen kurzen Blick hinauf zu werfen, kann ich nicht mehr widerstehen und so erhebe ich mich, gehe hinüber und hebe sie empor: 17.57 Uhr.

Fast schon drei Stunden. Eine lange Zeit für jemanden, der etwas zu erzählen hat, und eine kurze für den, der nicht weiß, was ihn erwartet.

Mein Fuß tippt leicht gegen den Schläger und obwohl ich mir schon ein wenig blöd vorkomme, wie ich hier stehe und hoffe, dass er kommt, hege ich nicht den kleinsten Gedanken daran zu gehen.

„Ok, weiter...“ Ich schlage den Ball leicht in die Luft, drehe mich eine halbe Drehung nach links und... und da steht er.

Der Ball geht zu Boden, meine Muskeln verkrampfen sich für einen Augenblick und er, wie er langsam auf mich zukommt.

Ich kann nicht sagen, was sein Blick mir verraten soll, kann nicht entscheiden, wie ich mich jetzt fühlen soll, was er denkt, was er fühlt... nichts bin ich mir sicher, und obgleich dieser Unwissenheit verrät mir mein Herz, dass es genau das ist, was ich will.

Er bleibt zirka zwei Meter von mir entfernt stehen.

„Was tust du immer noch hier?“ Seine Worte lassen mich kurz zweifeln, doch immerhin ist er doch hier, oder? Er ist hergekommen, um mich zu sehen, oder nicht?

„Ich sagte doch, dass ich warten würde“, erinnere ich ihn an meine Worte.

Ein missbilligender Laut, ein unverstehender Blick.

„Sag schon, was du denkst dir von der Seele quatschen zu müssen“, fordert er mich schließlich auf.

Seine doch schon harten Worte, treffen mich, aber hat er nicht irgendwie ein Recht sie zu benutzen? Ich habe ihn einfach so abserviert, ohne ihn groß eine Erklärung geboten zu haben... soll ich mich vielleicht doch für die Sache mit Sam entschuldigen?

Nein!

Ich habe gegen nichts verstoßen, habe nichts gemacht, wofür ich mich schuldig fühlen müsste. Wenn ich mich entschuldigen würde, und wenn es nur dafür wäre, um es mir jetzt einfacher zu machen, würde ich doch wieder mit einer kleinen Lüge beginnen... und will ich nicht hier und jetzt wirklich einmal ganz ehrlich sagen, was in mir vorgeht...?

„Zu allererst...“, ertönt es in einer Stimmlage, die mir selber unbekannt ist. „...gibt es im Punkto Sam, nichts für das ich mich entschuldigen möchte und ehrlich... gibt es da auch gar nichts, für das ich mich entschuldigen muss. Sanae hat da einiges ein wenig missverstanden.“

Sein Blick verändert sich ein wenig, wie kann ich nicht genau sagen, da sich sein Kopf senkt.

„Nichts was mit ihr war, hat irgendeine Vereinbarung oder so zwischen uns gebrochen. Ich habe dir nie irgendwas versprochen, nie gesagt, dass wir zusammen wären oder so. Ich frage mich sowieso, wie du darauf kommst, dass ich irgendwie DIR gehören würde. Denkst du, nur weil wir uns einige Male geküsst haben, hast du irgendeinen Anspruch auf mich, hast ein Recht eifersüchtig zu sein?“

Meine Worte treffen ihn, ich sehe es ihm an, und hoffe inständig, dass er nicht geht, davonrennt, bevor ich alles sagen konnte.

„Du kannst doch nicht von mir verlangen, dass ich von einer Sekunde zur nächsten mein Leben so einfach...“ Ich schnippe zur Verdeutlichung mit den Fingern, „...umstellen kann. Hast du dich eigentlich jemals gefragt, wie ich mich bei der ganzen Sache fühle? Nicht auf dich bezogen, nicht auf die Küsse... sondern wie ich damit zu Recht komme, mit dem großen Ganzen. Hast du dich jemals gefragt, was du damit in Gang gesetzt hast, als du mich zum ersten Mal geküsst hast?“ Meine Stimme wird zunehmend lauter. „Ist dir vielleicht jemals der Gedanke in deinen Kopf rumgeschwirrt, dass ich diese Art von Veränderung vielleicht nicht haben will, dass ich nicht herausfinden wollte, vielleicht schwul zu sein? Hast du mal darüber nachgedacht? HAST DU?“, schallt meine Stimme über das Feld. Ich zügele sie ein wenig.

„Nein, das hast du nicht, also bitte verschon mich, mit irgendwelchen Vorwürfen.“ Gerade bin ich so sauer, dass ich mit dem Schläger den Rasen bearbeiten könnte, doch setzt sich meine Wut an anderer Stelle ab. Ich weine und er bemerkt es.

„Aber es tut mir leid, dass du dich schlecht gefühlt hast, dass es dir bei der ganzen Sache nicht gut ging. Dafür, und nur dafür, will ich mich bei dir entschuldigen und das war auch der Grund, warum ich mich dazu entschlossen hatte, dass wir uns eine Zeitlang nicht sehen sollten, das war der Grund, und nicht wie du vielleicht denkst, dass ich mich für irgendwas oder irgendjemanden entschieden habe.“

„Einen Neuanfang hatte ich mir gewünscht“, kommt es schon beinahe bittend, ich wische mir die Tränen weg. „Wie der auszusehen hatte, wusste ich selber nicht so genau, vielleicht wäre Freundschaft gar nicht so eine schlechte Idee gewesen, oder? Wäre es wirklich so schlecht gewesen, mit mir befreundet zu sein?“ Ich schaue ihn fragend an, sein Gesicht aber lässt keine Antwort darauf erkennen.

„Schnell fühlte ich mich von dir wieder unter Druck gesetzt... nicht, dass ich die Küsse nicht schön fand, ganz im Gegenteil“, gebe ich kleinlaut zu. „Aber warum verdammt konntest du nicht erst mal versuchen, ein Freund zu werden, mich etwas besser kennenzulernen, WARUM?“

Ich schaue ihn an, nur ein leichtes Schulterzucken als Antwort.

„Ich habe versucht, nicht mehr an dich zu denken“, gebe ich eine Wendung des Gespräches und plötzlich fällt es mir schwer, ihn weiterhin an zu sehen. „Ich habe es nicht geschafft“, gebe ich als nächstes preis und durch meinen Körper zieht ein merklich warmes Gefühl. „Ich konnte nicht vergessen wie sich deine Stimme anhört, wenn sie ganz nahe an meinem Ohr liegt, konnte nicht vergessen wie es kitzelt, wenn du mir über das Gesicht streifst... und vor allem wie es sich anfühlt, wenn du mich küsst.“

Unsere Blicke treffen sich, zweifelsohne ist bei mir eine gesunde Röte zu vernehmen.

„Um ehrlich zu sein...“, fahre ich fort. „...kann ich immer noch nicht sagen, was ich von all dem halten soll. Ich weiß, dass du mir wichtig bist, ich denke, dass ich es wirklich gerne mag, wenn du... mich küsst...“ Das warme Gefühl im Gesicht nimmt ab, mein Blick wird ernster. „Aber ich kann dir zum jetzigen Zeitpunkt nicht garantieren, dass ich dir jemals das geben kann, was du gerne möchtest, kann dir nicht versprechen, dass du jemals von mir hören wirst, dass ich dich liebe, wenn es das ist, was du dir erhoffst... Das kann ich alles nicht... aber was ich tun kann, ist Zeit mit dir verbringen, uns die Möglichkeit geben uns besser kennenzulernen, und in den Dingen, die du mir gibst, nicht immer einen unangenehmen Beigeschmack zu sehen. Ich kann dir nichts versprechen, will dir auch keine unnötige Hoffnung machen, doch ist das alles, was ich dir im Moment bieten kann...“
 

Part 12 – Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ BoA

~ Karaoke

~ T.M.Revolution
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 13

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Kida (by Stiffy)
 

Ich bin sprachlos. Nach all diesen Worten bin ich einfach nur sprachlos.

Ich sehe in seine Augen, sehe seinen ernsten Blick... sehe wie wichtig ihm all das ist, was er gesagt hat... und sehe keinen Weg für mich zu gehen.

Was soll ich nun tun? Was soll ich sagen? Mich entschuldigen? Mich rechtfertigen? Alle meine Fehler eingestehen? Egal was es ist, das ich nun am besten tun könnte, so habe ich nicht die nötige Luft dazu, nicht den Mut... Ich weiß, dass im Moment kein Wort meine Lippen verlassen würde, sei es nun richtig oder falsch... Ich habe einfach keine Ahnung was ich auf all das sagen soll.

Doch was denke ich? Was erwarte ich von mir selbst? Bin ich nicht eigentlich mit der Absicht gekommen, alles hier und jetzt zu beenden? Doch kann ich das nun noch? Kann ich wirklich sagen, dass es aus ist, nun nachdem er mir so viel anbietet, nun nachdem es wirklich so klingt, als wolle er auch weiterhin etwas mit mir zu tun haben? Einfach einen Schlussstrich ziehen... geht das überhaupt?

Will ich das?

Nein, ich will es nicht. Ich will ihn nicht verlassen, will nicht sagen, dass es eh sinnlos wäre...

Eigentlich will ich... einfach nur bei ihm sein.

Und wie es aussieht lässt er es zum ersten Mal wirklich zu... Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass er auch bei mir sein will, egal wie hart seine Worte auch waren.

Langsam gehe ich ein Stück auf ihn zu, so dass uns nur noch ein paar knappe Zentimeter trennen. Er sieht mir in die Augen... seine sind noch immer ein wenig feucht.

Wieso weinst du?

Ich öffne meine Lippen, will etwas sagen, will wenigstens ‚Okay’ über sie bekommen, doch es funktioniert nicht... Zu schnell ging es, zu kurz liegt all das zurück... und doch muss ich dir jetzt ein Zeichen geben.

Ich habe keine Ahnung, woher ich den Mut nehme, ihn schon wieder zu berühren, doch ich tue es... und seine Augen zeigen mir noch nicht mal irgendein Zeichen von Schrecken, als ich meine Finger ganz vorsichtig um seine lege.

Ich drehe mich um, schaffe es nicht, ihn jetzt noch weiter anzusehen...

Es ist in Ordnung, nicht wahr? Du hast mein stilles ‚Okay’ verstanden...

Als ich zögernd ein paar Schritte tue, geht er mit, wehrt er sich nicht, sondern läuft einfach mit mir das Baseballfeld hinunter. Erst kurz vor Ende stoppt er plötzlich. Seine Finger entfliehen den meinen, er dreht sich um und läuft zurück. Und in dem Moment, als ich ihm voll Schrecken nachsehe, als ich dann mit Erleichterung erkenne, wie er nur den vergessenen Schläger und Ball holt, weiß ich, dass ich richtig entschieden habe. Es ist ein unglaubliches Gefühl, als er zu mir zurückkommt, seine Schritte kurz vor mir langsamer werden und er dann schließlich seine Finger zurück zu meiner Hand wandern lässt.

Ich spüre wie ich rot werde durch diese kleine Geste und so setze ich mich wieder in Bewegung. Er läuft etwas hinter mir, nicht direkt an meiner Seite... Ich wage nicht, zurückzublicken und ihn anzusehen, doch zum ersten Mal habe ich das Gefühl, es auch nicht tun zu müssen, um zu wissen, wie er schaut. Seine Hand in meiner sagt mir gerade genau das, was ich wissen will. Und vielleicht kommt ja doch irgendwann der richtige Zeitpunkt um auf einer Höhe zu gehen.

Ein paar Schritte nachdem wir das Schulgelände verlassen haben, trennen sich unsere Hände wie von alleine. Es ist etwas anderes, so etwas in der Öffentlichkeit zu tun.

Doch auch wenn wir jetzt schweigend und körperlich getrennt den Weg zur Bahnstation fortsetzen, weiß ich, dass wir noch nie so nah beieinander waren.
 

Als wir wenige Minuten später in einer Bahn sitzen, er mit dem Blick aus dem Fenster gerichtet, kann ich nicht anders, als ihn anzusehen... und nun auch endlich genauer über die Worte nachzudenken, die er zu mir gesagt hat. Langsam habe ich das Gefühl, einen klaren Kopf zu bekommen.

Ich weiß nicht mehr genau, was ich von diesem Gespräch erwartet habe, jedenfalls nicht das, was er letztendlich sagte... Es war ein totaler Rundgang durch meine Gefühlswelt, denn während er mir meine eigene Wut und Eifersucht zeigte, so zeigte er mir mit seinen Worten auch, dass ich zu viel gefordert habe, dass ich mich schuldig fühle, dass ich... wirklich zu wenig über ihn nachgedacht habe, egal wie sehr ich an ihn dachte.

Doch egal wie recht er eigentlich hat, mit all dem, was er sagte, so hat alles zwei Seiten... Ich schäme mich zwar dafür, dass ich eifersüchtig auf Sam war ohne es wirklich zu dürfen, und dennoch kann ich die Enttäuschung nicht vergessen, bei seinen Worten... dass er nichts bereut.

Genauso weiß ich auch, dass ich ihn zu sehr überfallen habe, dass ich zu schnell zu große Schritte gegangen bin... doch andererseits wären ein paar mehr eindeutige Zeichen von ihm wirklich sinnvoll gewesen...

Denn auch wenn ich mir meiner Gefühle und den Situationen vielleicht sicherer bin als er, so bin ich dennoch immer auch unsicher... So steckte ich trotz allem noch nie in einer solchen Situation, habe ich nie gelernt, wie ich damit umgehen soll.

Ich habe Fehler gemacht... sehr viele wahrscheinlich... doch in den Momenten, in denen sie entstanden, hatte ich auch einfach nur große Angst... Eine Angst, die ich nicht von mir gewohnt bin.

Er wendet den Blick von der Scheibe ab und trifft auf meinen. Ein nachdenklicher Ausdruck liegt in seinen Augen, und egal wie wenig ich nun darüber weiß, was er eigentlich denkt, so ist dennoch seit ein paar Minuten die größte Angst von mir gewichen... und das, obwohl ich keinerlei Absicherung habe. Irgendwie merkwürdig...
 

Die Bahn hält und wir steigen aus... an seiner Haltestelle. Ein paar Straßen später schließt er die Haustür auf und lässt mich hindurchtreten.

„Ich bin wieder da...“, ruft er und geht dann Richtung Treppe. „Kida und ich sind oben...“

Ich folge ihm in sein Zimmer, und als sich die Tür hinter uns schließt, kommt das Gefühl in mir auf, dass ich nun auch endlich irgendetwas sagen sollte.

Ich beobachte Sakuya, wie er fast ein wenig unschlüssig auf sein Bett zugeht und sich schließlich darauf setzt. Ich folge ihm, bleibe dann aber vor ihm stehen.

Immer noch Stille, wieder Blickkontakt... Nervosität. Ich spüre wie ich rot werde... Er wird es auch.

Dann wendet er den Blick ab, deutet mit der Hand auf seine Bettdecke.

„Setzt dich...“, kommt es bittend und ich gehe dem nach.

Als ich sitze, ist der Blickkontakt beendet. Ich wage es nicht, ihn anzusehen, weiß auch, dass er mich nicht ansieht... Es ist ein sehr merkwürdiges, bedrückend Gefühl. Er wartet darauf, dass ich etwas sage... ich weiß, dass ich es ihm schuldig bin, doch wie sage ich das alles am besten, was schon seit Wochen in mir vorgeht?

„Wahrscheinlich...“, beginne ich langsam und schiele zu ihm hinüber. Sein Kopf hebt und dreht sich. Nun sieht er wieder zu mir... erwartungsvoller als je zuvor. „Wahrscheinlich sollte ich nun auch endlich mit der Sprache rausrücken...“, sage ich.

Ich spüre wie meine Finger beginnen zu zittern, wie auch meine Stimme dem nicht mehr lange standhalten kann... dennoch zwinge ich mich, wieder in seine Augen zu sehen.

„Erst mal... es tut mir leid... Es tut mir leid, dass ich dich bedrängt habe, dass ich... eifersüchtig war, und vor allem, dass ich bei dir alles aus dem Ruder werfe... Es war keine Absicht... ich wusste nur selbst nicht, wie ich damit umgehen soll...“

Er erwidert nichts darauf, hält meinem Blick einfach nur stand und scheint darauf zu warten, was ich noch sagen will... wenn ich das bloß selbst wüsste.

„Ich fühle mich zu dir hingezogen...“, spreche ich langsam weiter. „Wenn ich... in deiner Nähe bin, spielt alles in mir verrückt und ich habe das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können...“ Ich seufze. „Glaub mir, auch mir fällt es schwer das zu verstehen... ich meine... ich hätte nie gedacht, dass ich so über einen Jungen denken könnte, und nun, ganz plötzlich, habe ich mich einfach so in einen-“

Ich breche ab, spüre wie ich bis zu den Haarspitzen rot anlaufe. Meine Worte kamen einfach so hervor... ich hatte nicht vor, dergleichen zu sagen...

„Ich habe mich in dich verliebt...“, beende ich dennoch meinen Satz und senke meinen Blick, schaffe es nicht, ihn länger anzusehen. So etwas zu einem Jungen zu sagen ist ein fremdes Gefühl...

„Aber bin wirklich ich es, in den du dich verliebt hast?“, spricht nun er und es hört sich fast ein wenig bitter an. „Ist es nicht nur mein Äußeres, das Fremde, das dich so denken lässt?“

Erschrocken hebe ich sofort wieder meinen Blick. Es ist eine Frage, die ich mir selbst eigentlich nie ernsthaft gestellt habe... mir war immer klar gewesen, dass es nicht sein Aussehen ist... natürlich hat es etwas Interessantes, aber das wäre nie ein Grund für diese Gefühle...

„Nein!“, sage ich so fest es mir möglich ist. „Nein! Aber du hast recht... Im Moment ist es so gut wie das Einzige, was ich von dir kenne... doch ich weiß, dass es nicht alles ist... Ich weiß, dass es so viele Dinge gibt, die es für mich kennenzulernen gilt... Und ich würde unheimlich gerne wissen, was hinter diesen grünen Augen vorgeht. Ich will wissen wie und über was du nachdenkst... Ich will wissen, was du dir wünscht, was dich traurig macht und wie man dich zum Lachen bringt... Und ich will Dinge kennen, wie dein Lieblingsessen, deinen liebsten Film, was du gerne liest oder wovon du nachts träumst... Ich habe mich in dich verliebt, Sakuya, in all diese Rätsel, die dich umgeben und die ich unheimlich gerne lösen würde...“

Nun sieht er mich aus großen Augen an und bringt kein Wort über die Lippen... Und ich bin froh, dass es so ist, bin froh, dass er meine Worte nicht sofort wieder zerredet... Es ist mir so ernst mit den Dingen, die ich gesagt habe... es ist mir so ernst mit dir.

„Ich hoffe nur, dass du mir glaubst...“, füge ich ganz vorsichtig hinzu.

„Ich...“

„Es ist schon gut“, unterbreche ich ihn, versuche meine Angst vor dem, was er sagen könnte, zu unterdrücken... versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich sie habe. „Du brauchst nichts dazu zu sagen... ich weiß jetzt, wie du zu mir stehst... und auch wenn ich trotz allem hoffe, dass es irgendwann mehr wird, so ist es jetzt gut so, wie es ist...“

Ich habe das Gefühl ihm nähergekommen zu sein bei den letzten Worten... Sein Gesicht ist dem meinen ganz nahe, so dass ich ihn ohne Probleme berühren oder küssen könnte. Ich würde es so gerne tun... doch ich weiß, dass ich es jetzt noch nicht darf...

Genau in dem Moment, als ich mich zurückziehe, erlöst mich unbewusst seine Mutter aus dieser Situation. Ein Klopfen an der Tür und die Bitte, zum Essen herunter zu kommen. Mit glühenden Wangen stehe ich auf, versuche einen lockeren Blick, eine lockere Haltung.

„Wir kommen...“, ruft Sakuya zurück, bleibt aber sitzen. Er sieht mich an, viel zu intensiv für meinen jetzigen Gefühlszustand.

„Lass uns runtergehen...“, bitte ich, nachdem er immer noch keine Anstalten zur Bewegung macht, und gehe Richtung Tür.

Plötzlich Schritte hinter mir, die mich einholen, eine Hand auf meiner Schulter und als ich mich umdrehe... ein Kuss. Nur ganz leicht und schüchtern, und doch habe ich für die paar Sekunden das Gefühl, alles würde sich drehen. Vollkommen durcheinander sehe ich ihn an und auch sein Blick spricht von dieser Verwirrtheit.

„Ja... lass uns gehen...“, sagt er, greift an mir vorbei nach der Türklinke.

Wir verlassen sein Zimmer, gehen hinunter in die Küche, wo schon seine Eltern auf uns warten. Freundlich werde ich begrüßt, wird mir ein Platz angeboten.

Das Essen verläuft für mich zum größten Teil schweigend. Die meiste Zeit reden die beiden Erwachsenen, fragen nur hier und da ihren Sohn oder mich ein paar Sachen. Ich bin froh darüber, gerade nicht viel reden zu müssen... viel zu weit weg bin ich mit meinen Gedanken.

Er hat mich geküsst, von ganz alleine... Es ist so schrecklich schwer sich jetzt nicht schon wieder zu viele Hoffnungen zu machen.
 

Etwas später wieder zurück in seinem Zimmer bleibt er unschlüssig stehen.

„Du... Willst du heute Nacht hier bleiben?“

„Gerne, ja...“, antworte ich und fühle mich innerlich gleich etwas wohler. Er hat also nicht vor, mich sofort wieder loszuwerden.

„Okay, dann...“ Sein Blick wandert durchs Zimmer, bleibt dann an mir hängen. Ich weiß, was er denkt... was er vielleicht annimmt, das ich erwarte.

„Wo ist das Futon?“, frage ich schnell um keine unangenehme Stille aufkommen zu lassen. „Ich kann es selbst holen...“

„Ist schon okay... bin gleich wieder da...“ Damit verschwindet er auch schon. Keine Ahnung was für eine Veränderung gerade in seinem Gesicht vor sich ging... Ich könnte sie nicht beschreiben.
 

Als das Futon fertig ist, folgt wieder ein Moment des Schweigens. Fieberhaft suche ich nach möglichen Ansätzen, doch irgendwie ist es schwer einen zu greifen.

„Vielleicht... kann ich ein paar deiner Fragen schon beantworten...“, ist es dann er, der zu erst wieder Worte findet.

Gespannt sehe ich ihn an. „Ja?“

„Naja...“ Er deutet auf eines der Regale. „Da siehst du, was ich gerne lesen... Am liebsten esse ich Hot Dogs, Pizza und Bohnen mit Speck und mein liebster Film ist Major League... aber nur den ersten Teil, der Zweite war nicht so toll... was war da noch, was du wissen wolltest?“

Um ein wenig beiläufiger zu wirken, nehme ich ein Buch aus dem Regal. Es ist auf Englisch geschrieben.

„Wovon du... nachts träumst...“, spreche ich das aus, was ich zuvor mit den andren drei Dingen in einem Satz genannt hatte. Ich schiele zu ihm hinüber, stelle dann das Buch zurück in den Schrank. „Aber das hat noch Zeit... Wie wäre es...“ Ich zögere einen Moment. „Wenn wir mein Wissen ein bisschen erweitern... hast du den Film hier?“

Sein erst fragender Blick, wandelt sich zu einem irgendwie erleichterten. „Ja... warte kurz...“ Er kramt in einer Schublade, zieht dann eine DVD-Hülle hervor, hält sie mir hin.

Ich nehme sie entgegen, überfliege kurz den Covertext. „Sollen wir?“, frage ich dann so locker wie möglich.

„Ist aber ein Baseballfilm...“

„Manchmal muss man Opfer bringen...“, lächle ich.
 

Nur wenig später finden wir uns auf Sakuyas Bett wieder, hinten gegen die Wand gelehnt mit den Blicken zum Fernseher. Schon nach ein paar Minuten merke ich, dass der Film gar nicht so schlecht ist, wie ich befürchtet habe und doch ist es schwer, nicht daran zu denken, dass ich in diesem abgedunkelten Zimmer allein mit Sakuya bin und er ganz nah bei mir sitzt... Und spätestens, als er aufsteht, im Bad verschwindet und sich, als er wieder zurück kommt, so nah zu mir setzt, dass unsere Schultern sich minimalst berühren, kann ich an kaum was anderes denken. Innerlich ist mir glühend heiß. Ein paar Mal fällt mein Blick auf Sakuyas Hand, die meist unweit von meiner entfernt liegt... so dass ich ohne große Umstände danach greifen könnte. Ich spiele mit dem Gedanken nicht nur einmal... doch tue ich es letztendlich nicht, denn irgendwie habe ich Angst, dass er es nicht will... Mehr als alles andere fürchte ich nun, ihn wohlmöglich wieder zu bedrängen.

Dann ist der Film vorbei, Zeit irgendein Urteil abzugeben... Doch ich schaffe es nicht, auch nur ein Wort zu verlieren oder mich auf irgendeine Art und Weise zu bewegen. Noch immer berühren wir uns und das nicht mehr so minimal wie noch zuvor.

Dann nehme ich eine Bewegung neben mir wahr... doch ich will diese Nähe noch nicht verlieren... und so strecke ich meine Hand nach ihm aus, tue das, was ich schon den ganzen Film über wollte... Als meine Finger seine umschließen, hält er abrupt inne, sieht mich überrascht an. Ich spür die Röte meiner Wangen, doch in diesem Moment ist es mir egal...

„Ich...“, beginne ich zögernd, suche nach den unverfänglichsten Worten. „...fand den Film wirklich gut... Besonders... ähm...“ Ich komme nicht weiter, da mir kein Beispiel einfällt.

Ein Lächeln bildet sich auf seinen Lippen und dann bewegt er sich das Stück zurück, setzt sich wieder neben mich und berührt mich erneut... doch diesmal ist es eher seine Hand, die noch immer in meiner liegt, als seine Schulter, die meinen Körper zum Kribbeln bringt.

„Ja genau, die Stelle fand ich auch toll...“, geht er auf meine nichtvorhandene Aussage ein.

Und egal wie peinlich diese Situation doch ist, so bin ich vollends erleichtert, dass es keine falsche Tat war, dass ich ihn scheinbar nicht schon wieder zu sehr bedrängt habe.
 

Doch was als kein Gespräch beginnt, wird schließlich doch zu einem... Sakuya erzählt, was im zweiten Teil geschieht... Und so diskutieren wir plötzlich über ein paar kleine Passagen des Films und kommen so auf andere Filme zu sprechen, die wir beide gesehen haben. Zum ersten Mal ist ein wirkliches Gesprächsthema gefunden, zum ersten Mal reden wir richtig miteinander über Dinge, die eigentlich so normal sind. Es ist ein schönes Gefühl und zumindest mir nimmt es viel meiner Befangenheit.

Der Kontakt unser Finger bleibt während des gesamten Gespräches bestehen. Ruhig bleiben sie zwischen denen des anderen liegen und selbst dann, wenn etwas per Gestik erklärt werden will, geht dies nun plötzlich auch mit einer Hand. Bin nur ich es, der es so bewusst wahrnimmt?
 

Aber jedes noch so gute Gespräch kommt irgendwann zum Erliegen, so auch dieses. Ich habe den Kopf gegen die Wand gelehnt und sehe ihn an, während unsere Worte verebben. Ob er merkt, wie sehr es mir hier mit ihm gefällt?

Als nach einer Weile noch immer keiner etwas gesagt hat, bewege ich mich ein wenig und hebe meine freie Hand. Zögernd nur berühre ich seine Wange und streiche sanft hinüber bis meine Finger in seinem Nacken liegen. Mit nur ein wenig Druck und meinem Entgegenkommen, bewirke ich, dass wir uns einander nähern.

Und während ich all dies tue, sieht er mich einfach nur an und lässt es geschehen.

Erst kurz vor seinen Lippen halte ich inne.

Seufzend schließe ich die Augen... und dann ziehe ich mich zurück.

„Es ist schon spät... wir sollten schlafen...“, sage ich und befreie meine Hand von seiner, rutsche vom Bett hinunter. Ein Nicken.

Keiner spricht mehr viele Worte und schnell liegen wir im Dunkeln unter unseren Decken.
 

~ * ~
 

Sonnenstrahlen sind es, die mich am nächsten Morgen zum Aufwachen bewegen. Durch einen kleinen Schlitz im Vorhang fallend, kitzeln sie mich im Gesicht, führen dazu, dass ich mich auf die Seite drehe. Gähnend öffne ich meine Augen.

Das Erste, was ich nun unter Sakuyas Bett sehe, ist ein Stapel mit Baseballzeitschriften, daneben zwei Hanteln. Eine Weile starre ich meine Entdeckung an, bevor ich zögernd die Hand ausstrecke. Gerade so erreichen meine Finger die eine Hantel. Ohne dass ich es will, taucht vor mir ein Bild von Sakuya auf... mit freiem Oberkörper und diesen Sportgeräten...

Erst als ich eine Bewegung im Bett wahrnehme, ziehe ich meine Hand zurück. Ich drehe mich wieder auf den Rücken und sehe nun zur Decke.

Im Augenwinkel erkenne ich, wie der blonde Haarschopf über die Bettkante lugt.

„Guten Morgen...“, kommt es, und als ich zu ihm sehe, blickt er mich verschlafen an.

Ich erwidere den Gruß.

„Bist du schon lange wach?“

„Nein... erst seit ein paar Minuten...“, antworte ich.

„Gut...“

Der Blickkontakt bleibt aufrecht, auch wenn in den nächsten Augenblicken keiner ein Wort spricht. Irgendwie ist es ein komisches Gefühl, ihn einfach nur anzusehen, aber dennoch auch ein schönes.

„Was sind deine drei Lieblingsdinge...?“, fragt er nach einer Weile leise, und als ich ihn nur perplex anschaue, fügt er hinzu: „Essen, Film und Buch...“

„Hm... mein Lieblingsessen sind Takoyaki... aber nur die von meiner Mutter, die macht die besten... mein Lieblingsfilm... hm... Memento, würd ich sagen... ein Lieblingsbuch habe ich nicht. Zu meiner Schande lese ich nicht sehr viel.“

Bevor Sakuya noch etwas dazu sagen kann, klopft es an der Tür.

„Ja?“, ruft er und seine Mutter tritt herein.

„Guten Morgen...“, lächelt sie. „Dein Vater und ich wollten noch kurz ins Shoppers Plaza fahren...“

„Ok, bring mir was Leckeres mit.“

Als sie wieder gegangen ist, sieht Sakuya mich wieder an. „Hunger?“

Ich nicke... und wir stehen auf, machen uns fertig.
 

In der Küche angekommen, fragt Sakuya mich, was ich gerne essen würde... Ich zucke mit den Schultern.

„Mir egal...“, gebe ich preis und stehe überfragt im Raum.

Nach einem unschlüssigen Moment geht Sakuya zu einem der Schränke, holt eine Pfanne heraus und beginnt zu werkeln. Schnell komme ich mir unnütz vor.

„Soll... ich dir helfen...?“, frage ich deshalb zögernd.

„Gerne!“ Er schüttet Öl in die Pfanne. „Du kannst den Tisch decken...“

„Okay...“ Ich gehe einen Schritt in die Küche hinein, versuche mich an den ersten Tag zu erinnern als ich hier war und seiner Mutter geholfen habe... Wo waren noch mal die Teller?

Als ich nichts tue, dreht Sakuya sich zu mir um.

„Teller sind da, Besteck dort...“ Er deutet auf Schrank und Schublade.

Ich decke brav den Tisch... immer wieder zu ihm schauend, wie er am Herd steht und etwas brät, das wirklich gut riecht...

„Gib mir mal die Platte da drüben“, bittet er.

Als ich mich ihm nähere, an ihm vorbei greife, um an die andere Seite der Anrichte zu gelangen, kann ich einen kleinen Moment nicht widerstehen, nicht verhindern für einen Augenblick inne zu halten... einfach nur IHN besser wahrzunehmen. Fast schon gebe ich mich dem hin, mich einfach noch ein klein wenig tiefer zu beugen, ihn sanft in den Nacken zu küssen, ihn an mich zu drücken und nie wieder los zu lassen...

Ich reiche ihm die Platte, die er mit einem „Danke“ entgegen nimmt. Verträumt schaue ich dabei zu, wie er die Sachen aus der Pfanne darauf häuft und die Platte schließlich auf den Tisch stellt.

„Bedien dich“, lächelt er mir zu.

Und gerade als ich mich noch unsicher dem Essen widmen will, klingelt es an der Tür.

In seinem Vorhaben aufgehalten, sich hinzusetzen, dreht Sakuya sich um und verlässt die Küche, während ich mich innerlich eigentlich nur aufrege, egal welcher Gast es nun sein würde... Schon wieder jemand, der nicht zulässt, dass wir alleine sind... Selbst wenn ich vielleicht noch nicht mal vorhatte, irgendwas zu versuchen... nun ist jede Chance doch wieder dahin.

Frustriert erkenne ich Asumos Stimme, was klar macht, dass es eine längere Störung sein wird. Als er die Küche betritt, versuche ich mir nichts anmerken zu lassen, ihn ganz normal zu begrüßen.

„Wow, da komm ich ja mal wieder genau richtig!“ Sein erfreutes Gesicht unterstreicht diese Aussage nur.

Ich grinse ihn an und fresse jeglichen Unmut in mich hinein.

Sakuya holt einen weiteren Teller und Besteck, lässt sich dann endlich am Tisch nieder.

Mein Appetit ist mir mit einem Mal vergangen und so stopfe ich nur widerwillig das Essen in mich hinein, habe das Gefühl, nichts zu schmecken.
 

Was Sakuya und mir gestern Abend sehr schwer fiel, nämlich ein Gesprächsthema zu finden, ist zwischen den beiden kein Problem. Asumo beginnt schnell damit, über den morgigen Schultag zu reden und über den Baseballclub danach. Ein neuer Spieler sei in der Mannschaft...

Und so wird nun über Baseball geredet, wiedereinmal ein Thema bei dem ich nichts hinzufügen kann. Ich komme mir überflüssig vor... mal wieder.

Und während ich eigentlich nur darauf hoffe, dass Asumo noch irgendwas anderes an diesem Tag zu tun hat, und bald wieder verschwindet, bleibt es schließlich nicht bei dieser einen Störung. Es ist knapp eine Stunde später als es wieder unerwartet an der Tür klingelt. Auch diese Stimme erkenne ich sofort.

Was macht Sanae hier?

Zögernd stehe ich auf und gehe vom Wohnzimmer in den Flur.

Sanae scheint ebenso erstaunt über meine Anwesenheit zu sein, wie ich über ihre. Was will sie hier?

„Hey...“, spricht sie zögernd. Ich gehe auf sie zu und nehme sie zur Begrüßung in den Arm.

„Wie geht es dir?“, fragt Sakuya sie, als wir wieder zurück ins Wohnzimmer gehen. Er hat den Arm um ihre Schulter gelegt, was mich den beiden nur perplex hinterher schauen lässt.

Was geht hier vor?

„Es geht...“ Sie seufzt. „Ich vermisse ihn...“

Erst bei diesen Worten geht mir ein Licht auf. Natürlich, Kevin...

Von Asumo wird sie weniger überrascht begrüßt als von mir. Er grinst sie an und deutet auf den freien Platz neben sich. Sie lässt sich merklich zögernd dort nieder, schräg gegenüber von meinem Platz.

Und jetzt?

Zu meiner eigenen Verwunderung fällt es mir zum ersten Mal wirklich schwer, mit ihr zu reden. Den anderen hingegen geht es scheinbar nicht so... schnell ist sie in ein Gespräch verwickelt... Zwar geht es diesmal hauptsächlich um Dinge, bei denen auch ich mitreden kann, doch eigentlich ist mir jede Lust dazu vergangen...

Man sollte mich dafür verfluchen, gerade so egoistisch zu denken, doch ich schaffe es nicht, die Gedanken loszuwerden... Selbst wenn es zu viert wahrscheinlich um einiges leichter ist, den Nachmittag zu verbringen, als im Moment noch mit ihm allein, würde ich dies dennoch vorziehen... Ich will ihn kennenlernen, ich will wissen, wie er ist, wenn man mit ihm alleine einen Tag verbringt... Ich will einfach mal für längere Zeit der einzige bei ihm sein... In einer Situation, die nicht von Freunden vereinfacht wird...

Außerdem würd ich ihn doch so gerne noch mal küssen, selbst wenn es nur ganz kurz wäre...

Doch an diesem Tag soll mir das wohl nicht mehr vergönnt sein... Nach einem Film und ein paar kleineren Beschäftigungsmaßnahmen ist es schnell Abend und das Ende rückt näher.

Gegen sieben Uhr entscheidet sich Sanae dazu, zu gehen. Asumo sagt, er wolle noch etwas bleiben... was der letzte Anstoß für mich ist, ebenfalls mein Gehen zu verkünden. Ich weiß nicht, ob Sakuya wirklich ein wenig enttäuscht ist, oder ob ich mir das nur wünschend einbilde... jedenfalls bleibe ich bei meinem Entschluss, obwohl ich am liebsten Asumo gesagt hätte, dass er stört... dass ich mit Sakuya alleine sein will.

Und so stehen Sakuya, Sanae und ich kurz darauf an der Haustür... Er nur ein kleines Stück von mir entfernt. Sanae verabschiedet sich und tritt nach draußen, während ich mich wie festgewachsen fühle. Ich will nicht gehen! Würdest du auch nur einen Ton sagen, würde ich doch bleiben...

„Nun denn...“, spreche ich zögernd, sehe in seine Augen. „Ich denke, wir sehen uns morgen...“

Ein Nicken... von mir ebenfalls, dann drehe ich mich um.

Nur langsam sind meine ersten zwei Schritte, als plötzlich hinter mir ein leises „Kida“ gesprochen wird. Sofort drehe ich mich wieder zu ihm herum.

„Ja?“

„Ach nichts...“

Er schüttelt den Kopf und lächelt... und in dem Moment kann ich nicht anders. Ich überwinde die paar Schritte und als ich direkt vor ihm stehe, brauche ich ihn nur noch in meine Arme zu ziehen. Seine Lippen sind ganz weich, als ich sie berühre...

Nur ein paar Sekunden besteht dieser Kuss, da ich mich selbst schnell wieder von ihm entferne, obwohl ich es eigentlich gar nicht will. Ich trete einen Schritt zurück.

„Es tut mir leid...“, spreche ich leise. „Aber das habe ich mir schon den ganzen Tag gewünscht...“ Damit drehe ich mich um und steige die zwei Stufen hinab. „Bis morgen!“

Und auch wenn ich keine Ahnung habe, ob mein Tun nun richtig oder falsch war, so fühle ich mich in dem Moment, als ich zusammen mit Sanae das Grundstück verlasse, irgendwie... zufrieden.
 

~ * ~
 

„Wie es scheint, hat sich die Sache bei euch geklärt...“, lächelt Sanae, als wir wenig später nebeneinander in der Bahn sitzen.

„Na ja... zumindest ein Teil...“

„Hast du ihm deine Gefühle erklärt?“

„Ja...“

„Und? Was hat er gesagt?“

Mit einem Seufzen erhebe ich mich von meinem Sitzplatz und gehe zur Tür. Die Bahn kommt langsam zum Stehen.

„Er weiß nicht, was er fühlt...“

Wir betreten die Station, verlassen sie über die nächste Treppe schnell wieder.

„Aber er ist nicht abgeneigt?“

„Ich hoffe nicht...“

„Na, der Kuss vorhin schien zumindest nicht so!“ Ein aufmunterndes Nicken. Sie hakt sich an meiner Seite ein.

Wir laufen ein Stück schweigend die Straße entlang, während ich versuche, mich daran zu erinnern, wie er mich direkt nach dem Kuss angesehen hat. Es war keinerlei Abneigung, da bin ich mir sicher... doch was dann? Hat es ihn wirklich nicht gestört? Ging es ihm nicht wieder zu schnell?

„Ich habe solche Angst, ihn zu bedrängen... Und dabei würde ich ihn am liebsten die ganze Zeit berühren...“

„Du bist wirklich hoffnungslos verknallt...“, kommt es grinsend auf meine Aussage zurück.

„Ja... irgendwie unheimlich...“

„Quatsch, ist doch schön!“

Wir bleiben vor der Eingangstür ihres Wohnblocks stehen. Sie entfernt sich von mir und hat ein fröhliches Gesicht drauf, wie eigentlich immer... doch in diesem Moment muss ich plötzlich an die Traurigkeit denken, die sie noch bei Sakuya umgab. Unerwartet ziehe ich sie in meine Arme.

„Es tut mir leid, dass ich dich schon wieder nur mit meinem Zeug zulabere...“, entschuldige ich mich leise.

„Macht nichts... Ich höre dir gern zu... außerdem muss ich dann nicht so viel nachdenken...“

„Du bist auch ziemlich verliebt, oder?“

„Ja... aber mal wieder ist es genau der Falsche...“

„Das weißt du doch gar nicht!“, versuche ich irgendwie sie aufzubauen.

„Doch...“ Sie drückt sich an mich. „Eine Beziehung auf solcher Distanz kann einfach nicht funktionieren...“

Da ich beim besten Willen nicht weiß, was ich darauf sagen soll, sage ich gar nichts, halte sie einfach noch ein bisschen fest.

Wenn ich ihr bloß helfen könnte...
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen fällt es nicht besonders schwer, aufzustehen. Zum ersten Mal macht es die Tatsache, Sakuya zu sehen, ganz einfach...

Sanae treffe ich diesen Morgen nicht, da sie erst eine Stunde später zum Unterricht muss... und so hänge ich auf dem Schulweg alleine meinen Gedanken nach. Irgendwie macht es mich schon ein wenig nervös, ihm gleich wieder gegenüber zu stehen, doch es ist auch ein wirklich schönes Gefühl.

Und dann, als ich um die nächste Ecke komme, ist es auch schon soweit. Plötzlich steht er vor mir, zusammen mit Asumo an irgendeine Mauer gelehnt.

„Ah, da bist du ja!“, kommt es fröhlich, während ich ihn nur verdutzt anschauen kann.

Hat er etwa... auf mich gewartet?

„Ha... Hallo...“, bringe ich stockend über die Lippen, als ich auf einer Höhe mit ihnen bin.

„Wegen dir hab ich mein Frühstück verpasst!“, grinst Asumo mich an und setzt sich dann in Bewegung.

Sakuya lächelt nur und geht ebenfalls den Weg Richtung Schule weiter.

Ich laufe neben ihm her... und mein Herz schlägt schon wieder viel zu schnell.
 

Als wir gemeinsam den Raum betreten, in dem der Politikunterricht stattfindet, habe ich das ganze irgendwie noch immer nicht ganz begriffen. Sakuya hat tatsächlich auf mich gewartet. Wenn er wüsste wie glücklich mich das macht!

Sakuya und Asumo werden fröhlich empfangen, als sie zu ihren Plätzen an den hinteren Fenstern hinübergehen. Ich bleibe in der zweiten Reihe stehen, folge nicht weiter, da ich an meinem Platz angekommen bin... Dabei würde ich trotzdem so gerne noch ein wenig länger bei ihm sein...

Die beiden werden sofort von zwei Jungs in Beschlag genommen, ein Punkt der mich noch mehr davor zurückhält, doch einfach zu ihm hinüber zu gehen...

Unsere Blicke begegnen einander und ich versuche ein Lächeln, als ich meinen Stuhl zurückziehe und mich darauf niederlasse.

Ich krame meinen Block und einen Stift heraus, sehe dann wieder verstohlen zu der kleinen Gruppe. Ich weiß, dass wahrscheinlich alle deine Freunde etwas gegen mich haben... das macht diese ganze Sache nicht gerade leichter... Wenn es nicht so wäre, könnte ich jetzt ganz einfach zu dir rüber gehen und dich fragen, ob wir uns heute nach der Schule noch sehen... Denn genau diese Frage würde ich dir nun wirklich gerne stellen.

Bis der Unterricht beginnt, tue ich es nicht. Ich bleibe auf meinem Platz sitzen und sehe immer wieder zu den vier Jungs hinüber, wünsche mir, dazu zu gehören. Und ein paar Mal während den paar Minuten treffe ich auf Sakuyas Blick...

Ich habe gestern Abend darüber nachgedacht, dass es gut war, ihm meine Gefühle zu offenbaren. Ich muss sie nicht vor ihm verheimlichen, muss mich ihm gegenüber nicht verstellen... Er weiß, dass ich in ihn verliebt bin... und die Hoffnung, bei ihm etwas Ähnliches entstehen zu lassen, ist scheinbar auch nicht mehr ganz so gering...

Doch was, wenn all das nur Wunschdenken ist?
 

Part 13 – Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Major League

~ Memento

~ Takoyaki
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 14

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Sakuya (by littleblaze)
 

Es ist meine Schuld, nicht wahr?

Du hast Bedenken, weil ich dir Vorwürfe wegen deines Handelns gemacht habe, dir sagte, dass du mich bedrängst.

Aber jetzt, in diesem Moment wünsche ich mir so sehr, dass es passiert, dass du mich berührst... alles in mir schreit danach, doch weichst du zurück, beendest diesen Abend mit ein paar simplen Worten.

Ich hätte dich zweifelsohne darum bitten können, du hättest mir diesen Wunsch garantiert nicht abgeschlagen, doch fühlte ich mich dazu einfach noch nicht stark genug...
 

Nach kurzem Schlaf, werde ich wieder wach.

Die gleichmäßige Atmung zeigt mir, dass du schläfst, und auf komische Weise verkrampft sich bei diesem Gedanken alles in mir.

Ich will, dass du wach bist. Ich will, dass du genau da bist, wo ich bin, mich anschaust, mir irgendwas erzählst oder mir einfach nur schweigend gegenübersitzt, auch wenn die Situation noch so peinlich sein würde.

Dein unerwartetes Liebesgeständnis hat mich überrascht, doch fühlte ich mich seltsamerweise kein bisschen damit überfordert.

Als die Worte deine Lippen verließen, kribbelte alles in mir, ein Gefühl, das ich zuvor nicht kannte, das sich gut anfühlte, aber auch nach einigen Sekunden schon wieder verschwand. Ob es wiederkommen würde, wenn du es erneut zu mir sagst?

Dann diese Worte, dass du dich in all die Rätsel verliebt hast, die mich umgeben, und dass du sie gerne lösen willst...

Und dann? Wenn du sie gelöst hast, wenn mich keine Rätsel mehr umgeben... gibt es dann noch etwas, in das du dich verlieben kannst? Vielleicht magst du gar nicht, was sich hinter den Antworten verbirgt?

Sollte doch gerade erst alles anfangen, verspüre ich schon jetzt die Angst vor Verlust... ist dies der Grund dafür gewesen, warum ich dich einfach so geküsst habe?
 

~ * ~
 

Du weißt es nicht, aber ich liege schon lange wach, habe schon einige Male auf dein schlafendes Gesicht hinabgeschaut, mich oft gefragt, ob du wohl gerade irgendetwas träumst. Nun bist du ebenfalls aufgewacht, endlich...

Ich blicke über den Bettenrand und bringe ein verschlafenes „Guten Morgen“ zum Vorschein.

„Bist du schon lange wach?“, frage ich, die Antwort doch eigentlich schon wissend, aber ansonsten fällt mir nichts Gescheites ein.

„Nein... erst seit ein paar Minuten...“, kommt es als Antwort und dann geht alles ganz einfach. Wir reden über seine Lieblingsdinge, Mom schaut rein, und kurz darauf stehe ich am Herd und mache für uns Frühstück.

Es ist schon beinahe so, als hätten wir nie etwas anderes gemacht. Wenn ich so darüber nachdenke, haben wir uns bis jetzt ziemlich viel in der Küche aufgehalten.
 

Kyo taucht auf, Sanae ebenfalls.

Ich weiß nicht genau, ob es mich stören soll. Sollte es? Stört es ihn?

Seine Stimmung hat sich verändert, ich merke das, doch was genau ist es, was ihn stört?

Kyo? Sanae?

Freunde sind mir wichtig, sehr wichtig. Sie sind für mich lebensnotwendig, umso mehr, umso besser, doch er ist das nicht... kein ganz normaler Freund. Wie soll ich ihn in mein Leben integrieren, wird es funktionieren?

Mit Kyo war das kein Problem, aber all die anderen, denen ich nicht auf die Nase binden will, dass ich jetzt Jungen knutsche... wie soll ich mich da erklären, wie soll ich das alles passend machen?

Auch gerade in diesem Moment, was hält mich ab?

Warum setze ich mich nicht einfach neben ihn oder küsse ihn? Sanae weiß doch garantiert auch bescheid, warum also diese Furcht? Ich will es doch eigentlich so gerne, seine Nähe spüren, es muss ja nicht mal ein Kuss sein, eine kleine Berührung würde mir vielleicht schon reichen... für den Moment...
 

Gegen Abend verabschieden sich Kida und Sanae, ein wenig enttäuscht nehme ich das Vorhaben wahr. Am liebsten würde ich ihn bitten zu bleiben, würde ihn gerne fragen, ob er nicht noch einmal hier schlafen wolle, hier, bei mir... in meinem Bett.

Den ganzen Tag über war er mir so verdammt nah, lächelte mich an, jedes Mal wenn sich unsere Blicke trafen, und doch war er so weit von mir entfernt.

Ich will einfach nur mal von ihm in den Arm genommen werden, seinen Atem an meinem Ohr spüren...

„Kida“, kommt es leise hervor, was ihn in seinem Gang aufhält.

„Ja?“

„Ach nichts...“

Wie verrückt muss man sein? Ich kann doch nicht sagen, dass... und plötzlich ist es wieder da, dieses Kribbeln, überall und um ein vielfaches stärker als es noch gestern der Fall war... es gibt also noch eine Steigerung?

Als sich unsere Lippen trennen, wie in Zeitlupe, spürend, wie sich jede kleine Hautstelle voneinander trennt, wird mir auf einmal bewusst, wo ich mich befinde, nervös blicke ich mich um.

„Es tut mir leid, aber das habe ich mir schon den ganzen Tag gewünscht.“

Er dreht sich weg, geht. „Bis morgen!“

Sanae grinst mich aus der Ferne an und winkt mir zu, ich dagegen kann immer noch nicht glauben, was hier gerade passiert ist. Jedes noch so schöne Gefühl ist aus meinem Körper verbannt, lässt keinen Platz für irgendein Kribbeln zu... wie konnte er mich nur vor dem Haus einfach so küssen, wo uns vielleicht Nachbarn hätten sehen können...?
 

„Du übertreibst, er hat es bestimmt nicht absichtlich gemacht.“

„Nicht absichtlich? Ja, er ist nur rein zufällig auf meinen Lippen gelandet... “

„Man merkt wirklich, dass du noch nie verliebt warst“, unterbricht mich Kyo ein paar Minuten später in meinem Zimmer, verdutzt schaue ich ihn an.

„Was willst du damit sagen?“

„Wenn man verliebt ist...“ Er lässt sich nach hinten auf mein Bett fallen. „... dann denkt man nicht immer über das nach, was man tut... Du tust etwas, und im nächsten Moment sagst du dir: Boah, was habe ich jetzt da wieder verbockt oder wie konnte ich das nur sagen. Und am liebsten würdest du dich von der nächsten Brücke stürzen.“ Ein verträumter Blick trifft mich. „Du kannst nicht mehr klar denken, verstehst du?“

„Kribbelt es?“

„Was?“

Ich schaue weg, da es mir auf einmal peinlich wird, darüber zu sprechen. Wir haben noch nie groß über Liebe gesprochen, und irgendwie habe ich nie vermutet, dass Kyo bei irgendeiner Eroberungen wirklich so etwas wie Liebe gefühlt hat. Warum ist es eigentlich so schwer, über dieses Thema zu sprechen... ist es nicht das Schönste von der Welt? Immerhin wird es so überall beschrieben.
 

Gegen 21.00 Uhr verabschiedet sich auch Kyo von mir. Ich packe meinen Rucksack für die Schule und bleibe dann am Internet hängen.

Eine E-Mail von Kevin. Ich klicke auf das Bild, das sich daraufhin öffnet, ein kleines Flugzeug, das ins Meer stürzt, darunter der Satz:

„Wir sind gut angekommen... hoffe, bei dir läuft alles im grünen Bereich?!“

Ich komme mir ein wenig blöd vor, als ich ihm meinen momentanen Zustand schildere, ihm sage, dass ich nicht weiß, ob ich alles schaffen kann, was ich gerne möchte, doch fühle ich mich um einiges besser, nachdem ich den Senden-Button angeklickt habe.
 

Ein halbe Stunde später liege ich im Bett und lasse die letzten zwei Tage noch einmal Revue passieren. Eigentlich kann ich doch ganz zufrieden sein, oder? Wir haben ein wenig über den Anderen erfahren, nicht gestritten... eigentlich lief doch alles gut... doch... reicht mir das nicht?

Aber wie es ihm sagen, wie ihm erklären, dass ich jetzt gegen meine eigenen Regeln fechten will?

Gar nicht, denn hier liegt mein Problem, ich kann es nicht.

Aus irgendeinem Grund will ich nicht der Auslöser sein, ich will nicht anfangen, nicht einfach nach ihm greifen und ihn küssen. Ich will, dass er es tut, ich will... erobert werden? Will ich das?

Ich drehe mich auf den Bauch, presse mein Gesicht fest ins Kissen.

Oder fehlt mir einfach nur der Mut dazu? Habe ich Angst vor Ablehnung, vor dem falschen Moment? Warum, weiß ich das nicht, warum fällt mir keine plausible Erklärung dazu ein... warum, passiert das immer öfter in letzten Zeit?
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen muss ich seit langem nicht von Kyo geweckt werden. Als er wie jeden Morgen freudig unser Haus betritt, warte ich schon fertig angezogen auf sein Auftauchen.

„Was ist?“, fragt er verdutzt.

„Nichts, lass uns los“, lächele ich, ziehe ihn wieder in Richtung Tür.

„Hey... warte mal, was ist mit Früh...“

„Heute nicht... Wir sind dann weg, Mom.“

„Viel Spaß in der Schule, Schatz.“

Wir verlassen das Grundstück.

„Jetzt wart doch mal.“ Kyo setzt sich dem Druck entgegen, ich lasse seinen Arm los. „Was ist denn heute los mit dir?“

„Nichts, ich will nur...“

„Was?“, fragt er genervt.

„Ich dachte, wir treffen Kida auf den Weg“, gebe ich leicht gerötet preis.

„Auf dem Weg? Wohnt der nicht in der anderen Richtung der Schule?“

„Ja, und?“

„Ach, komm schon, Sakuya. Ich hab Kohldampf wie Sau und keine Lust durch halb Urayasu zu rennen.“

„Ich kauf dir was auf den Weg.“

„Da hätte ich auch zu Hause essen können... ach komm, nicht der Dackelblick... Sakuya!... Ok, ok, aber das wird dich was kosten!“

„Danke.“
 

Zwanzig Minuten später...

„Bist du eigentlich sicher, dass er hier lang kommt?“

„Ich hoffe.“

„Du hoffst?“

Zehn weitere Minuten später tipple ich schon nervöser von einem Fuß auf den anderen, während Kyo sein Frühstück beendet hat und ihm zunehmend die Lust vergeht.

„Oh, da kommt er ja.“

Ich lehne mich auf Kyos Aussage hin ebenfalls locker an die Mauer, keine Ahnung wieso ich das tue. Kida erblickt uns in den letzten Zentimetern meiner Bewegung und ein fröhliches „Ah, da bist du ja!“ verlässt meinen Mund, während er uns nur weiterhin überrascht anschaut.

„Ha... Hallo...“

„Wegen dir hab ich mein Frühstück verpasst!“, kommt es von der Seite und ich grinse noch ein wenig mehr. Es muss bescheuert aussehen, doch kann ich nichts dagegen tun, ich fühle mich in diesem Moment einfach danach.

Kida und ich reden nicht viel auf unseren Weg, die meiste Zeit über erzählt Kyo irgendwas, immerhin erfahre ich auf diese Weise, dass Kida ebenfalls mit uns in der ersten Stunde Politik hat.
 

Politikunterricht, nicht gerade das Fach, das ich mir in der ersten Schulstunde erhofft habe, doch gehe ich wie gewohnt meinen Weg, Richtung Platz, Richtung Freunde, zuerst gar nicht merkend, dass Kida sich von uns abgesetzt hat.

Was ich so in meinen verlängerten Ferien gemacht habe? Ob ich den neuen Spieler schon begutachtet habe?, will man von mir wissen und so lasse ich mich schnell ins Gespräch lenken, schaffe nur ab und zu kurz einen Blick auf Kida zu erhaschen. Sein Lächeln erwidernd, glaube ich nicht daran, dass es ihm einfach fällt, es mir zu schenken. Was geht jetzt in ihm vor, was würde in mir vorgehen?

Doch keine Rücksicht auf meine Überlegungen nehmend, nimmt der Unterricht seinen Lauf. Ich fühle mich ein wenig deplaziert, obwohl es doch mein ganz normaler Platz ist, bei den Menschen, die sich sonst auch in meiner Nähe befinden.

Mein Blick schweift öfter noch mal ab, doch scheint ein Treffen nun unmöglich geworden zu sein.
 

Zweite Stunde: Biologie.

Unsere Wege trennen sich, kein Abschiedszeichen, kein Hoffen auf Wiedersehen. Kyo geht ebenfalls, Chinesisch ist sein Ziel.

Die Klasse leert sich, die Klasse füllt sich, andere treten an die Stellen der Alten, unter ihnen auch Tsuzuki.

Wenn auch eigentlich nicht wirklich etwas zwischen uns vorgefallen ist, kann man dennoch eine gewisse Kühle wahrnehmen. Wir begrüßen uns kurz und widmen uns dann wieder unseren eigenen Sachen.

Unter normalen Umständen würde ich ihn jetzt in ein Gespräch verwickeln und morgen wären all unsere Barrieren nicht mehr vorhanden, doch heftet sich immer noch die gezeigte Abneigung gegen Kida in meinem Kopf fest und so bleibe ich einfach nur still sitzen.

Ich kenne ihn sowieso nicht besonders gut, eigentlich ist er ein Freund von Masaki gewesen, doch irgendwas hat sich da verändert und er blieb an uns hängen. Er war ein wenig nervig und wollte immer bei allem dabei sein und fühlte sich schnell angepisst, wenn es mal nicht nach seiner Nase ging... er hat es einem nicht leicht gemacht, ihn als Freund ansehen zu wollen.
 

In Mathe treffen Kyo und ich wieder aufeinander, Kida scheint diesen Kurs ebenfalls nicht zu besuchen.

Direkt mit Aufgabenstellungen konfrontiert, die wir nicht einmal ansatzweise in den Kopf bekommen, und dem Hinweis, dass die Ergebnisse über die Prüfung nach der Mittagspause am Brett hängen werden, schleppen wir uns durch zwei qualvolle Stunden. Viel Zeit, um an andere Dinge zu denken.
 

Beim Mittagessen erblicke ich ihn neben Sanae sitzend, weit entfernt von dem Tisch, der mein Ziel sein wird. Sanae winkt mir freundlich zu, was ich auch ohne Umschweife erwidere, Kida schaut nur kurz auf.

Ich setze mich neben einen Jungen aus der Mannschaft.

Mein Blick schweift eine ganze Weile, durch den vollen Raum, bis ich von der Seite her angestupst werde.

„Träumst du?“

Eine Mädchenstimme holt mich zurück an den eigenen Tisch.

„Ja.“

„Kennst du schon Koseki?“

Ich schaue von Hana zu dem neuen Gesicht.

„Nein, aber ich habe schon viel von dir gehört, du bist neu in der Mannschaft, stimmt’s?“

„Ja, ich freu mich tierisch, dass es geklappt hat“, lächelt er, setzt sich neben Hana auf die Bank. „Nenn mich Hikaru.“ Er streckt mir die Hand hin, die ich entgegen nehme.

„Sakuya, mein Name ist Sakuya.“

„Ja, ich weiß“, lächelt er.

Er hat ein interessantes Gesicht. Seine Nase ist ein wenig zu groß, doch seine Augen sind trotz des üblichen Schwarz irgendwie sch...

„Ist was? Habe ich was im Gesicht?“

„Ähh, nein... ich... äähh... Wo kommst du noch mal her?“ Ich ziehe meine Hand aus seiner, versuche von... ja was denn eigentlich abzulenken? Was verdammt noch mal war das jetzt schon wieder?
 

Der Blick auf die Prüfungsergebnisse lässt mich glücklich aufseufzen, zwar knapp, aber bestanden. Kyo hat es sogar besser hinbekommen als ich... na ja, er war die Wochen ja auch um ein vielfaches weniger abgelenkt.
 

Informatik mit Kyo und Weltgeschichte mit den Gesichtern, die mich auch schon zuvor in diesem Kurs begleitet haben, muss ich deprimiert feststellen, dass ich montags außer Politik wohl kein weiteres Fach mit Kida zusammen habe.
 

In den darauffolgenden zwanzig Minuten zwischen Schulstunde und dem Baseballclub versuche ich Kida irgendwo auf den Gelände zu finden, doch weiß ich nicht genau, wo ich suchen soll, und so bleibt dieses Unterfangen ohne wirklichen Erfolg, vielleicht auch irgendwie von Vorteil, hätte ich doch gar nicht gewusst, was ich getan hätte, hätte ich ihn gefunden...
 

Beim Baseball vergesse ich alles... hier ist nichts von dem sonstigen Hin und Her von Bedeutung.

Ich sehe Hikaru in Bestform und bin sofort wild entbrannt ihm zu beweisen, wer von uns beiden der Bessere ist, eine Ablenkung, die mir gerade recht kommt.

Es gab Tage, da hat es mir Angst gemacht... da wollte ich nicht spielen, aus Angst... ich könnte etwas vergessen.
 

Als das Zeichen zum Ende der Clubaktivitäten erklingt, kann mich nichts mehr halten.

„Wo rennst du hin? Hey... Sakuya!“

Ich beantworte Kyos Frage nicht, sehe mich nicht einmal um, sein irritiertes Gesicht kann ich mir aber zweifelsohne vorstellen.

Immer noch in Sportsachen renne ich über das gesamte Gelände, bis hin zum Schultor. Außer Atem komme ich zum stehen. Viel Geduld muss ich auch nicht beweisen, bis er dann auch endlich aus der Richtung der Clubhäuser in mein Blickfeld tritt.

„Kann ich dir helfen?“, werde ich von der Seite angequatscht. Ich schüttle nur den Kopf und dränge mich zwischen drei Personen hindurch, vor Kida komme ich zum Stehen.

„Hi“, bringe ich ihn zum Aufschauen, meine Begrüßung wird allerdings nicht erwidert und bevor die Situation ins Unangenehme umschwenkt, fahre ich fort.

„Hast du heute schon was vor?“

Perplex werde ich angeschaut... danach folgt ein kleines Lächeln, das sichtlich zu unterdrücken versucht wird.

„Ich... nein, ich habe nichts vor heute.“

„Ok“, kann ich meine Freude nicht verstecken. „Wartest du auf mich, oder willst du später vorbei kommen?“

Ich zeige kurz an mir hinab, falls er noch nicht gemerkt hat, dass ich noch in Sportsachen vor ihn stehe.

„Ich warte.“

Blickkontakt.

„Ich beeile mich.“

Ich renne zurück in Richtung Umkleide, Kyo kommt mir entgegen.

„Wartest du auf mich?“, schreie ich ihm entgegen, während ich auf ihn zu renne.

„Sorry, mein Dad... ich muss mich beeilen.“
 

„Ok, dann bis morgen früh.“

Ich reiße die Tür zur Umkleide auf, bis auf Hikaru und zwei Jungen, die gerade den Raum verlassen, ist sie leer.

„Das war aber ein schneller Abgang“, analysiert er.

„Ja, es gab da was Wichtiges.“

„Und das wäre?“

Ich ziehe meine Sachen aus dem Schrank und habe gerade nicht das Verlangen, mich vor ihm umzuziehen.

„Sorry, aber das ist Privatsache.“

„Ich wollte nicht neugierig sein“, entschuldigt er sich.

„Schon ok.“

Ich ziehe meine Hose über die Sportshorts, wechsle nur mein T-Shirt und verlasse mit einem kurzen „Bye“ den Raum. Ich schlängle mich abermals durch eine Gruppe Menschen vor dem Tor und treffe außerhalb des Geländes auf Kida.

„Danke, dass du gewartet hast.“

„Kein Prob.“

Wieder zu Luft kommend, laufen wir nebeneinander her, die Straße entlang, wieder fehlt mir ein geeignetes Gesprächsthema, ihm anscheinend ebenfalls.

„Wie geht es Sanae?“, frage ich nach ein paar Minuten.

„Ganz gut, denke ich... langsam scheint sie damit klar zu kommen“, gibt er Auskunft, ich genau wissend, worauf er hinaus will.

Wir erreichen die Bahnstation und steigen mit bestimmt einhundert anderen Schülern in den Zug. Ich könnte mich irren, aber stelle ich mich viel näher an ihn heran, als es eigentlich notwendig ist.

Spürst du, dass ich deine Nähe suche?

In meinem leeren Zuhause angekommen, ist der Schweigezustand auf einem neuen Rekordpegel gelangt und alleine durch Blickkontakt signalisieren wir uns, dass wir gerade nicht in der Lage sind, irgendein Lebensmittel aufzunehmen, wir gehen hoch... schweigend und unwissend was die nächsten Minuten, Stunden bringen mögen.

Am liebsten würde ich ihm sagen, was ich mir wünsche, was ich mir erhoffe, das er tut, doch ist das mit dem einfach so Aussprechen eine ganz andere Sache. Vielleicht sollte ich es einfach aufschreiben und mir den Zettel an die Stirn kleben.

Nach kurzem Zögern, setzt er sich auf mein Bett, ich selber weiß noch nicht, wohin ich mit mir soll.

„Ich...“, versuche ich die Stille zu brechen.

„Wir sind doch echt blöd, oder?“, lacht er im selbem Moment leicht auf. „Nun weiß wieder keiner von uns, was er sagen soll... wie bescheuert, nicht wahr?“

Zuerst bin ich ein wenig überrascht von seiner offenen Aussage, schließlich lache ich ebenfalls.

„Ja, echt blöd...“

Ich lasse mich auf den Boden sinken und als er sich ebenfalls vom Bett zu Boden hinab lässt, beuge ich mich ihm ein Stückchen entgegen, nur ein ganz kleines Stück...

Ein leichter Kontakt, seine Finger, die behutsam mit den Haaren, die mir über die Ohren hinweg streifen, spielen und seine Augen, die sich nicht von den meinen trennen. Sein Blick ist... weich, könnte man sagen, doch was er mir genau erzählen soll... keine Ahnung. Wie ist mein Blick wohl in diesen Moment?

„Hattest du die Haare eigentlich schon mal kürzer?“

„Was?“, kommt es verwirrt.

„Gott, was rede ich hier für einen Scheiß... “

Er wird leicht rot, und ich habe das Gefühl, dass es bei mir auch passiert, und als wäre dies ein Zeichen für ihn, senken sich seine Finger.

Wieder Schweigen.

Ich rutsche nervös herum, versuche irgendwas zu finden, über das man nun reden könnte, was einen aus dieser verzweifelten Situation hinaus befördert.

„Ich...“ / „Ich...“

Ein nervöses Lächeln.

„Du zuerst.“

„Nein, fang du ruhig an, ich wusste sowieso nicht wirklich, was ich sagen wollte“, gebe ich ehrlich zu.

„Ehrlich gesagt, ich auch nicht“, kommt es genauso offen zurück.

Wieder ein nervöses Lachen, wieder vergehen schweigend einige Minuten.

Mit den Worten „Vielleicht sollte ich jetzt besser gehen“ steht er dann plötzlich auf, dreht sich in Richtung Tür, aber bevor er den ersten Schritt machen kann, greife ich nach seinem Bein. Überrascht wird zu mir hinunter gesehen.

„Ich will nicht, dass du gehst.“

Keine Antwort, keine Reaktion. Habe ich zu leise gesprochen, hat er mich vielleicht nicht gehört? Muss ich meine Worte noch einmal wiederholen, würde ich den Mut dazu noch einmal aufbringen können? Doch kurz darauf kommt er wieder hinunter, ist mit mir auf gleicher Höhe.

„Dann gehe ich nicht.“

Nicht wissend, ob ich lächle oder ihn einfach nur überrascht ansehe, spüre ich ganz genau dieses leichte Zittern, als ich seine Hand abermals auf mich zukommen sehe. Es ist eine Geste, bei der man eigentlich schon von vornherein weiß, was als nächstes passieren wird, und so bin ich auch nicht groß verwundert, als sich seine Hand in meinen Nacken legt, er mich sachte in seine Richtung zieht.

„Danke, dass ich bei dir sein darf...“
 

~ * ~
 

Geteilt hab ich mein Bett schon oft, doch ist dies hier etwas ganz anderes. Es ist nicht der beste Freund, der neben einem liegt, wo man sich einfach umdrehen und anfangen kann, von Gott und der Welt zu erzählen... Eigentlich, will man sich so wenig wie möglich bewegen.

Ist er schon wach? Seine Atmung, die mich im Nacken kitzelt, lässt mich nicht wirklich sicher sein, und seine Arme, die um meinen Körper geschlungen sind, lassen nicht zu, dass ich mich umdrehe, ohne auf mich aufmerksam zu machen.

Winzig kleine Haare sind auf seinem Arm zu erkennen, ob man sie spüren könnte, wenn man hinüber streicht? Ich widerstehe der Versuchung es auszuprobieren, aus Angst er könnte aufwachen. Denn was dann? Wieder anschweigen oder wie würde es diesmal weitergehen? Ehrlich gesagt, habe ich ein wenig Angst davor.

Gestern war alles so anders. Worte haben wir nicht gebraucht, doch zeigten wir uns, dass da etwas ist, irgendwas, das wir nur zusammen finden können.

Wir haben uns geküsst, immer und immer wieder und nicht nur das schon bekannte Kribbeln war ständiger Begleitet dieser Zeit, auch vieles, das ich bis dato noch nicht kannte und doch... war mein Kopf eigentlich die ganze Zeit wie leergefegt.

Das leichte Streicheln über meinen Arm, eine Berührung, die mir eigentlich schon bekannt ist, fühlt sich hier ganz anders an. Das behutsame Küssen im Nacken einerseits erregend und auf der anderen Seite doch etwas so geborgenes schenkend.

Es waren durchweg schöne Gefühle, nichts was mir Angst machte, nichts wo ich dachte, dass ich es nicht will... und doch war da immer noch so viel negatives, was man mit ihnen verband, besonders jetzt, wo man wieder Zeit hat, darüber nachzudenken.

„Nicht so viel grübeln...“

Mein heftiges Zucken veranlasst ihn, mich noch ein wenig fester in seine Arme zu schließen, sanft legen sich seine Lippen auf meine Schulter.

„Wie lang bist du schon wach?“

„Ein paar Minuten.“

„Und woher weißt du...“

„Du streifst dir tausendmal die Haare hinters Ohr, wenn du grübelst.“

„Wirklich?“, frage ich erstaunt nach.

„Wirklich. Sag mal, willst du dich nicht umdrehen?“, fragt er sanft.

„Nein.“

„Warum nicht?“

Nur ein Schulterzucken, doch die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, ob ich es schaffen würde, ihn nach diesen ganzen leidenschaftlichen Küssen einfach so anzusehen.

Mit meinem Einwand nicht einverstanden, werde ich vorsichtig von ihm in eine neue Lage gebracht, ich wehre mich komischerweise kein bisschen dagegen.

„Guten Morgen“, lächelt er mich an, küsst mich leicht auf die Nase.

Ich lasse daraufhin meinen Kopf sinken, starre wie gebannt auf seine freie Brust, nicht einmal fähig, ein einfaches ‚Guten Morgen’ über die Lippen zu bekommen. Aber nur kurz gebe ich dieser Schwäche nach. Ich hebe meinen Blick wieder und schaue ihm direkt in die Augen.

„Guten Morgen“, und füge dem einen kurzen Kuss auf die Lippen bei. Dass ich danach knallrot anlaufe, ist, glaube ich, nicht zu vermeiden.

„Ob das irgendwann mal aufhört?“, frage ich genervt.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, wie süß du so aussiehst?“

„Nicht, dass ich wüsste“, gebe ich grummelnd zur Antwort.

„Du siehst super süß aus“, flüstert er und für einen kurzen Moment habe ich das Bedürfnis diese Aussagen ins Lächerliche abzudrehen, doch hält mich sein aufrichtiger Blick davon ab.

Seine Hände, ziemlich kalt, legen sich um mein Gesicht, seine Lippen Sekunden später auf meine und bereitwillig gebe ich mich all den kleinen Spielereien hin. Es ist schon komisch wie schnell man lernt zu küssen, wie man weiß, was der andere gerne hat, wie man sich irgendwie immer zu ergänzen scheint und wie ein wenig Tageslicht alles verändern kann...

Die gleichen Küsse, Berührungen wie am Tag zuvor, doch war es dunkel um uns herum, keine erregten Blicke, die immer wieder von meiner Brust, von meinem Bauch zu mir aufsahen und nicht das Verlangen, sich unter einem riesigen Kissen verstecken zu wollen.

Seine Zunge, die sich leicht um meinen Bauchnabel schlängelt, sich mittig wieder hinauf bewegt, den Kehlkopf erreicht, am Hals entlang und schließlich wieder die Lippen berührt... ist es normal, dass mich das so sehr erregt? Ob er es bemerkt?

Ich rücke ein bisschen weg, er zieht mich wieder zurück, sein Bein dringt zwischen meinen Schritt, drückt sich gegen mich und die plötzliche Berührung veranlasst mich dazu, ihn in die Lippe zu beißen, doch keine Trennung folgt dem, vielmehr wird alles um uns herum noch wärmer, intensiver...

Weitere Bewegungen zwischen meinen Beinen und nicht nur mein Atem scheint sich stetig ein wenig zu beschleunigen, auch seine Küsse verändern sich, leichte Bisse in den Hals und dann ein plötzliches Auseinanderschrecken, hervorgerufen vom klingelnden Wecker.

Leicht keuchend sitze ich ihm gegenüber, starre ihn, seine nackte Brust an. Er schaut mich ebenfalls an und davon eingeschüchtert ziehe ich ein Kissen zu mir heran, lege es über meinen Schoss und rutsche zur Bettkante hinter mir.

„Ich... ich geh... dann mal ins Bad“, stottere ich leicht.

Ein Nicken.

Hinter mir fällt die Tür ins Schloss. Ich versuche wieder ruhig zu werden, das gerade Geschehene zu verarbeiten. Wie weit wäre er wohl gegangen, wenn der Wecker nicht geschellt hätte?

Überfordert von dieser Frage schlüpfe ich aus Jogginghose und Boxershorts und stelle mich unter die Dusche. Für einen kleinen Moment schafft es das Wasser mich abzulenken, beim Einseifen allerdings... warum geht es nicht endlich weg?

Ist es, weil ich weiterhin daran denke, mich frage, was passiert wäre? Muss ich mir jetzt wirklich erst einen runterholen, damit es verschwindet?

Automatisch schließt sich die Hand um meine Erektion, bewegt sich zuerst nur leicht. Natürlich habe ich es schon einige Male gemacht, wie jeder andere wahrscheinlich auch, doch diesmal durchstreifen mich Gedanken, spüre ich Berührungen, die eigentlich gar nicht vorhanden sind. Immer wieder die bekannten Bewegungen, aber zu wissen, dass er im Raum nebenan ist, dass er mich nicht hören darf, und dass er es vielleicht getan hätte, wenn sich dieser blöde Wecker nicht gemeldet hätte, lassen mein Tun um einiges schneller sein Ziel erreichen. Nur kurz kann ich die helle Flüssigkeit an meiner Hand wahrnehmen, ehe das Wasser sie davon spült.

Ein Klopfen?

„Ja?“, kommt es panisch.

„Darf ich reinkommen?“

„Ähh... “ Schnell schaue ich mich um. Duschvorhang zu? OK! Spuren beseitigt? OK! Ständer? Weg! Gott sei Dank! „Ja... du kannst reinkommen.“

Ich greife mir abermals das Duschgel und bleibe wie angewurzelt damit stehen, als ich das Geräusch vom aufgehenden Duschvorhang höre.

„Kann ich mit dir duschen, die Zeit wird langsam knapp.“

Nur ein Schulterzucken meinerseits, zum Glück bin ich gerade der Wand zugedreht.

Sekunden später steht er dann ebenfalls in der Duschkabine, ich immer noch wie blöde das Duschgel in der Hand.

„Kann ich das mal haben?“, schaut er mich von der Seite an, greift um mich herum. Ich nicke nur leicht, weiterhin wie gebannt auf die Wand starrend. Das Duschgel verlässt mich und komischerweise komm ich mir jetzt noch schutzloser vor. Was bitte schön hatte ich denn vor, ihm das Duschgel an den Kopf hauen, wenn er handgreiflich geworden wäre?

Es folgt eine Geräuschkulisse von einseifen und abseifen... wie sehr wünsche ich mir jetzt mein Duschgel zurück... wo ist denn das Shampoo?

„Soll ich dir den Rücken waschen?“ Eine Berührung.

„Nein... “ Ich drehe mich um, reiße ihm das Duschgel aus der Hand. „...das kann ich schon selber.“

Bewusst meines jetzigen Erscheinungsbildes und der rutschigen Flasche werde ich nervös und das Duschgel knallt auf den Boden. Ein erschrockener Blickkontakt und alles in mir schreit: Bück dich, heb es auf, bevor er es tut! Doch kann ich nicht einmal hinunter sehen. Das ihn sehen wäre mir wahrscheinlich noch peinlicher, als dass er mich sieht.

„Lassen wir es einfach liegen“, grinst er und greift nach dem Shampoo. „Das wird zur Not auch gehen.“

Er öffnet die Flasche, lässt ein wenig der cremigen Substanz auf seine Handfläche laufen und ehe ich eine Antwort darauf finde, woher er wusste, was in mir vorging, dreht er mich um und fängt an, mir den Rücken zu waschen.
 

Zwanzig Minuten später stehen wir sauber und angezogen im Raum, wirkliche Kommunikation hat bis jetzt noch nicht stattgefunden, und ich frage mich ernsthaft, wie es da anderen geht... über was reden die bloß?

Doch gibt es viel schönere Dinge als reden, wenigstens bin ich seit einigen Tagen dieser Überzeugung, und auch jetzt kann ich mir nicht vorstellen, jemals den Wunsch zu verspüren, dass er etwas anderes mit seinen Lippen tut.

Ein abgebrochenes „Guten Morgen“ lässt uns auseinander treten.

„Nein, ich hab nichts gesehen, nichts gesehen, gaaaar NICHTS.“

Kyos Erscheinung verschwindet wieder, die Tür schließt sich.

„War das... “ Ein wenig verunsichert werde ich angesehen.

„Ist schon in Ordnung“, lächele ich. „Lass uns runter gehen.“
 

In der Küche spielt sich das gewohnte Bild ab, abgesehen davon, dass jetzt ein Teller mehr auf dem Tisch steht.

„Vielleicht sollten wir Eintritt nehmen“, spekuliert mein Dad.

„Ach, komm schon Schatz, denk doch mal an früher... war es jemals anders?“

„Da hast du recht“, gibt er mit dem Umblättern seiner Zeitung zu, und ich gebe Kida mit einem Lächeln zu verstehen, dass er das nicht ernst zu nehmen hat.

Dass ich nicht mehr alleine in meinem Bett schlafe, dass ich morgens geküsst werde, und dass ich nicht mehr alleine für meine Körperpflege zuständig bin, all das sind Änderungen, die ich gerne in Kauf nehme und irgendwie bin ich schon sehr gespannt darauf, was sich in meinem Leben noch so ändern wird, außer, dass ein weiterer Teller auf dem Tisch steht.
 

Part 14 – Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 15

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Part 16

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Part 17

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Kida (by Stiffy)
 

Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass mir der Alkohol in dieser Nacht noch zusetzen würde, doch da habe ich mich wohl eindeutig geirrt. Immer wieder werde ich wach, wälze mich von einer Seite auf die andere, schwitze, friere... und mein Mund ist wie ausgetrocknet.

Verdammt, ich schwör’s, nie wieder Alkohol!

Sakuya schläft. Sein ruhiger Atem klingt gleichmäßig in meine Richtung und im einen Moment beruhigt mich dies, im anderen wühlt mich das leise Geräusch nur noch mehr auf.

Ich stehe auf, halte dem Durst einfach nicht mehr stand, während die Digitalziffern von 5:12 auf 5:13 umspringen. Etwas Wasser trinken, dann wieder zurück ins Bett!

Ich bleibe im Türrahmen stehen, fahre mir mit der nassen Hand über die Stirn und beobachte die Person, die seelenruhig daliegt und schläft.

„Hör auf... lass mich es alleine tun“

Allein der Gedanke an diese Worte lässt mir erneut die Hitze ins Gesicht steigen, der an die Handlungen danach noch viel mehr. Schnell drehe ich mich um, gehe erneut zum Waschbecken, fülle meinen trockenen Mund mit Wasser. Es ist so toll gewesen, viel besser, als ich es mir hätte vorstellen können...

Wer hätte gedacht, dass dieser verkorkste Abend noch so schön enden würde?

„Kannst du nicht schlafen?“, kommt es leise, als ich das Licht ausgeschaltet habe und mich zurück zum Bett taste.

„Nein“, gebe ich zu, während ich unter die Bettdecke krieche.

Seine Hand tastet über meinen Oberkörper zu meinem Rücken und dann zieht er mich zu sich. Ich lege meinen Kopf auf seine Brust und seine Finger beginnen kleine Kreise auf meinem Rücken zu ziehen. Ich schließe meine Augen, versuche mich auf die sanfte Bewegung zu konzentrieren. Und es funktioniert, ganz langsam komme ich innerlich zur Ruhe.

Irgendwann wird seine Bewegung langsamer, dann streichelt er mich nur noch, bis auch das abebbt. Sein gleichmäßiger Atem erreicht wieder mein Ohr und in diesem Moment beruhigt es mich ungemein.
 

~ * ~
 

Auch am nächsten Morgen geht es mir verständlicherweise nicht gerade gut, und es fällt wahnsinnig schwer, die Augen offen zu behalten. Sakuya grinst mich an, als ich über meinen Kater klage, küsst mich und drückt sich gegen mich.

Zärtlichkeiten folgen, die mich meinen brummenden Kopf vergessen lassen, zumindest so lange, bis wir aufstehen und uns fertig machen.

Die Kopfschmerztabletten schreien förmlich nach mir, und als ich endlich eine intus habe, lässt der Schmerz – sei es nun Einbildung oder nicht – endlich etwas nach.

Noch ein paar zweisame Minuten dann gehen wir hinunter in die Küche.

Dort macht sich Sakuya an den Schränken zu schaffen, während ich mich auf einen Stuhl fallen lasse, ihn – an diesem Morgen mal ganz faul – einfach beobachte.

„Ich hab mir mit Kyo am Mittwoch eine Uni angesehen...“, sagt er plötzlich und spricht damit ein Thema an, das ich eigentlich lieber verdränge. „Weißt du schon, auf welche du gehen willst?“

Ich stütze meinen Kopf auf die Hand, sehe in sein fragendes Gesicht und schüttle den Kopf.

„Nein... aber ich sollte wohl langsam anfangen, mich damit zu beschäftigen. Irgendwie hab ich das bisher nicht geschafft... außerdem...“

„Außerdem?“

„Außerdem weiß ich nicht, ob ich überhaupt studieren gehen soll...“

Ein überraschter Blick trifft mich. „Wieso nicht?“

Ich suche nach Worten, um das Problem deutlich zu machen... und wieder wird mir einer der vielen Unterschiede zwischen uns bewusst: Bei ihm würde es in dieser Weise nie auftreten.

„Naja... Eine Uni kostet Geld... zuviel Geld... und wenn Lynn demnächst in die Schule kommt, sind das noch mehr Kosten. Ich müsste also in jedem Fall zusätzlich arbeiten gehen...“

Nun ist es Sakuya, der einen Moment schweigt, aber was soll er auch anderes tun? Mich bedauern? Damit käme ich wohl gerade am wenigsten klar...

Es folgt ein zögerliches Nicken.

„Wenn du nicht studieren gehst... was willst du dann tun?“, fragt er schließlich.

„Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht so genau... Irgendwas mit Informatik vielleicht, aber damit sie mich nehmen, bräuchte ich wohl auch wieder ein Studium...“ Ich versuche ein Lächeln, auch wenn mich dieses Gespräch gerade ein wenig herunterzieht. Bis jetzt habe ich vermieden, über meine Zukunft nachzudenken, sieht sie doch gerade nicht sehr rosig aus. „Wie du siehst, ich befinde mich in einer Zwickmühle...“

Noch einige Zeit sitzen wir da und reden über dieses leidige, aber langsam leider nicht mehr zu verdrängende Thema... ohne aber letztendlich zu einer Entscheidung zu kommen.
 

Etwas später wieder in seinem Zimmer, begibt Sakuya sich an seinen Computer. Ich setze mich aufs Bett, zunächst noch etwas unschlüssig, was ich tun soll, doch dann beobachte ich ihn einfach nur, wie er grinsend irgendwas liest.

„Ich weiß nicht wirklich, was Liebe ist...“

„Ich vermisse dich, wenn du nicht bei mir bist...“

„Doch irgendwas sagt mir, dass ich diesen Punkt, noch nicht erreicht habe... es tut mir leid.“

„...und den Weg nicht aus den Augen verlieren werde“

Unser Gespräch von gestern... Plötzlich muss ich wieder daran denken.

Eigentlich war es das erste Mal, dass Sakuya mir wirklich gesagt hat, was er denkt... und selbst wenn es unsichere Worte waren, selbst wenn er nicht mit Sicherheit sagen kann, was es ist, so glaube ich, dass ich ihn besser verstehe als jemals zu vor, dass ich mir der Sache sicherer sein kann...

Denn auch wenn es noch nicht Liebe ist, ich bin dir wichtig. Das reicht mir!

„Hey? Träumst du?“, reißen mich Worte wieder zurück.

Etwas verwirrt sehe ich Sakuya an, der mit seinem Stuhl zu mir gerollt ist, den Kopf auf die Lehne stützt und mich fragend anblickt. Ich lächle... strecke meine Hände nach ihm aus und ziehe ihn zu einem Kuss zu mir.

Ich liebe diesen Jungen...
 

Einen großen Teil des weiteren Tages verbringen wir mit einem Einblick in Sakuyas vergangenes Leben. Er kramt ein paar Fotoalben hervor, setzt sich mit mir aufs Bett und beginnt Blatt für Blatt zu erzählen.

Während ich ihn festhalte, mit Neugierde die ganzen Fotos betrachte, die er mir zeigt, wächst ein unheimlich schönes Gefühl in mir. Ich drücke ihn an mich, küsse ihn, den Sakuya, den ich im Moment in meinen Armen halte, und schaue auf das fröhliche Kinderlachen, das auf so vielen Fotos zu sehen ist.

Er war ein so süßes Kind, mit den großen grünen Augen und den kurzen, strahlendblonden Haaren.

Die Fotos werden neuer und weniger, die Personen darauf älter... Sam taucht auf und ein bisschen kann ich Eifersucht spüren, als er nun auch sie in seine Erzählungen einbindet. Ich versuche mir dies nicht anmerken zu lassen... aber vielleicht ist ihm klar, wieso ich ihm plötzlich noch öfter einen Kuss raube.

Dann ist auch das letzte Album durchgeblättert. Er klappt es zu und legt es zur Seite.

„Acht Monate später bin ich hergekommen...“, meint er dann und dreht sich etwas zu mir um, lächelt mich an und küsst mich dann seinerseits.

So schön es sein kann, in Erinnerungen zu schwelgen, so schwer ist es manchmal auch. Wahrscheinlich wünschst du dich gerade nach Boston zurück. Ich könnte es verstehen, gibt es doch auch eine Zeit in meinem Leben, zu der ich gerne zurückkehren würde, wenigstens nur ein bisschen...

Andererseits... will ich diese Zeit gerade nicht verlassen, denn nur hier gibt es dich...

Eine ganze Weile sitzen wir danach einfach nur so da, er in meinen Armen an meinen Körper geschmiegt, ich ihm immer wieder über den Arm streichend... in Gedanken versunken.
 

Es vergehen einige Minuten, bevor wir wieder sprechen... ein aktuelles Thema diesmal: was machen wir heute Abend mit Asumo und Sanae? Immerhin... nur noch knapp vier Stunden bevor sie hier auftauchen.

Einiges hin und her, sowie nicht ernstgemeint und abgelehnte Vorschläge später, steht bei uns Bowling an erster Stelle.

„Ich war zum letzten Mal im Frühjahr bowlen...“, erklärt Sakuya und ein Lächeln legt sich für einen Moment über seine Lippen. „In Boston waren wir ganz oft...“

„Ich war schon lange nicht mehr... Bestimmt zwei Jahre nicht...“, erwidere ich. „Mal sehen ob ich mittlerweile zu doof dafür geworden bin...“
 

~ * ~
 

Sanae und Asumo stimmen unserem Vorschlag sofort zu, auch wenn Sanae zögernd zu verstehen gibt, dass sie es wahrscheinlich gar nicht mehr kann.

„Macht nichts!“, grinst Asumo daraufhin. „Ich geb dir dann Hilfestellung!“

Und so ist es beschlossene Sache.
 

Auf dem Weg zu unserem auserwählten Bowlingcenter fragt Sanae mich flüsternd nach dem gestrigen Abend.

„Zunächst war es ein riesiger Reinfall...“, spreche ich leise mit dem Blick auf Sakuyas Rücken gewandt, der zusammen mit Asumo vor uns läuft. „...und danach die vielleicht schönste Sache, die mir hätte passieren können...“

Ich spüre ihren fragenden Blick förmlich.

„Ich kann dir das so genau jetzt nicht erklären...“, spreche ich weiter. „Auf jeden Fall sind wir einen ganzen Schritt weiter gekommen...“ Und während ich sie vielsagend angrinse, beginnt sie zu schmollen, da ihr klar wird, dass ich zumindest jetzt nichts verraten werde.

Ob später? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht... Ich weiß nicht, wie viel ich ihr eigentlich sagen will.
 

Wir müssen ein wenig warten, da alle Bowlingbahnen gerade besetzt sind. Schnell, als wir um einen der kleinen Tische sitzen, kommt Stille auf. Scheinbar hat keiner gerade auch nur die geringste Ahnung was er sagen soll.

Wieso ist es sogar mit unseren engsten Freunden so schwer, ein Gesprächsthema zu finden...?

Ich sehe Sakuya an, der mich kurz anlächelt und dann seinen Blick abwendet, sich im Raum umschaut. Asumo spielt mit der Karte, die auf dem Tisch steht und Sanae tritt ein paar Mal gegen meinen Fuß, als wolle sie mich auffordern, ihr doch etwas zu erzählen.

Knapp zwanzig Minuten später ist dann tatsächlich eine Bahn frei. Wir holen uns die tollen, irgendwie unbequemen Schuhe und auf geht’s.

Ab nun wird der Abend, entgegen meiner Befürchtungen und zu meiner großen Erleichterung, in viel munterere Wege geleitet. Kurz gesagt, es wird wirklich lustig, was vielleicht daran liegt, dass wir etwas zu tun haben und nicht zwanghaft reden müssen.

Der Beste unter uns ist Asumo. Kaum eine Kugel verfehlt sein Ziel, nur selten bleiben mehr als zwei Pins stehen. Keine Ahnung, wie er das macht.

Danach kommt Sakuya. Zwar nicht ganz so erfolgreich wie Asumo, schafft er es aber dennoch oft genug die Bahn abzuräumen.

Und während ich eher so im normalen Mittelfeld liege – selten ein Strike, manchmal eine verfehlte Kugel, hier und da einfach nur miserable Würfe – befindet sich Sanae auf unserer persönlichen Skala ganz weit hinten. Doch all das ist egal. Wir haben Spaß, alle von uns.

Zumindest bis zu dem Moment, als das passiert, was wohl jeder beim Bowling fürchtet, auch wenn es noch so selten geschieht... Sanae lässt eine Kugel fallen und dann schreit sie mit einem Mal vor Schmerzen, sackt am Boden zusammen.

Asumo ist als erstes bei ihr. Sofort hebt er sie hoch, trägt sie zur Bank. Im selben Moment kommen auch schon zwei Männer vom Personal zu uns hinüber.

„Was ist passiert?“, fragt der eine, sieht zwischen unseren erschütterten Gesichtern hin und her. Im nächsten Moment kniet er sich vor sie. „Hey, Mädchen, ich zieh dir mal den Schuh aus, okay?“

Sanae nickt, weint, klammert sich wie wild an Asumo, der noch immer neben ihr sitzt, als der Mann die Schnürsenkel öffnet.

Ich stehe hilflos daneben, hab keine Ahnung, was ich tun soll. Mein Herz rast.

Sanae schreit kurz auf, als der Mann ihren Fuß befreit hat, dann auch die Socke entfernt. Ich spüre Sakuyas Schulter an meiner.

Der Mann sagt leise irgendwas zu Sanae und sie nickt nur, schließt ihre Augen und vergräbt ihr Gesicht an Asumos Schulter. Dieser ist kreidebleich, hält sie fest in den Armen und beobachtet den Mann, der ziemlich fachmännisch bei seiner Tätigkeit wirkt.
 

Wahrscheinlich habe sie sich etwas gebrochen, so ist zumindest die anschließende Diagnose, und nachdem Sanae angewiesen wurde, am nächsten Tag sofort zum Arzt zu gehen, machen wir uns auf den Weg nach Hause.

Sie gestützt von Asumo.

„Wir müssen in die andere Richtung...“, meint Sanae, als wir an der Bahnhaltestelle ankommen.

„Kein Problem... Ich bring dich nach Hause...“

Verwundert beobachte ich die beiden. Er kümmert sich schon die ganze Zeit so lieb um sie...

„Hey Kyo...“, höre ich neben mir. „Kommst du dann heute noch?“

Ein kurzes Zögern ist in seinem Gesicht zu sehen. Die Ansage für die Bahn kommt.

„Ne, lass mal...“, grinst er dann, führt Sanae weiter.

Die Bahn fährt ein und auch ich will mich in Bewegung setzen, drehe mich zu Sakuya.

„Ich werd dann wohl auch mal...“, sage ich zögernd. Immerhin war von Anfang an geplant, dass ich heute nach Hause fahre.

Doch da schüttelt er den Kopf, wird ein wenig rot. „Magst du nicht doch...“

„Tschüss!“, unterbricht Sanaes Ruf seine Worte, dann Asumos „Eure Bahn kommt!“ Als ich mich umsehe, sind sie schon im Inneren verschwunden... und ich spüre eine Hand an meinem Arm.

Ich greife danach, drehe mich wieder zu ihm und lächle. Eigentlich würde ich ihn jetzt gerne küssen, aber da höre ich von links schon wieder ein paar Schritte und lasse seine Hand wieder los, gehe dann gefolgt von ihm zu unserer Bahn.
 

~ * ~
 

Der folgende Sonntag beginnt damit, dass wir Sanae einen Krankenbesuch abstatten, wo wir zu meiner großen Verwunderung nicht nur sie allein vorfinden. Asumo sitzt auf einem Stuhl und grinst uns an, als wir das Zimmer betreten. Ich bin mehr als überrascht ihn hier anzutreffen.

Sanaes Fuß ist zum Glück nur angebrochen, weshalb sie nun aber für mindestens zwei Wochen auf eine Krücke angewiesen ist und einen Verband um den Fuß trägt. Sie klagt ein wenig, doch Asumo bringt sie mit ein paar Sprüchen schnell wieder zum Lachen.
 

Wir bleiben nicht lange bei Sanae, lasse sie in der ‚Obhut’ von Asumo und machen uns auf den Weg zurück. Ich gebe meine Verwunderung über Asumos Anwesenheit preis, Sakuya grinst nur.
 

Wieder bei Sakuya Zuhause angekommen, essen wir mit seinen Eltern zu Mittag, schlüpfen danach kurzentschlossen zurück ins Bett.

Und dann reden wir... zum ersten Mal reden wir wie zwei ganz normale Teenager über Gott und die Welt.

Grundlage dieses Gespräches ist ein Radiobeitrag, den wir zuvor in der Küche gehört haben. Eigentlich haben unsere Worte nicht einmal wirklich etwas mit ihm tun, aber er verleitete uns zu irgendeinem Thema dem so viele andere folgten.

Ich lerne Sachen währenddessen... Über Sakuya. Unter anderem, dass er gerne reist, wo er schon gewesen ist und noch ein paar weitere Dinge aus seinem vergangenen Leben in Boston... Genauso berichte auch ich ihm, erzähle ihm von meiner Kindheit, davon, wie ich begonnen hab, Schlagzeug zu spielen, dass ich es noch immer nicht schaffe, mit meinem Stiefvater klarzukommen und vieles mehr.

Es ist schön, einfach so mit ihm zu reden, ihn immer besser kennenzulernen.

Mit jedem Wort habe ich das Gefühl, mich mehr in ihn zu verlieben.

„Ich bin deinen Eltern dankbar...“, flüstere ich irgendwann, rücke ein wenig näher zu ihm heran.

Sein Blick trifft mich, ein wenig fragend, verwundert.

„Dafür, dass sie dich hier her gebracht haben...“

Ich spüre, wie ich knallrot werde und habe alle Mühe, jetzt nicht zur Seite zu sehen. Dass so peinliche Dinge tatsächlich mal über meine Lippen kommen würden, hätte ich noch vor knapp zwei Monaten nie erwartet...

Ein Lächeln bildet sich auf seinem Gesicht, als er mir ein wenig näher kommt und mich küsst.

Es ist mir vollkommen genug. Ich will keine Antwort auf meine Worte, ich will sie dir einfach nur sagen.
 

Nach dem frühen Abendessen zurück in seinem Zimmer, bleibe ich einen Moment unschlüssig stehen, als ich meinen fast leeren Rucksack sehe.

Nachdem ich gestern noch mal kurz Zuhause war, habe ich nur Dinge für den Abend mitgenommen, während all meine Schulsachen feinsäuberlich auf mein Bett geschmissen wurden.

„Was ist?“ Sakuya sieht mich fragend an, als ich noch immer so dastehe.

„Meine Schulsachen...“, beginne ich zögernd. „Sie sind bei mir zu Hause...“

„Du müsstest sie also holen...“, erwidert er.

Holen heißt, wiederzukommen, nicht wahr? Und um ehrlich zu sein, will ich genau das. Ich will diesen Tag nicht schon beenden...

„Ja... das heißt, wenn-“

„Wir wollten uns doch noch diesen Film angucken!“ Sakuya hält grinsend eine DVD-Hülle in die Höhe. „Das heißt du hast gar keine andere Wahl...“
 

~ * ~
 

„Ich bin’s!“, rufe ich in die Wohnung, nachdem ich die Tür aufgeschlossen habe. Es riecht nach Essen und obwohl ich gerade eben erst lecker gegessen habe, zieht mich dieser Geruch in die Küche.

Meine Mutter steht am Herd und rührt gerade in einem Topf, als sie sich zu mir umdreht.

„Bleibst du oder gehst du?“, ist die einzige Begrüßung und ein wenig überrascht sehe ich sie an.

„Ich... geh gleich wieder...“, sage ich zögernd und stibitze eine Bambussprosse aus dem Topf.

Ein Seufzen, das mich sie komisch ansehen lässt, und bevor ich dazu komme, sie darauf anzusprechen, kommt sie mir zuvor.

„Kida...“, spricht sie energisch und lässt den Holzlöffel ruhen, dreht sich zu mir. „Was ist los?“

Vollkommen perplex sehe ich sie an, bringe keinen Ton über die Lippen. Sie deutet auf einen Stuhl, setzt sich dann auf einen anderen.

„Was meinst du?“, frage ich schließlich.

„Du bist so selten zu Hause im Moment... was ist der Grund dafür?“

Ich bin sprachlos. Nicht nur, dass ich diese Art von Gesprächen noch nie mit meiner Mutter geführt habe, auch kann ich ihr doch jetzt so plötzlich nicht einfach so...

Ja, aber, wieso eigentlich nicht?

„Ich weiß“, fährt sie fort. „Takehito ist im Moment gestresster als sonst, aber du musst verstehen, es-“

„Daran liegt es nicht.“ Ich versuche ein Lächeln, das aber gerade irgendwie unehrlich wirken muss.

Eigentlich ist es die perfekte Gelegenheit, ihr zu sagen, was zwischen Sakuya und mir ist, doch plötzlich merke ich... so einfach geht das nicht.

„Was ist es dann?“

„Ich... Mama, das-“

Lynn ist es, die mich aus dieser Situation rettet.

„Kida!“, ruft sie fröhlich und läuft auf mich zu, streckt die Arme hoch.

Ich setze sie auf meinen Schoß, küsse sie, bin ihr gerade unglaublich dankbar und sehe wieder meine Mutter an.

„Wirklich, es ist nichts schlimmes...“

„Aber es muss doch einen Grund geben...“

„Den gibt es auch, aber es hat nichts mit euch zu tun...“

„Du willst ihn mir nicht sagen.“

„Du hast recht.“

Ihr Blick wird traurig bei diesen Worten. Sie presst ihre Lippen aufeinander und sieht Lynn an. Mit einem Mal tut es mir leid... und doch, über die Lippen bekomme ich es gerade trotzdem nicht.

„Ich... gehe meine Schulsachen holen...“, sage ich zögernd, setze Lynn auf den Schoß unserer Mutter und verlasse das Zimmer.

Ich fühle mich scheiße, vollkommen scheiße.

Wieso schaffe ich es den schnulzigsten Kram zu sagen, aber zu meiner Mutter nicht ein paar einfache, alles erklärende Worte?
 

Schnell sind die Schulsachen zurück in den Rucksack geworfen und ich schultere ihn, will eigentlich nur noch kurz ins Bad, bevor ich wieder gehe.

„Mama? Was hast du?“, höre ich Lynns traurige Stimme, als ich den Flur betrete. Ich bleibe stehen.

„Nichts mein Schatz...“ Sie steht mit der Kleinen auf dem Arm auf und verschwindet aus meinem Blickfeld.

Macht es sie etwa wirklich traurig, dass ich so selten zu Hause bin? Macht sie sich tatsächlich Sorgen? Ehrlich gesagt bin ich das gar nicht gewohnt...

Ich sehe zur Tür hinüber, spüre den Rucksack auf meinem Rücken und als ich meine Hand in die Hosentasche stecke, ist da mein Handy.

Was soll ich tun?
 

Ich lasse mich auf mein Bett fallen und starre auf den Display. Die Nummer ist schnell ausgewählt, doch viel schwerer ist es, den Knopf nun einfach zu drücken.

Ich bin mir sicher, dass du es verstehen wirst... aber darum geht es auch nicht. Ich habe mich so auf dich gefreut...

Aber vielleicht sind heute andere Dinge wirklich wichtiger.

Ich drücke die kleine grüne Taste. Was du wohl denkst, wenn du meine Nummer siehst...

„Hallo?“, kommt es am anderen Ende der Leitung.

„Hi...“

„Was ist los, wieso rufst du an?“

„Ich...“ Wie es am besten sagen? In welche Worte fassen... „Ich wollte sagen, dass ich... heute nicht mehr komme.“

Einen Moment ist es still in der Leitung.

„Ist etwas passiert?“, kommt es etwas besorgt.

„Nein... es ist nur... meiner Mutter geht es nicht so gut...“, erkläre ich und auch wenn es eigentlich nicht falsch ist, kommen mir die Worte nicht richtig vor.

„Ach so.“

„Tut mir leid!“

„Quatsch! Muss es nicht! Ist es was schlimmes?“

„Nein.“

Schweigen.

Das eigentliche Gespräch ist beendet, aber... wie legt man jetzt am besten auf?

Fragst du dich das auch?

„Bis... bis morgen...“, flüstere ich leise.

„Ja... bis morgen...“

Dann lege ich auf.

„Ich liebe dich...“

Ich hätte sie gerne gesagt, aber irgendwie bekam ich die Worte gerade nicht über die Lippen.
 

Ich bleibe noch etwas auf meinem Bett liegen, bevor ich höre, wie die Wohnungstür geöffnet und dann viel zu laut wieder geschlossen wird. Schnell stehe ich auf, begegne wie erwartet Takehito im Flur.

„Ne?! Du hier?!“, kommt es mit einem breiten Grinsen. Er ist betrunken.

„Ja...“, antworte ich kurz, gehe hinüber in die Küche zu meiner Mutter, die gerade das Essen in die Schüsseln tut.

„Ich esse ne Kleinigkeit mit...“, sage ich und sogleich werde ich überrascht angeschaut.

Ich lächle sie an, greife mit der einen Hand nach einer vollen Schüssel, mit dem anderen Arm nach Lynn, die auf der Ablage sitzt.

Meine Mutter geht zur Küchentür und fragt Takehito, ob er mitessen will.

„Nein!“, kommt es und dann hört man, wie die Tür zum Wohnzimmer geschlossen wird.

Sie fasst sich an die Stirn als hätte sie Kopfschmerzen, kommt dann mit einer weiteren Schüssel zu uns an den Tisch. Sie lächelt mich an, als sie sitzt...

Wir essen schweigend. Ich frage mich, was ich heute Abend noch machen könnte. Lernen wäre nicht schlecht, aber eigentlich habe ich dazu überhaupt keine Lust. Außerdem, was bringt es, wenn ich nur in meinem Zimmer rumsitzen würde...

Als ich fertig bin, schaue ich meine Mutter an, eine längere Zeit lang. Als sie es merkt, sieht sie mich an... mit viel weniger Sorge als noch vorhin... Dass du dich so freust mich zu sehen, kenn ich gar nicht...

Vielleicht sollte ich einfach mal etwas mit ihr machen...

„Hast du Lust ne Runde Go zu spielen?“, frage ich nach einer Weile zögernd.

„Gerne!“

„Ich auch! Ich auch!“ Lynn hüpft auf ihrem Stuhl herum.

„Du darfst zugucken... aber nur ein bisschen, dann musst du ins Bett... okay?“, antwortet Mama, nimmt ihr den Löffel aus der Hand, weil sie vor Euphorie alles vollspritzt.

„Okay...“, kommt es ein bisschen weniger fröhlich bei dem Gedanken daran, bald ins Bett zu müssen. Dann nimmt sie den Löffel wieder auf und isst schnell zuende, um auch bloß keine Zeit zu verschwenden.

Ich glaube, ich war früher genauso, wenn ich was mit meinem Vater machen durfte...
 

Nachdem das Go-Brett aus dem Wohnzimmer geholt wurde, geht’s los. Lynn kriecht auf meinen Schoß und schaut gespannt zu, darf schließlich auch ein paar meiner Steine legen. Doch sie wird merklich müder mit der Zeit und dann schläft sie auf meinem Schoß ein.

„Ich bring sie eben ins Bett“, sagt Mama und hebt sie mir vom Schoß.

Ich bleibe sitzen, starre das Go-Brett an, muss ohne wirklichen Anlass plötzlich an Sakuya denken.

Was du jetzt wohl machst?

„Noch da?“

Erschrocken fahre ich hoch, sehe meine Mutter an, die mir schon wieder gegenüber sitzt und lasse die Steine in meiner Hand zurück ins Kästchen fallen.

„Ja...“

Sie lächelt, sieht dann das Brett an.

„Sag mal, Mama, was hältst du eigentlich von Schw-“ Gerade noch rechtzeitig kann ich mich selbst bremsen, während sie den Kopf hebt und mich fragend anblickt. Fieberhaft suche ich nach einem passenden Wort. „Schw... Schwarz...“, stottere ich dann, da es das einzige Wort ist, das mir einfällt.

„Schwarz?“ Verständlicherweise habe ich sie vollkommen irritiert.

„Vergiss es!“ Ich springe auf... „Ich geh kurz auf Klo!“ ... und flüchte aus dem Zimmer.

Verdammt, verdammt, verdammt... da war ich schon so weit..... wieso fehlte mir nun doch der Mut?

Ich kann es ihr doch nicht ewig verheimlichen!
 

~ * ~
 

Nachdem wir, ohne es zu merken, noch bis fast Mitternacht gespielt haben – unterbrochen nur ein Mal durch das Gestänker von Takehito – fällt es mir dementsprechend schwer, am Morgen aus dem Bett zu kommen.

Müde trage ich mich durch die Wohnung und schließlich zur Schule... erst auf dem Weg dorthin bessert sich meine Laune langsam. Hatte ich nicht Montagsmorgen mit ihm den gleichen Kurs?

Tatsächlich sehe ich ihn, als ich den Raum betrete. Erst bemerkt er mich nicht, doch als er sich dann irgendwann umdreht, treffen sich unsere Blicke. Ein Lächeln und er springt vom Tisch, auf dem er gesessen hat, will gerade meine Richtung einschlagen, als der Lehrer in die Klasse kommt.

In diesem Moment würde ich ihn am liebsten erschlagen.

Sakuya macht irgendein Zeichen, auf das ich nur nichtsverstehend den Kopf schütteln kann. Er grinst, winkt ab und setzt sich hin.

Die Stunde beginnt.
 

Nach der Stunde kommt Sakuya zu mir hinüber.

„Geht es deiner Mutter wieder besser?“

„Ja...“

Er nickt, lächelt, schweigt einen Moment und fragt schließlich was ich jetzt für einen Kurs habe.

„Geographie...“ , antworte ich. „Und du?“

„Biologie...“

„Findet das hier statt?“

Wieder ein Nicken. Ich sehe auf die Uhr.

„Ich... muss dann auch los...“, sage ich schweren Herzens.

„Okay...“ Er scheint einen Moment zu zögern. „Sehen wir uns beim Mittagessen?“

Überrascht sehe ich ihn an, kann wahrscheinlich nicht verbergen, wie sehr ich mich über diese Frage freue.

„Ja!“, erwidere ich, fühle mich dann einen Moment unschlüssig.

So einfach will ich eigentlich nicht gehen. Ich würde dich so gern wenigstens ein Mal küssen...

„Also bis nachher!“, reiße ich mich schließlich los und verlasse den Raum.

Verdammt, warum muss das auch so schwer sein?
 

~ * ~
 

Ich sehne das Mittagessen herbei, frage mich aber gleichzeitig, wie es ablaufen soll. Ich kann mich ja schließlich schlecht einfach so neben ihn setzen... Und genauso würde er wahrscheinlich mehr als blöd angesehen, wenn er sich zu mir an den Tisch setzt.

Wie ich feststelle, scheint ihn dies nicht zu stören... denn als er die Cafeteria betritt, kommt er, gefolgt von Asumo, schnurstracks zu dem Tische hinüber, an dem ich schon mit Sanae sitze.

„Hi“, lächelt er und lässt sich neben mich sinken.

Asumo nimmt auf der anderen Seite neben Sanae Platz.
 

Die kurze Zeit, die wir zusammen in der Cafeteria verbringen, ist schön. Ich fühle mich wohl. Es ist ein so schönes Gefühl, dich hier bei mir zu haben. Asumo scherzt ein wenig mit Sanae herum, Sakuya erzählt von Biologie und von einem Problem in Mathe...

Viel zu schnell ist die Pause vorbei.
 

Zwei Schulstunden später bin ich gespannt, wie der Musikclub wohl heute ablaufen wird. Als ich dort hinkomme, hängt ein Zettel an der Tür.

„Der Musikclub findet heute leider nicht statt!“

Kurzentschlossen mache ich mich auf den Weg zum Baseballfeld. Dort entdecke ich Sanae auf der Tribüne. Natürlich, Handball ist ja erst mal für sie pasé. Neben ihr, am Rand der Tribüne, bleibe ich stehen.

Die Spieler, darunter Sakuya, wärmen sich gerade auf. Als er mich sieht, winkt er mir mit einem munteren Lachen zu.

Auch ich hebe kurz die Hand, spüre wie mir heiß wird.

Verdammt, wie schnell er mich aus dem Gleichgewicht bringen kann, ist echt beängstigend.

„Ich muss gleich nach Hause...“, sagt Sanae und lenkt meinen Blick zu sich. „Willst du vielleicht mitkommen?“

Ich sehe zurück zum Baseballfeld, dann wieder zu ihr.

Das heißt, ich würde ihn wahrscheinlich nicht mehr sehen heute...

„Klar“, lächle ich dennoch, will sie im Moment auch nicht ganz sich selbst überlassen.

Sanae steigt von der Tribüne, stürzt sich auf die Krücke... und ich sehe zu Sakuya hinüber.

Nach einem Zeichen von mir, kommt er zu uns.

„Ich... gehe mit zu Sanae...“, sage ich zögernd.

„Okay...“ Was er davon hält, kann ich nicht erkennen, als er sich auch schon umdreht und mit einem „Bis morgen!“ zurückläuft.

Plötzlich sehne ich mich noch viel mehr nach dir.
 

Ich verbringe den Abend bei Sanae. Wir machen unsere Hausaufgaben und spielen ein bisschen was. Es ist schön. Doch ich kann nicht anders, als immer wieder an Sakuya zu denken.

Irgendwann gegen Abend mache ich mich auf den Weg nach Hause.

Ob ich ihn anrufen soll?

Ich würde so gerne seine Stimme hören...
 

Ich tue es nicht und gerade, als ich zuhause bin, klingelt mein Handy.

Es ist Tatsuya, der wissen will, ob ich Lust hätte, in den nächsten Tagen mal wieder bei ihm vorbeizuschauen. Ich stimme zu, antworte ein „Ich werde ihn fragen“ darauf, ob ich Sakuya mitbringen werde... und schließlich halten wir den morgigen Nachmittag fest.

Anschließend schaue ich nach meinen eMails. Auch hier meldet sich ein Freund, Akito, mit ebenfalls der selben Frage. Ich schließe die Mail unbeantwortet. Er wolle mir doch endlich mal seine Freundin vorstellen...

Die Frage, ob ich wieder eine Freundin habe, käme dann garantiert auch wieder auf... Und was sollte ich darauf dann antworten?
 

~ * ~
 

Dienstag ist ein irgendwie deprimierender Tag. Das Wetter ist schlecht und ich sehe Sakuya so gut wie gar nicht. In der gemeinsamen Chemiestunde wird die Klasse in zwei Gruppen geteilt, da wir für den Versuch nicht genügend Bunsenbrenner in einem Raum haben... So wechsle ich den Raum, während er im ursprünglichen bleibt.

Ein wenig hoffe ich auf die Mittagspause, doch taucht Sakuya in der Cafeteria nicht auf. Sanae merkt natürlich, dass ich irgendwie geknickt bin und fragt mich nach meinen Plänen für den Tag, versucht mich ein wenig abzulenken.

Anschließend japanische Geschichte... Der zweite Kurs des Tages, den ich mit Sakuya zusammen habe, doch da ich fast zu spät zum Unterricht komme und der Lehrer ebenfalls grad den Raum betritt, habe ich nicht wirklich etwas davon. Also muss ich mich mit dem Beobachten begnügen.

Ich will ihn doch fragen, ob er mit zu Tatsuya kommen will... nein, eigentlich will ich einfach nur kurz mit ihm reden.
 

Die Stunde vergeht im Schneckentempo und dann, als sie vorbei ist, sehe ich meine Chance gekommen.

Ich gehe zu Sakuya hinüber.

„Hi...“, lächle ich, er erwidert es. „Sag mal...“, beginne ich dann zögernd. „Ich bin mit Tatsuya verabredet... willst du vielleicht mitkommen?“

Die Antwort fällt zu meiner Enttäuschung negativ aus und dann ist unser winziges Gespräch auch schon wieder beendet, da ein Mädchen den Kopf durch die Tür steckt und nach Sakuya und Asumo ruft.

Sakuya verabschiedet sich von mir und die beiden folgen ihr nach draußen.

Irgendwie... gefällt mir das alles gerade überhaupt nicht.

Ich vermisse dich!
 

Der Musikclub zieht sich hin. Die üblichen Diskussionen, die Minuten am Schlagzeug, die ich heute nicht wirklich genießen kann, und immer wieder ablenkende Gedanken an Sakuya.

Der Club geht länger als geplant, da die Mädchen überhaupt nicht zufrieden sind, und meine Konzentration lässt vollkommen nach.

Vom Tag und dem noch immer regnerischen Wetter deprimiert, will ich mich auf den Weg zu Tatsuya machen, als ich eben ihn am Schultor stehen sehe. Und auch wenn ich mir nichts sehnlicher gewünscht hätte, als Sakuya zu sehen, so freut mich selbst Tatsuyas Anwesenheit in diesem Moment.

„Ich hatte etwas früher frei und da ich eh grad in der Nähe war, dachte ich, ich hol dich ab...“, erklärt er mit einem fröhlichen Grinsen sein Auftauchen.
 

„Und? Am Freitag noch gut ins Bett gekommen?“, grinst Tatsuya, als wir fast bei ihm Zuhause angekommen sind.

„Naja, wie man’s nimmt...“, antworte ich und muss an den Reinfall denken... und die schönen Momente danach. „Ich hab jetzt zumindest erst mal genug vom Alkohol...“

„Das kann ich mir vorstellen...“ Er schließt die Tür zu seiner Wohnung auf.

Eigentlich würde ich ihn gerne fragen, was er von Sakuya hält, doch ebenso wenig wie ich Sakuya die entgegengesetzte Frage gestellt habe, tue ich dies nun. Eigentlich hatten sie ja gar keine Möglichkeit, sich kennenzulernen. Nächstes Mal muss ich Sakuya wohl wirklich mal mit hier her nehmen...

Ich setze mich aufs Sofa, bejahe Tatsuyas Frage, ob ich etwas trinken wolle.

„Sag mal...“ Er reicht mir ein Glas, als er sich zu mir setzt. „Habt ihr eigentlich schon miteinander geschlafen?“

Ich verschlucke mich, schaffe es mit Mühe und Not nicht alles über den Tisch zu spucken.

Bitte was?!

„Tatsuya!“, rufe ich erschrocken, als ich mich vom Husten beruhigt habe. „Wir sind doch noch nicht mal zwei Wochen-“

„Schon gut... ich war halt nur neugierig, sorry!“ Er lacht. „Also nicht?“

Ich sehe ihn tadeln an, muss aber wohl knallrot sein, als ich schlussendlich den Kopf schüttle. „Um ehrlich zu sein...“, lasse ich mich dann tatsächlich auf dies Gespräch ein. „Habe ich auch noch nicht so viel darüber nachgedacht...“

„Nicht?“ Er zieht eine Augenbraue in die Höhe und grinst. „Bist du plötzlich impotent?“

„Idiot!“, grinse ich zurück.

„Naja, ich muss es ja besser wi-“

„Hör auf, ich hab’s grad geschafft, zu verdrängen!“

„Wow, wie charmant...“ Noch immer trägt er dieses vielsagende Grinsen, was erst nach einigen Sekunden verschwindet, als er mit ruhiger Tonlage fragt: „Aber du willst schon, oder?“

„Ich... wie gesagt, so richtig hab ich noch gar nicht...“ Ich beende meinen Satz nicht und zucke mit den Schultern. „Ich will nichts überstürzen... es ist schön so, wie es ist... Es reicht mir, einfach bei ihm zu sein...“

„Wirklich?“

„Natürlich!“ Fast fühle ich mich in die Enge getrieben. „Hör auf mich auf irgendwelche Gedanken zu bringen!“

„Will ich doch gar nicht... Ich war einfach neugierig...“ Mit einem Lächeln steht er auf. „Ich hab heute noch nichts gegessen... komm, lass uns was kochen...“ Damit zieht er mich vom Sofa hoch.
 

Das Thema wird gewechselt und Tatsuya erzählt mir von seinen ersten zwei Tagen des Semesters an der Uni. Doch nun da das Thema für ihn scheinbar abgehakt ist, bin ich es, der nicht aufhören kann, daran zu denken.

Ich will Sakuya nahe sein...

Will ihn küssen...

Will ihn berühren...

Ich will... ja, wie viel eigentlich?

Tatsächlich habe ich nie wirklich drüber nachgedacht... Die intimen Berührungen Freitagnacht sind so schön gewesen... Kann ich mir überhaupt mehr wünschen? Will ich mehr? Will ich DAS mit ihm tun?

Ich spüre wie ich erneut rot anlaufe, als mir mein kleiner Ausrutscher wieder in Erinnerung kommt. Mit besoffenem Kopf habe ich ihn tatsächlich dort berührt... und seit dem Gespräch danach kam es nicht mehr zur Sprache...

Na ja, was erwarte ich auch, sind ja erst vier Tage seitdem vergangen...

Und ich habe auch selbst nicht mehr wirklich darüber nachgedacht.

Bin ich vielleicht noch nicht so weit?

Habe ich Angst?

Oder will ich ihn einfach nicht bedrängen?

Verdammt, was wünsche ich mir eigentlich selbst?

„Hey!“ Meine Hand wird zurückgerissen. „Schläfst du? Du verbrennst dich noch!“

Jetzt erst merke ich, dass ich beinahe die heiße Herdplatte berührt hätte.

„Was ist los?“

„Nichts... ich habe nur nachgedacht...“

Ein fragender Blick aber keine Worte. Er nickt, lässt meine Hand wieder los.

„Setz dich, ich mache den Rest...“

Einen Moment zögernd gehe ich seiner Aufforderung dann nach. Ich beobachte Tatsuya beim Kochen.

Es war so schön, Sakuya zu berühren... Es war so schön, von Sakuya berührt zu werden...

Ob es auch so schön ist, noch weiterzugehen?

Aber... Sex zwischen Männern... geht das wirklich so einfach?

„Tut es denn nicht weh?“

„Was?“ Verdutzt werde ich angesehen und mir wird bewusst, dass ich das gerade laut ausgesprochen habe.

„Ähm... Nichts!“ Ich schüttle verlegen den Kopf, sehe zur Seite.

Verdammt, musste er dieses Thema ansprechen? Jetzt schwirren all diese Gedanken durch meinen Kopf!

Erst als er sich nach einem verwunderten Moment zurück zum Herd dreht, sehe ich ihn wieder an.

Er hat Erfahrungen, was das Thema angeht... Er könnte mir wahrscheinlich so viele Fragen beantworten... Doch es ist so peinlich, darüber zu sprechen.

Aber andererseits spüre ich, wie die Neugierde mit jeder Sekunde wächst.

„Ich meinte, ob es... weh tut... wenn man mit... wenn man mit einem Jungen... schläft...“, druckse ich herum und werde dabei immer leiser.

„Ach, daher weht der Wind...“, kommt es verschmitzt.

Tatsuya füllt zwei Schüsseln und kommt dann zu mir an den Tisch, reicht mir ein Paar Stäbchen. Einige paar Happen stopfe ich in mich hinein, wage es nicht, ihn anzusehen, während ich spüre, dass er es die ganze Zeit tut.

Kann er nicht einfach antworten?

„Sorry, dass ich dich auf solche Gedanken bringe...“

Ich schüttle den Kopf und sehe ihn dann doch an. „Also?“

„Ja... beim ersten Mal tut es weh...“ Die Worte fahren tief in mich rein und ich weiß, dass es nicht das ist, was ich hören wollte.

„Aber dann... wieso...“

„Weil es auch schön ist.“ Er lächelt. „Erst tut es vielleicht weh, aber dafür ist es nachher umso schöner...“

„Wann hast du das erste Mal...“ Wahrscheinlich werde ich Satz für Satz immer röter. Nervös stochere ich im Essen herum.

„Ich war fünfzehn...“, antwortet Tatsuya. „Ich kannte ihn nicht... und danach wollte ich so etwas nie wieder tun...“ Er lächelt ein wenig. „Trotzdem habe ich mir gewünscht, der Person, die ich liebte, auch so nah sein zu können...“ Ein kurzes Seufzen. Er schiebt die leere Schüssel von sich.

„Und? Hast du mit ihm geschlafen?“, frage ich, nicht wissend, ob ich es wirklich soll.

„Nein... aber später mit einem anderen... Und glaub mir, es ist wahnsinnig schön, wenn du es mit einer Person tust, die du liebst...“ Er steht auf, räumt unsere Schüsseln weg, sieht mich dann an. „Ihr werdet schon merken, wenn ihr beide dazu bereit seid...“

Damit ist das Thema beendet.
 

~ * ~
 

Irgendwann gegen neun Uhr mache ich mich auf den Heimweg, gehe dabei noch schnell in einem Geschäft vorbei, ein paar Sachen für meine Mutter kaufen.

Erst gehe ich wie immer nur an dem Regal vorbei, doch irgendwie verleitet mich heute etwas dazu zurückzusehen. Ich spüre wie meine Wangen schon wieder ein wenig heißer werden.

Ob ich...

Aber wäre es...

Sollte ich nicht lieber...

Ich greife wahllos nach irgendeiner der Packungen, sehe mich um. Es ist ein Gefühl als würde mich jeder anstarren, und das obwohl mich keiner anguckt.

Ich gehe weiter, erledige den Rest der Einkäufe, während ich nur an das denken kann, was am Boden des Korbes liegt.

Ist es nicht doch irgendwie komisch, wenn ich...

Immer mehr Zweifel...

Schließlich lasse ich die hellgrüne Packung bei den Getränken liegen, gehe mit schnellen Schritten zur Kasse.

Ich sollte sofort damit aufhören, daran zu denken.

Aber...

Tatsuya, du Idiot!
 

Auf dem Heimweg habe ich das Gefühl, als sei die Einkaufstüte deutlich schwerer, als sie es sein sollte. Zögernd hole ich das Päckchen hervor, das nicht bei den Getränken liegen geblieben ist.

Für den Verkäufer muss so etwas ganz alltäglich sein, und doch war es, als würde er irgendwas wissen, als er die Packung an den Scanner hielt. Ich glaube, ich war knallrot in diesem Moment...

Wahrscheinlich bin ich es immer noch.

Ich drehe das Päckchen in meiner Hand, überfliege den Hinweistext, drehe die Packung wieder herum.

Apfelgeschmack

Gott, auch das noch!

Die Packung verschwindet in meiner Hosentasche, obwohl ich sie am liebsten irgendwo hingepfeffert hätte.

Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Es ist doch nicht so, als wolle ich bei der nächsten Gelegenheit über ihn herfallen! Im Gegenteil, verdammt! Ich will ihn doch auf keinen Fall irgendwie bedrängen!

Warum können diese Gedanken nicht einfach wieder verschwinden?

Ich beschleunige meinen Schritt, will einfach nur noch nach Hause.
 

Part 17 - Ende
 

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Part 18

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Sakuya (by littleblaze)
 

Mir ist warm als ich früh am nächsten Morgen erwache. Ich stehe auf. Suchend nach etwas Trinkbarem gehe ich hinunter in die Küche, wo mein Blick als erstes auf die Uhr fällt: 6.25 Uhr.

„Was machst du denn schon auf?“

„Ich habe Durst“, erkläre ich mein ungewöhnliches Erscheinen.

Ich fische mir irgendeinen Saft aus dem Kühlschrank, noch viel zu müde, um Schrift oder Bild erkennen zu können. Kurz halte ich mir die Packung an die Wange, lasse mich seufzend zu meiner Mom an den Tisch hinab.

„Dein Dad und ich fahren nachher in die Stadt, er braucht unbedingt neue Hemden“, teilt sie mit, während mein Kopf immer schwerer wird und schließlich auf die Tischplatte hinab sinkt. „Willst du mitkommen?“

„Ich brauche keine neue Hemden, Mom.“

„Nein, aber ein Bett.“ Sie streichelt mir leicht über die Haare und küsst mich auf die Stirn. „Du wirst so schnell erwachsen...“

„Sie wird dich bestimmt verstehen...“

„Mom ich...“ Ein Lächeln legt sich auf ihre Lippen, als ich den Kopf hebe und sie direkt anschaue. „...ich...“

„Morgen.“

„Auch schon wach?“ Sie wendet sich kurz an meinen Dad, der gähnend die Küche betritt und mich ebenfalls verwundert anschaut. „Was wolltest du sagen?“, trifft ihr Blick wieder auf mich.

„Äh, nichts. Ich geh dann mal wieder ins Bett.“

Ich erhebe mich vom Tisch und greife nach meinen Saft, nach dem ich plötzlich gar kein Verlangen mehr habe, verlasse mit einem Lächeln, das an meinen Dad gerichtet ist, den Raum.

Oben angekommen bin ich mir nicht wirklich sicher, ob ich froh oder betrübt darüber sein soll, nicht die Chance gehabt zu haben, es ihr zu sagen.

Ich lege mich wieder hin, kuschle mich an die schlafende Person in meinem Bett. Anscheinend hat er gar nichts von meinem Fehlen mitbekommen, nachdem er die halbe Nacht nicht einschlafen konnte. Ich drücke mich noch ein wenig näher an ihn, lasse meine Lippen kurz seine Brust berühren.

Es ist toll, schön, wunderbar? Mir fallen eine Menge Worte ein, doch passt nicht eines wirklich für das, was ich gerade fühle...
 

~ * ~
 

Stunden und ein paar kleine, intime Momente später, sitzen wir am Küchentisch. Das Zubereiten des Frühstücks wurde uns selbst überlassen, da meine Eltern das Haus bereits verlassen haben. Es stört mich kein bisschen.

„Ich hab mir mit Kyo am Mittwoch eine Uni angesehen...“, erwähne ich dann plötzlich. Keine Ahnung warum ich gerade jetzt darauf komme. „Weißt du schon, auf welche du gehen willst?“

Einen Augenblick lang schaut er mich einfach nur an, dann schüttelt er den Kopf. Also bin ich doch nicht der Einzige, der noch keinen wirklichen Plan hat...

„Nein... aber ich sollte wohl langsam anfangen, mich damit zu beschäftigen. Irgendwie hab ich das bisher nicht geschafft... außerdem...“

„Außerdem?“, hake ich nach.

„Außerdem weiß ich nicht, ob ich überhaupt studieren gehen soll...“

Es folgt ein Gespräch, dem ich lieber aus dem Weg gegangen wäre, denn zum ersten Mal fühle ich mich peinlich berührt, dass ich mir um Geld keine Sorgen machen muss.

Keine Sorgen? Ich bin sogar bereit dazu mehrere Semester einfach nur so wo reinzuschnuppern und nichts Wirkliches mit mir anzufangen... wie würde er darauf reagieren, wenn ich es ihm erzählen würde?
 

Als wir nach dem Frühstück wieder in meinem Zimmer sind, versuchen wir bald ein paar erfreulichere Themen zu finden.

Ich durchforste kurz meinen E-Mail-Posteingang und finde eine Mail von Kevin vor. Über den kleinen Text muss ich kurz schmunzeln, die mitgeschickten Links hebe ich mir allerdings für später auf.

Ein verträumter Blick, zärtliche Küsse und Augen, die mich versuchen zu fesseln, durchstreifen die nächsten Minuten, bis wir uns dazu entschließen, ein wenig in meiner Vergangenheit zu wühlen.

Ich zeige Fotoalben aus meiner Kinderzeit und erzähle viel über meiner Freundschaft zu Kevin. Dabei sitzt Kida hinter mir, und ich blättere für uns die Seiten durch, erzähle zu den meisten Bildern die ein oder andere kleine Geschichte. Er hört mir aufmerksam zu, schmiegt seinen Kopf gegen meinen und stiehlt mir dann und wann einen kleinen Kuss.

Geborgenheit umgibt mich in dieser Situation und innerlich freue ich mich darüber, dass ich nicht bei jedem einzelnen Kuss die Farbe wechsle.

„Sag mal, was machen wir denn gleich mit Kyo und Sanae?“

Ich drehe mich um, stütze mich so ab, dass ich seinem Gesicht nahe bin.

„Was willst du denn gerne tun?“

„Eigentlich ist das hier schon ganz gut“, lächelt er mich an und ich spüre seinen Atem gegen meine Lippen treffen.
 

Einige andere Vorschläge mit Pro und Contra durchdacht, entscheiden wir uns dann schließlich für Bowling.

Kyo und Sanae tauchen beinahe gleichzeitig bei uns auf und so befinden wir uns zirka eine halbe Stunde später in der besten, wenn auch überfülltesten Bowlinghalle der Stadt. Da zurzeit alle Bahnen besetzt sind, entschließen wir uns zu warten.
 

Voll ausgestattet schmeißen wir uns dann schließlich, nach doch eigentlich kurzer Wartezeit ins Vergnügen. Die ersten Minuten vergehen ein wenig holprig, im Spiel sowie auch im eigentlichen Miteinander. Keiner weiß so richtig, was er dem Rest der Gruppe mitteilen soll, dabei gibt es aus meiner Sicht heraus eine ganze Menge, worüber ich gerne reden würde.

Kyo ist ein Naturtalent was Bowling betrifft, der einzige Sport, in dem er mich bis jetzt schlagen konnte. Er benutzt dieses Können auch sogleich dazu, sich Sanae des Öfteren zu nähern, ihr kleine Tipps zum richtigen Wurf zu geben. Allerdings durchschaue wohl nicht nur ich, dass es sich dabei um gutgezielte Anmachen handelt, und so schaltet sie schnell auf Stur.

Schade, er scheint wohl so gar nicht ihr Typ zu sein. Eigentlich wären sie doch ein ganz tolles Paar, oder? Würde es nicht für uns alle irgendwie von Vorteil sein, wenn sie was miteinander anfangen würden? Aber auf was für einen Typ Sanae steht, ist mir allerdings auch klar... blond und blauäugig sollte er sein.

Ich grinse leicht und mir fällt ein, dass ich gar keine Ahnung davon habe, wie der Kontakt zwischen ihr und Kevin weiter verlaufen ist. Gab es überhaupt noch Kontakt?

Doch halte ich mich trotz aufkommenden Neugier zurück, jetzt ist garantiert nicht der richtige Zeitpunkt, und vielleicht sollte ich da lieber eine andere Person ausquetschen.

„Möchtest du mal probieren?“

Mir wird ein buntes Getränk vor die Nase gehalten, das sofort auf meinen prüfenden Blick stößt. Kida setzt sich neben mich, stellt meine gewünschte Cola vor mir auf den Tisch.

„Was ist das denn?“

„Keine Ahnung, aber es scheint mächtig beliebt zu sein.“ Sein Blick schweift über die anderen Tische und auch ich kann öfters genau dieses Getränk erkennen.

„Das ist eine Fruchtbombe“, bekommen wir erklärt. „Ist mächtig süß... viel zu süß, wenn ihr mich fragt.“

Kyo greift sich seine Cola, trinkt einen Schluck. Kida und ich schauen immer noch etwas unsicher auf den bunten Inhalt des Glases.

„Nein... jetzt hast du’s schon wieder falsch gemacht...“ Kyo flitzt in Richtung Sanae davon und mein unschlüssiger Blick trifft Kida.

„Du zuerst“, rede ich mich raus.

Mit den Worten: „Na ja, ich werd schon nicht dran sterben“, verschwindet der blaue Strohhalm zwischen seinen Lippen. Sie umschließen ihn sanft und die leichten Saugbewegungen daran machen mich auf einmal ganz verrückt...

„Mmmhh, schmeckt gar nicht mal schlecht.“

Meine Augen wandern hinauf und obwohl mein Blick nicht mehr an seinen Lippen hängt, wird mein Puls irgendwie schneller, wird alles irgendwie so komisch... mir ist unglaublich warm...

„Ist was mit dir?“

„Nein“, versuche ich mir selbst einzureden, greife nach meiner Cola und trinke einen großen Schluck. Ich lasse die Eiswürfel länger als nötig meine Lippen berühren.

„Möchtest du jetzt au...“

„Nein, danke“, unterbreche ich, schaue stur geradeaus. Es ist nicht seine Schuld, ich weiß... aber ich fühle mich... ich bin verdammt noch mal sauer. Sauer auf mich selbst, dass ich von so einer kleinen Geste aus der Bahn geworfen werde, und mächtig angekotzt... warum darf ich ihn jetzt nicht einfach küssen...?

„Du bist dran, Sakuya.“

Meine Verstimmung lasse ich kurzerhand an den Pins aus. Witzigerweise gelingt mir ein Strike, der mich auch sogleich wieder aus meinem Tief hinaus befördert.
 

Der Punktestand verändert sich in der nächsten Stunde immer mehr. Kyo liegt meilenweit vorne, ich dümple so leicht hinter ihm her und Sanae hat das miserabelste Ergebnis, das ich je gesehen habe, gefolgt von einer weiteren Premiere: Sie schafft es tatsächlich sich eine Kugel auf den Fuß fallen zu lassen.

Die Aufregung in der Halle ist enorm. Ein Angestellter begutachtet ihren Fuß, kühlt ihn mit einer Ladung Eis und von überall ernten wir gaffende Blicke.

Sanae schluchzt immer wieder vor Schmerzen auf. Überraschend, dass ihr nicht Kida an erster Stelle beisteht, sondern Kyo, der sie sacht an sich drückt, während sie sich schon beinahe an ihm festkrallt. Wäre diese Szenerie nicht von so sehr Schmerz und Mitleid getrübt, könnte man glatt sagen, dass es richtig süß aussieht.
 

Da es Sanae strikt ablehnt, dass ich ihr die Taxifahrt nach Hause bezahle, wird sie die gut 500 Meter bis zur Bahnstation von Kyo getragen.

Wo die plötzliche Stärke für dieses Vorhaben herkommt, ist mir rätselhaft. Kida und ich gehen vor den beiden hinweg, damit auch ja keiner auf den nackten, schmerzenden Fuß trifft.

Einige Minuten später teilen wir uns auf. Kyo bringt die verletzte Sanae nach Hause und Kida begleitet mich. Eigentlich war es ganz anders geplant, doch muss ich zugeben, dass es mich kein bisschen stört, dass es so gekommen ist...

„Ist dir kalt?“

„Nein“, antworte ich nachdem ich kurz in mich gehorcht habe. „Dir?“

„Nein, aber es ist schon ganz schön kühler geworden.“

„Ja.“

Wir kommen bei mir an. Geräusche kommen aus dem Wohnzimmer.

„Ich bin wieder da.“

„In der Küche liegen noch Donuts“, kommt es zurück.

„Danke, ich habe keinen Hunger. Ich geh hoch.“

„Ok Schatz. Nacht.“

„Nacht.“ Gefolgt von Kida gehe ich hinauf.

Ich kann ein kleines Lächeln nicht vermeiden, als ich ihm dabei zusehe, wie er sich auf mein Bett fallen lässt, zur Decke hinauf starrt.

„Das war ja mal wieder ein Abend.“ Er lächelt, fast so als wäre da an der Decke etwas, dem er dieses Lächeln schenkt. Fühlst du dich wohl...?
 

~ * ~
 

Irritiert wache ich auf.

Ich greife um mich, treffe auf ihn und ziehe blitzschnell meine Hand zurück, als unkontrollierte Bewegungen und komische Geräusche die Folge meines Tun sind. Als es wieder still wird, bin ich beruhigt.

Es ist das erste Mal, dass ich seine Nähe nicht irgendwie gespürt habe. Sei es durch einen Fuß, eine Hand oder seinen Atem, der mich streift. So, als wäre er nicht mehr da.

Ich manövriere mich in meine neue Wunschposition, drücke mich an seinen Rücken, lasse mein Gesicht leicht in seine Haare verschwinden. Ich kenne den Geruch... wie hieß dieses Shampoo doch gleich...?
 

Wir stehen früh auf, machen einen Abstecher zu Sanae. Wirklich verwundert bin ich nicht, dass wir Kyo ebenfalls dort vorfinden.

Wir erfahren, dass sie schon ziemlich früh im Krankenhaus waren und anscheinend nichts gebrochen ist. Irgendwas angeknackst und ne mächtige Verstauchung, weshalb sie jetzt erst einmal für zwei Wochen so ne Art Gipsschiene tragen muss und auf Krücken angewiesen ist.

„Was ist denn das?“ Ich deute auf den Schreibtisch, nehme den Bilderrahmen auf. „Du hast ein Bild von mir, wie süß!“

„Spinner, sie hat es nicht wegen dir“, dementiert Kyo.

„Als ob ich das nicht selber wüsste.“

„Zeig mal her“, ist jetzt auch Kidas Neugier geweckt. Ich reiche ihm das Bild, während sich Sanae erklärt.

„Ich habe es von Kevin bekommen.“

Es ist eines der Schnappschüsse aus dem Museum. Kevin und ich sind zusammen auf dem Bild zu sehen. Wenn ich mich recht erinnere, das einzige Bild wo er überhaupt mit drauf ist.

„Er hat es für mich ausgedruckt, als ich ihn darum gebeten habe.“

Kida reicht mir das Bild zurück und ich stelle es wieder an seinen Platz. Für einige Momente ist es ruhig und irgendwie erwartet wohl jeder, dass jetzt ein Kevingespräch folgt, doch keiner bringt den Mut dazu auf. Kurze Zeit später verabschieden wir uns dann auch wieder von den beiden.
 

Der restliche Tag verläuft eigentlich... perfekt! Wir reden viel, kuscheln ein wenig und persönlich fühle ich mich einfach rundum wohl. Doch irgendwann kommt immer der Punkt, an dem alles nicht so läuft, wie man es sich erhofft, und so macht ein kleines Telefongespräch dieses perfekten Tag einfach zu Nichte.

Natürlich könnte man jetzt sagen, dass er doch bis jetzt so gut war, dass man sich an dem, was man schon hatte, erfreuen sollte... aber so einfach ist das nun mal nicht, wenn man irgendwie mehr will...

Ich liege auf meinem Bett und starre das Handy an. Sein Name ist längst vom Display verschwunden, seine Stimme schon lange verklungen. Und jetzt?

Kyo ist beschäftigt, in Boston ist es mitten in der Nacht und sonst...
 

~ * ~
 

Das erste Mal wieder wirklich Kida: am nächsten Tag in der Schule.

Wir sitzen beim Essen zusammen. Nicht wirklich schwer, da Kyo von ganz alleine den Weg zu der auf Krücken wankenden Sanae einschlägt. Er ist ein wenig enttäuscht, da sie morgens von ihrer Mom zur Schule gebracht wird und nicht er diesen Samariterdienst übernehmen kann.

Ich folge ihm einfach nur durch den großen Saal und setze mich ihm gegenüber, neben Kida.

Zu Anfang komme ich mir ein wenig komisch vor. Hana schaut skeptisch zu uns herüber und macht einige aus der Mannschaft auf unsere neue Sitzordnung aufmerksam. Ich winke Masaki zu.

Nach einigen Minuten taucht Hikaru bei uns am Tisch auf, kniet sich neben mich und fragt, ob wir nicht heute die Aufstellung beim Training mal ändern könnten. Ich antworte nur schnell, dass ich es mir überlege und wir das später besprechen würden. Ansonsten passiert nichts... habe ich denn irgendwas erwartet?

Kyo und Sanae scheinen sich in den letzten zwei Tagen ziemlich vertraut geworden zu sein. Er trägt ihre Bücher von einem Kurs zum nächsten und kennt anscheinend ihren Stundenplan für die gesamte Woche schon auswendig.

Kyo redet sowieso ziemlich viel an diesem Tag, man kommt kaum noch dazu, selber das Wort zu ergreifen. Irgendwann platze ich dann doch mit meinem Matheproblem in die Runde, woraufhin mir Sanae einen super Nachhilfelehrer ans Herz legt. Ihr Blick schweift auf die Person neben mir und kurz darauf ist es dann auch schon wieder Zeit für Informatik.
 

Baseball. In der Umkleide gebe ich bekannt, dass wir es heute mal mit einer neuen Aufstellung probieren, und ich weise Hikaru seinen gewünschten Platz zu. Ich ernte ein paar verärgerte Blicke.

„Kommt schon, lasst es uns wenigstens mal probieren.“

Beim Aufwärmen entdecke ich Kida, der auf Sanae, die es sich auf der Tribüne bequem gemacht hat, zugeht. Ohne groß darüber nachzudenken, winke ich ihm zu.

„Hör sofort auf damit!“, kommt es zischend an meinem Ohr und ich senke mehr vor Schreck den Arm.

„Was ist denn?“ Ich tipple hinter Kyo her. Er schaut sich kurz um, bevor er mir antwortet.

„Wenn du ihm weiterhin so blöd grinsend zuwinkst, kannst du dir auch direkt ein Schild an die Stirn pappen, auf dem steht: Ich bin schwul.“

„Ich habe doch nur gewunken.“

„Ja, und dabei wie ein verliebter Hund gegrinst... Pass einfach besser aus.“

Doch ich kann mich nicht mal daran erinnern, in irgendeiner Form meine Mundwinkel bewegt zu haben, und gerade erst diese Warnung erhalten, werde ich von Kida herbeigerufen.

Ich fühle mich mit einem Mal komisch beobachtet, als ich zu ihm rüber gehe und mir anhöre, was er zu sagen hat. Ich gebe nur ein kurzes „Okay“ zum Besten und verabschiede mich schnell, laufe zurück zur Mannschaft.

Innerlich bin ich enttäuscht, dass wir uns heute nicht mehr sehen werden, wieder ein Abend ohne ihn, eine Nacht ohne seine Nähe. Doch gebe ich von dem nichts preis, als wir mit dem Training beginnen.
 

Heute hat es mich getroffen: Equipment aufräumen.

Als ich fast fertig bin, taucht Hana zu meiner Linken auf.

„Du sag mal...“

„Ja?“

„Seit wann hängst du eigentlich mit Ito und Takahama rum?“

Eine Direktheit, die wirklich nur von einem Mädchen kommen kann.

„Darf ich keine neuen Freunde finden?“, ist meine Antwort darauf, die ich mir schon zurecht gelegt hatte.

„Doch schon... aber...“

„Aber was?“

„Du hast... hast doch nicht etwa was mit ihr... oder?“

„Wie kommst du denn darauf?“ Ich versuche ganz cool zu bleiben, als wäre sie meilenweit von der richtigen Annahme entfernt.

„Es hieß doch immer, dass sie...“

„Quatsch“, unterbreche ich. „Das ist alles nur Gerede, glaub mir... wir sind nur gute Freunde.“

Sie schaut mir die letzten Handgriffe lang zu. Warum kann sie nicht endlich verschwinden?

„Ich bin doch auch ein Freund, nicht wahr?“

„Natürlich“, lächle ich sie an.

„Verbringst du dann auch Zeit mit mir?“

„Was?“, frage ich irritiert nach.

„Wir könnten ins Kino gehen oder uns ein Baseballspiel anschauen oder irgendwas anderes machen, was dir gefällt.“

„Hört sich an wie ein Date.“ Genau wissend, dass es so ist, schaue ich sie an, als wäre es nur ein Spaß von mir gewesen. Was soll ich denn jetzt auch bitteschön tun? Ihr ohne triftigen Grund absagen ist nicht drin und beichten, dass ich schon wen anders habe, wird mir keine Ruhe mehr lassen, bis sie mir auf die Schliche gekommen ist.

„Wenn dir das gefallen würde, können wir es gerne so nennen.“ Sie lächelt, ein wirklich schönes Lächeln.

„Ich weiß nicht... ich habe echt viel zu tun. Ich steh kurz vor dem Abschluss und in Mathe muss ich noch einiges aufhole...“

„Ich helfe dir“, kommt es prompt.

„Danke, aber da habe ich schon wen.“

„Ach so... aber irgendwann musst du doch auch mal ein wenig Zeit haben. Ich mach wirklich alles mit. Alles!“

Nach kurzem Zögern meinerseits, keine helfenden Erklärung findend, gebe ich mich schließlich geschlagen und stimme einem nicht-datingen Treffen am Samstag zu. Glücklich marschiert sie vom Platz und ich habe ein Problem mehr am Hals. Wie um alles in der Welt soll ich da wieder rauskommen?
 

„Du hast was? Wie konntest du dich darauf einlassen?“

„Keine Ahnung, mir ist einfach nichts mehr eingefallen.“

„Er wird dich umbringen.“

„Denkst du?“

Ich schaue Kyo besorgt an.

„Nein, aber ich würde es tun, wenn du mein Freund... äh, meine Freundin wärst.“

„Ich werd schon was finden, um mich da rauszuhauen“, spreche ich mir selbst aufmunternd zu.

„Viel Glück dabei“, kommt es grinsend von der Seite.

„Kommst du noch mit zu mir?“

„Keine Zeit.“

„Dein Vater braucht dich echt viel in letzter Zeit, geht es ihm immer noch nicht wieder besser?“

„Doch doch, es ist auch nicht wegen ihm...“

„Wegen was denn?“

„Ich gehe zu Sanae.“

„Schon wieder?“, frage ich verwundert nach.

Ein leichtes Nicken.

„Ich wusste gar nicht,... dass sie dein Typ ist?“

„Nicht mein Typ? Sag mir doch mal, wessen Typ sie nicht sein soll? Sie ist doch einfach klasse, unwerfend, bezaubernd... aber das muss ich dir doch wohl nicht erzählen, oder?... Denkst du denn wirklich, ich hätte mich jemals getraut, sie mit meinen üblichen Sprüchen anzulabern? Nicht doch... darauf fällt sie doch nicht rein. Aber jetzt.... wo du und Kida... na ja, Freunde werden wir auf jeden Fall zwangsläufig und wenn ich Glück habe und mich richtig anstrenge, vergisst sie vielleicht bald diesen blonden Lacka...“

„Eh, eh, eh, eh...“, wedle ich warnend mit dem Finger.

„Du weißt, was ich meine.“

„Natürlich, aber sag mal... ist Kida nicht heute bei ihr?“

„Ist er?“

„Wenigstens hat er mir das erzählt.“

„Scheiße.“

„Na komm, ein Tag ohne Krankenpflege wird dich nicht umbringen.“ Ich kann ein Grinsen nicht verbergen.

„Dann werde ich wohl doch mal wieder meinen Dad was helfen“, kommt es seufzend. „Und was machst du heute noch so?“

„Null Ahnung, vielleicht mal endlich was für die Schule tun.“

„Ja, das müsste ich auch mal. Also... bis morgen.“

Ein schneller Wink und schon ist er hinter der nächsten Ecke verschwunden.

„Scheiß Tag.“
 

Eine knappe Stunde später betätige ich den großen Knopf an meinem PC.

Es dauert nicht lange bis alle Programme einsatzfähig sind. Zuerst öffne ich ICQ, entscheide mich aber dafür, mich nicht selbstständig zu melden, sondern warte bis Kevin in gut ein bis zwei Stunden eh aufstehen wird. Ich öffne mein Postfach, wo ich eine ungeöffnete Mail von ihm, sowie die von Freitag, vorfinde. Ich hatte bis jetzt gar keine Zeit dafür, mir die Links anzusehen, die er mir geschickt hat.

Die Neue hat keinen wirklich interessanten Inhalt und so wende ich mich schnell wieder der Älteren zu. Gespannt auf was für Seiten sie mich führen werden, klicke ich den ersten Link an:

„Schwulen Community“

In großen, bunten Buchstaben steht es da, doch mehr bin ich nicht bereit zu ertragen, klicke erschrocken auf das kleine X am oberen Rand. Was um alles in der Welt soll das denn? Warum schickt er mir solche Seiten?

Ich starre einige Sekunden einfach nur auf die weiteren Links. Ob sich hinter jedem von ihnen eine solche Schwulenseite verbirgt? Mit dem Stuhl rolle ich ein wenig zurück, angle mit den Füßen eine der Hanteln unter meinem Bett hervor.

Zurück am PC klicke ich auf den letzten der sieben Links:

„Lesben und Schwulen Forum“

Auch nicht besser als die Seite zuvor, doch hält mich der Themenpunkt Coming Out davon ab, die Seite sofort wieder zu schließen.

Während sich die Hantel um meine Arme kümmert, lese ich einen Beitrag nach den anderen. Die meisten User sind nicht viel älter als ich selber, erzählen von ihrem Schwulsein, ihren Gefühlen und meistens von den durchweg negativen Erfahrungen, die sie mit ihrem Coming Out hatten.

Nach dem vierten negativen Beitrag habe ich genug und schließe die Seite. Sollte mir das jetzt irgendwie helfen?

Ich öffne einen weiteren Link, auf dessen Seite es mehr der Aufklärung zielt.

Es wird über die häufigsten Ansteckungskrankheiten, richtige Benutzung von Kondomen, und wo man Hilfe in Notsituationen finden kann, berichtet. Hier bleibe ich länger hängen als vermutet, obwohl mich die Bilder der ein oder anderen Geschlechtskrankheit schon ganz schön anekeln.

Durch einen Link von dieser Seite komme ich auf eine Art Kamasutra für Schwule. Wirklich ernst nehme ich das nicht, denn auch mit der größten Vorstellungskraft, kann so manche Stellung nicht wirklich funktionieren.

Beim dritten Link von Kevins Auflistung erwartet mich eine ganz andere Art von Schwulenseite. Hier wird einem gut zugesprochen nicht aufzugeben, wenn man Probleme hat, dass es etwas ganz normales ist, schwul zu sein, und dass man sich dessen nicht schämen muss. Im Forum wird Hilfe vom Fachpersonal angeboten und sogar ein kostenfreies Sorgentelefon steht zur Verfüg...

„Guten Abend Sakuya.“

„Guten Morgen Kevin.“

„*gähn*“

„Ich schau mir gerade die Links durch, die du mir geschickt hast. Bin vorher nicht dazu gekommen. Sind wirklich interessante Sachen bei. Danke.“

„Bitte. Ich dachte, dass sie dir vielleicht ein wenig helfen könnten. ^__^“

„Bestimmt. Ich habe übrigens das Bild bei Sanae entdeckt.“

„Oh ja, hoffe das war in Ordnung??????“

„Natürlich! Habt ihr eigentlich noch Kontakt?“

„Eigentlich nicht, wir hatten noch ein paar Mal E-Mail-Kontakte, aber das hat sich jetzt auch gelegt. Wieso fragst du?“

„Nur so. Kyo hat es auf Sanae abgesehen“, vermittle ich ihn.

„Meinen Segen hat er.“

„Das wird ihn bestimmt beruhigen ^__^ Ha, siehste. Ich kann das auch, das Lachgesicht.“

„Bravo. Applaus. Schade, aber ich muss mich jetzt für die Schule fertig machen. Lass uns ein anderes Mal weiter reden.“

„Ok. Bestell allen einen lieben Gruß von mir.“

„Mach ich. Bye Bye.“

„Bye.“
 

Noch zwei Stunden nimmt mich das Internet in Beschlag. Auf jeder Seite bekommt man eine weitere Liste interessanter Links, die sich meist nicht weniger lohnen, besucht zu werden. Doch irgendwann schaffe ich es dann schließlich doch, mich loszueisen und unter die Decke zu schlüpfen.

Trotz der vorhanden Müdigkeit halten mich neue Gedanken wach: Wie oft hatte Kida schon Sex? Wie erfahren ist er eigentlich schon? Hat er nur mit Frauen Sex oder ist da schon irgendwo ein Mann dazwischen gewesen? Und vor allem... Hatte er jemals ungeschützten Sex? Könnte es sein, dass er irgendeine dieser ekelhaften Geschlechtskrankheiten in sich trägt?

Fragen, die ich mir niemals selbst beantworten könnte, doch trotzdem Fragen, die mich wach halten. Immer wieder diese Bilder in meinem Kopf, wenn ich die Augen schließe und versuche, an rein gar nichts zu denken. Immer wieder diese Unmengen an neuen Ungewissheiten...
 

~ * ~
 

Die erste Stunde, die Kida und ich am Dienstag zusammen besuchen, ist Chemie, doch schnell wird die Zusammenkunft wieder zerstört, da die Klasse in zwei Gruppen aufgeteilt wird.

Müde und lustlos rühre ich in meinem Experiment herum und als ich kurz vor Ende der Stunde von der Seite her angesprochen werde, schrecke ich so sehr auf, dass mir die ganze Suppe auf den Boden läuft.

Die weißen Fliesen erhalten einen neuen Blauton und ich werde dazu verdonnert, die Schweinerei in der Mittagspause wieder zu beseitigen.
 

Müde, lustlos und nun auch noch hungrig schleife ich mich nach meiner Strafarbeit in japanische Geschichte.

Kyo erzählt mir, dass er mitbekommen hat, dass die Mannschaft mit der gestrigen Aufstellung gar nicht zufrieden war, worauf ich nur ein desinteressiertes „Mir doch schnuppe.“ hervor bringe.

Mit Kida wechsle ich ein paar kurze Blicke, versuche, trotz meines miserablen Zustandes, immer aufrichtig zu lächeln. Warum sitze ich eigentlich so weit von ihm entfernt?

Als die zwei Stunden endlich vorbei sind, kommt er zu mir herüber.

„Hi... Sag mal... Ich bin mit Tatsuya verabredet... willst du vielleicht mitkommen?“

„Tatsuya? Nein danke, dafür fehlt mir heute echt die Kraft.“ Ich lasse meinen Kopf niederschmetternd auf den Tisch gleiten. Warum ausgerechnet Tatsuya? Was findet er bloß an dem?

„Armer Junge, na komm, ich habe noch was Leckeres in meinem Schrank.“ Kyo klopft mir aufmunternd auf den Rücken und im gleichen Moment erklingen unsere Namen von der Tür her.

„Sorry, ich muss los.“

„Ok.“

„Hey... ich... ich wünsch dir viel Spaß“, verabschiede ich mich, gehe mit einem unguten Gefühl auf die Zimmertür zu.
 

In der Schule sehe ich Kida nicht mehr.

Kyo lässt den Baseballclub sausen und geht mit Sanae nach Hause, so dass ich mir das Rumgeheule der Mannschaft alleine anhören muss.

„Stellt euch doch alleine auf“, ist meine einzige Reaktion darauf und dann setze ich mich resignierend auf den Rasen. Von allen Seiten werde ich blöde angestarrt.

„Was ist? Meckern könnt ihr, dann zeigt mir doch auch, dass ihr es besser könnt.“ Ich strecke mich auf dem Rasen aus, lasse mein Gesicht von der Sonne erwärmen.
 

Am Abend lasse ich mir von Kevin bei den Hausaufgaben für Französisch helfen. Danach streife ich abermals ein wenig auf den Schwulenseiten herum, bis ich auch hier die Lust verliere.

Was Kida jetzt wohl gerade macht? Ob er schon wieder zu Hause ist... Kurz nach Acht...

Ich lege den Baseball beiseite und gehe hinunter. Ich schaue zuerst in der Küche nach, finde meine Mom dann vor den Fernseher vor.

„Mom, ich gehe noch mal weg.“

„Jetzt noch?“, kommt es ein wenig besorgt.

„Ich beeil mich, ok?“

„Sei spätestens um halb Elf wieder da. Verstanden?“

„Okay Mom. Bye.“

Ich schlüpfe in meine Schuhe und gehe in Richtung Haltestelle. Zwei Minuten später sitze ich in der Bahn und frage mich, ob es nicht doch klüger wäre, vorher anzurufen? Aber was, wenn er noch bei Tatsuya ist... würde es nicht aussehen, als würde ich ihn kontrollieren wollen?

Ich steige eine Station früher aus. Plötzlich bin ich mir meines Vorhabens gar nicht mehr so sicher. Ob es daran liegt, dass ich wieder einmal keine Ahnung habe, was ich ihm sagen soll, wenn ich ihm erst einmal gegenüber stehe?

Was genau will ich denn? Ihn sehen? Oder mich nur vergewissern, dass alles in Ordnung ist? Doch was sollte nicht in Ordnung sein? Nur weil er sich mit einem anderen Schwulen trifft, muss das doch nicht zwangsläufig was heißen... oder?

Nach diesem Gedanken beschleunigt sich mein Schritt. Wovor habe ich nur gerade so große Angst? Und prompt werde ich wieder langsamer, bleibe sogar stehen...

Wie komme ich nur auf solche Gedanken? Das würde er doch niemals tun... Würde er? Nein, würde er nicht... oder?

Gott, eigentlich kenn ich ihn doch noch gar nicht. Vielleicht treibt er es ja gerade mit irgendeinem Typen und lacht sich ins Fäustchen, dass ich auf seine Süßholzraspeleien reingefallen bin...

„NEIN! So ist er nicht...“

„Entschuldigen Sie?“

„Äh, Entschuldigung. Sie waren nicht gemeint“, verbeuge ich mich leicht vor der Person, die sich von meinem plötzlichen Ausruf angesprochen fühlte. Ich ernte einen leicht verrückten Blick.

Warum habe ich plötzlich solche Gedanken, wo kommt das alles her?

Ich atme einige Male tief ein und aus... So ein Schwachsinn. Hör auf dich verrückt zu machen. Meine Füße tragen mich weiter, ein Blick auf die Uhr: 20.30 Uhr.

Ich komme an einigen Geschäften vorbei und vor einem der Schaufenster bleibe ich abrupt stehen. Ich schaue eine Weile auf das zierliche Objekt hinter dem Glas und gehe schließlich hinein.
 

Einige Minuten später erfahre ich, dass Kida nicht zu Hause ist. Ich entschließe zu warten, wenigstens solange, um noch pünktlich zuhause anzukommen.

Ich setze mich auf ein kleines Mauerstück. Die Sonne geht bereits unter, der Sommer scheint wohl wirklich langsam vorbei zu sein. Es wird spürbar kälter, vielleicht hätte ich mir doch etwas Wärmeres anziehen sollen.
 

Um kurz nach Neun kaufe ich an einem nahe gelegenen Getränkeautomaten zwei Flaschen Wasser, Kidas Haus immer im Blickfeld. Die eine Flasche führe ich mir zu Gemüte, in die andere setze ich mein kleines Mitbringsel, das ich bis jetzt in Händen hielt. Meiner Einbildung nach sind sie am verdursten, obwohl sie noch genau so schön aussehen wie vor ein paar Minuten, als ich sie gekauft habe.

Bald schon bin ich dann tatsächlich soweit und unterhalte mich mit den Blumen. Meine Mom sagt immer, dass sie besser wachsen würden, wenn man mit ihnen redet... Und tatsächlich habe ich irgendwie das Gefühl, dass sie mir zuhören... verrückt, oder?

Irgendwann blicke ich auf und kann zuerst nur eine Silhouette in einiger Entfernung erkennen. Es ist mittlerweile dunkel geworden, nur ein paar Lampen spenden ein wenig Licht. Wenige Augenblicke weiter ist die Person identifiziert, ich stehe auf und lasse die Flasche mit den Blumen hinter meinen Rücken verschwinden.

Als er mich ebenfalls entdeckt, beschleunigen sich seine Schritte. Er lächelt mich an, als er die letzten Bewegungen hinter sich lässt, vor mir zum Stehen kommt.

„Was tust du denn hier?“

„Ich wollte dir etwas bringen.“

„Was denn?“, kommt es neugierig und ein besorgtes „Wartest du schon lange? Warum hast du denn nicht angerufen?“ folgt sofort darauf.

„Nein, erst seit ein paar Minuten.“

„Dann ist ja gut.“ Er lächelt. „Also... was wolltest du mir denn bringen?“

Ich lasse die Flasche zum Vorschein kommen und sofort wird mir das alles oberpeinlich. Wie bin ich bloß auf so eine blöde Idee gekommen?

„Du bringst mir Blumen?“, kommt es ein wenig irritiert, so als wäre das ein blödes Versehen.

„Es sind Vergissmeinnicht“, kommt es zaghaft, unsicher und leise.

Er stellt die Tüte, die er bei sich trägt, ab und ein paar Sekunden passiert rein gar nichts. Nicht ein Wort, nicht eine Bewegung, bis er mich dann unerwartet an sich zieht.

Ich kann die Flasche gerade noch rechtzeitig aus dem Weg bringen, ehe sich auch schon unsere Körper treffen. Es ist eine unglaublich feste Umarmung.

„Du Idiot. Denkst du wirklich ich könnte dich vergessen, und glaubst du tatsächlich, ich bräuchte Blumen um mich an dich zu erinnern?... Du bist doch wirklich das Erste, an das ich jeden Tag denke und das Letzte, bevor mein Verstand in den Schlafmodus fährt.“

Ich kann ein zufriedenes Gesicht nicht unterdrücken, will auf seine Worte reagieren, doch Stimmen in der Nähe halten mich davon ab. Obgleich der Öffentlichkeit, in der wir uns befinden, lässt sein Druck nicht nach und so schmiege ich mein Gesicht an seine Schulter. Sollen sie doch denken was sie wollen...

„Du hast gelogen. Wie lange bist du schon hier?“, fragt er, als wir wieder alleine sind.

„Eine ganze Weile.“ Die Flasche immer noch feste umschlossen.

„Du bist ganz kalt.“ Er streift über meine nackten Arme. „Lass uns hochgehen.“

Kurz verweile ich, dann drücke ich mich ein wenig ab, schaue ihn an.

„Ich kann nicht. Ich habe versprochen, bald nach Hause zu kommen. Ich muss eigentlich jetzt gleich schon los.“

„Soll ich mitkommen?“

„Nein, ist schon gut“, kommt es augenblicklich. Habe ich mir die letzten zwei Tage seine Nähe doch so gewünscht... warum jetzt diese Aussage?

Sein Blick wandert kurz umher, bevor seine Lippen die meinen berühren.

„Ich werde gut auf sie aufpassen.“

„Auf was?“
 

„Auf die Blumen.“ Ein ernstgemeinter Blick und eine warme Hand, die sich um meine legt, mir vorsichtig die Flasche abnimmt. Wir trennen uns.

„Warte.“ Er stellt die Flasche auf den Boden, streift sich seinen Pullover vom Körper. „Hier, zieh das an.“

Er stülpt mir den Pullover über, befreit meine Haare unter dem Ausschnitt, küsst mich erneut leicht auf die Lippen.

„Jetzt siehst du fast schon vorzeigbar aus.“

„Danke... ich... ich werd dann mal.“ Die Kälte, von der er annimmt, dass sie vorhanden ist, existiert schon lange nicht mehr. Alles was er tut, sagt, lässt mich unglaublich glücklich sein, gar keinen Gedanken an irgendwelche Wetterumstände verschwenden.

„Okay.“

„Sehen wir uns morgen?... äh, natürlich sehen wir uns“, ich lächele verlegen. „Ich meine, hast du morgen Zeit, können wir zusammen sein?“, spezifiziere ich meine Frage.

„Nichts würde ich lieber tun.“ Seine Finger fahren an meinem Hals entlang, lassen die Kette kurz klimpern.

„Okay, dann... bis morgen.“

Ich drehe mich um, renne schon beinahe ein kleines Stück von ihm davon. Bei der nächsten Ecke bleibe ich allerdings stehen, schaue mich um.

Er steht immer noch im Türrahmen, schaut mir hinterher. Ich winke ihm zu, er winkt zurück.

Ich renne weiter, zur Bahnstation, leicht keuchend komme ich dort an. Ich lehne mich an die nächstbeste Wand, während ich auf die Ankunft des Zuges warte. Neugierig fährt meine Hand über den Stoff hinweg, mit der Nase ziehe ich tief den Geruch ein. Gott, was ist bloß los mit mir...
 

~ * ~
 

Der nächste Morgen beginnt mit einer unerwarteten Meldung.

„Am Wochenende ist es soweit“ lässt mein Dad mich und Kyo wissen. Wir schauen ihn fragend an.

„Ich muss nach Niigata am Wochenende und ihr wolltet doch beim nächsten Mal mitkommen...“

„Jetzt? An diesem Wochenende?“, reagiert Kyo zuerst auf diese Neuigkeit. „Da... da kann ich nicht.“

Nicht nur ich schaue verblüfft in sein Gesicht. Er hat sich so auf diesen kleinen Trip gefreut.

„Was ist denn los?“, frage ich.

„Ich habe ein Date.“ Kyo wird leicht rot, verlegen senkt er den Blick. „Es tut mir leid.“

„Kannst du das nicht verschieben?“, rede ich auf ihn ein.

„Ich weiß nicht... aber eigentlich will ich das auch gar nicht.“

„Ich kann nicht glauben, dass du für irgendeiner deiner Tussen...“

„Sie ist keine Tusse!“, werde ich schroff vom Weiterreden abgehalten und erst hier wird mir plötzlich klar, um welche Person es geht.

„Du triffst dich mit Sanae?“

„Ja.“

„Ihr habt ein Date?“

„Ja... irgendwie schon. Sie will zwar nicht, dass es irgendwer erfährt, ich dürfte es dir eigentlich gar nicht sagen.... aber ja, es ist ein Date.“

„Was meinst du damit, sie will nicht, dass es jemand erfährt?“ Ich bin verwirrt.

„Sie legt es als so ne Art Entschädigung für meine Hilfe aus, mehr nicht...“

„Was? Du willst mich verarschen? Darauf lässt du dich doch nicht ein?“

„Doch! Ich weiß, es hört sich blöde an, aber trotzdem... Es ist vielleicht die einzige Chance, die ich jemals bekommen werde und vielleicht... vielleicht gefällt es ihr ja sogar.“

„Gott, er wird endlich erwachsen“, kommt es respektvoll von meiner Mom. Mein Dad grinst nur und ich frage mich sofort, ob sie auch so stolz und freudig über die Ernsthaftigkeit meiner Beziehung denken würden.

„Also muss ich nur für mich Tickets kaufen?“, fragt mein Dad nochmals nach.

„Ja“, antworte ich. Was soll ich schon alleine in Niigata, mein Dad würde ja sowieso rund um die Uhr mit irgendwelchen Geschäftleuten abhängen.

„Halt mal... warum nimmst du nicht Kida mit? Dem würde so ein Trip doch bestimmt auch gefallen.“

Mein Kopf rattert, warum bin ich eigentlich nicht selber auf diese Idee gekommen? Ein ganzes Wochenende in Niigata... mit ihm alleine...
 

~ * ~
 

„Denkst du, dass du die Erlaubnis bekommst?“

„Ich weiß nicht... ich... wie viel würde das denn kosten?“

„Gar nichts. Habe ich noch nicht erwähnt, dass mein Dad die Reise von der Firma bezahlt bekommt? Kundenpflegschaft nennt sich so was. Ich würde dazu eher sagen: Saufen, bis der Arzt kommt.“

Ein leichtes Lächeln auf diese Aussage umspielt seine Lippen.

„Also?“

Er legt den Kopf ein wenig zurück, ein überlegender Gesichtsausdruck.

„Es wäre bestimmt schön... du und ich, zusammen... ich meine...“

„Okay, hast mich überzeugt. Ich werde morgen sehr früh aufstehen und meine Mutter noch vor der Schule fragen, einverstanden?“

„Ja, und ich komme mit.“

„Lass mal, dass mach ich lieber alleine.“

„Sicher?“ Ein Nicken, dem ein verführerisches Lächeln folgt.

Ich folge dem, als er sich zurücklegt, lasse meinen Körper sacht auf seinen sinken. Meine Finger verschwinden in seinen Haaren, spielen mit einzelnen Strähnen. Ich wandere einzelnen Gesichtszügen nach, massiere leicht seine Schläfen. Genüsslich schließt er die Augen.

„Liebst du mich?“, verlässt es verträumt meine Lippen und sofort stoppen meine Bewegungen, ich richte mich ein Stück auf. Wie kann ich nur so eine Frage stellen?

„Ja, das tue ich.“ Er presst seine Hände auf meinen Rücken, drückt mich wieder zurück. Seine Nase reibt sich spielerisch gegen meine, seine Lippen umschließen mein Ohr, alles in mir setzt auf Alarmbereitschaft und es dauert auch nur Sekunden bis sich unsere Kleidung nicht mehr an den dazugehörigen Körpern befindet.

Kein vorsichtiges Ausziehen des anderen, keine scheue Vorgehensweise, eher ein forderndes Reißen an der Kleidung des anderen. Nichts Vorsichtiges legt sich in diesen Moment zwischen uns, kein sanfter Kuss, sondern eher ein festes Aufeinanderdrücken der Lippen. Was passiert mit uns?

Es wird erst wieder ruhiger, als wir uns nackt gegenüber hocken und seine Finger über mein Bein streifen. Ich beuge mich zu ihm, schmecke die warme Haut, streichle hinab.

Ich werde sanft nach hinten gedrängt, sein Arm stützt mich, während ich hinunter gleite. Sein Gewicht drückt mich in die weiche Matratze, wir treffen uns, überall...

Das Licht blendet mich. Küsse, viele, leidenschaftlich, mal wild, mal sanft. Leichte Bewegungen seines Körpers, Reaktionen, die daraufhin entstehen. Keuchen, Stöhnen und viele weitere erregende Küsse.

Seine Hand wandert zwischen uns. Eine leichte Drehung unserer Körper, die uns in die Seitenlage bringt, immer heißere Küsse.

Finger, die nach uns tasten, uns finden, berühren, uns leiten. Mein erregtes Glied in seiner Hand, seines direkt daneben. Bewegungen, Gefühle und Geräusche, alles doppelt vorhanden, alles geteilt... es ist verrückt. Es ist einfach unbeschreibbar, wahnsinnig schön...
 

~ * ~
 

Am Freitag um 16.17 Uhr besteigen wir zu dritt den Flieger nach Niigata. Kida musste, so wie ich verstanden habe, ganz schöne Überredungskünste anwenden, um die Erlaubnis zu erhalten, mitzufliegen. Das größte Problem war wohl die nun zu schwänzenden Stunden am morgigen Samstag, aber zum Schluss hat er seine Mom dann doch noch erweichen können.

Aus der Sache mit Hana kam ich so auch ganz einfach raus und musste dieses beinahe Treffen nicht einmal beichten.

Ich stecke mir wie gewöhnlich die Stöpsel meines MP3-Players in die Ohren, drehe die Musik noch ein wenig lauter auf. Eine Berührung.

„Alles ok? Du siehst nicht gut aus.“

„Wenn wir erst einmal oben sind, geht es mir wieder gut“, lächle ich zaghaft, stecke den Stöpsel zurück, den ich kurz zuvor entfernt habe. Ich drehe mich ein wenig, als die Stewardess vorbei kommt, immerhin soll sie meine verbotene Tat nicht mitbekommen. Schon alleine der Blick aus dem Fenster macht mich ein wenig nervös, obwohl wir immer noch am Boden sind...
 

Die zwei Stunden Flug beschäftigen wir uns mit ein wenig Mathenachhilfe. Ich war zwar am Anfang nicht gerade begeistert von diesem Vorschlag, aber es lenkt ungemein ab und die Zeit vergeht im wahrsten Sinne wie im Fluge.

In Niigata angekommen, quartieren wir uns in einem Ryokan mit eigenem Onsen ein.

Am Eingang lassen wir unsere Schuhe stehen und schlüpfen in die hoteleigenen Hausschuhe. Kida und ich teilen uns ein Washitsu, mein Vater belegt sein eigenes.

Während er sich nur Minuten später auf den Weg zu irgendeinem Kunden macht, schlüpfen wir in unsere Yukatas.

Man fragt uns, ob wir zuerst ein Bad nehmen wollen, aber wir lehnen ab. Wir lassen uns Essen bringen, nehmen auf den Tatami platz und futtern uns durch die hier servierten Köstlichkeiten.
 

Nach dem Essen entschließen wir uns doch für ein kleines Bad. Wir betreten den Umkleideraum, legen unsere Kleidung in den dafür bereitgestellten Körben ab. Im Waschraum nehme ich mir ein kleines Bänkchen und eine Schüssel.

„Ich komme mir vor wie Heidi von der Alm.“

„Bitte?“ Kida nimmt ebenfalls seine Utensilien und schaut mich fragend an.

„Ein Schemel.“ Ich halte das kleine Bänkchen hoch. „Ein Eimerchen.“ Ich hebe die Schüssel an. „Man könnte denken, ich gehe zum Kühe melken.“ Kida lacht auf. „Was denn... etwa nicht?“

Ich setze mich auf mein kleines Bänkchen, fülle die Schüssel mit warmem Wasser und lasse den gesamten Inhalt über mich laufen.

„Wie ist das eigentlich bei euch zu Hause?“ Erst jetzt wird mir wieder bewusst, dass mir doch eigentlich ein Vollblutjapaner gegenwärtig ist.

„Du meinst das Baden?“

„Ja.“

„Schemel und Eimerchen“, kommt es lächelnd. „Aber meistens dusche ich eh nur und da unterscheidet sich eigentlich nichts. Wasser an, drunter stellen, einseifen, abspülen, fertig.“

Mit einer weiteren Ladung Schüsselinhalt spüle ich mir den Schaum vom Körper.

„So, fertig.“

Ich stehe auf, stelle Bänkchen und Schüssel wieder zurück an ihren Platz und greife nach einem der kleinen Handtücher. Ein paar Sekunden später ist auch Kida soweit und folgt mir hinaus.

„Scheiße ist das kalt.“

Die doch viel kühlere Niigata Abendluft erfasst meinen Körper. Ich beeile mich, um möglichst schnell in das warme Wasser zu kommen. Mit dem Fuß tippe ich vorsichtig hinein.

„Heiß.“

„Es geht.“ Während ich immer noch zwischen Kälte und Hitze kämpfe, geht Kida ohne große Probleme ins Wasser. Er durchstreift das Becken, lässt sich mir gegenüber nieder und legt sein Handtuch auf die Stirn.

„Aaahhh, das ist schön warm.“

Sein Blick bleibt an mir hängen... an mir, an meinem nackten Ich. Trotz so vieler Blicke und Berührungen komme ich mir am Rande des Wassers plötzlich ziemlich entblößt vor. Zügig steige ich hinein, durchstreife ebenfalls das Becken und setze mich neben ihn.

Ich brauche eine Weile, um die Temperatur um mich herum zu verdauen, lasse meinen Kopf nach hinten gleiten, stütze ihn gegen einen großen Stein. Eine ganze Zeit lang ist es ruhig. Man hört zwar das ein oder andere Geräusch, aber trotzdem kann man von Ruhe sprechen. Eigentlich schon wieder zu viel Ruhe für meinen Geschmack.

„Es ist ruhig.“

„Ja.“

„Ziemlich ruhig.“

„Ja“, kommt es abermals in ruhiger Tonlage.

Ich fange an, mit dem kleinen Handtuch zu spielen, lasse es immer wieder im Wasser hinabsinken und rette es, bevor ich den Sichtkontakt verliere. Bei einem dieser Rettungsaktionen streife ich sein Bein.

„Entschuldigung.“

„Schon ok.“

Mein Blick streift über ihn hinweg. Sein Gesicht ist von mir abgewandt, leicht zur Seite liegend, entspannt. Er scheint es mit der Erholung wohl ganz genau zu nehmen...

Absichtlich lasse ich mein Handtuch noch einmal an der Stelle sinken, an der ich sein Bein vermute. Ich streife es erneut. Doch trenne ich den Kontakt diesmal nicht, verstärke ihn sogar noch als ich meine Hand hinauf lege.

Erst bewege ich nur leicht einen Finger, dann zwei und irgendwann traut sich meine Hand schon einige Zentimeter hin- und herzufahren. Seine Haut fühlt sich toll an, so warm und unter Wasser um so vieles weicher.

Mein Radius steigert sich mit jeder weiteren Bewegung, streift an den Innenflächen seiner Schenkel entlang.

„Was tust du da?“, verlässt es gedämpft seine Lippen, doch öffnen sich weder seine Augen, noch kommt eine andere Reaktion.

„Nichts... entspann dich einfach...“

Ich überwinde einige Zentimeter, lasse meine Lippen seinen Hals streifen, gleichzeitig meine Hand seine schon vorhandene Erektion finden. Mit dieser Geste anscheinend nicht gerechnet, zuckt er leicht zusammen.

„Sakuya, das sollten...“

„Psst, du sollst dich doch entspannen“, drücke ich sein geringes Aufbäumen wieder zurück, lasse meine Hand einen größeren Druck ausüben.

„Aber... wir...“ Leises Stöhnen steigt in die Luft. „...können es nicht... aaahhh... hier dürfen wir nicht...“

„Warum denn nicht?“, treffen meine geflüsterten Worte an sein Ohr, Sekunden später meine Zunge auf seine Lippen. Seine Hand trifft auf meinen Nacken, drückt mich feste an ihn heran, er küsst mich. Die andere wandert über meinen Rücken, bleibt anschließend auf meinen Hintern liegen und fängt kurz darauf an, zärtlich hinüber zu fahren.

Alles ist so anders, fühlt sich leichter, wärmer an. Es ist fast so als würde man schweben und alles wird so verdammt... heiß... ich...

Mir wird kurz schwarz vor Augen, alles scheint sich zu drehen, alles ist so heiß...

„Hey, geht’s dir nicht gut?“ Die Berührungen verschwinden. Es fällt mir schwer die Augen zu öffnen, ihn anzusehen.

„Mir ist... so heiß...“

Ich spüre nur wie ich hochgezogen, leicht durch das Wasser geführt werde. Der Boden, auf dem ich zum Stehen komme, ist wunderbar kalt.

Im Ankleideraum geht es mir schon um einiges besser, aber er besteht trotzdem darauf, mir weiterhin zu helfen. Er steckt mich in einen frischen Yukata und Hausschuhe und stützt mich bis zu unserem Washitsu.

Der Tisch wurde bereits entfernt, die Futons ausgebreitet.

„Leg dich hin, ich hole dir etwas Eis.“

Wie befohlen lasse ich mich auf den weichen Futon nieder, ein wenig dreht sich alles, besonders wenn ich die Augen schließe.

Wie viel Zeit vergeht, kann ich nicht sagen, bis Kida mit einem Eisbeutel über mir hockt. Er lässt ihn vorsichtig auf meine Stirn gleiten und bringt als nächstes ein Glas mit weiteren Eiswürfeln zum Vorschein.

„Hier, lutsch einen davon.“

Die Aussage bringt mich zum Lächeln.

„Na komm schon, mach den Mund auf.“

Es ist kalt. Ich lasse den Eiswürfel in meinem Mund von einer Seite zur anderen fahren.

„Was machst du für Sachen?“ So leise, dass ich es beinahe überhört hätte, kommt seine Besorgnis zum Vorschein.

Ich fingere mir den Eiswürfel aus dem Mund.

„Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid.“

Seine Hand drückt leicht gegen meine, manövriert den Eiswürfel wieder in meinen Mund.

Er geht ein wenig in die Höhe, rutscht über den Boden hinweg und zieht sein Futon näher an meines heran. Er legt sich neben mich, greift nach den Eiswürfeln und fischt sich einen heraus.

Er lässt ihn vorsichtig über meine Lippen gleiten, schaut mir dabei verträumt in die Augen. Die Kälte fährt über meinen Hals, hinter meine Ohren und über meine Stirn. Ein Tropfen perlt sich ab, rutscht in Richtung Auge davon, doch bevor er meine nun geschlossenen Augen erreichen kann, wird er vorsichtig weggewischt.

Der Gegenstand in meinem Mund hat sich mittlerweile aufgelöst.

„Das fühlt sich gut an...“

„Wie fühlst du dich?... Ganz ehrlich.“

„Gut, wirklich gut. Ich habe zwar nicht das Verlangen, aufstehen zu wollen, aber ansonsten fühle ich mich... gut.“

Der Eiswürfel an meinem Hals verschwindet, Lippen legen sich stattdessen hinauf, entfernen die leichte Wasserspur.

„Das ist schön“, lasse ich ihn wissen.

„Wir sollten es nicht übertreiben Sakuya.“

„Mach weiter... bitte.“

Ich lasse ihn gewähren, als er sich so weit aufrichtet, um mich direkt anzusehen.

„Bist du sicher? Nachher...“

„Ja, und ich sag dir schon bescheid, wenn ich mich wieder schlecht fühle.“

„Ok, aber das bleibt drauf.“ Er schiebt den Eisbeutel wieder in eine ordentliche Position.

Ich küsse ihn auf den Arm, da mir dieser gerade am nächsten ist, und drücke ihn dann wieder näher an mich heran. Ein ganz anderes Gefühl der Hitze macht sich sofort in mir breit. Sein Bein stößt gegen das Glas, als er sich ein wenig umsetzen will, und statt es einfach nur woanders hinzustellen, greift er abermals hinein.

Die Hand mit dem Eiswürfel verschwindet aus meinen Blickfeld. Doch viel Zeit, um mich zu fragen wohin sie verschwunden ist, habe ich nicht, da sich das Gefühl von Kälte an meinem Bein absetzt, schnell nach oben wandert und kurz darauf auf meinen Bauch ankommt. Kälte, ein doch eigentlich eher negatives Gefühl, erregt meinen ganzes Körper. Mit meinen Brustwarzen vereint, habe ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und kurz danach wird die Kälte wieder durch warme Lippen verbannt.

Dieses Spiel wiederholt sich einige Male, nicht nur an meinen Brustwarzen, auch an vielen anderen Stellen meines Körpers, bis die Kälte der Hitze endgültig erlegen ist.

Schon lange habe ich damit angefangen, ihn ebenfalls zu berühren, ihn zu streicheln und ihn zu küssen. Was ist das bloß für ein Gefühl, das mir seit ein paar Tagen immer wieder vermittelt, dass ich nicht mit dem Nehmen zufrieden sein kann? Ich will ihn berühren, ich will ihn spüren, ich will mehr... Doch kann ich das? Wie soll ich ihm das sagen?

„Nimm dir alles, was du willst...“

Alles? Könnte ich mir wirklich Alles nehmen? Auch wenn ich das jetzt vielleicht will, gibt es doch so viele Sachen, über die wir immer noch nicht geredet hatten: Verhütung, seine sexuelle Vorgeschichte, Sachen, die ich vielleicht unbedingt wissen müsste, bevor...

Ich drücke ihn leicht in eine andere Richtung, küsse seinen Hals, drehe ihn, komme am Nacken an. Er liegt seitlich, mir den Rücken zugewandt, und zum allerersten Mal bedecke ich diese Seite seines Körpers mit vielen kleinen Küssen, lasse meine Erregung an seinen Körper streifen.

Seine Hand streift über mein Bein hinweg, gefolgt von seinem eigenen Bein, das über meines wandert. Ohne wirklich etwas dazu getan zu haben, liege ich nun wirklich zwischen ihm, und was für ein komischer Trieb es auch ist, der alles in mir aufschreien lässt, dass ich es einfach tun soll, tue ich es nicht.

Es ist nicht nur die Angst vor eventuellen Geschlechtskrankheiten oder die Sache mit der Verhütung an sich... es ist... ich habe einfach Angst. Angst ihm wehzutun, Angst etwas Falsches zu machen... Angst vor der Angst selbst sogar auch ein wenig.

Ich beiße leicht in seinen Nacken, führe meine Hand zwischen seine Beine und beende alles in einer anderen Form. Nicht weniger schön, nicht weniger erregend... doch eigentlich nicht das, was ich gerne gewollt hätte...
 

Part 18 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Niigata

~ Onsen

~ Ryokan

~ Schwulenseiten

~ Tatami

~ Vergissmeinnicht

~ Washitsu

~ Yukata
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 19

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Kida (by Stiffy)
 

Ein ganzes Wochenende mit ihm alleine? Nichts wollte ich lieber als das! Doch so einfach sollte die Sache nicht werden.

Meine Mutter stellte sich quer, wollte nicht, dass ich die Samstagskurse schwänze, dafür seien sie immerhin nur am ersten und am dritten Samstag des Monats. Es kostete eine Menge Zeit, um sie zu überzeugen, und ich spielte mit dem Gedanken, ihr zu sagen, weshalb mir dies Wochenende so wichtig war, doch sagte ich es ihr schließlich nicht. Wer weiß, vielleicht würde sie mich dann erst recht nicht fahren lassen, aus Angst ich käme schwanger zurück... Nein, im ernst, ich sah mein bevorstehendes Wochenende leichter zu erhaschen, wenn ich sie noch im Glauben der ganz normalen, guten Freundschaft ließ.

Ich hätte es nie gedacht, doch am Ende war es Takehito, der mir dieses Wochenende bewilligte, der meine Mutter überredete, und so musste ich mich zu allem Überfluss auch noch bei ihm bedanken. Doch was tut man nicht alles für so tolle Aussichten: Einfach mal ganz mit dir alleine sein...
 

Ich war in meinem Leben erst zwei Mal in einem typischen Ryokan. Einmal bei der Hochzeit meiner Cousine und zum anderen bei der Beerdigung meines Großvaters. Beides liegt schon lange zurück, weshalb ich mich nur noch schlecht an all die Annehmlichkeiten erinnern kann, doch so freute ich mich nur um so mehr darauf.

Ich schwor mir, dass ich jede einzelne Minute hier, jede einzelne Minute mit dir aus vollen Zügen genießen würde!
 

Schon das Essen ist ein Traum. Sachen, die ich noch nie gegessen habe und das in einer Vielfalt, wie ich sie nie erwartet hätte. Dass dies nicht gerade ein billiger Ryokan ist, wird allein dadurch deutlich...

Anschließend die Onsen. Während Sakuya noch mit sich ringt, ist das heiße Wasser für mich eine vollkommene Wohltat.

„Aaahhh, das ist schön warm.“, genieße ich und sehe ihn an, wie er nackt und zitternd am Rand des Beckens steht. Er sieht so wunderschön aus in dieser ungewöhnlichen Umgebung. Allein für diesen Anblick hat sich diese kleine Reise schon gelohnt.

Nicht lange lässt er mir allerdings Zeit, ihn zu betrachten, sondern kommt schnell zu mir hinüber. Lächelnd schließe ich die Augen, als er neben mir sitzt, tauche ein wenig weiter ins Wasser und versuche einfach nur, mich zu entspannen.

Um ehrlich zu sein, in den ersten Minuten klappte es wunderbar. In den Minuten, in denen ich bewusst an das heiße Wasser und die angenehme Stille denke... doch sobald mir meine Gedanken wieder entgleiten, wird es schwer, einfach nur zu entspannen. Egal was ich mache, der Gedanke, allein mit ihm hier zu sitzen, mit ihm die Nacht hier zu verbringen, lässt noch größere Hitze in mir entstehen, als es die Umgebung je könnte.

Und zu allem Überfluss, fängt Sakuya dann auch noch an, mich zu berühren.

All mein Aufbäumen hilft nichts und auch der Gedanke, dass hier jede Minute jemand auftauchen könnte, stört mich bald selbst nicht mehr, egal wie meine Vernunft versucht, gegen mein Verlangen anzukämpfen.

Wohl viel zu schnell gebe ich dem nach, will ich doch seine Lippen fühlen, will ich ihn berühren... und seine Hand an meiner Erektion macht alles nur noch viel intensiver.

Wieso nicht einfach mal für einen Moment alles vergessen?

Doch werden seine Küsse plötzlich weniger energisch und er trennt sich von mir. Zum ersten Mal nun öffne ich wieder meine Augen und sehe einen Sakuya vor mir, dessen Gesicht so glüht, dass ich es schon lange nicht mehr als normal bezeichnet hätte.

Das schwache „Mir ist... so heiß...“ bestätigt meine Vermutung nur.

Mein Herz rast und mit einem Mal ist alle Erregung verschwunden.

Schnell ziehe ich ihn hoch, bringe ich ihn in unser Zimmer und hole ihm Eis zum Abkühlen.

Es scheint auch wirklich zu helfen. Langsam kehrt seine normale Gesichtsfarbe zurück, auch wenn er nach wie vor vollkommen ausgepowert aussieht.

Ich betrachte ihn, während wir so daliegen, während ich mit einem Eiswürfel seine Lippen kühle. Besonders jetzt siehst du wunderschön aus...

Ich fahre weiter, Stirn, Wangen, Hals... kann mich nicht zurückhalten und küsse ihn auf die weiche Haut, was er nur zu gerne geschehen lässt.

Danach, nun ja, es geht alles ziemlich schnell.

Auch wenn ich eigentlich nur wollte, dass er sich entspannt und ausruht, finden wir uns plötzlich in einer Situation wieder, die nicht minder erregend ist, wie die zuvor im Onsen.

Ihn liebkosen mit der Kälte, mit meinen Lippen... ebenso seine Hände, die mich sanft und doch stürmisch berühren... und ich verliere die Kontrolle über mich. Als er mich so verlangend im Nacken küsst, als er sich gegen mich drückt und ich ihn an mir spüre, ist mir alles egal.

Egal, was du nun tust, Sakuya, du darfst es tun, du sollst es tun...

Vielleicht um ihm ein Zeichen zu geben oder vielleicht um ihm einfach noch näher zu kommen, schließe ich ihn zwischen meinen Beinen ein.

Alle Angst, dass es wehtun könnte, Furcht, Nervosität... einfach alles, über das ich in den letzten Tagen nachgedacht habe, ist plötzlich verschwunden. Ich weiß nur, dass ich dich spüren will... Ich will es Sakuya, will es wirklich...

Doch kommt es nicht dazu. Zwar drückt er sich enger an mich, zwar spüre ich die Reibung seines Körpers, doch SO weit geht er nicht. Seine Hand berührt mich, lässt mich noch heftiger atmen und schließlich zum Ende kommen... Und auch wenn mein Körper sich vollkommen befriedigt fühlt, wenn es dennoch so wunderschön war, kann ich einfach nicht anders, als mir zu wünschen, dass er noch weiter gegangen wäre.

Ich will wissen, wie es ist, dich voll und ganz zu spüren...
 

Nach ein paar schweigenden Minuten drehe ich mich herum, sehe ihn an, wie er über mir beugt. Seine Haarsträhnen hängen zu mir hinunter. Ich kann nicht anders als meine Hand zu heben und sie zu berühren, meine Finger leicht hindurch streifen zu lassen. Ich könnte mich darin verlieren, würde er sich nicht plötzlich zu mir hinunterbeugen und mich küssen. Ich schlinge meinen Arm um ihn, erwidere den festen Kuss.

Kurz darauf lösen seine Lippen sich wieder, streifen meine Wange hinab zu meinem Hals... küssen mich dort, bis er es verklingen lässt und den Kopf auf meinen Arm legt.

Minutenlang liegen wir so da, bis der gleichmäßige Atem mein Ohr erreicht.

Du warst wohl doch entkräfteter als du dachtest...

Eine Weile halte ich ihn so fest, genieße ich das ruhige Atemgeräusch und seinen Körper auf meinem, doch irgendwann, vorsichtig, um ihn nicht sofort wieder zu wecken, rutsche ich unter ihm weg, so dass wir uns in einer bequemeren Position wiederfinden. Auch ich werde merklich müder.

Ich fingere nach einem Handtuch, das noch neben seinem Bett liegt, lasse die Spuren an meinem Körper verschwinden... Immer darauf bedacht mich möglichst wenig zu bewegen, um den Arm, auf dem er liegt, nicht unnötig zu erschüttern. Danach ziehe ich eine Decke über uns.

Eigentlich stört mich das Licht, doch um es zu löschen, müsste ich aufstehen. Ich entscheide mich dazu, es einfach zu ignorieren.

Das Glas mit den Eiswürfeln steht noch immer da. Ich recke mich danach, erreiche gerade so eines der noch nicht ganz verschwundenen Stücke, lasse es diesmal für meine eigene Erfrischung in meinem Mund verschwinden. Eigentlich ist es mir viel zu warm unter der Decke, an deinen heißen Körper gedrückt, doch ich will nichts dagegen tun.

Ich mag deine Wärme.
 

Da sich keine Uhr in diesem Raum befindet, kann ich nicht sagen, wie spät es ist, als ich vom Bedürfnis auf die Toilette zu gehen, geweckt werde. Das eigentlich gar nicht so grelle Licht brennt in meinen Augen, als ich sie mühevoll öffne. Sakuya hat sich gedreht, liegt nun auf dem Rücken, und ist von meinem Arm gerutscht. Sein Mund steht ein wenig offen und ich küsse ganz vorsichtig seine Lippen, bevor ich aufstehe.

Schnell meinen Toilettengang hinter mich gebracht, habe ich eigentlich gar nicht mehr das Verlangen, mich wieder hinzulegen. Die größte Müdigkeit ist bereits wieder verrauscht.

Ich schlüpfe in einen der auf dem Boden liegenden Yukatas, greife nach dem Glas, in dem sich mittlerweile die Eiswürfel aufgelöst haben, und nach dem nun wässrigen Eisbeutel. Dies zurückzubringen ist nun mein Vorwand, um einfach ein bisschen durch das Gebäude zu streifen.

Ich verlasse das Zimmer, lösche zuvor das Licht und hoffe irgendwie, dass Sakuya nicht gerade jetzt aufwacht.

Leise schleiche ich den Gang entlang hin zum Empfang, an dem ich dankend die beiden Sachen abgebe. Hier verrät mir eine Uhr, dass es schon nach Eins ist... und auch wenn das Wachheitsgefühl von vorhin mich wohl getäuscht hat, gehe ich nicht direkt zurück.

An einem der Ständer greife ich nach ein paar Prospekten, blättere den ersten mit der bunten Gartenabbildung durch, bis meine Augen sich strickt weigern, irgendwas davon zu lesen. Ich gehe ein Stück des Gangs zurück...

Die offenenstehende Hintertür zieht mich an und so trete ich hinaus, lasse mich dort kurzerhand nieder. Mein Blick fährt herum, versucht irgendwas zu erkennen, entscheidet sich für die Sterne. Ein seltener Anblick, in Tokyo meist getrübt durch all die Lichter.

Es ist schön hier. Ich bin froh, dass ich mit her fliegen konnte.

Ich senke meinen Blick wieder, beobachte das Shishi-Odoshi am Nahegelegenen Gewässer, das nur schwerlich in der Dunkelheit zu erkennen ist. Einige Zeit fesselt mich das immer wiederkehrende Klacken und so bleibe ich daran hängen. Meine Großmutter besaß auch so ein Ding... Als Kind fand ich es immer unglaublich faszinierend.

„Noch gar nicht müde?“

Ich schrecke auf, als die Worte durch die Stille dringen, drehe mich zu ihm herum und stehe schließlich auf. Ich habe ihn gar nicht kommen gehört.

„Doch, eigentlich schon...“, erwidere ich das Lächeln, während mir meine brennenden Augen die Worte nur bestätigen.

Er nickt, greift sich in den Nacken und verzieht das Gesicht, als wolle er Verspannungen lockern.

„Schläft Sakuya schon?“

„Ja...“ Ich verlasse die Terrasse.

„Ich glaub, ich sollte es ihm gleichtun...“ Er setzt sich in Bewegung, allerdings in solch gemäßigtem Schritt, dass es klar macht, dass er auf mich wartet. Langsam laufe ich neben ihm her in die Richtung unserer Zimmer. „Eine Besprechung bis ein Uhr! Kannst du dir das vorstellen!“ Ein ziemlich unerholter Gesichtsausdruck, dennoch ein grinsendes Zwinkern, was vermuten lässt, dass der Abend bei weitem nicht so anstrengend war, wie er vorgibt. Außerdem meine ich deutlich Alkohol zu riechen. „Naja, kann man nichts machen... Gefällt es dir hier?“

„Ja! Sehr!“, antworte ich schnell. „Es ist richtig schön! Ich war schon ewig nicht mehr in Urlaub, und so einen tollen Ryokan hab ich auch noch nie-“ Ein breites, freundliches Lächeln bringt mich dazu, meinen Satz nicht zu beenden. Ich werde rot. Augenblicklich bleibe ich stehen und verbeuge mich. „Vielen Dank, dass ich mitkommen durfte!“

Ein Lachen als er mir auf die Schulter klopf und ich komme mir mit einem Mal noch unbeholfener vor. „Schon gut!“

Ein paar Schritte später sind wir an Sakuyas und meinem Zimmer angekommen.

Mr. Ryan kann ein Gähnen nicht unterdrücken

„Oh Mann, wenn ich bedenke, dass ich in fünf Stunden schon wieder aufstehen muss...“ Ein Stöhnen. „Also dann, gute Nacht!“

„Gute Nacht!“

Damit dreht er sich um. Ich tue es ihm gleich, betrete unser Zimmer. Einen Moment brauche ich, um mich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen, nachdem ich die Tür wieder hinter mir zugeschoben habe, dann taste ich mich vorsichtig zum Bett, entledige mich meiner Kleidung und der Prospekte und schlüpfe zu Sakuya unter die warme Decke.

Ich lege vorsichtig meinen Arm über seine Brust, drücke meinen Kopf gegen seine Schulter.

Und mit dem Gedanken abschweifend an die weiteren wunderschönen eineinhalb Tage, die uns bevorstehen, schlafe ich schließlich wieder ein.
 

~ * ~
 

Davon, einen Urlaubsmorgen voll und ganz zu genießen zu können, ist hier nicht gerade die Rede. Noch mitten im erholsamen Schlaf klopft es an der Tür... und erst nach einen Moment realisieren wir das überhaupt.

Sakuya fährt in die Höhe, reißt mich spätestens damit aus unseren Träumen... und als ich ihn ansehe, deutet er mir sofort, auf mein Futon zurückzugehen.

Nach einem „Herein“ wird die Tür aufgeschoben und eine Bedienstete wünscht uns einen guten Morgen. Während mir dies eigentlich ziemlich klar war, wirkt Sakuya eher erleichtert. Scheint, als habe er mit seinem Vater gerechnet.

Wir werden gefragt, ob wir frühstücken wollten und er stimmt zu. Bei mir im Magen dreht sich in dem Moment alles, was aber wohl eher daher kommt, dass ich eigentlich noch halb schlafe. Als die Frau wieder verschwunden ist, sieht er mich an.

„Guten Morgen...“, kommt es lächelnd, gefolgt von einem Gähnen. „Gut geschlafen?“

Ich nicke, strecke mich, krieche dann wieder zu ihm hinüber, um wenigstens noch einen Moment die Zweisamkeit zu genießen.

Wieder ein Klopfen bevor ich seine Lippen überhaupt erreichen kann. Diesmal bitte ich die Störenden herein und stehe mit einem tiefen Seufzer auf.

„Los, raus aus den Federn!“, grinse ich, nachdem die mit tausend Entschuldigungen gestellte Frage beantwortet ist, und schlüpfe in einen Yukata.

Ich beobachte ihn, wie er es mir gleich tut, und dann gehen wir zum Waschraum, während ich noch um meinen verlorenen Guten-Morgen-Kuss trauere.
 

Einige Zeit später zurück in unserem Zimmer sind die Futons schon verschwunden und stattdessen finden wir einen reichlich gedeckten Tisch vor. Anders als noch zuvor, bekomme ich bei diesem Anblick sofort Hunger, und so machen wir uns über die Köstlichkeiten her.

„Und? Was machen wir gleich?“, fragt Sakuya schließlich.

Nach einem kurzen Blick umher, finde ich die Prospekte in einer Ecke des Zimmers wieder.

„Woher hast du die?“ Verwundert blickt er auf die Hefte, als ich sie ihm in die Hand drücke.

„Vom Empfang... Ich war gestern noch mal kurz draußen...“

„Ach so...“, kommt es zögernd und dann schlägt er das Nächstbeste auf.

Ich setze mich neben ihn und gemeinsam wählen wir zwischen den verschiedenen Parks, Museen und anderen Tourismusstätten.

„Weißt du was...“ Sakuya sieht mich nach einer Weile an und klappt den eben durchgeblätterten Prospekt wieder zu. „Lass uns doch einfach ein bisschen herumlaufen... und sehen, was wir sehen...“

Ich nicke, beuge mich zu ihm heran und bekomme endlich meinen ersehnten Kuss.
 

~ * ~
 

Es sind nur ein paar hundert Meter und wir finden uns am Wasser wieder... Zwar noch nicht am Meer, aber am Shinano-River, wie uns eine alte Karte an einer Mauer verrät. Ein ganzes Stück folgen wir einfach diesem Fluss, unterhalten uns über dies und das, genießen die schöne Septemberluft.

Die Zeit vergeht wie im Fluge, bald schon ist es Mittag... und so beschließen wir, etwas Essen zu gehen. Unsere Entscheidung fällt auf ein kleines Restaurant am Shinano Riverside Park.

Wir versuchen weitere Pläne zu schmieden, während wir dort sitzen, das leckere Essen und den schönen Ausblick genießen. Doch trotz aller Überlegungen, was mit dem Tag noch angefangen werden kann, haben wir nicht wirklich eine Idee. Um ehrlich zu sein, habe ich nie viel von Niigata gehört, weswegen ich auch keine Ahnung habe, was man hier tun könnte. Sakuya scheint es ähnlich zu gehen.

Schließlich ist es ein Päckchen Werbetaschentücher, das uns weiterhilft. Dieses bekommen wir vor dem Shinano Riverside Park in die Hand gedrückt, als wir uns entschlossen haben, diesen einfach mal ein Stück zu durchqueren.

„Das klingt doch interessant...“, meint Sakuya und hält mir das Päckchen entgegen.

Life and Nature - Photo Exhibition, steht darauf.

„Eine Ausstellung?”, frage ich nach.

„Klar, wieso nicht?“ Er lächelt, nickt mir freudig zu.

„Okay...“ Ich nehme das Päckchen an mich. „Niitsu Art Forum?“

Nach einigem hin und her entschließen wir uns dazu, die Bahn zu nehmen, erstens, weil rumirren nichts helfen würde und zweitens, weil die Galerie nur bis 17 Uhr geöffnet hat.
 

Dort angekommen holt Sakuya zwei Eintrittskarten und geht sofort los, während ich lange das kleine Kärtchen in meiner Hand betrachte.

Auch schon zuvor im Restaurant oder die Fahrkarte hier her... wie selbstverständlich bezahlst du dies alles. Ich weiß, du denkst nicht darüber nach, aber ich tue es... Und langsam ist es unangenehm, alles immer bezahlt zu bekommen.

Doch bevor ich noch weiter darüber nachdenken kann, ruft Sakuya mich zu einem der ersten Bilder... und im Laufe der nächsten Minuten vergesse ist meine Gedanken wieder.

Ich merke schnell, dass es eine gute Idee war, hierher zu kommen. Nicht nur, da viele der ausgestellten, hauptsächlich schwarzweißen Aufnahmen wirklich faszinierend sind, sondern scheint es Sakuya hier auch wirklich zu gefallen. An dem ein oder anderem Bild bleibt er lange stehen, bewundert es mit lobenden Worten, macht mich auf kleine, interessante Details aufmerksam.

Was mich angeht, so kann ich nicht ganz so tief in diese Welt eintauchen. Wie gesagt, es sind wirklich wunderschöne Aufnahmen dabei, doch allzu lange kann ich dennoch nicht vor einem einzelnen Bild stehen bleiben. Deshalb verbringe ich einen Großteil meiner Zeit damit, Sakuya zu beobachten, wie seine Augen fasziniert über die Bilder wandern.

Irgendwie ist es schön, zu sehen, wie er sich dafür begeistert.

Selbst auf dem Weg zurück, den wir um kurz vor 17 Uhr antreten, schwärmt er noch von dem ein oder anderen Effekt. Lächelnd sitze ich in der Bahn neben ihm und sehe ihn an.

„Was ist?“, kommt es nach einer Weile, in der er mich schweigend einfach nur ansieht, immer noch mit diesem zufriedenen Gesicht.

„Nichts...“, sage ich. „Es freut mich einfach, dass es dir gefallen hat...“

Er legt den Kopf etwas schief, sieht mir tiefer in die Augen.

Ich könnte darin versinken, so wie er zuvor in den Bildern.

„I will really like to kiss you now...“, flüstere ich, nachdem ich mir der englischen Worte einigermaßen sicher bin. Ich werde rot. Vielleicht weil es sich komisch anfühlt, es in dieser Sprache zu sagen.

Doch sofort wird das Lächeln auf seinen Lippen nur verstärkt.

„Das heißt would“, zwinkert er, scheint mir dann ein winziges Stück näher zu kommen. „But me too...“

Natürlich tun wir es nicht.
 

Gegen sechs Uhr Abends nach einigen Umwegen wieder im Ryokan angekommen, treffen wir sogleich auf Sakuyas Vater.

„Ah! Da seid ihr ja!“, kommt er uns lächelnd entgegen und deutet auf sein Handy. „Ich wollte euch grad anrufen...“

„Was ist denn?“

„Ich bin nachher zu einem Kunden eingeladen... ist ne Art Massenveranstaltung... habt ihr vielleicht Lust mitzukommen? Er hat zwei Kinder und...“ Das Klingeln seines Handys unterbricht ihn.

„Und? Was meinst du?“, wendet sich Sakuya leise an mich, als sein Vater sich ein paar Schritte entfernt hat.

„Wieso eigentlich nicht...“ Ich zucke mit den Schultern, nicke zustimmend.
 

~ * ~
 

Während der vielleicht 12jährige Hasumi eher schüchtern wirkt, ist seine ältere Schwester Chiiro genau das Gegenteil. Sofort strahlt sie uns fröhlich an, schleift uns mit in einen großen Raum mit zwei größeren Kotatsu, noch bevor wir sie überhaupt richtig verbeugt haben, und schlägt uns alles mögliche vor, was wir nun machen oder spielen könnten. Etwas überrumpelt entscheiden wir uns für Mahjongg.

„Hasumi, holst du das mal schnell?“, fordert sie den Kleineren auf, bevor sie selbst in einem anderen Raum verschwindet, kurz darauf mit Gläsern und Getränken zurückkommt.

Sakuya und ich, die wir noch unschlüssig herumstehen, werden im nächsten Moment von ihr zu Boden gedrückt.

„Na kommt, macht es euch bequem...“, lächelt sie, schlüpft auf der linken Seite neben mir unter das Kotatsu.

Im selben Moment taucht auch Hasumi mit dem Spiel wieder auf. Chiiro nimmt es entgegen, packt die Utensilien aus.

„Wie alt bist du?“, fragt sie plötzlich unvermittelt, und ihr Blick in meine Augen verrät, dass sie mich meint.

„Ähm... 16...“

„Ich bin 15...“ Sie lächelt. „Passt ja...“ Ein Zwinkern, dann wendet sie sich wieder dem Kasten zu. Irritiert sehe ich erst sie an, dann Sakuya. Dieser grinst.

Das Spiel beginnt und Chiiro fragt Sakuya nach seinem Alter. Ob ich es mir nur einbilde oder nicht, klingt es doch ziemlich anstandshalber. Danach wendet sie sich gleich wieder mir zu, stellt mir Fragen über meine Hobbys, Schule, über andere Dinge... und auch wenn ich versuche, nicht allzu abgehackt und relativ ausführlich zu antworten, so ist mir diese Ausfragerei irgendwie unangenehm.

Doch nicht nur ihre ganzen Fragen zeigen deutlich, dass ihr irgendwas an mir sofort gefallen hat, sondern auch ihre Augen sprechen Bände. Noch viel extremer könnte sie mich wohl gar nicht mehr mustern. Dabei hätte ich doch bis jetzt noch nicht mal groß die Chance gehabt, überhaupt irgendetwas zu tun, um ihr Interesse zu wecken.
 

Wenn ich mich schon von den bisherigen Fragen ausgequetscht fühlte, so rückt sie schon nach ein paar weiteren Minuten mit einer Frage heraus, mit der ich auf keinen Fall gerechnet hätte, egal wie deutlich ihr Interesse ist.

„Hast du ne Freundin?“

Perplex versuche ich diese Frage einen Moment lang einfach zu verdauen.

„Nun ja...“, sage ich dann. Ich muss knallrot sein. Am liebsten würde ich ihrem Blick ausweichen und stattdessen hilfesuchend Sakuya ansehen, doch ich tue es nicht, aus Angst, das könnte irgendwas verraten. „Ja, hab ich...“, antworte ich schließlich zögernd mit einer halben Lüge. Was soll ich auch sonst sagen? „Nicht ganz, aber soll ich dir meinen Freund vorstellen?“

„Echt? Schade!“, kommt es daraufhin, gefolgt von einem Schmollmund. Sie legt den nächsten Stein auf den Tisch. „Naja... ist ja auch nicht verwunderlich...“ Ein breites Grinsen, als sie sich nach vorne auf den Tisch lehnt und mich weiterhin aus strahlenden Augen fixiert.

Ich wende meinen Blick lieber dem Spiel zu, tue meinen Zug, sehe dann Sakuya an, der als nächstes dran ist. Hilfe!!
 

Sollte man denken, mit der Antwort, dass ich schon vergeben bin, hätten ihre klaren Anmachversuche aufgehört, so soll man sich täuschen. Im Gegenteil, als wolle sie mich davon überzeugen, sie gegen ihre „Feindin“ einzutauschen. Sie rückt immer näher an mich heran, so dass sich unsere Beine unter dem Tisch treffen, sie ihre Füße gegen meine drücken... und wenn sie mit mir redet, beugt sie sich so, dass ich ihr ohne weiteres in den tiefen Ausschnitt gucken könnte.

Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihr gesagt, dass sie doch bitte mit dieser albernen Vorstellung aufhören soll, doch verkneife ich mir dies, konzentriere mich auf das Spiel, und wenn ich mit ihr rede auf ihr Gesicht.

Wieso müssen Mädchen manchmal so verdammt aufdringlich sein?

„Wie lang bist du mit ihr zusammen?“, fragt sie irgendwann. Eine Frage, als wolle sie nach meiner Antwort mit einem „Da kann man ja noch nicht von Liebe sprechen!“ oder einem „Dann muss es aber langsam langweilig werden!“ kontern, eben so, wie es ihr gerade am besten passt.

„Das hat dich nicht zu interessieren!“, antworte ich, auch wenn es ein wenig zickig klingen mag.

„Wow, wie kühl...“ Ein enttäuschter Blick, ein Augenklimpern und ihr Bein, das wieder näher an meines drückt, nachdem ich zuvor ‚unauffällig’ zurückgewichen bin. „Scheint ja nicht mehr so toll zu sein...“, bringt sie dann doch noch einen Spruch an.

Ich versuche gar nicht erst etwas darauf zu erwidern, wende mich der langsam zuende gehenden Partie zu. Am liebsten würde ich jetzt mit Hasumi oder Sakuya ein Gespräch beginnen, doch abgesehen davon, dass ich keine Ahnung habe wie, unterhalten die beiden sich schon seit ein paar Minuten bestens miteinander.

Ich fühle mich verloren... fühle mich diesem Mädchen ausgesetzt, das so deutlich nicht aufgeben will.
 

Es wird später, die Stimmung zumindest am Nebentisch, wo die Männer einen Sake nach dem anderen trinken, immer ausgelassener. Nach der dritten Runde Mahjongg entscheiden wir uns, mit dem Spiel aufzuhören. Hasumi springt auf, verschwindet mit den Worten, Sakuya was zeigen zu wollen. Ich schaue Sakuya an, dieser lächelt mir zu... und ich wünsche mir eigentlich nur, diesen Abend baldmöglichst beendet zu sehen. Viel lieber wäre ich in diesem Moment mit dir allein.

Als Hasumi zurück ist, bepackt mit einem Sammelalbum, wende ich mich gezwungenermaßen wieder Chiiro zu, die sich auf den Tisch gelehnt hat und mich aus großen Augen ansieht.

„Du spielst gern Schlagzeug?“, fragt sie nach einer Weile, in der ich es nicht schaffe, ihrem durchdringenden Blick auszuweichen.

„Ja...“

„Ich habe früher Gitarre gespielt...“ Sie lächelt und wirkt zum ersten Mal nicht mehr so aufgekratzt. „Was für Musik hörst du gern?“

Und ob man es glaubt oder nicht, entsteht in den nächsten Minuten ein ganz normales Gespräch daraus. Wir reden über Musik, über Instrumente, über plötzlich alles mögliche... und während ich mich so mit ihr unterhalte, immer mal wieder zu Sakuya hinübersehe, der mit Hasumi die Karten in dem Album diskutiert, fühle ich mich nicht mehr ganz so fehl am Platz. Eigentlich ist sie doch ein ganz normales, nettes Mädchen.
 

Es ist irgendwann gegen Zwei Uhr morgens, als Mr. Ryan uns zum Aufbruch auffordert. Chiiro, mit der ich mich zugegeben wirklich noch gut verstanden habe, klebt sich auf dem Weg zum Ausgang an meine Seite, umfasst meinen Arm.

„Schade, dass du auch gehen musst...“, sagt sie seufzend, lehnt sich näher an mich und gähnt. „Magst du nicht hier bleiben?“ Ein breites Grinsen, als sie zu mir hochblickt, und ich kann nicht anders, als dies zu erwidern.

„Sorry, aber keine Chance...“

„Schade...“

An der Haustür angekommen gibt sie mich frei, so dass ich meine Schuhe anziehen kann, danach hängt sie schon wieder an mir.

Ein Lachen hinter uns ertönt. Verwirrt sehe ich mich zu Mr. Ryan und dem Gastgeber um.

„Also Junge, wir suchen noch jemanden zum Heiraten...“, kommt es mit einem breiten Grinsen von Chiiros Vater und dann sieht er Mr. Ryan an. „Also wär das jetzt ihrer, wäre das schon beschlossene Sache...“ Ein Zwinkern an mich gewandt, und ich sehe wieder Chiiro an, die mittlerweile nicht mehr so fröhlich grinst.

Gerade jetzt will ich wirklich einfach nur noch weg von hier.

Noch ein paar lallende und lachende Sätze werden zwischen den Männer gewechselt, bis dann wirklich Zeit zum Aufbruch ist. Chiiro hält mich fest, sieht plötzlich ganz traurig aus... und auch wenn Sakuya direkt neben mir steht, nehme ich sie einmal fest in den Arm.

„Tschüss...“, sage ich und werde verträumt angesehen, dann endlich freigelassen...

Und so können wir uns schließlich auf den Weg zurück machen.
 

Still wird dieser zurückgelegt, und mir gehen einige Fragen durch den Kopf. Was denkt Sakuya von der Sache? Hat es ihn irgendwie gestört? Eigentlich quatsch, und doch kann ich nicht aufhören, darüber nachzudenken...

Als wir aber schließlich in unserem Washitsu ankommen, wir die Futons zusammengeschoben haben und uns hinlegen, lächelt er mich an.

„War doch ein schöner Abend, oder?“

Nichts zeigt, dass er sich irgendwie Gedanken gemacht hat und so nicke ich nur beruhigt und beuge mich ihm entgegen. Wieso sollte er auch?

Ein paar sanfte Küsse und von uns beiden ein herzhaftes Gähnen später, löschen wir das Licht. Ich ignoriere mein eigenes Futon, krieche zu Sakuya unter seine Decke, schlinge meine Arme um ihn und drücke mich an seinen Rücken.

„Ich liebe dich“, flüstere ich nach einer Weile in die Dunkelheit und küsse ihn in den Nacken.

Er greift nach meiner Hand und küsst sie, schmiegt sich ein wenig näher an mich heran... und ich kann mich gerade noch fragen, wieso ich eigentlich so todmüde bin, als ich auch schon einschlafe.
 

~ * ~
 

Am Sonntag werden wir fast so unsanft geweckt, wie auch schon am Tag zuvor.

Noch vollkommen fertig trotten wir zum Onsen, in dem es sich schon ein paar andere Gäste bequem gemacht haben, darunter auch Sakuyas Vater, der anfängt über die morgendlichen Weckmanieren zu meckern, als er uns sieht.

Zum Glück scheint Sakuya die Hitze heute weniger auszumachen, und so genießen wir einfach das erholsame Bad... während ich es irgendwie bereue, gestern so schnell eingeschlafen zu sein. Damit war nun unsere letzte gemeinsame Nacht in Niigata Geschichte.
 

Heute frühstücken wir gemeinsam mit Mr. Ryan, der uns verkündet, dass schon um 12:53 Uhr unser Flieger zurück geht und wir uns daher auch gleich fertig machen sollten.

Gesagt, getan... gegen halb Elf heißt es Abschied nehmen vom Urlaub und zurück zum Flughafen, zurück nach Hause.
 

Den Flug selbst verschlafe ich, ebenso wie Sakuya... und schon finden wir uns am Haneda Airport wieder.

„Kommst du noch mit zu uns, oder sollen wir dich zuhause absetzen?“, richtet Mr. Ryan sich an mich, als wir endlich unser Gepäck wiederhaben und auf dem Weg zum Auto sind.

Fragend sehe ich zu Sakuya.

„Ich weiß nicht...“, sage ich zögernd, als Sakuya vorschlägt, dass wir ja noch ein bisschen was lernen könnten.
 

„Hach, Zuhause ist es doch am schönsten!“, meint Sakuya, als er sich – nach ausführlicher Berichterstattung und einem verspäteten Mittagessen – in seinem Zimmer aufs Bett fallen lässt.

Grinsend folge ich, krabble über ihn und raube ihm einen zärtlichen Kuss.

„Hat es dir gefallen?“, fragt Sakuya, als wir uns wieder voneinander gelöst haben.

„Ja...“ Ich küsse ihn erneut kurz. „Und wir können gerne so weitermachen...“, grinse ich.

„Idiot...“ Ein Lachen. „Das meinte ich nicht!“

„Weiß ich doch...“ Noch ein Kuss. „Ja, es hat mir gefallen... sehr sogar...“

Zärtlich leckt er mir über die Lippen, lässt seine Hände unter mein Shirt gleiten. Sanft streicht er hinauf, bis hin zu meinen Schultern, dann nach vorne, berührt zärtlich meine Brustwarzen.

Den Kuss, den wir eben noch teilten, beendend, lasse ich meine Zunge weiterwandern, lasse ich sie seinen Hals berühren, daran hinaufwandern, sein Ohr liebkosen...

Er fährt weiter mit seinen Händen, streicht meinen Bauch hinab. Verführerisch umspielt er den Bund meiner Jeans, lässt seine Finger ein paar mal über die empfindliche Stelle wandern. Ich stöhne in sein Ohr, komme erst gar nicht dazu, es zu unterdrücken.

Der Knopf springt auf, gibt mir ein wenig Freiheit, noch mehr, als er die Hose ein Stück hinunterschiebt.

„Sakuya...“, entkommt sein Name leise meinen Lippen und ob er es nun als Bitte annimmt oder nicht, trifft seine Hand erneut auf meine entstehende Erektion, wenn auch noch immer durch dünnem Stoff getrennt.

Ich schließe meine Augen, drücke meinen Kopf ins Kissen und versuche mein bestens, um nicht zu stöhnen, als er tatsächlich weiter vordringt, mich zärtlich berührt... und die Shorts schließlich gänzlich verschwinden lässt.

Um das Stöhnen auch weiterhin zu unterdrücken, zieht er mich zurück zu seinen Lippen, raubt mir leidenschaftliche Küsse... und muss schließlich auch seine eigenen Geräusche so verbergen, als ich auch meine Hand ihn so berühren lasse, ihm ebenfalls diese Hitze schenke.

Dies tatsächlich mit dir zu tun, erscheint mir noch immer wie ein wunderschöner Traum.
 

„Das nennst du also lernen?“, flüstere ich lächelnd, nachdem wir wieder zu Atem gekommen sind.

„Wieso nicht?“, erwidert er ebenso leise, dreht sich ein Stück und sieht mich an. „Immerhin lerne ich dich so immer mehr kennen...“ Sein Finger streicht zärtlich über meine Brust, bevor er mir einen Kuss aufs Schlüsselbein setzt.

„Na dann...“ Ich grinse, küsse ihn erneut... und fühle mich unglaublich zufrieden.
 

Nachdem wir noch mindestens eine Stunde lang einfach nur auf dem Bett lagen, die Nähe des anderen genossen und noch ein wenig über Niigata und den Besuch bei Hasumi und Chiiro sprachen, beschließen wir letztendlich, doch noch ein wenig für die Schule zu tun. Unsere Hausaufgaben nämlich, zumindest die gemeinsamen in Politik und Sakuyas Matheaufgaben.

Den frühen Abend damit verbringend, kommt schließlich schnell der Zeitpunkt für meinen Aufbruch – denn all mein Schulzeug ist mal wieder nur bei mir zu Hause vorfindbar.

Somit ist das gemeinsame Wochenende beendet. Viel zu schnell.
 

~ * ~
 

In den nächsten zwei Tagen sehe ich Sakuya kaum. Die wenigen gemeinsamen Schulstunden, die paar Minuten zusammen in der Cafeteria, außerhalb dessen nur hier und da ein paar Sätze... keine Vertrautheiten, Berührungen, noch nicht mal vielsagende Blicke.

Ich vermisse Sakuya. Wann immer ich ihn sehe, würde ich ihn am liebsten an mich ziehen und nicht mehr loslassen... doch so einfach ist das nicht.
 

In meinen freien Momenten alleine rufe ich Tatsuya an und schreibe endlich Akito eine eMail. Zudem muss mein Zimmer daran glauben und wird von mir komplett ausgemistet, als ich keine Lust mehr auf Lernen habe.

Ich versuche mich davon abzuhalten, bei Sakuya vorbeizugehen. Irgendwann würden seine Eltern doch auch mal stutzig werden, weshalb ich ständig bei ihm rumhänge...
 

~ * ~
 

Am Mittwoch ist meine Stimmung ein wenig gedrückt, was allerdings in diesem Fall andere Gründe hat, als den unfreiwilligen Liebesentzug. Diese O-Higan-Woche ist einfach nichts für mich... jedes Jahr zieht sie mich runter. Verständlicherweise.

Doch ich zwinge mich dazu, mir nichts anmerken zu lassen... und tatsächlich scheint Sakuya in der Mittagspause, als wir zusammen am Tisch sitzen, nichts zu bemerken. Ich habe mir vorgenommen, ihm zumindest jetzt nichts davon zu erzählen, und als er nach den Plänen für meinen Abend fragt, reicht es glücklicherweise zu sagen, dass ich etwas mit meiner Mutter machen wollte.
 

Die letzten Schulstunden vergehen schleichend... und als sie endlich vorbei sind, lasse ich den Musikclub sausen. Heute werden sie auf ihren Schlagzeuger verzichten müssen.

Während ich auf Sanae warte, beobachte ich aus einiger Ferne die sich fertigmachende Baseballmannschaft.... beobachte ich Sakuya. Irgendwie würde ich gerade gern noch mal mit dir sprechen... würde so gerne einen Moment in deinen Armen liegen können... Heute sehne ich mich noch mehr danach als in den vergangenen zwei Tagen.
 

Da Sanae von ihrer Mutter abgeholt wird und ich ja eh nach Hause wollte, nehmen sie mich das Stück mit.

„Warum geht ihr nicht morgen hin?“, fragt Sanae, als wir im Auto sitzen und ich ihr von meinem heutigen Vorhaben berichtet habe. „Da haben wir doch eh frei...“

„Ehrlich gesagt, keine Ahnung... Mama wollte heute hin...“ Ich zucke mit den Schultern.

„Wir fahren am Freitagabend nach Kyoto... und werden wohl auch das Wochenende da bleiben... mal sehen ob ich Oma und Opa dann mit Krücken besuchen gehe...“ Ein leichtes, trauriges Lächeln.

„Na, erst mal gehen wir vorher zum Arzt“, wirft nun ihre Mutter ein. „Vielleicht kommt die Schiene ja schon ab...“

„Na hoffentlich!“

Das Auto hält und ich steige aus.

„Bis morgen!“, lächelt Sanae. „Und einen schönen Gruß!“

„Mach ich...“
 

Um so näher wir dem Grab kommen, desto langsamer werden meine Schritte. Egal wie oft ich hier bin, so fällt es mir jedes Mal schwer, einfach so den schmalen Weg entlangzugehen. Es ist schon so lange her... du bist schon so lange weg. Und nach und nach verblassen Erinnerungen, die ich ewig behalten wollte. Das ist es wohl, was mich am traurigsten macht. Ich habe das Gefühl, immer mehr Lücken in meiner Erinnerung zu bekommen.

„Hallo Papa...“, flüstere ich, als wir unser Ziel erreicht haben.

Mein Herz schlägt ziemlich fest und gerade ist es ein unangenehmes Gefühl.

Den Strauß weiße Blumen lasse ich auf dem Stein nieder, nachdem meine Mutter das Wasser aus dem Holzlöffel hinübergegossen hat. Danach stellt sie sich direkt neben mich, und legt die gelbe Rose in ihrer Hand neben den Strauß, zündet eines der Räucherstäbchen an.

In den ersten Jahren habe ich meist lange an diesem Stein gestanden und mit ihm geredet... und meine Mutter hat geweint. Beides ist nun verstummt und so stehen wir still da. Was würde ich ihm nun sagen, wenn ich mit ihm reden könnte? Wahrscheinlich würde ich ihm von Sakuya erzählen...

Ich sehe zu meiner Mutter hinüber. Sie hat den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Zögernd greife ich nach ihrer Hand und sie umfasst meine fest. Vermisst du ihn eigentlich immer noch? Am liebsten würde ich fragen, doch ich weiß, dass das keine Frage ist, die ich stellen darf. Du hast ihn geliebt, mehr brauch ich nicht wissen...

Ich blicke wieder nach vorne, betrachte die weißen Blütenblätter und kann mich ganz schwach daran erinnern, wie ich damals mit ihm hier war. Es muss das Mal vor neun Jahren gewesen sein, das Jahr, in dem ich acht wurde, das, in dem er... niemals daran gedacht hätte, seinen Eltern so bald hierher zu folgen.

Danach war er mit mir Eis essen, in meiner Lieblingseisdiele... Es war ein schöner, sonniger Tag, ebenso wie die folgenden, ebenso damals wie heute.

Ich hebe meinen Blick wieder, lasse ihn über die anderen Grabmäler gleiten, sehe hier und da eine oder mehrere Personen davorstehen. Die Sonne wirft ihre Schatten durch die Blätter der umstehenden Bäume... Irgendwie bekomme ich gerade ein makaberes Gefühl der Schönheit.

„Geht es dir gut?“

Das wäre es wohl, was du mich fragen würdest.

„Ja...“, spreche ich ganz leise und sehe wieder den Grabstein an. Ja, mir geht es gut, alles läuft bestens, ich bin glücklich... und es gibt jemanden, den du unbedingt hättest kennen lernen sollen.
 

„Wollen wir los?“, fragt meine Mutter nach einigen weiteren Minuten.

Ich nicke und sie lächelt mich an, wirft einen letzten Blick zum Grab und geht dann an mir vorbei den Weg entlang.

„Ich vermisse dich noch immer...“, spreche ich zögernd, bevor ich mich leise verabschiede und dann ebenfalls den Weg Richtung Ausgang ansteuere.

Wir laufen ein ganzes Stück einfach nur schweigend die Straße entlang, bevor ich den Blick meiner Mutter auf mir spüre.

„Hm?“ Ich sehe sie fragend an.

„Geht es dir gut?“, stellt sie die selbe Frage, wie er zuvor in meinen Gedanken, auch wenn sie nun wohl nur auf die jetzige Situation zielt.

Ich nicke und versuche ihr ein ganz normales Lächeln zu schenken. Bis darauf, dass mich dieser Grabbesuch wie erwartet traurig gestimmt hat, geht es mir wirklich gut.

„Aber ich vermisse ihn...“, setze ich dennoch zögernd hinterher. „Ich würde ihm gerne so vieles erzählen...“

Sie antwortet nichts darauf, ebenso wie ich es erwartet habe. Was sollte sie dazu auch sagen? Ich wollte es schließlich einfach nur loswerden.

Wir kommen Zuhause an.

Ich drücke den Knopf zum Fahrstuhl, woraufhin die Tür sofort aufgeht.

„Es tut mir leid...“, kommt es plötzlich.

„Was?“, frage ich überrascht.

„Dass ich... in der letzten Zeit kaum für dich da war...“

„Ist schon in Ordnung...“

Der Fahrstuhl öffnet sich und ein paar Schritte später schließt sie unsere Wohnungstür auf.

„Nein, ist es nicht... Ich habe schon lange das Gefühl, dich nicht mehr zu kennen... und in den letzten Wochen wurde es immer stärker...“

„Naja...“, spreche ich zögernd, gehe an ihr vorbei zur Küche, um etwas zu trinken. „Da gibt es etwas, das du nicht weißt...“

Ich nehme mir ein Glas Saft, setze mich damit an den Tisch... und als sie um die Ecke kommt, treffen sich unsere Blicke sofort.

„Sagst du es mir?“ Schon fast ein wenig schüchtern.

Ich schweige, spüre, wie ich mit einem Mal knallrot werde und wende meinen Blick ab. Eigentlich hatte ich nicht vor, ein derartiges Gespräch gerade jetzt zu führen, doch kamen die Worte einfach so aus mir heraus. Und nun? Soll ich etwa schon wieder einen Rückzieher machen?

Ich drehe das Glas in meiner Hand, während sie sich mir gegenübersetzt. Ihr Blick ist deutlich zu spüren. Machst du dir Sorgen oder bist du einfach neugierig? Wirst du froh sein, mein Geheimnis zu kennen, oder würdest du es lieber nicht wissen?

Ich weiß es nicht.

„Es... hat mit Sakuya zu tun...“, flüstere ich, nicht sicher, ob sie mich überhaupt verstehen kann.

Doch es kommt keine Nachfrage. Langsam sehe ich sie wieder an, während mein Gesicht wohl noch immer glüht. Wie um Himmels Willen sage ich es dir am besten?

„Er... ist nicht nur ein Freund...“

Stille, auch weiterhin. Ob sie überhaupt versteht, was ich damit meine? Wahrscheinlich nicht, war es immerhin nicht eindeutig. Wieso sollte sie auch darauf kommen, dass ich Homosexualität meine?

„Ich meine, er ist viel mehr als das...“, setze ich meine Erklärung fort, versuche in ihren Augen zu lesen, wann die Fragezeichen verschwinden und sie mich endlich versteht. Bitte, ich will es nicht so deutlich sagen müssen... „Er... Ich liebe ihn...“

Spätestens da kann sie es wohl nicht mehr falsch verstehen und so ändert sich ihr Blick auch sofort. Ihre Augen werden größer, ihr Mund öffnet und schließt sich wieder, und es ist pure Überraschung auf ihrem Gesicht zu erkennen. Oder Entsetzen?

Ich habe es ihr tatsächlich gesagt.

„Aber ihr seid doch beide... ich meine... das... du...“ Unglauben, Erschütterung... Unverständnis. „Du... bist du... schwul?“

Das letzte Wort wird nur gehaucht, als wage sie kaum, es in den Mund zu nehmen.

Ich nicke, ängstlich dem, was nun kommen mag.

War es wirklich richtig, es ihr zu sagen?

Sie steht auf, langsam, geht zur Ablage, stützt sich hinauf. Ich kann ihr Gesicht nicht mehr erkennen, und obgleich ich wahrscheinlich froh darüber sein kann, so würde ich es nun gerne sehen.

„Aber das...“ Sie schüttelt den Kopf, fasst sich an die Stirn. „Das kann doch nicht sein... ich meine... du... die Mädchen...“

Ich will aufstehen, lasse mich aber schnell zurück in meinen Stuhl fallen. Ich kann jetzt nicht zu ihr gehen.

„Ich wusste es auch nicht, Mama... Es... ist einfach so passiert...“

„Aber das kann doch nicht einfach so...“

„Doch... einfach so.“

„Hat er...? Ich meine... in Amerika ist so was vielleicht üblich... aber du darfst dich doch davon nicht beeinflussen lassen... das-“

Ich kann ein trockenes Lachen nicht unterdrücken. „Nein Mama, so war es nicht...“ Nun stehe ich doch auf. „Ich war es, der das Ganze angefangen hat... Er hat nichts gemacht... Ich habe mich einfach in ihn verliebt...“

„Das kannst du doch nicht ernst meinen?“

„Doch... Mir ist sogar sehr ernst... Ich liebe ihn wirklich...“

„Du bist viel zu jung dafür! Das ist nur Neugierde... nur eine Phase. Das geht wieder vorbei... das...“

Sie wird immer leiser und bei den letzten Worten sind die Tränen deutlich zu hören. Sie hat angefangen zu weinen. Ihr Rücken bebt und ich balle meine Hände zu Fäusten.

Scheiße!

Wieso ausgerechnet heute? Eigentlich sollte er dieser Tag doch den Erinnerungen an meinen Vater gehören... Wieso musste ich ausgerechnet heute mit der Sprache rausrücken?
 

Minuten vergehen, in denen sie immer wieder ansetzt und versucht, mir klarzumachen, dass ich nur jetzt gerade so fühle, dass es nur Kuriosität ist, dass ich so nicht empfinden kann... Doch mit allem was sie sagt, scheint sie selber immer unüberzeugter zu werden. Und dann weint sie einfach nur noch.

Es tut weh. Sie so weinen zu sehen, nur weil ich meine Liebe gefunden habe, tut weh. Ich wollte ihr damit keine Sorgen bereiten, ich wollte es ihr einfach nur endlich sagen.

„Ich will nicht mehr lügen müssen...“, spreche ich leise. „Bitte, Mama... ich wollte nur ehrlich zu dir sein...“ Eigentlich tut es noch mehr weh, dass sie mich nicht einfach so annehmen kann, wie ich bin.

„Aber... was hab ich denn falsch gemacht?“

„Nichts, gar nichts... es liegt nicht an dir... Ich war wohl schon immer so...“

„Aber wieso?“

„Dafür gibt es keinen Grund...“

Versteh mich doch einfach!, flehe ich innerlich.

Sie schüttelt den Kopf, geht ein Stück in den Raum hinein.

„Aber das... so einfach...“

Immer wieder die selben verzweifelten Worte. Ich hätte wissen müssen, dass sie es nicht so einfach aufnehmen würde. Ich hätte es wirklich besser wissen müssen. Doch jetzt ist es schon viel zu spät.

„Was ist... mit ihm? Was sagen seine Eltern dazu?“

„Sie wissen es nicht.“

Sie nickt, bleibt am Tisch stehen und lehnt sich dagegen, putzt sich die Nase. Wieso machst du es mir so schwer, einfach ich selbst zu sein?

„Was ist mit deiner Mutter los?“, ertönt es plötzlich von der Küchentür aus. Erschrocken fahre ich herum. Ein wütender Takehito sieht zwischen uns hin und her. Ich hab gar nicht gehört, wie er nach Hause gekommen ist... und jetzt, da ich ihn sehe, kotzt mich seine Anwesenheit einfach nur an. „Ist etwas passiert?“

Sie schüttelt den Kopf, auch als er sie direkt fixiert.

„Wieso heulst du? Was ist los?“ Seine schlechte Laune richtet sich sofort gegen meine Mutter.

„Nichts“, antworte ich für sie. Er dreht sich zu mir um. Jetzt ist sowieso alles egal, über kurz oder lang erfährt er es auch... „Ich habe ihr nur gesagt, dass ich schwul bin.“

Stille. Nicht einmal mehr das Schluchzen meiner Mutter ist zu hören. Und wäre die Situation nicht so ernst, könnt ich mich fast über meinen Triumph freuen: Ich habe es geschafft, dass Takehito sprachlos ist!

„Wie bitte?“, kommt es schließlich.

„Ich bin schwul“, wiederhole ich, und gleichzeitig spüre ich, wie in mir die Wut anfängt zu kochen. Meine Fingernägel drücken sich in meine Handballen.

„War ja klar, bei so einem Versager!“, sagt er, als er scheinbar meine Worte endlich verstanden hat, greift sich in die Haare. Ein sarkastisches Lachen liegt auf seinen Lippen, für das ich ihn am liebsten schlagen würde. „Du warst ja noch nie ein richtiger Mann!“

Ich weiß nicht wieso, aber auf meine Lippen legt sich in dem Moment das selbe Lachen.

„Du hast recht...“, sage ich, sehe ihm dabei fest in die Augen. „Ich bin kein Mann... Ich bin nur eine Schwuchtel...“ Ich werde immer lauter, mit jedem Wort. „Ein Homo, der andere in den Arsch fickt! Ein verfluchter Schwanzlutscher! Und weißt du was? Es ist toll! Ich habe Spaß daran! Ich-“

Meine geschrieenen Worte werden durch ein lautes Klatschen gestoppt. Mein Kopf fliegt zur Seite... Und noch während ich versuche, den Schlag zu verdauen, scheint er nun seinen Wortschatz an Beleidigungen wiedererlangt zu haben. Er beginnt zu schreien, wie schon lange nicht mehr, flucht, was für ein missratenes, perverses Miststück ich bin. Auch meine Mutter kann seinen Ausbruch nicht stoppen.

Und selbst als ich in meinem Zimmer verschwinde, die Tür hinter mir abschließe, verklingen seine barschen Worte nicht.
 

Ich lasse mich auf mein Bett fallen. Zweimal schlage ich auf mein Kissen ein, bevor ich hineinsinke.

Was ein scheiß Arschloch!

Was ein scheiß Tag!

Verdammt noch mal, wieso habe ich es ihnen gesagt?

Wieso bin ich auch für ein verdammter Idiot?

Ich hätte einfach die Klappe halten sollen.

Meine Faust saust gegen die Wand.

„Scheiße!“, schreie ich, schlage nochmals zu, wenn auch nicht allzu fest.

Auf wen bin ich eigentlich wütend?

Auf Takehito, weil er mich beschimpft?

Auf meine Mutter, weil sie mich nicht versteht?

Oder... auf mich?

Aber wieso? Weil ich einen Jungen liebe?

Ich schließe meine Augen, presse meine Hände davor.

Scheiße, scheiße, scheiße!
 

Lange liege ich so da, bevor sich mein vor Wut rasendes Herz wieder etwas beruhigt hat. Immer noch habe ich den Drang, auf irgendetwas einzuschlagen, doch ich lasse es sein.

Es würde doch eh nichts bringen.

Langsam öffne ich meine Augen wieder und nachdem ich eine Weile die weiße Decke angestarrt habe, drehe ich meinen Blick ein wenig. Dabei fällt er auf den Bücherstapel neben meinem Bett.

„Es sind Vergissmeinnicht“, höre ich ihn sagen... und egal wie wütend ich soeben noch war, kann ich mir doch ein Lächeln nicht verkneifen.

Blumen von dir... Es war so süß. Eine viel zu schöne Erinnerung, um sie einfach wegzuwerfen, weshalb sie nun in diesem Stapel getrocknet werden.

Erneut schließe ich die Augen, doch anstelle dieser durcheinanderwirbelnden Farben, die einen bloß irre machen, habe ich nun das Gefühl, ihn zu erkennen.

Ich würde dich jetzt so gern sehen. Die ganzen letzten Tage über konnte ich dich nie mehr als nur flüchtig berühren... Verdammt, gerade in diesem Moment vermisse ich dich unheimlich.
 

Lange ringe ich mit mir, bevor ich schließlich tatsächlich mein Handy hervorkrame und seine Nummer wähle.

„Hallo!“, kommt es am anderen Ende der Leitung. Er klingt fröhlich und sofort habe ich das Gefühl, als würde mein Herz einen Sprung machen.

„Hey...“, spreche ich leise zurück, klinge wahrscheinlich irgendwie merkwürdig.

„Ist irgendwas?“, kommt es mit sorgenvoller Stimme.

„Nein.“ Ich vermisse dich nur...

„Wirklich nicht?“

„Nein!“ Ich versuche in meiner Stimme den Ton eines ‚Quatsch, wieso fragst du?’ mitschwingen zu lassen. Keine Ahnung, ob es mir gelingt.

Eigentlich könnte ich ihm sagen, was los ist... könnte ihm sagen, dass ich meiner Mutter die Wahrheit erzählt habe, dass es einen riesen Krach gab und ich eigentlich gerade unglaublich mies drauf bin... doch ich will es nicht. Ich will dich nicht runterziehen, will einfach nur einen Moment ganz normal mit dir reden... will mir sagen, dass es nicht falsch ist, dich zu lieben.

Ich schließe die Augen, versuche sein Gesicht vor mir zu sehen.

„Ich wollte bloß deine Stimme hören...“, flüstere ich in den Hörer.

Es dauert einen Moment, bis nach diesen Worten die Befangenheit verschwindet... und bis wir zu einem normalen Thema übergleiten. Ich frage ihn nach seinem Tag, bin froh, als er einfach nur davon erzählt... sich über einen Lehrer aufregt und mir das Baseballtraining erläutert.

Keine Ahnung, ob du mir wirklich glaubst, dass nichts ist... ich bin einfach froh, dass du nicht weiter fragst. Und ich merke, wie sich einfach dadurch, dass ich deine Stimme höre, alles aufgewühlte in mir, wieder zu beruhigen beginnt.

„Ach sag mal...“, kommt es irgendwann. „Am Samstag ist das letzte Heimspiel der Yoimiru Giants... Einige von der Mannschaft wollten hin... hast du vielleicht Lust, mitzukommen?“

Samstag? Mit seinen... Freunden?

Nur einen kurzen Moment lang bin ich gewillt, den Vorschlag auszuschlagen, doch dann stimme ich zu.

Auch vor ihnen kann ich nicht ewig davon rennen.

„Klar, wieso nicht...“, sage ich. „Vielleicht find ich ja auch irgendwann mal was an dem Sport...“

„Gut, dann besorge ich dir auch ne Karte!“ Es klingt freudig, zeigt mir, dass es die richtige Entscheidung war.

Sakuya erzählt kurz von dem bevorstehenden Spiel, als sich plötzlich der Akku meines Handys meldet. Sofort wird mein Herz wieder schwerer. Ich will dich noch nicht auflegen... gerade brauche ich dich.

Eine kurze Verabschiedung und ich will gerade auflegen, als ich doch noch schnell ein „Sakuya!“ hinterher setze.

„Ja?“, kommt es zu meiner Erleichterung.

„Eigentlich...“, beginne ich zögernd, presse meine Augenlider hinunter. „...würde ich dich gerne sehen...“

„Wieso kommst du dann nicht einf-“

Stille, nur ein letztes jämmerliches Piepen meines Handys, bevor das Display erlischt. Ich starre es an.

Ja... wieso bin ich eigentlich nicht sofort zu ihm gegangen? Ich sehne mich doch schon die ganze Zeit so nach ihm...
 

Ohne noch länger darüber nachzudenken oder irgendwas einzupacken, schlüpfe ich schnell in einen frischen Pullover und verlasse mein Zimmer.

„Wo willst du hin?“, kommt es sogleich, als ich meine Schuhe anziehe.

Takehito steht in der Wohnzimmertür und sieht mich finster an. Als habe er nur darauf gewartet, dass ich wieder aus meinem Zimmer komme.

Hinter ihm taucht meine Mutter auf.

„Zu Sakuya!“, gebe ich meine Entscheidung preis, mit wahrscheinlich ein wenig trotzigem Unterton.

„Das wirst du ganz sicher nicht!“ Wütend kommt er auf mich zu.

„Ach nein?! Du kannst mir gar nichts befehlen!“ Es ist mir gerade so egal, ob ich mich mit ihm anlege. Ich will einfach nur zu dir.

„Natürlich kann ich das!“ Eine Hand fasst mich am Unterarm, wie ein Schraubstock.

„Ja und? Ich geh trotzdem!“, sträube ich mich, versuche mich zu befreien.

„Wirst du ni-“

In dem Moment geht die Tür neben uns auf und sofort ist es still. Lynn sieht uns verschlafen an. Diesen Moment nutze ich. Als sein Griff sich lockert, befreie ich meinen Arm und verlasse fast fluchtartig unsere Wohnung.
 

Mit einem ziemlich bedrückendem Gefühl bin ich wenig später beim Haus der Ryans angekommen. Du wirst sofort merken, dass etwas nicht stimmt. Aber wie soll ich es dir erklären, ohne die Wahrheit zu sagen? Denn die sollst du nicht wissen. Noch nicht.

Ich will dich zwar sehen... Aber war es falsch, herzukommen?

Ich schaffe es nicht, seiner Mutter ein freundlichen Lächeln zu schenken, als sie mir öffnet, steige mit schnellen Schritten die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Als ich die Tür aufmache, sehe ich ihn... und in dem Moment als er sich mit überraschtem Blick zu mir umdreht, weiß ich, dass diese Gefühle richtig sind, dass allein solche Augenblicke, all diesen Ärger wert sind.
 

Part 19 - Ende
 

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~ Gräber in Japan

~ Haneda Airport

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Part 20

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Part 22

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Sakuya (by littleblaze)
 

Ich war ziemlich schnell eingeschlafen, wenigstens denke ich das...

Obwohl ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann, dass ich überhaupt müde oder erschöpft war, scheint mich der Schlaf ziemlich schnell übermannt zu haben.

Das, was ich noch weiß, ist, dass ich mir das Kondom abgezogen habe, es in eines der Taschentücher wickelte und dann unter die Decke schlüpfte.

Ich erinnere mich daran, wie er ebenfalls unter die Decke kroch, seinen Körper gegen meinen drückte. Ich nahm ihn in den Arm. Ein eigenartiger, seltsamer Geruch ging von ihm... uns aus. Wie ich diesen empfand, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.
 

Ich bin als erstes wach, dusche.

Als ich fertig angezogen bin, krabbele ich wieder aufs Bett, flüstere ihm ein „Aufwachen“ ins Ohr. Ich lächele leicht, als er ein paar glucksende Geräusche von sich gibt, fast wie ein Baby.

„Bist du schon lange wach?“ Er öffnet leicht die Augen.

„Erst seit der Wecker geklingelt hat.“ Der Blickkontakt wird mir peinlich.

„Der hat schon...“

Ich nicke, küsse ihn kurz und setze mich dann auf, um seinem Blick zu entgehen. Warum fühle ich mich jetzt schon wieder so komisch?

„Noch fünf Minuten...“, gähnt er und ich beobachte, wie er sich noch einmal umdreht.

„Nichts da, aufstehen“, befehle ich und erhebe mich gleichzeitig vom Bett. „Ich geh schon mal runter.“

„Gemeinheit.“ Ein kleines Kissen fliegt in meine Richtung, dem ich galant ausweiche. Unsere Blicke treffen sich erneut, ich werde schon wieder rot. Ich wende mich schnell ab und verlasse mit dem Hinweis, dass wir nicht zu spät kommen sollten, mein Zimmer.
 

Beim Frühstück ist es nicht viel anders, ich schaffe es nicht, ihn direkt anzusehen. Warum war mir sein Anblick auf einmal so peinlich? Ich meine, ich habe ihn gefickt, einem Jungen meinen Schwanz in den Arsch gesteckt, und jetzt schaffe ich es nicht einmal, ihn ohne, dass mir die Röte ins Gesicht stieg, anzusehen?
 

Die erste Schulstunde, der zweite Minuspunkt am heutigen Tag.

Ich hatte zwar einige Male kurz mit Kevin per ICQ gesprochen, die Übersetzung meiner Französischhausaufgabe aber total vergessen. Dass es Zufall ist, gerade heute drangenommen zu werden, denke ich nicht... Schicksal.
 

Beim Baseball sprühe ich nur so vor Energie. Irgendwie scheine ich heute sowieso einen Überschuss an allem zu haben.

Als ich nach einer Umrundung des Feldes wieder bei Kyo ankomme, flüstere ich ihm ins Ohr: „Wir haben’s getan.“

Ich grinse blöd, und er braucht eine Weile um wirklich zu verstehen.

„Ihr habt...“ Ich drücke seine Lippen zusammen.

„Pst, nicht so laut...“ Ich entferne meine Hand wieder von seinem Mund.

„Wann?“, kommt es ungläubig.

„Gestern.“

„Und, wie... war’s?“ Er verzieht komisch das Gesicht, als wenn ihm erst jetzt wieder eingefallen ist, dass ich von Sex mit einem Jungen spreche.

„Es war toll.“ Ich grinse, glaube ich, ganz schön blöde in diesem Moment.

„Wirklich? Echt? Aber wie... nein... vergiss es, ich will es gar nicht hören.“

„Wirklich nicht?“

„Hey, kommt ihr“, ertönt es von der anderen Seite des Feldes. Ich renne los, er bleibt wie angewurzelt stehen.

„Na, was ist... kommst du?“ Ich lächle, werfe ihm den Ball zu, den ich noch in Händen hielt. Er fängt ihn und setzt sich gleich darauf, immer noch mit einem fragenden Gesichtsausdruck, in Bewegung.
 

~ * ~
 

Am Abend lernen Kida und ich ein wenig Englisch. Besser gesagt, er lernt und ich versuche wie blöde dieses scheiß Gedicht zu übersetzen. Auch wenn ich nicht wirklich voran komme, ist es doch eine gute Ablenkung, um nicht immer verstohlen zu ihm rüber zu schauen, nicht immer wieder die Frage in meinem Kopf erklingen zu lassen, wann es wieder passieren wird.

Ob es nur mir so geht?

Sobald ich in seiner Nähe bin, kann ich plötzlich an nichts anderes mehr denken. Ich will ihn küssen, berühren, ihn unter mir spüren... Gott, bin ich jetzt zu einem totalen Sex-Junkie mutiert?

Eine Berührung reißt mich aus diesen Gedanken raus, seine Hand, die plötzlich auf meiner liegt... was ist?

Er küsst mich, berührt mich... was ich wollte tut er auf einmal, einfach so. Ohne jeden Vorbehalt erwidere ich seine Küsse, will schon gänzlich in dieses Gefühl eintauchen, als ich noch einmal stoppe. Ich befreie mich, stehe auf und verriegle die Tür. Besser ist das.

Einige Sekunden später stehe ich vor ihm, lasse es zu, dass er über meinen Körper hinweg fährt, mir das Shirt auszieht. Es fühlt sich toll an... erregend, befreiend und gleichzeitig wie ein Gefühl von Macht.

Ich umklammere ihn, küsse nicht gerade sanft. Wir gleiten aufs Bett hinab.

Weiteres Verlangen austauschend, wenige Worte sprechend, und bald schon sind wir wieder an dieser Stelle, in der alle Gefühle explodieren, wo man nicht mehr weiß, ob gut oder böse, ob richtig oder falsch... man will nur noch... eins sein.

Wieder bin ich es, ich will es...

Doch irgendwann am heutigen Tage stellte sich mir schon die Frage, wie es wohl andersherum wäre. Doch ist dieses Mal auch so ganz anders als zuvor. Ich fühle mich um einiges besser dabei, habe nicht mehr ganz so viele Sorgen in meinem Kopf und genieße einfach, lasse ihn genießen...
 

Kurz vor dem Einschlafen holt uns sein Handy wieder in die Realität zurück. Neugierig lausche ich dem Gespräch.

Der beunruhigende Satz „Irgendwas stimmt nicht.“ nach Beendigung dieses lässt mich nicht wirklich schnell zur Ruhe kommen. Ich streichle seinen Rücken, verteile zärtliche Küsse... irgendwie scheint dies mich selber mehr zu beruhigen als ihn.
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen befinde ich es für den passenden Moment, Kida von dem Gespräch mit meiner Mom zu erzählen. Dass er nicht gleich Freudensprünge aufführt, war mir ja irgendwie schon klar, doch sagen musste ich es ihm ja sowieso irgendwann einmal.
 

Der Schultag ist meiner Meinung nach viel zu schnell vorbei. Außer Sozialkunde, das kurze Mittagessen und ein kleines „Bis Später“ ist nicht viel von Kida übrig geblieben. Ich fühle mich alleine, trotz 30 weiteren Schülern, die mit mir im Baseballclub sind.
 

Den frühen Abend verbringe ich mit Kyo, wiedereinmal lernen für Mathe. Langsam spürt man, dass die Abschlussprüfungen auf einen zukommen.

„Und, wie läuft es bei dir und Sanae?“

„Lass es.“

„Also?“

Ich blicke auf und er tut verzweifelt so, als würde er sich tatsächlich auf seine Matheaufgaben konzentrieren.

„Sag schon.“

„Wir gehen uns aus dem Weg, immer noch.“

„Warum?“

„Du stellst echt wunderschöne Fragen“, kommt es genervt. „Wenn ich wunderschöne Antworten darauf wüsste, würde ich sie dir mitteilen.“

„Ruf sie an“, schlage ich vor.

„Nein.“

„Soll ich sie anrufen?“

„NEIN.“

„Ich würde es gerne für dich tun.“

„Ich sagte doch: Nein.“

„Ich wollte nur helfen“, entschuldige ich mich, richte meinen Blick wieder auf das Heft. „Vielleicht...“

„Nein.“

„Lass mich doch erst einmal aussprechen.“

„Nein.“

„Wir könnten ins Kino gehen“, spreche ich so schnell, dass er kaum Zeit hat mich zu unterbrechen.

„Nein.“

„Wir könnten zu viert gehen“, versuche ich ihn zu überreden.

„Und was soll das bringen?“

„Keine Ahnung, aber es wäre ein Anfang.“

Ich spüre einen glatten Gegenstand an meinen Lippen, ziehe ihn fragend anschauend wieder zurück. Seit wann hatte ich denn diesen Tick? Der Stift landet auf dem Tisch.
 

~ * ~
 

Kyo letztendlich von dem Kinobesuch zu überzeugen, war nicht schwer und auch Sanae, die ich noch während seines Aufenthalts bei mir anrief, willigte schnell ein. Jetzt muss nur noch Kida zustimmen, aber das stelle ich mir nun gar nicht schwierig vor... wenn er doch endlich nur wiederkommen würde.

Seit knapp einer Stunde hänge ich nun schon alleine in meinem Zimmer rum. Es ist spät, vielleicht sollte ich ihn doch mal anrufen, fragen was los ist.

Die Nummer ist schnell gewählt, viel zu lange kommt mir die Zeit vor, bis er endlich ran geht.

„Hallo...“, kommt es mit verschlafener Stimme.

„Hey...Du hast dich nicht gemeldet und da dachte ich...“

„Ich hab Lynn ins Bett gebracht und bin eingeschlafen... Entschuldigung...“

„Schon gut...“

Warum redest du nicht weiter, sagst mir nicht was los ist? Willst du nicht oder kannst du nicht? Kannst du dir nicht vorstellen, wie ich mich gerade fühle? Rede doch mit mir...

„Sagst du mir, was sie wollte?“

Ein Todesfall, mein Mitleid darauf. Er bleibt zu Hause, fährt übers Wochenende weg... aber ich soll mir keine Sorgen machen...

Mir keine Sorgen machen? Du bist in die Höhle des Löwen gegangen, dahin, wo man unser Geheimnis kennt. Es sind deine Eltern, sie könnten was weiß ich anstellen, damit wir uns nicht mehr sehen können, und du sagst mir, ich soll mir keine Sorgen machen?

„Ich liebe dich...“, kommt es schließlich.

„Ich liebe dich auch.“
 

~ * ~
 

Durch die fehlende Körperwärme schlafe ich unheimlich schlecht und Kyo hat es mächtig schwer, mich am nächsten Morgen Richtung U-Bahn zu schleifen.

„Sakuya?“

„Ja?“

Wir drehen uns gleichzeitig um.

„Ryouta?“, bin ich überrascht. „Was machst du denn hier?“

„Ich bin auf dem Weg zur Uni, ich steige immer hier um. Und du?“

„Ich wohne hier in der Nähe“, lächele ich.

„Schöne Gegend.“

„Ja“, wird mir diese Auffassung ein wenig peinlich. Einen Moment lang schauen wir uns einfach nur an.

„Ähm... das ist ein Freund von mir. Asumo Kyo“, stelle ich vor.

„Freut mich. Yamamoto Ryouta.“

„Er ist ein Freund von Tatsuya“, erkläre ich an Kyo gerichtet, hoffend, dass er sich überhaupt noch an die Erzählungen von Tatsuya erinnert.

„Oh, meine Bahn kommt schon...“

Ich blicke mich um, suche die Anzeigentafel. Eine Minute...

„Hier.“ Mir wird eine Visitenkarte hingehalten. „Ich wollte sie dir schon lange geben, aber irgendwie war nie Zeit dafür.“

„Danke“, nehme ich das kleine Stück Papier entgegen. „Ähm, warte... ich habe gar keine Visitenkarten“, fällt mir plötzlich auf. „Gib mir schnell dein Handy.“

Fragend angeschaut, wird dann schnell nach dem Gegenstand gekramt und an mich weiter gereicht.

Ich speichere meine Nummer in sein Telefonbuch ein und gebe ihm das Gerät zurück, gerade als seine Bahn einfährt.

„Ruf mich an“, ertönt es anstelle eines Abschiedsgrußes, er verschwindet in der Menge.

„Was war denn das?“

„Ein neuer Freund.“
 

Auf Kida treffe ich erst beim Mittagessen. Es kommt mir vor, als hätte ich ihn Wochen nicht gesehen, dabei war es gerade mal eine Nacht. Gerne hätte ich ihm gesagt, dass ich ihn vermisse, nicht einschlafen konnte, weil mir seine Nähe fehlte, doch wie so etwas erzählen zwischen hunderten von anderen Schülern?

Als es wieder zum Unterricht schellt, möchte ich am liebsten einfach sitzen bleiben. Ich habe keine Lust auf dieses scheiß Fach, dessen Namen ich nicht einmal richtig aussprechen kann. Ich will hier bleiben, hier mit ihm... doch stehe ich wie alle anderen auf, verlasse den großen Raum und begebe mich, wie alle anderen auch, in die zugeteilten Klassenräume.

Mit null Hoffnung, Kida noch einmal wieder zu sehen bevor er weg fährt, ziehen dich die letzten zwei Unterrichtsstunden natürlich nur so hin. Harumo quatscht mich von der Seite zu und irgendwann kommt mir dann die tolle Idee, die Übersetzung dieses scheiß französischen Gedichtes bei ihm abzuschreiben. Na ja, besser gesagt, diktiert er mir das Ding und ich schreibe.

Dieser kleine Smalltalk mit Harumo also doch noch zu was nütze, verlassen wir gemeinsam den Klassenraum. Auf dem Weg steht er uns dann plötzlich gegenüber.

Mein Herz fängt sofort wieder an zu rasen, ich bin... froh, ihn noch einmal sehen zu können.

„Ich komm gleich nach, okay?“, richte ich mich an meinen Klassenkameraden und werde sekundenspäter in eine Toilettenkabine gezogen. Ein leidenschaftlicher Kuss erwartet mich hier, sein warmer Atem, seine Gier... Ich glaube ich dreh durch... ich könnte schon wieder...

Er löst sich von mir, ein paar fast schon schüchternde Momente und dann merke ich, dass mir die Zeit davon rennt. Wäre ja auch nicht gerade vorteilhaft, wenn man nach mir fragt und Hasumo dann als Antwort gäbe, dass ich mit Takahama unterwegs wäre anstatt zum Training zu erscheinen.

Doch der Ausgang wird uns fürs erste versperrt. Geduldig warten wir ab, halten und küssen uns noch einmal, in der Zeit, die uns somit geschenkt wurde.

Ein weiterer Kuss...

„Ich liebe dich... Wir sehen uns Sonntag!“
 

Nach dem Training fragt mich Kyo, wie es denn jetzt morgen mit dem Kinobesuch aussieht, da Kida nicht da ist.

„Scheiße, das habe ich total vergessen“, gebe ich ehrlich zu.

„Sollen wir trotzdem gehen?“

„Warum nicht? Besser als blöde zu Hause rumzuhängen.“

„Ok, wir sehen uns dann morgen... Ach, soll ich Sanae wegen der Uhrzeit anrufen oder machst du das?“

„Mach ruhig“, zwinkere ich. „So habt ihr wenigstens ne Gelegenheit zu reden.“

„Ja, wahrscheinlich sagt sie sofort wieder ab, sobald sie meine Stimme hört. Bye.“

„Bye.“
 

Zu Hause angekommen, darf ich das Haus auch sofort wieder verlassen. Ein Einkaufszettel erwartet mich auf dem Küchentisch, da meine Mom es wegen verlängerter Arbeitszeit heute nicht selber schafft einzukaufen.

Ich schnappe mir das Ding und gehe auf meinem Weg zum Supermarkt erst einmal in ein McDonalds um meine Batterien aufzutanken, danach widme ich mich den Unmengen an Gängen im Laden.

Klamotten kaufen: kein Problem, aber Supermärkte sind die Hölle. Nie kann ich mir merken, wo was steht, fahre den Einkaufswagen kreuz und brauche bestimmt vier Mal so viel Zeit wie meine Mom um alles zu finden.

Endlich fertig und mit drei Tüten bepackt befinde ich mich außerhalb des Supermarktes, im strömenden Regen.

„Ganz toll... wunderbar... super...“

Man sollte das Wetter im Moment wohl nicht unterschätzen und nicht mehr nur im Shirt rumrennen. Klitschnass komme ich zu Hause an, befreie erst mich von den nassen Klamotten und dann die Lebensmittel aus ihren Tüten. Schnell packe ich alles in die dafür vorgesehen Schränke.

Das auch erledigt, steige ich unter die Dusche. Trotz des warmen Wassers, schaffe ich es nicht, mich aufzuwärmen, sogar den Punkt Selbstbefriedigung lasse ich aus, um möglichst schnell unter meine Bettdecke zu krabbeln.

Genüsslich kuschle ich mich ins Bett und nehme mit Schrecken wahr, dass meine Mom die Bettwäsche gewechselt hat. Kein Kidageruch mehr...
 

19.23 Uhr

Was machen? Zum Schlafen ist es doch noch bei weitem zu früh.

Ich könnte mal wieder ein längeres Gespräch mit Kevin führen und ihm... Nein! Irgendwie fühle ich mich dazu noch nicht stark genug. Doch warum kann ich es Kyo so einfach erzählen und ihm nicht? Mein Augenmerk richtete sich auf den Schreibtisch, auf den schwarzen, aus Leder gebundenen Gegenstand... ob ich einfach so?

Ich schlüpfe unter der warmen Decke hervor und verlasse das Zimmer. Ich lasse mich über das letzte Stück Geländer hängen und fische nach dem Telefon, nur keine unnötigen Schritte machen. Es endlich in Händen rase ich wieder hinauf, schließe die Tür hinter mir, greife nach dem Gegenstand auf dem Schreibtisch und springe wieder aufs Bett zurück. Schnell krabbele ich unter die Decke, lege mich hin. Ich krame die Visitenkarte hervor und wähle die Nummer, die darauf zu lesen ist.

„Yamamoto, hallo?“

„Hi, ich bins... Sakuya.“

„Ja, ich weiß, ich erkenne deine Stimme.“

„Tust du das?“, grinse ich und komme mir sofort reichlich blöd dabei vor.

„Ich freu mich, dass du anrufst.“

„Ja?“

„Ja... Rufst du aus einem bestimmten Grund an oder einfach nur so?“

„Nur so, denke ich.“

„Denkst du?“, kommt es amüsiert.

„Ich habe grade nichts zu tun... mir ist langweilig... und da...“

„Was ist denn mit Kida?“

„Der ist nicht da... er musste das Wochenende mit seiner Familie weg.“

„Oh... na dann.“

„Mmh...“

„Wenn du magst können wir uns auch irgendwo treffen“, kommt es meiner Meinung nach ziemlich weich.

„Nein. Morgen ist Schule, wieder einer dieser beschissenen Samstage.“

„Sollen wir dann morgen Abend was unternehmen?“

„Sorry, geht auch nicht, ich geh mit ein paar Freunden ins Kino. Mit Kyo, dem Jungen von heute morgen und mit Sanae, sie kennst du ja.“

„Achso...“

„Du... du kannst aber gerne mitkommen, wenn du magst. Wir sind sowieso einer zu wenig.“

„Zu wenig?“, fragt er nach.

„Ja, eigentlich sollte Kida mit ins Kino gehen, aber der ist ja jetzt nicht da und somit... du verstehst schon, oder?“

„Ja, ich verstehe.“

„Also?“, warte ich gespannt auf seine Antwort.

„Ok, ich komme mit. Wann und wo trefft ihr euch.“

„Das Kino am Mori Tower, 19.00 Uhr. Geht das bei dir?“

„Ja, kein Problem, das schaff ich.“

„Gut, dann würde ich sagen, wir sehen uns Morgen?“

„Ok. Bis Morgen dann, Sakuya.“

„Ja...“

„Träum schön...“

Erwidern kann ich nichts mehr darauf, hätte ich auch gar nicht gewusst was. Ich schaue das Telefon noch eine Weile an, vernehme das Tuten auch noch, ohne direkt mit dem Ohr daran zu liegen.

War das wirklich in Ordnung so? Immerhin ist er ja schon eine ganze Ecke älter als wir... wird er sich nicht blöd dabei vorkommen mit uns Kiddys abzuhängen? Hat er vielleicht nur aus Höfflichkeit zugesagt?

Ich drücke dem Knopf um das nervige Tuten nicht mehr wahrnehmen zu müssen, starre aber weiterhin darauf.

Wie gerne würde ich jetzt seine Stimme hören... nur einmal ganz kurz. Ich traue mich aber nicht die Nummer zu wählen, es wäre nicht richtig ihn zu stören, den Eltern noch einen Grund mehr geben, warum sie mich hassen könnten. Ich wünschte, du wärst bei mir.
 

~ * ~
 

Roppongi, Samstag, 19.03 Uhr.

Sanae ist ein wenig überrascht über Ryoutas Auftauchen, doch wird ihre Neugierde schnell von einer kleinen Streitdiskussion mit Kyo abgelenkt.

„Hey, Hey, Hey, immer schön locker bleiben“, lege ich meine Arme um die Schultern der Beiden. „Es kann doch nicht so schwer sein, sich mit Freunden einen Film anzusehen, oder? Also... Sanae, du wählst.“

„Na toll..“

„Ja ich weiß, ich bin zu blöd einen Fil...“

„Ok, ok...“, unterbreche ich und schiebe Sanae näher zur Anzeigentafel. „Suche einfach einen aus.“

Sie entscheidet sich für den schnulzigsten Liebesfilm der zurzeit läuft, hundertprozentig aus dem Vorhaben heraus, Kyo zu ärgern. Der Protest darauf ist natürlich groß, trotzdem kaufen wir unsere Karten kaufen und sitzen kurz darauf in den bequemen Stühlen des Kinosaales.

Ich atme einmal tief durch, die Luft im Saal ist nicht gerade die Beste.

„Alles Ok?“, kommt es von rechts.

„Ja“, beruhige ich Ryouta, fächele mir mit dem Vorschauprogramm ein wenig Luft zu. „Es ist nur so stickig und warm hier.“

„Findest du?“

Die Werbung fängt an und von der linken Seite nehme ich eine Diskussion über Standorte der Colabecher auf. Ich halte mich raus... wenigstens reden sie miteinander.

Während des Hauptfilmes fallen mir immer wieder die Lider hinunter. Ein Effekt des schlechten Filmes oder der stickigen Luft, die mich müde macht? Zugegeben ist dies der schlechteste Liebesfilm, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe, doch scheint sich der Besuch trotzdem auf ganzer Linie zu lohnen. Die letzten Minuten dieses schrecklichen Werkes, hängt meine Aufmerksamkeit mehr an den beiden Händen, die sich gefunden haben, als auf der Leinwand.
 

Nach dem Kino wird sich ziemlich schnell getrennt. Zwar hatte ich eigentlich noch vor, mit allen irgendwo was trinken oder essen zu gehen, aber das Bedürfnis alleine zu sein, spürte man bei Kyo und Sanae ziemlich deutlich.

„Und was machen wir jetzt?“

Ryouta deutet in Richtung Vanilla und Velfarre. Ich schüttle den Kopf, eigentlich ist mir gerade mehr nach einem gemütlichen Sitzplatz zumute.

„Möchtest du nach Hause, bist du müde? Du siehst nicht wirklich gut aus“, ertönt es analysierend.

„Nein, eigentlich nicht... ich habe nur nicht wirklich Lust in einem Club oder so abzuhängen.“

„Wir könnten zu mir, ich wohne nicht weit weg.“

„Zu dir?“

„Ja, wir müssen aber nicht...“

„Doch, ist eine gute Idee.“ Die Aussicht auf einen ruhigen, bequemen Sitzplatz lässt mich leicht lächeln.
 

Drei Blocks weiter stehen wir auch schon vor dem Gebäude, in dem sich seine Wohnung befindet. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich hier keine Eltern erwarten kann, dass ich mit ihm ganz alleine sein werde.

„Du siehst wirklich beschissen aus“, lässt er mich abermals wissen, als wir oben angekommen sind. Er nimmt mir die Jacke ab.

„Darf ich?“

„Hä?“

Er kommt einen Schritt näher, gefährlich nah, schreit es in mir auf. Mit diesem Gedanken wird mir sofort noch heißer, die von mir benötigte Luft scheine ich nicht genügend zu erhalten und meine Sinne geben mir das Gefühl, als würde sich alles drehen. Ich schwanke leicht, doch dann holt mich etwas wieder hinaus.

Es fühlt sich so gut an, mein ganzer Körper schreit danach mehr davon zu erhalten, lehnt sich dem entgegen.

„Du glühst ja förmlich.“ Die kühle Hand verschwindet von meinem Hals.

„Was?“

„Du hast Fieber...“

„Fieber?“

„Ja, verdammt.“

Ich werde durch einen Raum geführt, betrete einen Zweiten. Ich würde zu gerne die Dinge um mich herum wahrnehmen, doch kann ich nur alles schemenhaft und leicht verschwommen erkennen. Meine Augen wollen mir einfach nicht mehr gehorchen.

Ich werde hinunter gedrückt, ein Bett...

„Leg dich hin“, kommt es befehlend, doch bleibe ich sitzen obwohl ich nur noch liegen, schlafen will...

„Lass uns deine Eltern anrufen.“

„Meine Eltern? Wieso?“

„Sie sollen dich abholen, du bist krank.“

„Ich will nicht... nicht nach Hause... Kida ist nicht da, es ist... so leer...“ Eine unangenehme Kälte durchströmt mich. Es ist kalt, oder doch warm? Ich lasse mich zur Seite kippen...
 

~ * ~
 

Des Öfteren werde ich wach und fast immer stellt sich mir die Frage, was los ist, wo ich bin.

Einnahme eines Medikamentes.

Ein neues kaltes Tuch auf meiner Stirn.

Ein nervender Hustenanfall.

„Was ist das?“, frage ich verwirrt, als ich irgendwann wieder mehr bei Bewusstsein bin, greife in mein Gesicht.

„Ein Mundschutz.“

Ich blinzle, erkenne, dass auch er einen trägt.

„Ich hasse die Dinger.“ Ich setze mich auf, mein Kopf schenkt mir mit einem schmerzenden Druck auch sogleich die Rechnung dafür und versuche mich von dem ekelhaften Ding zu befreien.

„Nicht, bitte lass es dran“, wird meine Hand am Ohr aufgehalten.

Ich habe keine groß Kraft mich dagegen zu wehren... es ist so hell hier... mein Kopf schmerzt.

„Wie spät ist es?“, verlässt es rau meine Lippen, mein Mund ist total ausgetrocknet.

„Wir haben halb eins...“

„So früh?“

„Mittags.“

„Oh... meine Eltern werden sich bestimmt Sorgen machen.“ Ich versuche mich aufzuraffen, klappt nicht...

„Ich habe ihnen eine SMS von deinem Handy geschrieben.“

Ich versuche erstaunt, amüsiert zu schauen, doch gelingt mir das garantiert nicht.

„Was hast du geschrieben?“

„Schlafe heute bei einem Freund. Zurück kam: Ist Ok, haben dich lieb.“

„Ganz schön clever.“

„Mmhh... Wie fühlst du dich?“

„Keine Ahnung...“ Ich versuche in mich zu horchen. „Mein Kopf schmerzt höllisch und ich weiß nicht... ich fühle mich richtig down, doch Fieber... ich weiß nicht, habe ich noch welches?“

„Nur noch ein bisschen... liegt an den Tabletten, die du von mir bekommen hast.“

„Tabletten? Ja, ich kann mich irgendwie dran erinnern, dass so was war. Ich hoffe, ich hab dir nicht irgendwo auf dem Teppich gekotzt oder so?“, kommt ein gequältes Grinsen.

„Nein, hast du nicht und jetzt ruh dich noch etwas aus und nachher rufen wir dann deine Eltern an.“

Er legt mir noch ein neues Tuch auf die Stirn, zieht mir die Decke bis zum Hals.

„Wir haben Sonntag... nicht wahr?“

„Ja, wieso?“

Ich kuschele mich tiefer in die Kissen hinein. „Kida... er kommt heute zurück“, erklingt es schwach.

„Ja, ich weiß...“
 

Part 22 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 23

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Kida (by Stiffy)
 

Seufzend lasse ich mich auf das Gästefuton fallen. Ein Glück, dass ich mich abseilen konnte. Ich halte es da drinnen einfach nicht mehr aus...

Es sind nur noch zwei Stunden, dann geht’s los zur Einäscherung... Jetzt findet gleich die Einsargung statt...

Fast neun Jahre ist es nun her, seit ich das letzte Mal bei so etwas dabei war. Tatsächlich ist schon in fünf Tagen der Jahrestag... dann ist er schon seit neun Jahren nicht mehr da.
 

Die Tür wird geöffnet und meine Mutter bringt Lynn herein, sagt nichts, sondern sieht mich einfach nur bittend an. Ich nicke, setze mich im Bett auf und sehe Lynn an, wie sie zu mir hinüberkommt.

„Na mein Schatz...“ Ich strecke ihr eine Hand entgegen, welche sie ergreift. Im nächsten Moment schlingt sie die Arme um meinen Hals.

„Kida?“

„Hm?“

„Ich mag das nicht...“ Sie drückt ihren Kopf gegen mich, während ich mich mit ihr zurück in die Kissen fallen lasse. „Die sind alle so traurig und unheimlich da draußen...“

Sie drückt sich fester an mich, während ich ihr beruhigend übers Haar streiche.

Wie bloß erklärt man einem vierjährigen Mädchen, was hier los ist? Wie sagt man ihr, dass der Mann, der so leblos dort aufgebahrt liegt, nicht aufstehen wird... wie macht man ihr verständlich, weshalb viele hier weinen, weshalb sie alle traurige Gesichter tragen?

Es ist doch nur zu verständlich, dass es ihr Angst macht... Mir ging es damals doch ähnlich, obwohl ich schon acht war, an jenem Tag...

„Wer ist der Mann?“, kommt es leise.

„Mamas Bruder...“

Sie richtet sich etwas auf, legt den Kopf schief und sieht mich an, als würde ich lügen. „Du hast doch gesagt, er ist weggegangen...“, erinnert sie mich an meine Worte, die alles folgende nur komplizieren.

„Ja... weißt du Lynn...“ Ich zögere. „Er... na ja...“

Ich fühle mich überfragt... besser gesagt, ich habe keine Ahnung, wie ich das erklären soll.
 

Schließlich, etwas später, der Moment des letzten Blickes. Ganz friedlich sieht er aus, wie er da im Sarg liegt... wirklich fast, als würde er schlafen. Man könnte meinen, er würde jeden Moment wieder die Augen öffnen...

Ich glaube genau das macht es in diesen Moment so schlimm... dass man den Toten ihren Zustand noch nicht mal ansieht...

Als mein Vater starb, habe ich ihn nicht so gesehen. Ich glaube sie wollten nicht, dass ich meinen Vater als letztes so in Erinnerung behalten würde, also hielten sie mich fern. Auch bei der anschließenden Zeremonie war ich nicht dabei, ebenso wenig wie jetzt Lynn, die mit einer Großcousinen von uns zurückgeblieben ist.

Daher ist es nun das erste Mal, dass ich dergleichen erlebe und ehrlich gesagt ist mir unwohl bei dem Gedanken...

Ich gehe zu meiner Mutter hinüber, nachdem der Sarg entgültig geschlossen und weggebracht wurde. Sie sitzt da wie ein Häufchen Elend, weint nicht, aber zittert. Takehito sieht mich abfällig an, entfernt sich dann von uns.

Ich nehme sie in den Arm und sie lässt es zu. Ich spüre das Beben ihres Körpers und trotz allen, was in der letzten Zeit geschehen sein mag, so tut es weh, sie so zu erleben. Seit Jahren kenne ich sie nur als starke, energische Frau...

Ich schließe die Augen, als ich merke, wie sie beginnt zu weinen, streiche ihr vorsichtig über den Rücken. Ich würde gerne etwas sagen, um ihr zu helfen, doch ich weiß nicht, was das beste wäre. Also sage ich nichts.

Wenn ich so darüber nachdenke... habe ich sie in den letzten neun Jahren eigentlich weinen gesehen?
 

Einige Zeit vergeht, in der meine Mutter sich wieder beruhigt und zu ihrem Mann hinüber geht. Ich bleibe allein hier sitzen und beobachte die anderen Leute im Raum... Meine Tante, meinen ältere Cousine... Bis auf ein paar Worte des Beileides habe ich nicht mit ihnen gesprochen. Eigentlich sind sie mir fremd, habe ich sie doch schon seit so vielen Jahren nicht mehr gesehen...

Wir werden hereingerufen, der letzte große Teil der heutigen Zeremonie beginnt... das Kotsuage.
 

~ * ~
 

Wieder im Haus meiner Tante angekommen, gehe ich relativ schnell ins Gästezimmer. Lynn liegt bereits auf unserem Futon und schläft tief und fest. Leise mache ich mich fertig, lege mich zu ihr.

Einschlafen kann ich jedoch nicht so schnell. Ein Gefühl der endlosen Traurigkeit hat mich eingenommen und ich fühle mich unwohl. Egal, wie wenig oder viel ich mit meinem Onkel verband, so war all das, was in den letzten Stunden passiert ist, nichts, das ich so einfach abschütteln kann.

Irgendwie fühle ich mich einsam.

Ich könnte zwar aufstehen, könnte rübergehen zu den Stimmen, die aus dem Nebenzimmer herandringen, doch ich fühle mich nicht danach. Jetzt werden wohl Erinnerungen ausgetauscht, wird über ihn geredet... Ich kann daran nicht teilhaben, ich kannte ihn kaum...

Und ehrlich gesagt würde ich jetzt gerne über etwas anderes reden. Nichts bestimmtes, aber über irgendwas, das nichts mit Tod zu tun hat.

Ich würde jetzt gerne mit Sakuya reden.

Zögernd drehe ich mich zur Seite, krame mein Handy hervor und schalte es an. Ich starre auf den blendenden Display... Und dann, nach einem kurzen Moment, stecke ich das Handy zurück in meinen Rucksack.

Ich könnte dich anrufen, ich will es auch... Warum ich es nicht tue? Vielleicht weil ich mich danach nur noch mehr nach dir sehnen würde. Der Gedanken, dich nicht küssen oder auch nur kurz berühren zu können... wahrscheinlich wird er nur viel schlimmer, wenn ich dich jetzt höre.

So falle ich zurück ins Kissen, beobachte durch das fahle Licht, das vom Mondschein übrigbleibt, Lynn, die friedlich neben mir liegt. Sanft streiche ich ihr durch die Haare, ziehe dann die Decke etwas höher und schließe die Augen.

Ich sehe Sakuya vor mir, versuche es festzuhalten, was aber nicht ganz gelingen will. Der Anblick meines toten Onkels... die Tränen meiner Mutter... die kleine Urne, die schließlich mit hierher genommen wurde... Meine Cousine, wie sie beim Kotsuage in Tränen ausgebrochen ist...

Es muss so schrecklich für sie sein. Auch wenn es bei mir schon Jahre her ist, auch wenn ich fast neun Jahre nun so lebe, so kann ich ihren Schmerz doch genau nachvollziehen...
 

Es ist schwer, sich noch voll und ganz an den Tag zu erinnern, an dem ich meinen Vater verlor. Ich weiß nur noch, dass Mama die ganze Zeit geweint hat, dass ich bei meiner ebenfalls traurigen Oma saß und mir keiner erklären wollte, was passiert war.

Erst am Abend erfuhr ich, dass Papa nie wiederkommen würde, doch begriffen habe ich ihre Worte damals wohl eher nicht. Ich wollte so etwas merkwürdiges nicht glauben. Papa war doch immer für mich da gewesen...

Umso schlimmer war es, als ich nach Tagen begriff, dass er tatsächlich nicht mehr da war, als er einfach nicht mehr nachhause kam, und wir stattdessen ein schwarzes Gefäß bei uns stehen hatten, das ich zuvor noch nie gesehen hatte... Es war schrecklich, es tat weh... und meine Mutter war viel zu fertig, um sich wirklich um mich zu kümmern.

So wirklich weiß ich bin heute nicht, was tatsächlich passiert ist. Alles, was ich je hörte, war, dass es einen Autounfall gab. Ob er sofort tot war, oder ob er noch etwas lebte... ich weiß es nicht. Mit meiner Mutter habe ich bis heute nicht darüber gesprochen. Ich habe mich nie getraut, sie zu fragen... selbst heute tue ich dies nicht, obwohl ich wohl ein Recht darauf hätte, es auch zu erfahren...

Aber andererseits... was würde es ändern? Es würde ihn mir nicht zurückbringen...
 

Krampfhaft versuche ich wieder an Sakuya zu denken. Was mir sonst so leicht fällt, ist heute ein Kampf gegen die traurigen Gedanken. Immer mehr habe ich das Gefühl, mit ihm reden zu wollen, immer mehr weiß ich aber auch, dass ich dann weinen werde... einfach weil dies erdrückende Gefühl, das sich heute Abend in mir aufgebaut hat, herauswill.
 

~ * ~
 

Es wird eine unruhige Nacht, durch das Schnarchen Takehitos, das nur knapp zwei Meter von mir entfernt ist, und durch einem merkwürdigen Albtraum, an den ich mich aber zum Glück am Morgen kaum noch erinnern kann. Und als ich dann endlich den richtigen Schlaf gefunden habe, werde ich auch schon wieder geweckt: Frühstück.
 

Hierbei finde ich nur wenige Personen vor... Meine Tante, ihre Tochter, Takehito, meine Mutter und Lynn. Alle anderen Verwandten haben die Nacht in einem nahegelegenen Hotel verbracht und werden erst später noch mal herkommen.

Es wird über allgemeine Themen gesprochen, darüber, wie die letzten Jahre abliefen, in denen man sich nicht mehr gesehen hat. Meiner Mutter scheint dies gut zu tun, sie hat sich schon früher gut mit Tante Natsu verstanden.

Ich hingegen fühle mich eher fehl am Platz, würde, um ehrlich zu sein, viel lieber noch schlafen. Ich war Zehn, als ich sie das letzte Mal gesehen habe... über sechs Jahre ist es her. Was verbinde ich noch groß mit ihnen? Eigentlich ist es traurig, so zu denken, aber ich kann nichts dagegen tun...
 

~ * ~
 

Leider bleibt dieses Gefühl auch das restliche Wochenende lang erhalten. Auch mit dem restlichen Teil meiner Verwandtschaft kann ich einfach nicht allzu viel anfangen, habe sie zum Teil noch länger nicht mehr gesehen. Zwar schaffe ich es, mich mit ihnen zu unterhalten und ihnen ihre Fragen ausreichend zu beantworten, aber dennoch hab ich an diesen fast zwei Tagen nicht ein Mal das Gefühl, wirklich hierher zu gehören.

Zudem ist es schon deprimierend an jeder Ecke Gespräche über den Tod zu hören...
 

Endlich im Zug nach Tokyo sitzend, freue ich mich eigentlich nur noch darauf, endlich Sakuya wiederzusehen. Ich starre aus dem Fenster, lausche der Musik in meinen Ohren und fühle mich ziemlich fertig. Irgendwie hat dieses Wochenende schon einen ziemlich deprimierenden Nachgeschmack – na ja, kein Wunder.
 

~ * ~
 

„Haust wohl wieder ab zu deinem Typen?!“, ist einer der ersten Sätze, die ich zu hören bekommen, als wir wieder in unserer Wohnung angekommen sind und ich nach einer Dusche schnell ein paar Sachen in einen Rucksack werfe.

Ich verkneife mir jeglichen Kommentar darauf, versuche Takehito zu ignorieren, wie er in meinem Türrahmen steht, und an ihm vorbei zu kommen. Eine Hand schraubt sich um mein Handgelenk.

„Hast es jetzt wahrscheinlich ziemlich nötig, nach einem so einsamen Wochenende...“ Ein fieses Grinsen, in das ich am liebsten reinschlagen würde.

Immer noch sage ich kein Wort, versuche nur, meinen Arm freizubekommen.

„Gott, ich bin ja so froh, dass du nicht mein Sohn bist...“, flüstert er dicht an meinem Ohr. „Na was meinst du? Ob es in den Genen liegt? Oder vielleicht hätte dein Daddy dir mal öfter den Ar-“

Ich fahre herum noch ehe er seinen Satz beenden kann, schlage ihm mitten ins Gesicht. Im selben Moment bekomme ich meine Hand frei.

„Halt bloß meinen Vater da raus!“, fauchte ich ihn an, während ich mich Richtung Tür bewege.

„Du kleine Schla-“

„Hört auf!“, unterbricht ihn eine laute, energische Stimme.

Vor uns steht meine Mutter, an ihr Bein gepresst Lynn. Die kleine wirkt ängstlich, meine Mutter eher todtraurig. Ich spüre ein unangenehmes Drücken in der Bauchgegend, fühle mich schuldig, fühle mich... wie unter Fremden.

Ohne ein weiteres Wort renne ich aus der Wohnung.
 

Es ist gegen vier Uhr, als ich endlich vor dem Haus der Ryans stehe. Obwohl es eigentlich nicht stimmt, habe ich erst jetzt endlich das Gefühl, wieder Zuhause zu sein. Ist es nicht schlimm, dass man sich so schnell an etwas anderes gewöhnen kann... dass es einem so schnell vertraut wird, während einem das tatsächliche Zuhause immer fremder erscheint?

Ich klingle, sehne mich eigentlich nur noch nach deinen warmen Armen.

Ich habe dich so vermisst... Ich glaube, alle Traurigkeit in mir würde sogleich verschwinden, wenn ich dich nur kurz sehen würde...

„Ah, hallo Kida!“, werde ich von seiner Mutter begrüßt, als sie die Tür aufmacht. Und gerade, als ich Anstalten machen will, hinein zu gehen, schleudert sie mir den Satz entgegen, dass Sakuya nicht da ist. Wie angewurzelt bleibe ich stehen, habe das Gefühl, ganz tief zu fallen.

„Er ist noch bei einem Freund, bei dem er übernachtet hat...“ Sie tritt zur Seite, zeigt mir so, dass ich dennoch gerne reinkommen könnte... doch ich fühle mich nicht fähig, auch nur einen Schritt zu tun.

Was habe ich auch erwartet? Dass du sehnsüchtig Zuhause rumsitzt und mir strahlend entgegenkommst, sobald ich wieder da bin?

Ich hätte wirklich damit rechnen müssen, dass du an einem Sonntagnachmittag etwas besseres zu tun hast, dich mit Asumo oder sonst wem triffst... dennoch ist die Enttäuschung in diesem Moment riesig, auch wenn es wohl ein wahnsinnig ungerechtes Gefühl ist.

Und du hast sogar bei ihm geschlafen...

„Kida?“

Fragend werde ich angeschaut, da ich immer noch auf dem selben Fleck stehe. Ich versuche ein Lächeln, als ich den Kopf hebe und sie ansehe. Noch immer steht sie ein wenig seitlich im Türrahmen, immer noch dazu bereit, mich reinzulassen...

„Sie weiß es...“

Ich glaub, ich werde mal wieder rot in diesem Moment.

Was wohl in ihrem Kopf vorgeht? Sie weiß, dass ich nicht nur ein normaler Freund bin, weiß, dass ich Sakuya auf andere Art und Weise mag, wie zum Beispiel Asumo... Himmel, was denkt sie sich bloß?

„Hat... er gesagt, wann er wiederkommen wollte?“, frage ich dennoch zögernd.

Ein Kopfschütteln. „Nein, leider nicht...“

„Okay...“ Irgendwie... bin ich enttäuscht. Zögernd bewege ich mich einen Schritt zurück. „Ich komme dann später noch mal wieder...“

„In Ordnung... Soll er dich anrufen, wenn er zurück ist?“

Ich schüttle den Kopf, bekomme darauf ein Lächeln geschenkt, bei dem ich das Gefühl habe, sie könne genau sehen, wie ich mich fühle. Es ist mir unangenehm.

Schnell drehe ich mich um, gehe mit flinken Schritten die Auffahrt hinunter, die Straße entlang, und erst, als ich mir sicher bin, dass sie mich nicht mehr sehen kann, bleibe ich wieder stehen.

„Verdammt!“ Ich schlage mit der Faust gegen die Mauer zu meiner Linken. Doch viel saurer als auf diese Mauer – was wagt sie es auch, ausgerechnet hier zu stehen? – bin ich auf mich selbst.

Du musst jetzt nicht enttäuscht sein!, rede ich mir ein, Du wirst ihn schon heute noch sehen!... Dennoch nimmt das Gefühl immer weiter zu...

Als ich mich wieder in Bewegung setze, halte ich mein Handy in der Hand, habe schon seine Nummer ausgewählt und müsste eigentlich nur noch auf diesen grünen Hörer drücken... Mit dem Finger streiche ich immer wieder darüber, schaffe es nicht, genügend Druck anzuwenden, um ihn zu aktivieren.

Dabei würde ich eigentlich jetzt so gerne einfach nur deine Stimme hören...

Es kostet wirklich viel Überwindung, die Taste schließlich zu drücken und zugleich bin ich dennoch froh, es getan zu haben... zumindest bis die Frauenstimme am anderen Ende mir ganz freundlich mitteilt, dass dieser Anschluss im Moment nicht zu erreichen ist.

Sofort lege ich wieder auf, starre mein Handy an.

Wieso kann ich dich ausgerechnet jetzt nicht erreichen, da ich dich so sehr brauche?

Verdammt, Sakuya, ich will mit dir sprechen!
 

Lange betrachte ich unschlüssig den Fahrplan vor mir, folge den Linien ohne ein wirkliches Ziel, fahre wieder zurück zu meinem Standort.

Was soll ich denn jetzt tun? Ich will mit dir reden, will bei dir sein... Wieso bist du jetzt nicht da?

Ich folge einer der Linien erneut, hin zu einer der mir bekannteren Haltestellen...

Ob ich zu ihm fahren soll? Zwar kann ich bei ihm nicht die Nähe bekommen, die ich mir gerade erhoffe, doch wenigstens kann ich mit ihm reden... nicht wahr?
 

Diese Entscheidung getroffen, finde ich mich knapp 15 Minuten später vor dem Gebäude wieder, indem ich mir meinen Gesprächspartner erhoffe. Langsam gehe ich die Treppe hoch, mich noch fragend, ob er heute Abend überhaupt hier ist – hat er nicht letzt erzählt, er arbeite fast jedes Wochenende? Ein paar Schritte weiter jedoch beweist mir etwas, dass es nicht so ist.

„-Idee, dass du mir jetzt plötzlich, nach sechs Jahren einfach verzeihen kannst?“, Tatsuyas Stimme, wenn auch nur leise, aber dennoch laut genug, um die Worte ohne Mühe zu verstehen.

Ich lasse meine Hand sinken, die ich zuvor zum Klingeln gehoben habe.

Eine andere Person, Worte, die ich nicht verstehen kann.

„Verdammt Sai, stellst du dir das nicht etwas zu einfach vor?“ Wieder Tatsuya. Ich spüre, wie sich alles in mir zusammenzieht.

Langsam bewege ich mich rückwärts wieder Richtung Treppe zu.

Die Stimmen werden leiser, bis ich sie nicht mehr hören kann.

Schnellen Schrittes laufe ich die Treppe hinunter, laufe den Weg zurück, den ich gekommen bin, zurück in die Bahnstation, wo ich abgehetzt stehen bleibe, da mich die leuchtenden Ziffern um zwei Minuten vertrösten.

„Scheiße...“

Warum ist dann, wenn man einfach nur jemanden braucht, keiner für einen da?

Ich will doch nur nicht mehr allein sein...

Wieso ist das gerade so viel verlangt?

Wieso kann jetzt nicht einfach jemand bei mir sein?
 

Ich fahre die Strecke zurück, die ich gekommen bin, stehe wenig später erneut vor der Tür der Ryans.

Ich hätte zu Asumo fahren könne, sehen, ob Sakuya dort ist... genauso hätte ich auch zu Sanae gehen können...

Doch ich habe es nicht getan.

Vielleicht, wenn ich Glück habe, ist Sakuya ja schon wieder hier...

Ich klingle wieder, auch wenn ich nicht wirklich daran glaube.

Von seiner Mutter werde ich Moment lang verwundert angeschaut, bevor sie mir erneut die schlechte Nachricht verkündet. Ich nicke, bleibe stehen.

„Willst du nicht reinkommen?“, fragt sie schließlich mit freundlicher Stimme. „Du kannst im Wohnzimmer warten...“

Ich zögere... nicke schließlich. Was kann ich auch mehr tun, als auf dich zu warten?
 

Im Wohnzimmer lasse ich mich ins Sofa sinken, während Mrs. Ryan sich entschuldigt, da sie gerade am Aufräumen ist. Sie sagt, ich könne den Fernseher anmachen, was ich auch zögernd tue. Nur zwei Sender später bleibe ich bei einer Musiksendung hängen, das Einzige, was ich im Moment an Unterhaltung ertragen könnte...

Ich sehe am Fernseher vorbei, sehe das große Gemälde an, das an der einen Wand hängt... Es ist ein fröhliches Bild, wieso wirkt es gerade so düster auf mich?

Dennoch verliere ich mich darin... bekomme nur von weitem die Musik aus dem Fernseher mit, nach einiger Zeit ein Telefonklingeln...

„Kida?“

Ich schrecke hoch, als die sanfte Stimme mich anspricht, sehe sie ein wenig perplex an. Ich hab sie gar nicht bemerkt...

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Schon gut...“, versuche ich ein Lächeln. Irgendwie fühle ich mich ein klein wenig besser... keine Ahnung, woher das so plötzlich kommt.

„Ich fahre jetzt Sakuya abholen... Willst du vielleicht mitkommen.“

Abholen? Ein bisschen irritiert mich diese Aussage. Wohnt die Person etwa so weit weg, dass er-

„Er ist krank.“, kommt die Antwort auf meinen wohl fragenden Blick...

„Krank?“, frage ich erschrocken, noch irritierter. Wieso ist er dann nicht Zuhause?

Ein Nicken. „Genaues weiß ich nicht, zumindest geht es ihm nicht so gut...“

„Ich komme mit!“ Schnell springe ich auf, stolpere dabei fast über den Tisch vor mir.

„Gut...“ Sie lächelt und als wir das Wohnzimmer verlassen, bekomme ich einen Zettel und einen Plan in die Hand gedrückt. „Dann kannst du gleich mal schauen, wo genau wir am besten lang fahren... Ich war in der Ecke noch nie...“

Noch während ich mich frage, wo um Himmels Willen Sakuya wohl ist, fällt mein Blick auf den Zetteln in meiner Hand. Eine Adresse und... ein Name.

Ryouta?

Mehr als irritiert betrachte ich die Zeichen. Yamamoto, Ryouta... kein Zweifel.

Wie kommt es dazu, dass Sakuya bei ihm ist?

Lange bleibt mir nicht, um darüber nachzudenken, denn als wir im Auto sitzen, werde ich angewiesen, unser Ziel auf dem Plan zu suchen, Sakuyas Mutter den Weg zu beschreiben...

Doch während ich das tue, komme ich nicht drum herum, immer und immer wieder den kleinen Zettel anzustarren. Keine Ahnung wieso, aber irgendwie verwundert es mich wirklich, dass Sakuya bei ihm ist... in krankem Zustand... und dann auch noch über Nacht?

Etwas stört mich, ziemlich gewaltig sogar.
 

Vor einem kleineren Wohnkomplex bleiben wir schließlich stehen. Da es hier weit und breit nicht einen freien Parkplatz gibt, bittet Mrs. Ryan mich, Sakuya holen zu gehen.

Natürlich stimme ich zu... doch weniger natürlich dabei ist, dass in mir irgendwie ein merkwürdiges Gefühl wächst, während ich in den Fahrstuhl steige, während ich auf den Knopf mit der Vier drücke und während das Gefährt sich langsam in Bewegung setzt.

Ich weiß nicht... die beiden kennen sich doch nicht mal...

Kaum habe ich den Klingelknopf gedrückt, wird die Tür auch schon geöffnet.

„Ah!... Hi Kida!“, kommt es mit einem... na ja, verwunderten Gesichtsausdruck, würde ich sagen, wenn ich es erkennen könnte. Aber zumindest klang es danach. „Warte... ich hol ihn...“

Gerne würde ich dem nicht nachgehen, würde viel lieber Ryouta in die Wohnung folgen, doch ich bleibe stehen. Viel zu lang kommen mir die paar Sekunden vor, bis ich Sakuya, ebenfalls mit einem Mundschutz versorgt, sehe. Er wirkt mehr als wackelig auf seinen Beinen, doch als er mich ansieht, habe ich das Gefühl, dass seine Augen zu strahlen beginnen.

Er schlüpft in die Schuhe, Ryouta stützt ihn und ich komme mir unnütz vor. Doch da ist noch etwas anderes... aus irgendeinem Grund stört mich die Nähe der Beiden noch aus einem anderen Grund ungemein...

Dann stolpert Sakuya auf mich zu und ich fange ihn auf wie einen nassen Sack. Hände klammern sich an mich.

„Er ist ziemlich fertig...“, meint Ryouta.

Am liebsten würde ich darauf antworten, dass ich das sehrwohl selbst sehen kann, doch ich verkneife es mir und nicke stattdessen nur.

„Und das Fieber ist leider auch wieder gestiegen... Ich glaub, er hat ne ziemliche Erkältung...“

Wieder nicke ich, weiß nicht, was ich sagen soll. Mit einem Mal ist mir Ryouta nicht mehr ganz so sympathisch, wie er es eigentlich vor kurzem noch war... und dabei hat er sich doch um meinen Freund gekümmert. Oder liegt es vielleicht genau daran?

Wir verabschieden uns.

Im Fahrstuhl befreit sich Sakuya von dem Mundschutz.

„Ich hasse so was...“, klagt er.

Seine Augen sind glasig und auch sonst sieht er vollkommen fertig aus. Das Lächeln, dass sich langsam auf seinen trockenen Lippen bildet, will so gar nicht dazu passen.

„Ich hab dich vermisst...“, kommt es mit etwas kratziger Stimme... und in dem Moment beginnt mein Herz wieder richtig, eher ein wenig zu schnell, zu schlagen.

Ich streiche durch seine zerzausten Haare.

„Ich dich auch...“ Damit ziehe ich ihn wieder an mich, setze einen Kuss auf seine Schläfe. „Unheimlich sogar...“
 

Auf der Fahrt zurück beobachte ich Sakuya, wie er vor mir im Sitz hängt und aus dem Fenster starrt. Seine Gesicht ist ganz blass und seine Augen sehen müde aus. Ich habe das Verlangen, ihn zu berühren, ihn wieder in den Arm zu nehmen... und ehrlich gesagt würde ich ihn auch gerne darauf ansprechen, dass er bei Ryouta war. Umso länger ich darüber nachdenke, umso mehr stört es mich.

Ich seufze, wend meinen Blick ab und starre ebenfalls aus dem Fenster hinaus. Langsam wird es dunkel, weshalb es nicht schwer ist, sich selbst vor den Lichtern der Stadt zu sehen. Eine Weile betrachte ich mein Spiegelbild, ohne wirklich an irgendwas spezielles zu denken, bis ganz leise wieder die Gedanken hervorkommen, die ich noch nur einige Zeit zuvor gehabt hatte.

Ich wollte mit ihm reden...

Ich wollte ihm von meinem Wochenende erzählen...

Es ist merkwürdig, dass ich plötzlich nicht mehr so sehr den Drang danach verspüre. Es ist vollkommen genug, dich wieder bei mir zu wissen... dich zu sehen, und dich irgendwann gleich, wenn wir wieder allein sind, küssen zu können.

Ja, ich habe dich wirklich unheimlich vermisst.
 

Zuhause angekommen, begegne ich zum ersten Mal an diesem Tag Mr. Ryan. Sorgenvoll begutachtet er seinen Sohn, dem eigentlich nur nach einem Bett verlangt. Ich weiß nicht, ob er mir wirklich einen komischen Blick zuwirft, als ich Sakuya ins obere Stockwerk folge. Vielleicht bin ich auch einfach nur überempfindlich.

Oben reißt sich Sakuya förmlich die Kleider vom Leib, fällt schließlich nur mit einer Boxershorts bekleidet ins Bett. Einen Moment bleibe ich unschlüssig stehen, bis er sich umdreht, unter die Decke krabbelt und mich dann ansieht, aus den matten, aber dennoch wahnsinnig liebevollen Augen. In dem Moment, als ich gerade zu ihm rübergehen will, kommt seine Mutter herein.

Einige Medikamente, ein kalter Waschlappen, Fieberthermometer... all das wird neben Sakuyas Bett gelegt und eins nach dem anderen benutzt.

„Was hast du schon wieder getrieben?“, fragt seine Mutter, legt den Waschlappen auf seine Stirn.

Ihrer Frage folgt nur ein schwaches Schulternzucken.

Im nächsten Moment wendet sie sich an mich, während sie ein paar Pillen aus ihrer Verpackung löst. „Willst du heute nicht lieber im Gästezimmer schlafen?“

Das Gefühl, was ich bei dieser Frage empfinde, ist schwer zu beschreiben.

„Ich...“ Ich sehe Sakuya an, dann wieder sie. Zu gerne würde ich ihr sagen, dass ich doch bei ihm bleiben will... doch es geht nicht, so was kann ich doch nicht einfach so sagen.

Meinem zögerndes Schweigen zu Grunde, entsteht ein Lächeln auf ihren Lippen.

„Ich kann dir auch ein Futon holen, dann kannst du im Zimmer bleiben...“

Auf dieses Angebot hin, nicke ich schüchtern, bin schon irgendwie erleichtert darüber.
 

Damit ist mein Schlafplatz geklärt... und auch wenn ich weiß, dass es so viel vernünftiger ist, schaffe ich es einfach nicht, kein bisschen traurig darüber zu sein. Ich habe dich so vermisst in den letzten Tagen... und jetzt kann ich mich wieder nur nach dir sehnen...

Als seine Mutter fürs erste verschwunden ist, weiß ich nicht wirklich, was ich tun soll. Ich beobachte Sakuya, wie er dort liegt und keinen Mucks von sich gibt. Ich will dich so gerne küssen....
 

Irgendwann, nachdem ich eine ganze Zeit einfach nur dagesessen und ihm dabei zugesehen habe, wie er einschlief, verspüre auch ich eine ungeheure Müdigkeit. Ich lege mich hin, starre noch eine Weile hinauf zum Bett, nach dem ich mich in den letzten Tagen so gesehnt habe, und schlafe schließlich ebenfalls ein.
 

~ * ~
 

Wach werde ich schon gut zwei Stunden später, wie mir ein Blick auf die Uhr verrät. Dem Drang zum Klo gehe ich nach, bleibe danach zwischen den beiden Türen des Zimmers stehen, sehe zum Bett. Sakuya schläft tief und fest, hat ein Bein unter der Decke freigekämpft und umschlingt diese förmlich. Ein matter Schimmer liegt auf seiner Haut...

Mein knurrender Magen reißt mich aus meiner verträumten Betrachtung heraus und ich entschließe mich dazu, hinunter zu gehen. Leise schlüpfe ich zurück in meine Hose, lösche das Licht und begebe mich ins Untergeschoss.

Aus dem Wohnzimmer dringt der Fernseher an mein Ohr, verrät mir, wo wahrscheinlich die anderen Personen des Hauses vorzufinden sind. Zögernd gehe ich auf die halb geöffnete Tür zu, komme mir dabei irgendwie... komisch vor. Wenn man so darüber nachdenkt, so gehöre ich doch eigentlich nicht hier her. Ich bin nur der schwule Freund des Sohns...

„Kida?“, ertönt es und mir wird klar, dass man mich da, wo ich mittlerweile stehe, von den Sofas aus bereits sehen kann.

„Ähm...“ Mit hochrotem Kopf betrete ich das Wohnzimmer, werde von den beiden Erwachsenen erwartungsvoll angesehen. „Ich... wollte fragen, ob ich mir ein Brot oder so machen kann...“

„Aber natürlich.“ Mrs. Ryan lächelt. „Oder warte... ich mache dir eine bisschen Suppe warm.“ Damit steht sie auf und auch als ich protestieren will, dass sie sich nicht die Arbeit machen braucht, winkt sie ab. „Etwas Warmes wird dir gut tun...“

„Schläft Sakuya noch?“, folgt im gleichen Moment eine Frage von Mr. Ryan.

Ich nicke und als dem nichts weiteres folgt und mir nicht einfällt, was ich noch sagen soll, verlasse ich hinter Mrs. Ryan das Wohnzimmer, folge ihr in die Küche.

„Ich wollte euch vorhin welche hochbringen, doch ihr habt geschlafen...“, meint sie, als sie eine Schüssel mit Suppe füllt. „Aber na ja, schlaf ist die beste Medizin...“ Sie lächelt mich an, während wir beide auf das Piepsen der Mikrowelle warten.

Irgendwie ist es mir unangenehm, hier so mit ihr zu stehen. Ich habe das Gefühl mich tausend Mal bedanken so müssen, bei ihr und ihrem Mann. Es ist so ein schönes Gefühl, ganz normal behandelt zu werden... egal ob von Mrs. Ryan, die immerhin die Wahrheit kennt, oder von Mrs. Ryan, der es einfach so akzeptiert, dass irgendein Freund seines Sohnes so viel Zeit und so viele Nächte hier verbringt.

Wenn die beiden wüssten, wie dankbar ich ihnen bin...
 

Schließlich mit einer heißen Schüssel Suppe bewaffnet, begebe ich mich wieder nach oben. Leise öffne ich die Tür, bete dafür über nichts zu fallen, als ich mich zum Bett vortaste, und schalte die Nachtischlampe an, als ich diese sicher erreicht habe.

„Hm?“, kommt es leise vom Bett und ich sehe, wie Sakuya blinzend die Augen öffnet. Habe ich ihn geweckt? Sogleich tut es mir wahnsinnig leid.

Ich stelle die Schüssel auf dem Schreibtisch ab, setze mich dann auf sein Bett. Zögernd strecke die Hand nach ihm aus und streiche sanft durch seine Haare. Seine Hand greift nach meiner und er sieht mich aus müden Augen an.

„Willst du auch etwas essen? Deine Mutter hat Suppe gemacht...“, frage ich leise.

Ein Kopfschütteln, ein kleines Gähnen. Er dreht sich auf den Rücken, streckt sich kurz.

„Du solltest aber...“, beginne ich zögernd. „Es wird dir gut tun...“

„Ich mag nicht...“, kommt es kränklich.

Seufzend nicke ich, nicht wirklich dazu bereit, ihm das Essen aufzuzwingen.

„Wie geht es dir?“, frage ich zögernd weiter.

„Nicht so gut... mir ist schlecht, ich habe Kopfschmerzen und mein Hals tut weh...“, kommt es mit einem verzerrten Grinsen.

„Willst du was trinken?“

Auf sein Nicken hin, suche ich die nähere Umgebung nach einer Lösung ab, finde wie erwartet eine Flasche Wasser ein Stück weit vom Bett entfernt.

„Danke...“ Er setzt sich etwas auf, trinkt, sieht mich dabei weiterhin an.

„Willst du wirklich nicht?“, frage ich nochmals.

Erneut folgt eine negative Antwort und er legt sich zurück ins Bett.

Seine Hand berührt mein Bein und sein Blick verweilt auf mir, bis er die Augen schließt und sein Atem schließlich zeigt, dass er wieder eingeschlafen ist.

Erst da stehe ich auf, gehe zum Schreibtisch hinüber und löffle schnell die Suppe in mich hinein, beobachte ihn von hier aus.

Fertig mit essen, bleibe ich einfach auf dem Stuhl sitzen, habe gerade keine Lust, mich groß zu bewegen. Wirklich müde bin ich nicht, obwohl mir mein Kopf sagt, dass ich es eigentlich sein sollte: Schule morgen früh. Aber na ja, dafür habe ich ja schon vorhin ein bisschen geschlafen...

So macht es nichts, wenn ich ihn einfach noch ein wenig weiter ansehe...
 

~ * ~
 

Als der Wecker, den ich zum Glück nicht vergessen habe, zu stellen, mich weckt, habe ich gleich das Gefühl, dass die Nacht doch viel zu kurz war.

Schnell greife ich nach dem schrillenden Ding, stelle es aus. Einen kurzen Moment bleibe ich danach noch liegen, versuche wirklich wach zu werden, bevor ich es schaffe, aufzustehen. So leise wie möglich mache ich mich fertig, hoffe dabei, Sakuya nicht zu stören, und als ich fertig bin, schläft er noch immer tief und fest.

Schnell packe ich meinen Rucksack um, lege die heute nicht benötigten Sachen auf dem Schreibtisch ab, und krabble dann, eigentlich aufbruchbereit, aufs Bett, flüstere seinen Namen, bis er schließlich tatsächlich die Augen öffnet. Ich will einfach nicht ohne jedes Wort abhauen...

Er streckt sich, wirkt ein wenig verwirrt über meinen Aufzug, bis es ihm dann doch einfällt.

„Ach ja... Schule...“, seufzt er.

„Ja, leider... ich würde viel lieber hier bleiben...“

Ich berühre ganz kurz seine Lippen mit meinen. Sie sind noch immer unnormal warm, ebenso seine Stirn, als ich vorsichtig hinüberstreiche.

„Ich muss los...“, seufze ich schließlich. „Bis heut Nachmittag...“

Ein Grummeln und er zieht die Decke wieder etwas enger um sich, als ich aufstehe.

An der Zimmertür bleibe ich noch mal stehen, sehe ihn an und würde wirklich am liebsten einfach hier bleiben.

„Ich liebe dich...“
 

Erst als ich die Treppe hinuntergehe, wird mir bewusst, wie anders dieser Morgen ist. Alleine beim Frühstück mit seinen Eltern und seinem besten Freund...

Noch mit diesem irgendwie unangenehmen Gefühl beschäftigt, betrete ich die Küche... und bleibe wie angewurzelt stehen.

„Guten Morgen Kida!“ Ein viel zu fröhliches Strahlen für meinen Geschmack... und das auch noch von zwei Personen.

„Äh... Hallo...“

„Schau nicht so, als hättest du einen Geist gesehen!“, grinst Asumo und ich kann nur den Kopf schütteln, während mein Blick langsam an ihren Armen hinunter zu den verbundenen Händen wandert.

Wow... damit hätte ich jetzt nicht gerechnet.

„Schläft Sakuya noch?“, fragt er.

„So halb...“

Ein Zögern, dann springt er auf. „Ich komme gleich wieder!“

Noch immer irgendwie perplex, lasse ich mich auf dem Stuhl neben Sanae fallen. Sie lächelt mich noch immer an, mit einem vollkommen fremden Gesichtsausdruck. Gerne würde ich sie jetzt und hier ausquetschen, doch ich entscheide mich dazu, das nicht gerade in der Küche der Ryans zu tun.
 

Nachdem Asumo Mrs. Ryan mit gespielter Trauermiene verkündet hat, dass er ihr wunderbares Essen in Zukunft nicht mehr persönlich in Empfang nehmen könne, da er nun leider einen anderen Schulweg haben wird, begeben wir uns schließlich auch auf diesen.

Auch ich bekam mit fast mütterlichem Blick ein Bento in die Hand gedrückt, was mich, wie auch die anders Male zuvor, schon irgendwie peinlich berührte. Es gibt einem ein bisschen das Gefühl, von Normalität, davon, auch gerne geduldet zu werden... und trotzdem ist es auch ein bisschen unangenehm.

„Ich glaubs nicht.“, gebe ich nun endlich meiner Verwunderung preis, als ich mich von den Bento-Gedanken losgerissen habe und mein Blick stattdessen auf das frischgebackene Pärchen fällt.

Sanae errötet auf meine Aussage hin und selbst Asumos Gesichtsfarbe bleibt nicht normal.

„Wie habt ihr denn das jetzt so plötzlich geschafft?!“, frage ich grinsend.

„Das... erzähl ich dir ein Andermal...“, zwinkert Sanae, schaut kurz zu Asumo und schenkt ihm einen Blick, wie ich ihn bei ihr noch nie gesehen habe.

So benimmt sich also meine beste Freundin, wenn sie verliebt ist? Ich kann mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen.

„Oh ne, wer hätte das gedacht...“, ich schüttle den Kopf. „Erst Sakuya und ich... und nun Asumo und Sanae...“

Sofort auf meine Worte hin, beschleunigt Sanae ihren Schritt, tänzelt freudestrahlend, aber rot wie eine Tomate vor uns her.

„Er heißt Kyo...“, säuselt sie im verliebtesten Ton. „Kyo~o...“

Ich muss lachen, sehe zur Seite und treffe auf seinen Blick.

„Na, ob ich wirklich dem Herren, der meinen besten Freund schwul gemacht hat, gestatte, mich beim Vornamen zu nennen.“, ein gespielt erster Ton, schließlich ein Zwinkern. „Klar tu ich das!“

Damit ist es beschlossene Sache... und selbst wenn es sich dabei nur um eine einfache Anrede handelt, so ist es mit einem Mal das Gefühl, die Distanz zwischen uns, die wohl gerade wegen der Sache mit Mika herrschte, sei endlich überwunden...
 

~ * ~
 

Die Schule verläuft relativ eintönig, bis auf die Tatsache, dass überall Plakate für das Sportfest zu bewundern sind, die Listen hängen, wo man sich bis spätestens Mittwoch in die verschiedenen Disziplinen einschreiben soll... und ich mit eher gedämpfter Vorfreude ein paar davon für mich auswähle.
 

Auch hat es sich der Mathelehrer wohl zur Aufgabe gemacht, uns mehr als nur ein Mal darauf hinzuweisen, dass wir uns ja langsam mal für eine Universität entscheiden sollten, und dass er da schon eine wisse, die ziemlich gute Mathematiker hervorgebracht hat... Ob er damit sich selbst meint?, frage ich mich kopfschüttelnd, schreibe die neusten Aufgaben von der Tafel ab. Doch ob es jetzt nervt oder nicht, ich muss mir langsam wirklich mal Gedanken über meine Zukunft machen... Berufs- oder Studentenleben? Fragt sich nur, wie ich im momentanen Zustand mit meiner Mutter darüber reden soll... und was will ich eigentlich selbst?
 

Als ich am Schlagzeug sitze, merke ich, dass es mir eigentlich gerade recht kommt. Meine überschüssige Energie findet endlich einen Ausgang...
 

~ * ~
 

Nach dem Schulbesuch wieder im Ryan Haus angekommen, finde ich Sakuya schon wieder schlafend vor. Langsam frage ich mich, wie lange ein Körper eigentlich schlafen kann...

Schnell schlüpfe ich in bequemere Sachen, bevor ich mich ins Untergeschoss begebe.

Seiner Mutter ist gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten, als ich die Küche betrete.

„Soll ich Ihnen helfen?“, frage ich zögernd, merke sofort, wie sie abwinken will. „Ich würde gerne...“

Also nickt sie... und gibt mir gleich darauf die Anweisung, doch bitte mal das Fleisch in der Pfanne zu wenden.

Folgend koche ich mein erstes amerikanisches Essen...
 

„Wie geht’s zu Hause?“, fragt Mrs. Ryan nach einer Weile, als wir nebeneinander am Herd stehen und dem Gemüse beim Garen zusehen.

„Nicht so toll... Und meine Schwester leidet am meisten darunter.“ Ich seufze, frage mich, ob sie überhaupt den genauen Grund dafür weiß. Oder ob sie ihn sich denken kann?

„Du hast eine Schwester?“, kommt es überrascht. „Wie alt ist sie denn?“

„Naja... eigentlich ist sie meine Halbschwester... Sie heißt Lynn und ist vier Jahre alt...“

Im selben Moment piepst die Küchenuhr, lässt uns beide erschrocken zusammenzucken.
 

Nach dem Essen und dem Versuch von Sakuyas Mutter, mehr als nur ein paar Löffel Suppe in ihren Sohn hineinzubekommen, weiß ich nicht wirklich, was ich tun soll. Unschlüssig lasse ich mich neben seinem Bett nieder und krame meine Schulsachen heraus.

Auch wenn ich kein Lust darauf habe, das ist nun wohl das am meisten sinnvolle...

Also beginne ich damit, meine Hausaufgaben zu machen, während ich spüre, das Sakuya mir dabei zusieht. Ich habe mit jeder Minute mehr das Verlangen, mich zu ihm umzudrehen, ihn zu küssen, zu umarmen... mit ihm zu reden.

Als ich fertig bin mit den Hausaufgaben, schläft Sakuya schon wieder. Seufzend bette ich meinen Kopf auf seiner Matratze und sehe ihn an, wie er friedlich und noch immer etwas zu rot daliegt. Vorsichtig strecke ich meine Hand nach seinen Haarsträhnen aus, streiche ein paar Mal hindurch... berühre am Ende seine Lippen mit meinen Fingerspitzen...

„Werd schnell wieder gesund...“
 

~ * ~
 

Nach einer weiteren einsamen Nacht auf dem Futon, und einem Schultag, der sich nur so hinzieht und überhaupt gar nichts Interessantes zu bieten hat, außer vielleicht die korrigierten Notenblätter, die Maki zum Musikclub mitbringt, ist es ein unglaublich toller Anblick, der mich erwartet, als ich hoch in Sakuyas Zimmer komme...

„Hey!“, grinst er mir vom Computer aus entgegen und für einen Moment tut es wahnsinnig gut, ihn auf den Beinen zu sehen.

Ich gehe an ihn heran, umarme ihn von hinten und drücke meine Nase in sein frischgewaschenen Haare. Seine Hände berühren meine vor seiner Brust und dann dreht er den Kopf ein wenig zu mir zurück.

Wir küssen uns... und es ist, als habe ich das schon ewig nicht mehr getan..

„Wie geht es dir?“, frage ich schließlich, als wir uns von dem sanften Kuss lösen.

„Seit heute Mittag fühle ich mich eigentlich ganz gut...“

Ich lege meine Stirn gegen seine, schrecke gleich wieder zurück.

„Aber du hast noch Fieber...“

Ein Kopfschütteln. „Nur noch ein klein bisschen.“

„Und warum bist du dann nicht mehr im Bett?“

„Keine Lust...“

„Aber du-“

Das Gespräch endet, als wir zum Essen gerufen werden. Seufzend lasse ich Sakuya wieder los.
 

Auch diesen Abend verbringe ich mit Hausaufgaben, diesmal jedoch nicht als einziger. Sakuya brütet neben mir auf dem Bett über den Aufgabenzetteln, die Kyo mir zuvor in die Hand gedrückt hat.

„Boah...“, kommt es mit einem Stöhnen und er lässt sich zurückfallen. „Ich hab keinen Bock auf den Scheiß...“

Ich muss lachen, sehe von meinem Sitzplatz am Boden zu ihm...

Diese Normalität tut irgendwie richtig gut.
 

Ich bin ein wenig unschlüssig als es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Gerne würde ich ihn fragen, ob es okay ist, heute Nacht wieder bei ihm zu schlafen... doch will mich nicht aufzwingen. Vielleicht will er immer noch ein wenig seine Ruhe haben... So also mit dem Gedanken abgefunden, noch eine Nacht getrennt von ihm zu schlafen, treffen sich unsere Blicke, als er sich auf die Seite dreht.

Und wenn ich doch...

„Kann ich...“, beginne ich zögernd, spüre, wie ich rot werde. „...zu dir kommen?“

Sein Blick scheint noch etwas sanfter zu werden, als er ein leises „Ja“ von sich gibt.

Mein Herz tut einen Sprung... und mein Freude auf diese Worte ist wahrscheinlich nicht zu übersehen.

Wortlos stehe ich auf, schlüpfe zu ihm unter die Decke, die er ein wenig angehoben hat. Warme Arme umfangen mich sofort und er presst seinen Körper gegen mich, seinen Kopf gegen meinen.

Die feste Umarmung tut wahnsinnig gut und macht keine weiteren Worte nötig... Ich habe mich also nicht als Einziger nach uns gesehnt...

Ich küsse seine Schläfe, entferne mich leicht wieder ein Stück von ihm. Ganz vorsichtig berühre ich seine Lippen. Seine Hände streifen unter mein Shirt, verweilen auf meinem Rücken, drücken mich noch näher gegen ihn. Aus der sanften Berührung unserer Lippen wird mehr. Zärtlich lecke ich über seine, bekomme Einlass gewährt. Ich habe es so vermisst, dieses Gefühl.

Als der Kuss schließlich zuende geht, lächelt Sakuya. Ich lege meine Stirn gegen seine, spüre ihre Hitze, die mir wieder ein wenig stärker erscheint.

„Wir sollten schlafen...“, spreche ich leise und drehe uns dabei langsam so, dass er auf dem Rücken liegt. Ich rutsche ein wenig zur Seite, lege meinen Kopf neben seinen ins Kissen und sehe ihn an, wie er die Augen schließt.
 

~ * ~
 

Während Sakuya an den letzten zwei Tagen gerade so mitbekommen hat, dass ich los bin zur Schule, ist er heute schon wach, als der Wecker klingelt.

„Guten Morgen...“, lächelt er und küsst mich.

Die sanften Berührungen fangen mich ein und ich vergesse fast, wieso mich der Wecker eigentlich geweckt hat. Seufzend stehe ich schließlich auf, beginne mich fertig zu machen, während Sakuya mir vom Bett aus dabei zuguckt. Dann steht er selbst auf, schlüpft in Jogginghose und Shirt.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage...“, seufzt er, als ich soweit fertig bin und wir uns in Richtung Küche begeben, „aber ich beneide dich gerade richtig!“
 

~ * ~
 

Als ich an diesem Abend gegen sechs nach Hause komme, sitzt Sakuya vor seinem Bett auf dem Boden und sortiert irgendwelche Blätter. Während ich mit verwundertem Blick auf die verschiedenen kleinen Zettelstapel gucke, wird mir erfreuter Blick zugeworfen.

„Hi“, sage ich und lasse den Rucksack von meiner Schulter gleiten.

Sakuya legt den Stoß, den er soeben noch in der Hand hielt, zur Seite und steht auf. „Man macht echt den größten Scheiß, wenn einem langweilig ist...“

Es ist ein hungriger Kuss, der mich trifft, und seine Arme umfangen mich fest. Ein wenig überrascht lasse ich es geschehen, gehe darauf ein.

Ohne lange Umschweife streichen seine Hände mir die Uniformjacke von den Schultern, gleiten unter mein Hemd. Seine Lippen wandern weiter, er beißt mich sanft ins Ohr.

„Ich hab dich vermisst...“, flüstert er, während er mich langsam hin zum Bett führt, sich darauf setzt und mich am Nacken hinunterzieht.

Wieder treffen sich unsere Lippen, heiß und gierig. Ich spüre, wie ich mit einem Mal wieder unerklärlich nervös werde bei dem Gedanken, wohin dies führen wird. Dabei will ich es auch... will sein Verlangen wieder spüren.

Seine Hände streichen mir das Hemd von den Schultern, seine Lippen ertasten mein Schlüsselbein... hart streicht er meinen Rücken hinab, als plötzlich: „Sakuya! Telefon!“

Erschrocken fahren wir auseinander, einen Moment nicht begreifend, was los ist.

„Ich komme!“, ruft er und springt auf, verlässt das Zimmer.

„Aaah!“ Ich lasse mich nach vorne fallen, vergrabe mein Gesicht in der Decke.

Scheiße, gerade hätte ich wirklich Lust gehabt.

Es dauert einen Moment, den ich in Mitleid schwelge und versuche, mich wieder zu beruhigen... Wer wagt es, uns zu stören?, denke ich grimmig.

Es dauert eine ganze Weile, bis die Tür schließlich wieder geöffnet wird.

„Wir sollen runterkommen... essen...“, meint Sakuya, was mich gleich noch ein wenig tiefer fallen lässt.

Mein Gott, warum ausgerechnet jetzt?!
 

Das Essen verläuft ungewöhnlich still. Mr. Ryan scheint mit seinen Gedanken beschäftigt und auch seine Frau spricht nur ein paar Sätze. Ich sage ohnehin so gut wie gar nichts und selbst Sakuya schaufelt sein Essen schweigend in sich hinein.

Ich beobachte ihn verstohlen, versuche immer wieder, Blickkontakt mit ihm zu bekommen, doch er lässt es nur zwei Mal zu, wird rot in jenen Momenten. Mir fällt es schwer, nicht daran zu denken, wobei wir gerade eben gestört wurden. Es wäre doch ganz sicher passiert...

Nach einer Weile starre ich einfach nur noch sein Hand an, wie sie die Gabel immer wieder hinaus zum Mund führt... zu diesen verführerischen Lippen.

„Wo warst du eigentlich am Wochenende?“, unterbricht plötzlich die eindeutig an mich gerichtete Frage meine Gedanken.

„Was?“ Perplex sehe ich Mr. Ryan an.

„Wir hätten fast schon eine Vermisstenanzeige aufgegeben...“ Er grinst mich an.

„Ähm... in Hamamatsu... zu einer Beerdigung...“

Sofort wird das Grinsen schwächer. „Oh... das tut mir leid...“

Ich schüttle den Kopf. „Ich kannte ihn kaum...“

„Ach so...“

Mein Blick trifft Sakuyas, der aber sogleich wieder auf seinen mittlerweile leeren Teller fällt.

Ein Moment der Stille, bis Mrs. Ryan aufsteht und anfängt, den Tisch abzuräumen. „Ach Sakuya, ich wollte gleich noch ne Maschine anstellen...“ Meint sie. „Ich komm gleich eben die Wäsche holen, such sie schon mal zusammen...“

„...In Ordnung...“ Sakuya steht auf, ich tue es ihm gleich... und wir begeben uns wieder nach oben.
 

Spätestens nach Mrs. Ryans Information mit der Wäsche hab ich die Hoffnung, in den Genuss von seinen Berührungen zu kommen, fürs erste aufgegeben. Aber wahrscheinlich wäre es ohnehin nicht mehr so einfach...

Zuvor, als ich her kam, ist es einfach so dazu gekommen... so leicht wäre das jetzt nicht mehr, irgendwie.

Dafür herrscht eine merkwürdige Spannung zwischen uns, eine eigenartige Peinlichkeit. Vielleicht daraus hervorgehend, dass wir tatsächlich fast „dabei“ unterbrochen worden wären.

Wir erledigen unsere Hausaufgaben und anschließend entscheiden wir uns dazu, einen Film zu gucken.

Sakuya liegt in meinen Armen, während den gut zwei Stunden, die der Fernseher uns Unterhaltung gibt, doch zumindest ich kann nicht ganz darin eintauchen.

Immer wieder fahre ich zärtlich über seinen Bauch hinweg, küsse ihn im Nacken. Nein, im Gegenteil, eigentlich schaffe ich es schon jetzt gar nicht mehr, mich auf den Film zu konzentrieren...

Sanft lasse ich meine Hände an seinen Armen hinaufstreichen, in seinen Nacken, setze erneut einen Kuss auf die weiche Haut.

„Du bist ganz verspannt...“, flüstere ich, als ich kurz meine Hände etwas stärker seine Schultern ertasten lasse, dann wieder seine Arme hinabstreiche.

„Mach weiter...“, flüstert er plötzlich und neigt den Kopf ein wenig weiter nach vorne.

„Ich... bin nicht besonders gut-“

Ein Kopfschütteln, das mir sagt, dass ich dennoch fortfahren soll. So greife ich erneut in die harten Muskeln und beginne damit, seine Haut auf eine ganz andere Art und Weise zu berühren.

Er seufzt genießerisch nach einer Weile und ich spüre, wie sich sein ganzer Körper darunter entspannt. Ich fahre seinen Rücken hinunter, unter dem Shirt wieder hinauf, ziehe es ihm über den Kopf und fahre in meiner Tätigkeit fort.

Der Film geht zuende, ohne dass wir den Schluss mitbekommen...

„Leg dich hin...“, flüstere ich zärtlich, als die Musik des Abspanns ertönt, und gleich geht er dem nach. Er verschränkt die Arme unterm Kopf, während ich mich auf seinen Oberschenkeln nieder lasse, meine Finger erneut in seine Haut greifen.

Ich fahre weiter, lasse nicht nur seine Schultern in diesen Genuss kommen, sondern auch Rücken und Hüfte. Langsam beuge ich mich vor, benetze hier und da seine Haut mit Küssen, liebkose die Gänsehaut, die dabei entsteht.

Immer zärtlicher werden meine Berührungen, gleichen schon bald nicht mehr einer Massage. Der Körper unter mir liegt vollkommen entspannt da. Ich lasse meine Zunge hinunter fahren, seine Wirbelsäule entlang, streiche gleichzeitig mit meinen Händen tiefer. Vorsichtig lege ich sie an den Bund seiner Jogginghose, schiebe ihn hinten ein wenig hinunter und küsse ihn an einer zuvor bedeckten Stelle.

Der Körper unter mir hebt sich ein Stück, während er den Kopf noch immer in den Armen versteckt.

In einer langsamen Bewegung streife ich ihm den Stoff von den Beinen, fahre mit den Fingerspitzen über seine leicht angespannten Beine hinweg, ende schließlich am Knöchel...

Und erst in dem Moment, als ich wieder hinauffahren will, als ich meine Hände schon langsam wieder seinem Hintern entgegen bewege, wird mir die Bedeutung dieser Situation, die Hingabe, die sein nackter Körper ausdrückt, überhaupt bewusst.

Soll ich es etwa sein, der...

Mit einem Schlag ist alle Ruhe aus meinen Bewegungen verschwunden, nun, da meine Finger zittern und ich wahrscheinlich knallrot angelaufen bin. Ich begebe mich hinauf, gleite mit den Händen über seinen Rücken hinweg, die Arme entlang, bis hin zu den Händen... Dann beuge ich mich über ihn.

„Sakuya... ich...“

Er dreht den Kopf ein wenig, sieht mich an... zeigt mir, dass seine Wangen ebenso glühen wie meine. Er küsst mich fest.

„Ja nicht sprechen...“, haucht er, als wir uns wieder lösen.

Aber ich... kann doch jetzt nicht so einfach... natürlich kann ich... aber... ich meine...

Es ist so anders als zuvor... Wie ist es nun hierzu gekommen?

Nicht, dass ich es nicht will... nicht, dass ich es mir nicht gewünscht habe...

Aber...

Ich habe keine Ahnung...

Mein Kopf ist leer.

„Ich... ich liebe dich...“, flüstere ich, einfach weil ich das Gefühl habe, etwas sagen zu müssen. Worte, die mein eigenes Herz schneller schlagen lassen, als es das ohnehin schon tut...

Er bringt etwas Distanz zwischen uns, lässt seine Hände an mir hinabwandern, entledigt mich mit einer langsamen Bewegung meines Hemdes, während ich noch immer nicht genau weiß, wie ich jetzt weitermachen soll.

Ein Lächeln, als er mich ansieht... doch dann, in dem Moment, wo ich ihm direkt in die Augen sehe, erkenne ich etwas, das ich nicht kenne. Zu den tiefroten Wangen trägt er eine Nervosität in den Augen, wie ich sie nicht gewohnt bin, zeigt mir, dass er es wirklich will... dass er trotz seiner Angst, diesen Schritt gehen möchte.

Es gibt mir ein ganz klein wenig Selbstvertrauen zurück.

Ein weiterer inniger Kuss, bei dem ich mich meiner letzten Kleidungsstücke entledige, meinen Körper an seinen presse, ihn spüre.

Und nun?

Nervös fällt mein Blick aufs Nachtschränkchen... noch viel nervöser, bewege ich mich wieder etwas hoch, greife über ihn hinweg... ziehe die Schublade auf, ohne zu wissen, ob es richtig ist, in diesem Moment.

Ich fühle mich hilflos, nun, da etwas so kurz bevorsteht, an das ich zwar gedacht, was ich mir aber dennoch nie richtig vorgestellt habe... Ich will es tun, ja, ich will ihn auch so spüren... es... ist nur... es...

Ja... Was macht mir eigentlich solche Angst?

Dass es ihm nicht gefallen könnte?

Dass ich ihm weh tue?

Dass er... enttäuscht ist?

Als ich mich, nun mit den Utensilien bewaffnet, wieder zurückgezogen habe, küsse ich seine Schultern, seinen Nacken, sein Ohr.

Vielleicht sollte ich einfach weniger denken...

Er muss doch noch viel nervöser sein als ich...

Ich lasse die Tube aufspringen und etwas der kalten Flüssigkeit meine Finger benetzen... nun gibt es kein Zurück mehr.

Wieder küsse ich ihn im Nacken, vielleicht um ihn abzulenken von dem Gefühl, das er verspüren wird, wenn...

Tatsächlich durchzieht seinen Körper ein kurzes Zucken, als ich die Stelle gefunden habe, als ich mich langsam vorwage und meinen Finger in ihn gleiten lasse. Ich versuche sein Gesicht zu erkennen, sehe die zugekniffenen Augen und weiß nicht, was ich tun soll... versuche mich daran zu erinnern, wie es bei mir war, beim ersten Mal... doch meine Gedanken sind viel zu durcheinander um es nun noch zu wissen...

Ich bewege mich vorsichtig in dieser warmen Enge, immer noch irgendeinen Ausdruck in seinem Gesicht suchend, der mir sagt, was ich tun soll...

Gott, ich fühle mich so verdammt hilflos!

Sanft berühre ich seine Schläfe, was ihn die Augen öffnen und mich ansehen lässt. Ein gekniffenes Lächeln, Lippen, die meine treffen und eine Hand, die meinen Arm hinabstreicht, mir zeigt, dass ich weitermachen soll.

Wieder verspannt sich sein Körper kurz, als ich einen weiteren Finger hineinführe, seine Hand entfernt sich, krallt sich vor ihm ins Betttuch. Stöhnen entweicht seinen Lippen, mit einem vollkommen neuen Klang, der mir in diesem Moment aber sagt, dass es gut ist, was ich tue.

Ich bewege mich, spüre die Hitze, in ihm und die Hitze, wie sie in mir selbst aufsteigt. Auch er bewegt sich leicht, stöhnt leise und drückt seinen Körper gegen mich... berührt dabei nun mich empfindlich.

Es dauert einen Moment, bis ich mir einigermaßen sicher bin, weitermachen zu können. Zögernd ziehe ich meine Finger zurück, greife nach dem Kondom und streife es über.

Ich sehe ihn an... will etwas sagen, irgendwas... habe einfach das Verlangen, das Gefühl was ich verspüre, in Worte zu fassen, auch wenn ich nicht weiß, wie ich es tun soll... Ich beuge mich vor, küsse ihn, sehe in seine Augen und hoffe inständig, ihm gleich nicht weh zu tun...

Mit der Hand streife ich seinen Oberschenkel entlang, fahre an der Innenseite wieder hinauf und bringe ihn dazu, sein Bein ein wenig aufzustellen... Ich rutsche näher an ihn heran, berühre ihn mit meiner Erregung... weiter gleitet meine Hand nun wieder hinauf, trifft auf seine, umklammert diese...

Und dann, als ich so vorsichtig wie irgend möglich in ihn dringe, spüre ich die Fingernägel, die sich in meinen Handrücken graben.
 

Part 23 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Bento

~ Bestattung in Japan
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 24

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Sakuya (by littleblaze)
 

Einige Male wurde ich am Montag geweckt, und ob es der Wirklichkeit entsprach, das Kyo vor meinem Bett stand und irgendwas von sich und Sanae erzählte, blieb erst einmal dahingestellt.

Medikamente, eine Scheibe trockener Toast und eine Mutter, die heute zu Hause blieb, bestimmen diesen Tag bis zum frühen Abend hin.

Dann, der grässliche Geruch von Suppe, der mich dumpf aufstoßen lässt. Trotzdem zwinge ich mir ein paar Löffel der Flüssigkeit hinunter.

Ich versuche an irgendwas zu denken... an das Wochenende, an Kida, an die Schule, an Kyo und Sanae... doch im nächsten Moment verschwimmt schon wieder alles...
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen fühle ich mich schon um einiges besser. Geweckt werde ich vom Schließen der Türe... schade, ich hätte ihn gerne noch gesehen.

Vorsichtig stehe ich auf, schaffe es endlich, mal wieder ohne ein gewaltiges Schwindelgefühl die Toilette aufzusuchen.

„Du bist aufgestanden?“

„Pinkeln“, gebe ich erklärend von mir, erkenne meine eigene Stimme kaum.

Ich lasse mich wieder aufs Bett zurück gleiten und spüre sofort die Erleichterung darüber, nicht mehr stehen zu müssen. Meine Beine zittern leicht.

„Du siehst auch schon viel besser aus.“ Ein erleichternder Gesichtsausdruck.

„Ist Kida schon weg?“

„Ja, er war ziemlich spät dran heute.“

„Mmhh.“

„Möchtest du etwas essen?“, kommt die Frage gleichzeitig mit dem Fieberthermometer im Ohr.

„Ich weiß nicht...“

Ein kurzes Piepen.

„Das sieht doch schon wieder gut aus, 38,3 °C. Also, was ist mit Essen?“

„Später vielleicht“, drehe ich mich wieder in Richtung Wand.

„Ok, Schatz. Dann schlaf noch ein wenig.“

Abermals das Schließen der Tür...
 

„Sakuya?“ Ein leichtes Rütteln am Arm.

„Wa... was?“

„Wach auf.“

„Warum?“

„Du solltest jetzt wirklich etwas essen.“

„Wie spät ist es denn?“ Ich öffne die Augen.

„Kurz nach 12. Ich habe dir frische Waffeln gemacht.“

„Wirklich?“, huscht ein Lächeln über meine Lippen. „Die hast du schon lange nicht mehr gemacht.“

„Ja, ich weiß.“

„Immer her damit“, bin ich plötzlich hellwach.

„Ich bring dir gleich welche hoch.“ Sie fummelt ein wenig am Bettzeug rum. „Und danach solltest du unbedingt mal duschen.“

Ich nicke leicht, frage mich allerdings, ob ich mich schon fit genug dafür fühle.
 

Ein halbes dutzend Waffeln und einer Dusche später liege ich in einem frischbezogenen Bett. Ich zappe durch die Kanäle, doch was hatte ich schon erwartet?

Kurz nach eins... bei Kevin ist es also nach elf Uhr abends. Warum also nicht?

Auf dem Weg zum PC allerdings frage ich mich, was ich ihm erzähle und was nicht. Dass ich mit Kida geschlafen habe schaffe ich immer noch nicht ihm mitzuteilen. Warum ist mir das so peinlich?

„Bist du da?“

„Ja. Was ist bei dir? Heute keine Schule?“, brauche ich nicht lange auf Antwort warten.

„Doch, ich bin krank. Nichts ernstes, halt nur ein wenig krank ^__^“

„Ich hoffe, es geht dir bald wieder besser."

„Wie geht es dir/euch? Irgendetwas Neues?“

Fordere ich es geradezu heraus, dass er mich fragt, ob es etwas „Neues“ gibt?

„Nein, kennst das ja. Immer derselbe Trott.“

Mein Blick bleibt auf dem kleinen Körbchen liegen, indem sich einige Briefe angesammelt haben.

„Sag mal, wie geht es eigentlich Sam? Wir haben uns zwar noch mal geschrieben, als ihr wieder weg wart, aber danach ließ sie nichts mehr von sich hören.“

Warum hatte ich ihr eigentlich nicht schon längst noch mal geschrieben? Ich hatte gar nicht mehr an sie gedacht in den letzten Wochen. Wie kam das bloß? Hatte ich einfach nur zu viel um die Ohren und wollte ich gar nicht an sie denken? Störte mich das Wissen, dass sie mit mir zusammen sein wollte so sehr?

„Ich denke, es geht ihr gut.“

„Du denkst?“

„Wir haben im Moment nicht so viel Kontakt. Ich sehe sie kaum noch.“

„Wie kommt das?“

„Hängt mit ihrem neuen Typen zusammen. Irgendwas ist da faul an dem. Nicht zur Schule erscheinen, Drogen und wer weiß was noch. Na ja, nichts Hartes an Drogen. Hier ein Joint, da ein Joint, aber bekanntlich fängt es ja immer damit an.“

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“

„Warum sollte ich dich anlügen?"

„Und das nennst du nichts Neues? Wann bitteschön, hättest du vorgehabt mir davon zu erzählen? Und wie ist es eigentlich dazu gekommen?“

Ich kann es nicht glauben. Wir sprechen hier von Sam, Sam und Drogen? Niemals! Selbst, dass sie die Schule schwänzen würde, ist für mich unglaublich, sie, die immer die Beste in der Schule sein wollte.

„Keine Ahnung, wie es angefangen hat. Sie redet doch kaum noch mit mir. Ihre Eltern schleppen sie seit neustem zu einer Familiensitzung beim Therapeuten, aber ich denke, das wird es nicht bringen. Ich habe auch echt null Ahnung, was sie an diesen Typen findet, der ist das krasse Gegenteil von dir.“

Das krasse Gegenteil von mir? Von mir? Oder besser gesagt: wegen mir? Ist es irgendwie meine Schuld, dass sie bei diesem Typen gelandet ist?

„Ist es meine Schuld?“

„Hä?“

„Wäre ich mit ihr zusammen gekommen, wäre das nicht passiert, oder?“

„Sag mal, geht´s noch? Du hast rein gar nichts damit zu tun, wen sie sich anlacht. Red dir das ja nicht ein. Es hat absolut NICHTS mit dir zu tun.“

Ich schaue mir eine ganze Weile diese zuletzt geschriebene Zeile an, und es gab nichts, was ich gewillt war darauf zu erwidern. Mit jeder vergangenen Minute bekam ich mehr Angst, dass mir rein gar nichts einfiel, was ich ihm mitteilen wollte. Ich fühlte mich gar nicht wohl bei dieser Sache, vielleicht sollte ich...

„Ich glaube, ich ruf sie morgen mal an.“

„Das bringt doch nichts, Sakuya. Was willst du ihr schon erzählen? Dass es falsch ist, was sie tut? Das weiß sie selber. Vielleicht macht sie es gerade deshalb. Sie ist nicht doof, sie wird sich darüber im Klaren sein, was sie vielleicht damit kaputt macht. Außerdem habe ich es ihr schon einige Male gesagt. Es wird nichts ändern, wenn du es auch noch tust.“

„Aber was soll ich sonst tun? Gar nichts?“

„Meiner Meinung, ja. Aber ich kann dich nicht davon abhalten, wenn du es versuchen willst, also tue, was du für richtig hältst.“

Bei ihm hörte sich das alles so leicht an. Gut, ich war nicht dort, konnte mir die Situation nicht wirklich vorstellen und am liebsten hätte ich laut geschrieen, dass ich das alles gar nicht lustig finde, mir Sorgen mache und doch nur helfen will, doch würde er es eh nicht hören.

„Ich weiß noch nicht.“

„Ich muss jetzt Schluss machen. Ich muss morgen früh raus.“

Seine Mitteilung lässt mich kurz stocken. Obwohl er mir seine Meinung schon mitgeteilt hat, fühle ich mich damit alleingelassen. Bei ihm hört es sich so einfach an, das alles beiseite zu kehren. Doch verdammt, es ist gerade mal fünf Wochen her, als sie noch in meinen Armen lag und alles in Ordnung schien.

„Ok. Lass uns die Tage mal telefonieren.“

„Machen wir. Bestell allen einen schönen Gruß.“

„Mach ich. Bye“

„Bye.“
 

Der Gedanke an Sam lässt mich auch danach nicht los, bis plötzlich unerwarteter Besuch in meinem Zimmer auftaucht.

„Deine Mutter meinte, es würde dir schon wieder viel besser gehen.“

„Ja... setz dich doch.“

Ryouta zieht sich den Schreibtischstuhl ans Bett heran.

„Ich hätte nie gedacht, dass du mich mal besuchen kommst.“

„Warum sollte ich nicht?“

„Ich weiß nicht“, zucke ich mit den Schultern.

„Ich habe dir auch etwas mitgebracht, gegen die Langeweile.“

„Echt?“

Er zieht seine Tasche zu sich heran und zum Vorschein kommt ein Karton.

„Was ist das?“, frage ich, als er ihn mir reicht.

„Mach auf, dann siehst du es.“

Den Deckel angehoben, kommt eine gläserne Platte und eine Menge gläserner Figürchen zum Vorschein.

„Ein Schachspiel?“

„Ich dachte, es wäre eine bessere Idee als Mahjongg oder Go. Kannst du Schach spielen?“

„Nein“, gebe ich nicht gerade begeistert zu. „Ich hatte nie groß Interesse an diesem Spiel.“

„Dann wird es aber Zeit“, grinst er mich breit an. „Es ist wirklich ein tolles Spiel.“

Er schiebt die Decke ein wenig zur Seite, nimmt mir den Karton ab und fängt an, das Spiel aufzubauen.

„Du wirst es ganz schnell lernen, glaub mir. Die Regeln sind ganz einfach.“

„Ich weiß nicht“, gebe ich immer noch skeptisch von mir. Schach gehörte nie zu den Spielen, die ich erlernen wollte.

„War er eigentlich sauer?“

„Was?“

Ryouta hält im Aufbau inne.

„Kida. War er sauer, wegen Samstag?“

„Sauer?“ Bin ich zu blöde um das jetzt zu verstehen?

„Weil du bei mir geschlafen hast.“

„Warum sollte er da sauer sein?“

„Ich wäre sauer, wenn du mein Freund wärst und bei ihm schlafen würdest.“ Seine Stimme ist ernst, ein Blick fixiert mich.

„Nein, war er nicht... denke ich mal, ich hab ihn nicht gefragt.“

Doch warum sollte er? Wäre ich nicht krank geworden, wäre es auch nicht dazu gekommen. Und außerdem, was ist denn schon dabei, wenn man bei einem Freund übernachtet? Das ist doch etwas ganz Normales.

„Dann ist ja gut.“ Sein Augenmerk konzentriert sich wieder auf den Aufbau, der auch kurz darauf erledigt ist.

„Du bist weiß, du fängst an.“

„Und wie?“ Meine Augen kreisen über das Spiel hinweg.

Ryouta erklärt mir die Eigenschaften der einzelnen Figuren, und dem folgt ein kleines Testspiel, ob ich diese auch wirklich verstanden habe.

Es ist alles ein wenig holprig, doch irgendwie hat es was. Leider vergeht die Zeit viel zu schnell und gegen Fünf bin ich wieder allein in meinem Zimmer.
 

Die Zeit bis zu Kidas Eintreffen verbrachte ich am PC. Ich versuchte einen Brief an Sam zu schreiben, doch was ich auch auf das virtuelle Papier brachte, nichts hörte sich auch nur annähernd gut an. Im Gegenteil, es kam mir viel zu heuchlerisch vor.

Seine Arme umfangen mich, kurz nachdem er das Zimmer betreten hat. Es ist ein gutes Gefühl ihn zu spüren, ihn zu küssen.

„Wie geht es dir?“

„Seit heute Mittag fühle ich mich eigentlich ganz gut...“

„Aber du hast noch Fieber“, diagnostiziert er.

„Nur noch ein klein bisschen.“

„Und warum bist du dann nicht mehr im Bett?“

„Keine Lust...“

„Aber du...“

„Kommt ihr runter, Essen ist fertig“, kommt es durch die geschlossene Tür.

„Wir kommen gleich“, antworte ich.
 

~ * ~
 

Obwohl ich mich am Mittwoch schon wieder topfit fühle, zwingt mich meine Mom zu Hause zu bleiben. Wenigstens gehe ich so dem nervigen Französisch aus dem Weg.

Ich bin allein im Haus, Mom ist wieder bei der Arbeit. Schnell steigt die Langeweile und ich laufe wie blöde durch die Räume, suchend nach einer Beschäftigung.

Der Keller reizt, schon alleine aus dem Grund, da am Feitag das Sportfest ist, doch siegt hier die Vernunft, und ich halte mich fern.

In der Küche greife ich in die Obstschale, meine Wahl fällt auf einen Apfel. Kauend lande ich schließlich im Arbeitszimmer von meinem Dad. Ich setze mich auf den Schreibtisch und schaue mich eine Weile einfach nur im Raum um. Zum Schluss bleibt meine Aufmerksamkeit an dem hässlichen Bild mit den zwei Schwänen hängen. Nach einem erneuten kräftigen Biss in den Apfel, lasse ich das Kernstück auf den Tisch gleiten.

Ich gehe zum Bild hinüber, löse die kleine Funktion aus und schwinge es zur Seite. Wie mag wohl die Kombination sein? Ob man nur drei Versuche hat, wie bei einer Pin fürs Handy oder einer Kreditkarte?

Ich tippe das Geburtsdatum meines Dads ein, betätige den grünen Knopf, ziehe an der kleinen Verriegelung.

Nichts.

Wäre ja auch zu einfach gewesen.

Ich versuche es mit meiner Mom, wieder nichts und nachdem ich es auch mit meinen Daten ausprobiert habe, bin ich mir sicher, dass mir mehr als drei Versuche zur Verfügung stehen.

Was würde ich nehmen?

Blöde Frage, bestimmt nicht dasselbe wie mein Dad. Irgendein wichtiges Datum? Was könnte das wohl sein... nicht für mich, sondern für ihn? Geburtstage? Nein, die sind es schon mal nicht. Was dann, was... ?

Ich zermartere mir meinen Kopf nach irgendwelchen wichtigen Daten und werde schneller als gedacht fündig.

„1... 2... 0... 2... welches Jahr war das noch mal? Ach ja.“

Nach Eingabe der Jahreszahl spüre ich mein Herz richtig feste gegen meinen Brustkorb schlagen. Gott, warum war ich bloß so aufgeregt? Ich drücke abermals die kleine grüne Taste, ziehe an der kleinen Verriegelung.

Offen!

Blitzschnell schaue ich mich um als wäre mir erst jetzt bewusst geworden, dass ich hier eigentlich etwas Verbotenes tat. Verboten ist vielleicht ein wenig hart, nie hat mir jemand verboten, den Safe zu öffnen, doch bin ich mir natürlich eindeutig bewusst, dass dies eigentlich nicht richtig ist.

Kein Quietschen beim Öffnen der Tür, so wie man es in vielen Filmen sieht, und das Nicht-Vorfinden von Goldbarren und stapelweise Papiergeld, lässt mich leicht grinsen.

„Schade aber auch.“

In der oberen Ablage: Schmuck. Die Diamantohrringe von Großmutter, die Uhr von Dads Dad, die ich garantiert irgendwann mal bekommen werde, und der Schmuck, den meine Mutter über die Jahre angehäuft hat. Eigentlich steht sie gar nicht so auf Schmuck, aber Dad schenkt ihr jedes Jahr welchen. Ich denke, er weiß es einfach nicht besser.

Im Fach darunter: Papiere. Geburtsurkunden, Schreiben von den japanischen Behörden zwecks Aufenthaltsgenehmigungen, Visen, Kontenverträge, Besitzurkunden für die zwei Grundstücke und Häuser, Fahrzeugbriefe und Unmengen an Versicherungskram.

Dem dritten Fach schenke ich meine ganze Aufmerksamkeit, scheint sich dieses irgendwie nur um mich zu drehen. Schulverträge, Zeugnisse und eine menge Bankkram, den ich zuvor niemals zu Gesicht bekommen habe.

Auszüge über ein Konto auf das meine Eltern, Großeltern sowie meine Pateneltern seit meiner Geburt Geld für mich einzahlen.

Es ist ein amerikanisches Konto. Laut der Auszüge landen jeden Monat $200 von meinen Eltern und $100 von meinen Großeltern darauf. Dazu kommen noch $500 zu Weihnachten und Geburtstagen von den Großeltern und $250 zu Weihnachten und Geburtstagen von meinen Pateneltern.

Mit Zinsen beträgt dieses Gesamtersparnis zurzeit knapp $70.000.

„Ich bin reich.“

Nicht wirklich, aber welcher 16jährige kann schon von sich behaupten, 70.000 US Dollar zu besitzen. Ich bin mir sicher, dass ich gerade wie ein Honigkuchenpferd strahle.

Weiter in den Papieren kramend, wird mir mitgeteilt, dass ich erst mit 21 mit diesem Reichtum rechnen kann. Scheiße aber auch.

Ich lege die Auszüge beiseite und widme mich den anderen Papieren, wo mir als nächstes ein Collegesparplan meiner Großeltern in die Hände fällt.

„75.000?“, lässt sich auch hier ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Aber von diesem Geld werde ich ja eh nichts haben, da es ja anscheinend fürs College gedacht ist.

Wäre das nicht schon genug, finde ich zwei weitere Sparverträge, die mit jeweils 50.000 US Dollar an meinen 21. Geburtstag sichern.

„Ok... ok... wo ist ein Taschenrechner?“

Ich suche den Tisch ab, werde fündig. Rechne alles, bis auf den Collegesparplan, zusammen, plus das Geld, das noch bis zu meinem 21. Lebensjahr auf dem normalen Sparbuch landet und komme am Ende auf die stolze Summe von $191.350, wobei hier die Zinsen für die nächsten fünf Jahre nicht mal draufgerechnet sind.

„Ich kauf mir ein Haus... nein, einen Jeep, ich wollte schon immer einen Jeep haben, und ich kaufe mir Jahreskarten für die Giants!“
 

~ * ~
 

An diesem Abend mit einem kleinen „Hi“ begrüßt, würde ich am liebsten schreien: „Weißt du was ich heute entdeckt habe...“ Doch tue ich das natürlich nicht. Zu frisch habe ich noch das Gespräch im Kopf, dass er sich ein College vielleicht nicht leisten kann. Nicht einmal helfen könnte ich ihm mit all diesem Geld, sind es doch noch Jahre, ehe ich es erhalten werde.

„Ich hab dich vermisst...“, flüstert ich nach ein paar kleinen Zärtlichkeiten, weitere folgen. Ich will mehr als das...

„Sakuya! Telefon!“ Erschrocken fahren wir auseinander, einen Moment nicht begreifend, was los ist.

„Ich komme!“, rufe ich, verlasse das Zimmer. Mit dem Ich-werde-Kyo-umbringen-Gedanken renne ich die Treppen runter, meine Mutter empfängt mich beim Absatz dieser.

Ich schaue ein wenig perplex, als ich den Telefonhörer nicht in ihrer Hand, sondern liegend auf den Apparat wahrnehme.

„Was soll das?“

„Komm mit.“

Verblüfft schaue ich meiner Mom hinterher, wie sie erst in die Küche, dann in die Speisekammer geht, ich folge ihr.

„Was ist denn los?“, frage ich verwirrt, vielleicht auch ein wenig ängstlich. Haben sie vielleicht von meinen kleinen Ausflug in den Safe etwas mitbekommen, habe ich meine Spuren nicht gut genug verwischt?

„Psst, dein Vater soll uns nicht hören.“ Sie scheint nervös, besorgt.

„Was ist denn mit Dad?“, flüstere ich.

„Sakuya, Schatz...“ Ohoh, Tonlage hört sich gar nicht gut an. „Ich wollte es dir erst alleine sagen, bevor dein Dad damit kommt. Eigentlich steht auch noch gar nichts fest, aber ich wollte nicht, dass er es sagst, wenn Kida dabei ist und dann...“

„Jetzt sag schon, was du meinst“, platzt es mit erhobener Stimme hervor.

„Psst“, kommt es daraufhin.

„Moooommm.“

„Ok... Dad hat das Angebot bekommen, wieder zurück in die Staaten zu gehen.“

„Was?“

„In die Staaten, Boston“, versucht sie mir besser zu erklären.

„Ich weiß, was du meinst“, schüttele ich ab.

Zurück? Nach Boston? Beinahe hätte ich meiner mich anstarrenden Mutter einen erfreulichen Blick zugeworfen, doch halt... warum gerade jetzt? Wo ich endlich einen Grund gefunden hatte, nicht zurück zu wollen...

„Und? Was hat er gesagt“, kommt es fast panisch.

„Wie gesagt, es steht noch nichts fest“, erklärt sie weiter. „Und außerdem...“

„Außerdem?“ Red schon, mach mich nicht irre, Frau.

„Wir wollten es diesmal dir überlassen.“

„Mir überlassen?“

„Uns ist es eigentlich egal, ob Boston oder Tokyo, obwohl dein Dad schon einiges vermisst“, lächelt sie. „Doch wir haben uns entschieden, dass, wenn es wirklich zur Sprache kommen sollte, du diesmal die Entscheidung treffen darfst.“

„Ich?“

„Ja. Wir wollen dich nicht wieder gegen deinen Willen zu etwas zwingen, also hast du die freie Wahl.“

„Ich habe die freie Wahl“, wiederhole ich verträumt. „Wann... wann ist es sicher?“, frage ich.

„Ende der Woche, Anfang nächster. Genau wissen wir es noch nicht. Doch mach dich jetzt nicht verrückt, es steht ja noch nichts fest. Ich wollte dich nur vorwarnen, falls das Gespräch irgendwann mal aufkommt und immerhin... dein Dad weiß ja nicht, was zwischen dir und Kida läuft. Ich denke, du solltest es ihm vorher erzählen, bevor es ihn nachher vom Tisch haut.“

„Ihm erzählen? Das... das kann ich nicht tun.“

„Natürlich kannst du.“

Sie hat gut reden. Wie soll ich ihm den erzählen, dass ich darüber nachdenke, wieder zurück zu gehen, dass es ganz alleine meine Entscheidung ist, ob es dazu kommt oder nicht. Ob ich mich für ihn oder für meinen eigentlich größten Wunsch entscheide.

„Ach, und Sakuya, dein Dad hat mich gefragt, warum Kida so viel hier ist. Ich sagte, dass er zu Hause Probleme hat, mit seinem Stiefvater. Ich hoffe, das ist in Ordnung?“

„Ja, ja... schon ok.“

Ich verlasse die Speisekammer, bekomme noch den Hinweis hinterher gerufen, dass das Essen nun fertig sei und gehe die Treppe hinauf.

Nein, ich kann ihm das unmöglich erzählen. Auch wenn es vielleicht gar nicht dazu kommen wird, die Entscheidung niemals fallen muss... was sollte ich ihm sagen, wenn er mich fragt, wie ich wählen würde? Wie würde ich wählen?
 

Während des gesamten Essens ist das Einzige worum ich bete, dass mein Dad nicht gerade heute mit dieser Neuigkeit herausplatzt.

Die Stimmung am Tisch ist eigenartig, sogar Kida müsste das auffallen. Jeder scheint in seiner eigenen kleinen Welt zu schweben.

„Wo warst du eigentlich am Wochenende?“, unterbricht mein Dad plötzlich die Stille, für einen Moment bleibt mein Herz regelrecht stehen.

„Was?“

„Wir hätten fast schon eine Vermisstenanzeige aufgegeben...“ Er grinst Kida an, wahrscheinlich hat er das Gespräch mit Mom im Kopf. Probleme mit dem Stiefvater, ob Dad sich Sorgen um Kida macht?

„Ähm... in Hamamatsu... zu einer Beerdigung...“

„Oh... das tut mir leid...“

„Ich kannte ihn kaum...“

„Ach so...“

Ich spüre Kidas Blick auf mir, schaue ihn kurz an, wende mich wieder meinem Teller zu. Ich kann ihm gerade nicht standhalten, Lügen und Geheimnisse, wo man nur hinschaut.
 

Wieder oben versuche ich mich mit den Arbeitsblättern, die Kyo Kida mitgegeben hat, abzulenken. Natürlich klappt das kein Stück, und als Kida irgendwann mit seinen eigenen Hausaufgaben fertig ist, schlage ich vor, einen Film anzuschauen. Ich kenne sowieso jede einzelne DVD auswendig, da fällt es kaum auf, wenn ich nicht wirklich bei der Sache bin.

Doch leider bleibt es nicht nur beim einfachen Film ansehen. Leider?

Ich spüre seine Berührungen an meinem Bauch, die Küsse, welche sich leicht im Nacken absetzten. Doch irgendwie ist es nicht schön, es ist... eigentlich schon beinahe schmerzhaft sie zu spüren. Es sollte sich doch schön anfühlen, oder etwa nicht?... das hat es doch bis jetzt immer.

„Du bist ganz verspannt.“

Ich lasse den massierenden Griff an meinen Schultern gewähren, der sich kurz darauf wieder auflöst. Was kommt als nächstes? Was will ich, das als nächstes passiert?

„Mach weiter“, bitte ich ihn, denn eigentlich mag ich es doch, wenn er mich berührt. Eigentlich möchte ich es doch auch... nur... jetzt vielleicht gerade nicht.

Dies einfach sagen? Mit welcher Begründung? Dass ich ihn vielleicht bald verlassen werde?

„Leg dich hin“, kommt es zärtlich, leise, nah an meinem Ohr.

Ich lege mich hin, spüre seine Hände immer wieder über meinen Körper hinweg streifen. Dass es mir nicht gefällt, wäre eine Lüge, doch ist es im Moment einfach auch nicht wirklich das, was ich mir wünsche zu tun. Am liebsten würde ich die Zeit zurück drehen, meiner Mom sagen, dass egal was sie mir vorhat zu sagen, es bitte noch nicht tun soll. Ich will es nicht wissen, will mich nicht entscheiden müssen. Warum ausgerechnet jetzt, warum nicht vor drei Monaten, als noch alles so einfach war?

Ich spüre seine Zunge auf meiner Haut, lasse ihn gewähren, mich auszuziehen. Ich kann nicht anders, ich habe das Gefühl weinen zu müssen, doch mit meiner ganzen Kraft unterdrücke ich dies. Ich will nicht mehr daran denken, lass es mich wenigstens für ein paar Minuten vergessen...

„Sakuya... ich...“

Ich drehe mich ein wenig, fange seinen erhitzenden Blick auf. Ich küsse ihn ziemlich hart... bitte, hilf mir doch.

„Ja nicht sprechen...“ Es tut mir weh.

„Ich... ich liebe dich“, flüsterst er und ich habe innerlich das Gefühl zu zerbrechen. Habe ich dich nicht gebeten nicht zu sprechen, warum sagst du das jetzt... kannst du nicht... nimm mich einfach und lass mich alles vergessen, so wie es sonst auch immer klappt.

Ich bringe etwas Distanz zwischen uns, befreie ihn von seinem Hemd. Ich lächele. Wie ich das schaffe, weiß ich nicht genau, aber ich lächele.

Ein Kuss bringt mich dem näher, dem Vergessen... wenigstens hoffe ich das. Ich sollte nervös sein, Angst haben vor der Situation, die mich gleich einholen wird... warum ist da nichts... bitte, Angst, hab gefällig endlich Angst...

Schmerz, da ist keine Angst, da ist Schmerz, gepaart mit irgendwas anderem. Kaum noch Luft vorhanden, fällt es mir nicht schwer, mich von dem Gefühl ablenken zu lassen, zu intensiv spüre ich es in mir. Es tut so weh.

Ich drücke mich nach vorn, um dem zu entrinnen und drücke mich im nächsten Moment zurück, als das Gefühl nachlässt. Was veranlasst mich bloß mich dem Schmerz entgegen zu drücken? Was ist da, was ich wohl gerade nicht in der Lage bin zu begreifen?

Ein weiterer Kuss, Dinge, die mir genau zeigen, was als nächstes kommen wird. Am liebsten würde ich davonrennen, nicht aus Angst, nicht vor dem Schmerz, sondern einzig und alleine vor dem Gefühl, dass ich nicht beschreiben kann.

Ich grabe meine Fingernägel tief in seinen Handrücken. Keine Scham habe ich dabei, ist der Schmerz, dem er mich gerade aussetzt, garantiert um ein Vielfaches stärker. Ich verkrampfe mich innerlich, ich will das nicht... ich...

„Bitte, hör auf...“, wimmere ich und sofort stoppt alles um mich herum.

Ein unangenehmes Gefühl folgt, als er sich aus mir zurückzieht, mich zu sich dreht und mich ansieht.

„Alles in Ordnung?“

Die Besorgnis in seinem Gesicht gibt den Tränen das Startsignal.

„Hey, ist doch alles ok, kein Grund zu weinen. Psst.“

Er drückt sich an mich, hält mich fest. Ich hasse mich dafür, was ich ihm gerade antue, was ich ihm noch antun werde. Trotzdem kann ich ihm nicht sagen, dass es nicht nur wegen dem Sex ist, dass ich mich schlecht fühle. Ich kann es nicht...
 

~ * ~
 

In der Schule darf ich das Kyo-und-Sanae-Phänomen zum ersten Mal hautnah miterleben. Ein wenig beneide ich die Zwei, dass sie in aller Öffentlichkeit miteinander turteln können, doch andererseits wäre mir im Moment sowieso nicht danach.

Gestern nach dem Versuch, Kida zu erklären, dass es an mir und nicht an ihm lag, konnte ich eine ganze Zeit lang nicht einschlafen. Immer wieder die Frage: Was werde ich tun? Wie soll ich mich entscheiden?

„Was ist los mit dir?“

„Alles in Ordnung.“

„Erzähl mir doch nichts“, nervt Kyo weiter.

„Erzähl du mir doch mal lieber, warum du mich nicht einmal besuchen kamst?“, kommt es vorwurfsvoll zurück.

„Ich... sorry, ich...“

„Ach, schon gut“, unterbreche ich ihn. „Ich hab’s nicht so gemeint. Ich versteh das schon.“ Natürlich tue ich das, bin ich doch eigentlich noch selber in dieser Verliebtheitsphase... eigentlich...

„Machen wir heute was zusammen?“

„Ok, wir könnten alle ins...“

„Nein, nur wir beide. Wir haben schon lange nichts mehr gemacht.“

„Auch wenn ich dich jetzt irgendwie nerve Sakuya, aber bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“

„Ja, also?“

„Ok, von mir aus.“
 

~ * ~
 

Nach Hause komme ich erst ziemlich spät, eigentlich in der Hoffnung, Kida schlafend vorzufinden.

„Ganz schön spät geworden.“

Absichtlich kein Licht gemacht, schlüpfe ich unter die Decke, drücke mich schon beinahe an die Wand.

„Sakuya?

„Mmhh?“

„Ist alles in Ordnung? Ich meine... zwischen uns?“

„Ja.“

„Ganz sicher?“

„Ganz sicher.“

„Tatsuya hat angerufen, ob wir morgen Lust haben, ins doubleX zu kommen.“

„Ist Ok.“

„Wir könnten Kyo und Sanae mitnehmen.“

„Von mir aus.“

„Ich... schlaf schön.“

„Danke, du auch.“

Dass ich gerade ein Arsch bin, braucht mir wirklich keiner zu sagen, doch was soll ich tun? Ich kann ihn doch nicht einfach küssen, mit ihm schlafen, so tun als wäre alles wunderbar und mich vielleicht bald dafür entscheiden, ihn zu verlassen.

Wenn ich nur wüsste, was ich wirklich will, wenn ich mich nur endlich entscheiden könnte. Doch wie soll ich wählen, welche Kriterien für sich sprechen lassen: Liebe gegen alles andere, was mir sonst immer wichtig war?
 

~ * ~
 

Das Schulsportfest, auf das ich mich schon seit Wochen gefreut habe, ist nur eine kurze Ablenkung. Schnell ist alles schon wieder vorbei, die Medaillen überreicht, die Gewinner gekrönt.
 

Den Nachmittag schaffe ich alles so zu drehen, um nicht allzu lange mit Kida alleine sein zu müssen, und das Schlimme daran ist, dass ich mir mit jeder Minute mieser vorkomme.

„Hast du wirklich Lust?“, werde ich nochmals gefragt, als wir das Haus verlassen.

„Klar“, versuche ich einigermaßen freudig zu klingen, was nicht einmal ganz so heuchlerisch ist, da ich für diese Zerstreuung meiner Gedanken echt dankbar bin.

Als wir im doubleX ankommen, werden wir schon von Sanae zu einem Tisch herangewunken. Ich gehe auf sie zu, Kida begrüßt derweilen Tatsuya. Dass es nicht nur bei einem kurzen „Hallo“ bleibt, entgeht mir nicht, auf Tatsuyas Gesicht kann ich genau erkennen, dass er ihm mehr erzählt.

Ebenfalls erkenne ich diesen Typ von damals an der Bar. Wie war noch mal sein Name? Sai? Er schaut ebenfalls zu uns herüber.

„Hey, auch hier.“

„Ja.“

Ryouta setzt sich neben mich und eine Sekunde später bewegt sich auch Kida endlich in unsere Richtung.

„Oh, willst du?“ Ryouta deutet auf seinen Platz.

„Bleib ruhig sitzen“, winkt Kida ab, setzt sich mir gegenüber.

Tatsuya kommt mit unseren Getränken und Sai im Schlepptau an unseren Tisch, sie setzen sich zu uns und Tatsuya bringt das erste wirkliche Gesprächsthema an diesem Abend auf.
 

Kurz nach Mitternacht verlassen uns Kyo und Sanae als erstes, und während sich Kida dazu bereit erklärt hat, Tatsuyas beim Abspülen einiger Gläser zu helfen, werde ich ins Verhör genommen.

„Also?“

„Also?“

„Erzähl schon.“

„Was soll ich erzählen?“

Mein Blick fällt auf Sai, der mich ebenfalls interessiert anschaut.

„Ich weiß von nichts“, fügt er hinzu.

„Hat dir eigentlich noch niemand gesagt, dass man dir immer ansieht, wenn was nicht stimmt.“ Ryouta mustert mich ein wenig näher.

„Doch, schon öfter.“

„Aaallll-so?

„Ich will nicht darüber reden.“

„Sicher?“

„Ja.“

„Ich werd dann mal den Beiden ein wenig helfen, sonst kommen wir hier nie raus.“ Sai erhebt sich mit einem Lächeln, geht auf die Theke zu.

„Schon komisch.“

„Was?“, bin ich diesmal auf Antwortjagd.

„Entweder bist du krank oder mies drauf. Ich würde dich gerne mal erleben, wenn du ganz normal bist.“ Er lächelt.

„Dafür hast du noch genug Zeit“, heuchle ich.
 

„Er mag dich“, kommt es auf dem Heimweg von der Seite.

„Wer?“

„Ryouta... er mag dich.“

„Und? Ich mag ihn auch.“

„Tatsuya denkt...“

„Weißt du“, unterbreche ich ihn, bleibe stehen. „Es ist mir scheißegal, was Tatsuya denkt, schon mal gemerkt, dass ich den Typen nicht besonders mag? Also lass mich bitte mit: ‚Tatsuya denkt dies, Tatsuya denkt das’ in Ruhe.“ Dass meine Stimme hinauf schießt, ist nicht beabsichtigt, doch kann ich gerade jetzt auf solch blöde Themen echt verzichten.

„Was... ist bloß los mit dir?“, werde ich unverstanden, traurig angeschaut.

„Es ist nichts“, antworte ich schnell, gehe weiter.

„Doch, da ist was.“ Er hält mich am Arm fest. „Warum sagst du es mir nicht einfach?“

„Ich kann nicht“, gebe ich mit soviel Ehrlichkeit preis, wie ich im Moment in der Lage bin.

„Warum nicht?“

„Bitte, frag mich das nicht...“, bitte ich.

„Ist es wegen mir, habe ich etwas falsch gemacht?“, kommt es ängstlich.

„Nein“, kommt es ernst, ich greife nach seiner Hand. „Du kannst nichts dafür, du hast nichts gemacht... es... Ich muss damit alleine klar kommen, du kannst mir da nicht helfen.“

„Ich würde aber gerne.“

„Ich weiß, aber du kannst nicht.“

„Liebst du mich noch?“, erklingt es zaghaft.

„Natürlich tue ich das... Ich liebe dich.“

Keine Heuchlerei, nein, denn ich liebe ihn wirklich. Gerade das macht es doch auch so schwer, gerade das lässt mich momentan verzweifeln.

Ich sehe die stockende Bewegung, schaffe es selber kaum mich zurück zu halten, ihn einfach in den Arm zu nehmen.

„Lass uns nach Hause gehen.“
 

Im Bett wird aus Küssen schnell mehr, ich schaffe es dieses Mal eigentlich relativ gut, mich mehr auf das Uns zu konzentrieren als diese nervenden Gedanken in mir zu haben, und so stoppe ich diesmal aus anderem Grund.

„Ich kann das nicht.“

„Warum nicht? Gefällt es dir nicht?“

„Doch... aber...“ Es tut doch so weh, wie kann er es wollen?

„Mir gefällt es auch... und ich möchte es wirklich.“

Sein warmer Atem umfängt mich, lässt seine Lippen an meinem Bauch hinab wandern, mein Glied umschließen, mich heiser aufstöhnen.

Ich spüre die Hitze, die in meinem gesamten Körper aufsteigt, noch stärker wird, da mein Blick auf ihm ruht, ihm dabei zusieht.

Er erhebt sich, hält aber immer noch mit seiner Hand meine Erektion fest umschlossen. Er greift sich das Kondom, was schon eine ganze Weile auf dem Bett liegt, und reist es vorsichtig mit den Zähnen auf, streift es über mich. Bist du dir wirklich sicher, dass du das willst?

Das Gleitgel findet ebenfalls seine Bestimmung und ehe ich mich fragen kann, wie ich mich jetzt am besten positionieren soll, platziert er sich über mir, lässt mich langsam in ihn gleiten.

Meine Hände wissen nicht wirklich wohin und so greifen sie in mein Kissen. Der starke Rotschimmer in Kidas Gesicht versucht mich dazu zu zwingen, wegzuschauen oder wenigstens die Augen zu schließen, doch bleibe ich wie gebannt an seinem Ausdruck hängen, bestimmt nicht weniger rot.

Langsam und gleichmäßig bewegt er sich, seine Arme versuchen irgendwo halt zu finden, sich abzustützen, doch scheint es ihm nicht wirklich zu gelingen und so greife ich nach seinen Hände. Unsere Finger verschränken sich, und ich kann mit jeder Bewegung noch deutlicher spüren, was in ihm vorgeht.

Sich irgendwann wieder trennend, gehe ich allerdings nicht zurück, sondern verharre nahe meinem Unterleib. Ein scharfes Lufteinziehen, als ich sein Glied umschließe, uns beiden noch mehr Rot ins Gesicht treibe.

Es fällt nicht gerade leicht die rhythmischen Bewegungen aufrecht zu erhalten, immer wieder schreit mein Körper nach Erlösung, will sich nur noch fallen lassen... sterben...
 

~ * ~
 

Den Samstag verbringen wir mit stundenlangem Lernen. Kyo und Sanae, der sogar ich noch etwas beibringen kann, da sie ja eine Klasse unter uns ist, schließen sich uns an. Man könnte fast denken, dass alles wieder normal wäre, würde da nicht immer noch diese Entscheidung anstehen.

Ein Klopfen an der Tür.

„Ja?“

„Telefon... es ist Kevin“, lächelt meine Mom in die Runde.

Ich bemerke noch Kyos Blick, der in Richtung Sanae schießt, bevor ich mich erhebe, meiner Mom hinaus folge.

„Kannst du ihm sagen, dass ich nicht da bin“, halte ich sie an der Treppe auf.

„Sakuya, was soll das denn? Ich habe ihm schon gesagt, dass du da bist.“

„Ich... bitte Mom, lass dir was einfallen. Ich kann jetzt nicht mit ihm reden.“

Ein nicht gerade freundlicher Blick von ihr trifft mich, dann lässt sie mich ohne ein weiteres Wort stehen.

„Kevin?... Er ist leider doch nicht da... Ich weiß auch nicht, muss wohl irgendwie rausgeschlüpft sein, als ich mal nicht aufgepasst habe... Kein Problem, ich sag ihm bescheid... Ja... Bestell deinen Eltern einen lieben Gruß von uns... Ja... bis bald, Kevin.“

Ich setze mich auf die oberste Stufe. Ich konnte jetzt doch nicht mit ihm reden. Was, wenn er es weiß? Immerhin wäre das gut möglich, sein Dad kennt einige aus der Boston-Filiale. Was sollte ich erwidern, wenn er mir sagen würde, wie sehr er sich freut, da ich ja bald wieder zurückkommen würde?

Wie sollte ich mich erklären, dass ich noch keine Entscheidung getroffen habe? Würde er verstehen, warum ich vielleicht all unsere Träume aufgebe? Wollte ich das... unsere Träume aufgeben?
 

„Lass es uns noch mal versuchen.“

„Was meinst du?“

„Du weißt genau, was ich meine.“ Ich winde mich aus seiner Umarmung, gleite halb über seinen Oberkörper, küsse ihn. „Ich will es.“ Nun ist er es, der mich küsst.

Ich will es auch spüren, das, was ich bei ihm sehe, wenn ich es tue. Ich will das auch... wenigstens ein Mal...

Ich löse den Kuss, steige aus dem Bett. Langsam ziehe ich mich aus, stehe kurz darauf vollkommen nackt vor ihm und dem Bett.

Er setzt sich auf, steht auf. Ich weiche einen kleinen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen. Nur Zentimeter vor mir, tut er es mir gleich, zieht sich ebenfalls aus. Ich danke dir dafür, dass du jetzt keine Analyse meines Verhaltens erstellen willst, dass du meinen Wunsch einfach so erfüllst, ohne lange Reden, ohne lang Gewissheit über mein Vorhaben einholen zu wollen.

Eine leichte Berührung im Gesicht, ein scheuer Blick. Vorsichtig treffen seine Lippen auf meinen Hals, seine Hand auf meine Brust.

Eine streichelnde Berührung, die sich immer tiefer absetzt, Küsse, die fordernder werden. Das alles fühlt sich so schön, plötzlich so richtig an. Schaffe ich es dieses Mal, einfach für ein paar Minuten zu vergessen? Keine Angst davor zu haben, dass ich ihm hiermit nur noch mehr Wehtue, ihn noch mehr gebe, wonach er sich später vielleicht sehen wird?

Leicht drückt er mich aufs Bett, fährt an den Innenseiten meiner Beine entlang, wie von selbst öffne ich mich ein wenig, lasse ihn besser vorwärts kommen. Ein weiterer Kuss, während seine Finger Richtung Nachtisch gehen, im Inneren herumwühlen, bis sie schließlich finden, was sie suchen.

Ich kann immer noch zurück, richtig? Jederzeit könnte ich sagen: Stopp, ich will das nicht... also, keine Angst, nur keine Angst haben.

Ich spüre die nur noch leichte Kühle der Flüssigkeit, ein sanfter Druck, der sich Einlass sucht. Er würde dir niemals absichtlich wehtun, entspann dich einfach, ganz ruhig...

Und so ist das Aufnehmen dieses ersten Fingers eigentlich schon vorbei, eh ich es richtig wahrgenommen habe, doch viel mehr wundert es mich, dass da überhaupt kein Schmerz ist. Kein Schmerz, nicht einmal der Kleinste. Es ist vielleicht ein wenig unangenehm, irgendwie eklig in diesem ersten Moment, aber es ist kein Schmerz.

Vorsichtig spüre ich seinen Finger eine gleichmäßige Bewegung ausführen, und ich versuche mich krampfhaft daran zu erinnern, was ich dabei gespürt habe, als ich es bei ihm tat. Es war ungewohnt, auch irgendwie eklig, doch nach einer Weile, war es richtig toll, erregend.

Zurück in meiner momentanen Lage bin ich gewillt, dieses neue Gefühl in mir zuzulassen. Jeder neuen Bewegungen begegne ich mit einem leichten Stöhnen, fange irgendwann an, mich ihnen sogar entgegenzudrücken. Ein zweiter Finger folgt, lässt mich kurz schlucken. Ein leichtes Ziehen, doch immer noch kein wirklicher Schmerz. Warum fühlte es sich beim ersten Mal nur so schlimm an?

Irgendwann dann verschwinden die Finger. Ich werde nach einem langen Kuss auf den Bauch gedreht, mein Becken ein wenig angehoben. Das Aufreißen des Kondoms nehme ich ehrlich gesagt mit Schrecken wahr.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ich kurz vor einem Herzinfarkt stehe, so schnell kann ich mein Herz schlagen hören.

Noch ein wenig höher werde ich gebracht, spüre ihn schon ziemlich nah, seine Hände halten mich fest in dieser Position. Ich greife nach dem Kissen, vergrabe meinen Kopf und meine Finger darin.

Der erste Druck, der Punkt, wo er den Widerstand überschreitet, lässt mich stark zusammenzucken, mein kurzer Aufschrei wird von dem Kissen gedämpft.

„Soll ich aufhören?“

Ich schüttele wie wild den Kopf.

Als würde irgendwas in mir zerreißen, so fühlt es sich an, und das immer weitere Vordringen, lässt es nicht gerade besser werden.

Ich spüre wie einzelne Tränen in das Kissen dringen, doch das ist nicht schlimm. Ich bin nicht stark, nicht hierbei... Schmerz war schon immer etwas, dass ich nicht ertragen konnte.

Erleichterung setzt ein, als ich spüre, dass sich meine Hände langsam entspannen, Verwunderung, als mir bewusst wird, dass es nicht nur Geräusche des Schmerzes sind, die meine Lippen verlassen. Ich würde es nicht wirklich als schön bezeichnen, doch wird es angenehmer, immer ein wenig mehr...
 

~ * ~
 

Der Sonntag fängt wie ein ganz normaler Sonntag an.

Lange schlafen, ein spätes Frühstück, etwas im Keller schwitzen und gegen Nachmittag ein gemeinsames Essen.

„Hast du schon darüber nachgedacht wieder nach Boston zu ziehen?“, zerstört diese kleine Frage den ganz normalen Tag.

Ich halte den Blick meines Vaters stand, weiche dem meiner Mutter aus und spüre einen Entsetzten neben mir.

„Ja.“

„Und?“

„Können wir in deinem Büro darüber sprechen?“

„Natürlich.“

Mein Dad und ich erheben uns und verlassen den Raum. Mit schmerzendem Herzen durchquere ich den Flur. Es tut mir leid, Kida... ich konnte nicht...
 

Part 24 – Ende
 

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Part 25

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Kida (by Stiffy)
 

Nur langsam habe ich das Gefühl, wieder zu Atem zu kommen, als es vorbei ist, als wir entkräftet in seinem Bett liegen und versuchen, unsere Körper wieder zur Ruhe zu bekommen.

Klare Gedanken... ich glaube, sie nicht fassen zu können...

Immer noch ist es, als würde ich ihn spüren. Diese Hitze um mich...

Mein Kopf dreht sich und mir ist warm, heiß...

Sind es nur Sekunden, die wir jetzt so daliegen, oder schon Minuten?

Langsam drehe ich mich zur Seite, als ich mich wieder fähig dazu fühle. Sakuya liegt noch immer bewegungslos da, mir zugedreht.

Zögernd hebe ich meine Hand, berühre seine Haare, streiche sanft hindurch. Seine Augen öffnen sich und er sieht mich an, lächelt. Meine Finger fahren weiter, ertasten seine Lippen, woraufhin er seine Augen wieder schließt.

„Hat es dir gefallen?“ beziehungsweise „Hat es dir weh getan?“

Gerne würde ich dich dies fragen... doch ich kann es nicht, bringe kein Wort über die Lippen. Wieso nicht? Angst? Scheu? Scham? Oder nur, um diesen Moment nicht zu zerstören... diesen Moment, der irgendwie so viel vertrauter wirkt, als alles, was wir in den letztes Tagen teilten.

Ich rutsche etwas näher, berühre seine Lippen zu einem kurzen Kuss. Nur schwach wird dieser erwidert, während seine Hand nach meiner tastet und meine Finger umschließt. Der Griff wirkt erschöpft...

Auch ich schließe nun die Augen, spüre, dass mein Herz endlich wieder ruhiger schlägt. Ich kann ein Seufzen nicht unterdrücken, ebenso wie ein Lächeln.

Du hast mich endlich wieder an dich herangelassen und das nicht nur körperlich...

Du hast es zugelassen.

Ein Zittern fährt durch den Körper, der so nah bei mir liegt, und so befreie ich meine Hand aus seiner, ziehe die Decke über uns. Ein Zögern meinerseits und dann ist er es, der seinen Kopf gegen meine Brust legt, sich an mich schmiegt. Ein Gähnen.

Ich strecke mich nach dem Licht, lege die Arme um ihn, als es erloschen ist, kann ebenfalls ein Gähnen nicht unterdrücken. Dabei fühle ich mich eigentlich noch nicht mal müde...

Es dauert nicht lange, bis sein Atem ruhiger wird, gleichmäßiger... bis er verrät, dass Sakuya eingeschlafen ist.

Ich drücke mich etwas näher an seinen Körper heran, genieße die Wärme, die er mir gibt, bin so froh, sie zu spüren...
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen werde ich relativ früh wach. Es ist noch fast dunkel und dennoch schaffe ich es nicht, sofort wieder einzuschlafen.

Gähnend stehe ich auf, begebe mich ins Bad. Auf dem Rückweg zum Bett ziehe ich den Schlitz zwischen den Vorhängen zu damit es noch etwas dunkler wird, lege mich dann wieder hin.

Einschlafen kann ich trotzdem nicht... und als ich ein weiteres Mal die Augen öffne, mein Blick durch die fahle Dunkelheit auf Sakuyas Gesicht fällt, denke ich auch schon gar nicht mehr daran.

Irgendwie tut es gut, ihn so friedlich zu sehen, nach dem, was in den letzten Tagen vorgefallen ist... nachdem ich wirklich ein wenig das Gefühl hatte, nicht mehr an seiner Seite sein zu dürfen, dass er mich nicht mehr bei sich haben wollte...

Ob jetzt alles wieder in Ordnung ist, weiß ich nicht. Ich habe das Gefühl, ihn schlechter zu verstehen, wie je zuvor. Was ist bloß los mit ihm? Und die Sache am Mittwoch, lag es wirklich nicht an mir? Auch wenn er mir dies sagte, dieser Gedanke wollte einfach nicht ganz verschwinden... Denn was auch immer es war, das sein Tun in diesen Tagen so beeinflusste, es hielt mich auf Abstand...

Sakuya dreht sich auf den Rücken, wühlt kurz herum und bleibt schließlich wieder ruhig liegen.

„Liebst du mich noch?“

Was hätte ich getan, wenn er etwas anderes gesagt hätte? Was, wenn er gemerkt hätte, dass da vielleicht doch nicht solche Gefühle für mich sind, wie er zuvor dachte? Ich habe keine Ahnung, wie ich dann reagiert hätte, denn ich habe mich doch schon viel zu sehr an Uns gewöhnt...

„Natürlich tue ich das... Ich liebe dich.“

Ja... Ich sollte aufhören darüber nachzudenken. Du liebst mich und ich glaube dir. Dennoch... ich würde so gerne wissen, was dich bedrückt, was los mit dir ist... Ich will dich verstehen, will, dass du mit mir redest, auch über Sachen, die vielleicht nicht gerade positiv sind. Ich will deine Sorgen und Probleme teilen.
 

Irgendwann wieder eingeschlafen, werde ich das nächste Mal von einem sanften Kuss geweckt. Blinzelnd öffne ich die Augen, sehe Sakuya über mich gebeugt. Sein Blick ist zärtlich und gibt mir direkt ein gutes Gefühl.

Vielleicht ist das Problem geklärt und dir geht es wirklich wieder gut...

„Guten Morgen...“, flüstert er zärtlich.

Ich ziehe ihn zu einem Kuss heran. Eigentlich würde ich dich wirklich gerne fragen, wie es dir geht... doch besser ich tue es nicht. Du wolltest nicht mit mir darüber reden, vielleicht muss ich das akzeptieren.

Ein paar Küsse tauschen wir noch, bevor wir schließlich aufstehen, schnell duschen und uns anschließend hinunter in die Küche begeben, wo alles wie an einem schönen Sonntagvormittag wirkt.
 

Vielleicht angeregt durchs Radio, in dem groß und breit von den geplanten Ereignissen zum morgigen Taiiku no Hi berichtet wird, schlägt Sakuya schnell vor, sich auch sportlich zu betätigen. Und so vertreiben wir uns im Keller die Zeit bis zum Mittagessen.

Erst hier fällt auf, dass Sakuya scheinbar noch immer nicht ganz sorgenfrei ist... Irgendwie wirkt er wieder verspannter und abwesender als noch zuvor. Aber vielleicht bilde ich mir das mittlerweile auch einfach nur noch ein...
 

~ * ~
 

„Hast du schon darüber nachgedacht, wieder nach Boston zu ziehen?“

Worte, die mit einem Mal alles zum Stehen bringen, zumindest habe ich genau das Gefühl, als sie ausgesprochen werden... als mein Kopf sie versucht zu verarbeiten.

Ich starre Sakuya an, dessen Blick stur nach vorne gerichtet ist.

Hat sein Vater das wirklich gefragt?

Mir wird schlecht... und schwindelig. Alles dreht sich, um mich herum, in mir...

Ich stütze meinen Kopf auf meiner Hand ab.

Hilfe!

„Ja.“ Seine Stimme... Viel zu ruhig...

Dies muss ein Traum sein!

Es kann doch gerade nicht wirklich darum gehen, ob...

„Und?“

NEIN!

Ich will es nicht hören... Ich...

„Können wir in deinem Büro darüber sprechen?“ Immer noch klingt er viel zu ruhig... bei diesen Worten, die mir erneut einen Stich versetzen.

„Natürlich.“

Sie stehen auf... gehen... ich kann mich noch immer nicht bewegen, obwohl ich es gerade so gern würde...

Moment!!

Ich will es doch hören! Ich will wissen, was du sagst, ich will...

„Kida?“

Eine Hand auf meiner. Sofort zucke ich zusammen, ziehe sie zurück, sehe erschrocken in das besorgte Gesicht vor mir.

Mir ist schlecht und ich will schreien... will aus diesem Traum erwachen.

„Ich...“, stottere ich, lege die Stäbchen, die ich bis eben noch verkrampft in der Hand hielt, auf den Teller. „Kann... ich aufstehen?“

Hier mit ihr zu sitzen... ich ertrage es nicht.

Sie nickt, ich stehe auf... viel zu schnell und fluchtartig. Verlasse genau so die Küche, wobei mein Blick auf die Bürotür fällt. Ich will nichts hören... und doch will ich lauschen...

Mit schnellen Schritten gehe ich die Treppe hinauf in sein Zimmer, bleibe direkt hinter der Tür stehen, atme schwer, als hätte ich einen Dauerlauf hinter mir. Ich zittere am ganzen Körper.

Das kann doch einfach nicht wahr sein...

„Hast du schon darüber nachgedacht wieder nach Boston zu ziehen?“

Nein, das kann nicht... das darf nicht...

„wieder nach Boston“

Wieder nach Bosten... wieder zurück... zurück nach Boston... weg von hier... von... mir...

Ich presse mir die Hand vor den Mund um nicht zu schreien, spüre wie Tränen aufkommen.

Ich darf jetzt nicht weinen oder schreien, darf jetzt nicht so verzweifelt sein...

War das nur eine rhetorische Frage und ist es vielleicht schon beschlossen?

Wirst du... mich verlassen?

Ich sinke an der Tür hinab, vergrabe meine Finger in meinen Schultern...

Das darf einfach nicht sein. Du darfst mich nicht verlassen... du darfst nicht gehen... ich will nicht, dass du gehst... ich will nicht...

Ich springe wieder auf, schaffe es einfach nicht, ruhig hier zu sitzen. Ich gehe einen Schritt in den Raum, bleibe erneut stehen... starre auf das ungemachte Bett und unsere Rucksäcke daneben. Es treibt mir die Tränen in die Augen.

Schnell wische ich sie weg, zwinge mich dazu, nicht zu weinen. Ich darf nicht!

Ich laufe herum, im Zimmer. Sammle ein paar Sachen von mir zusammen, die auf dem Boden oder dem Schreibtisch liegen, lege sie ordentlich auf einen Stapel...

Als ich fertig bin, sinke ich aufs Bett. Ich kralle meine Finger ins Bettlaken und starre auf die leuchtenden Digitalziffern. Ich drehe durch!

Ich wende meinen Blick wieder ab, habe das Gefühl, alles plötzlich so ganz anders zu sehen, wie sonst... So als würde es sich mir alles ins Gedächtnis einbrennen wollen.

Am Ende bleibe ich bei einem Bild hängen.

„Das ist Boston... Da hab ich gelebt, bevor ich hier her kam...“

„Es sieht schön dort aus...“

„Ist es auch... Nicht so grau und hässlich wie Tokyo...“

...

„Und? Vermisst du Boston?“

„Ja, sehr... Es gibt keine schönere Stadt für mich...“

...

„Hast du schon darüber nachgedacht, wieder nach Boston zu ziehen?“

Ich weiß, dass du Boston liebst, die Leute, die dort auf dich warten... du bist nicht freiwillig hier.

Krampfhaft wende ich meinen Blick von dem Bild ab.

Du willst zurück, nicht wahr? Du hast es dir gewünscht... und jetzt wird es dir erfüllt... jetzt wirst du gehen, zurück, nach Boston...

Und du wusstest es! Warst du deshalb in den letzten Tagen so komisch? Weil du nicht wusstest, wie du mir sagen sollst, dass bald alles vorbei ist? Weil du bald nicht mehr hier sein wirst...?

Und dann? Was tue ich dann... ohne dich? Kann ich überhaupt noch ohne dich sein? So dämlich es klingen mag, ich kann mir einfach schon nicht mehr vorstellen, dass du nicht hier bist... ich wollte doch nur... Ich will doch nur bei dir bleiben.
 

Geräusche.

Mit einem Mal schlägt mein Herz noch schneller, wenn das überhaupt noch möglich ist... so unerträglich schnell.

Wirst du mir jetzt sagen, dass alles vorbei ist? Ich ertrage das nicht!

Ich stehe auf, kann gerade jetzt nicht ruhig sitzen bleiben.

Nach einem Moment der Stille öffnet sich die Tür. Noch nie zuvor hatte ich solche Angst davor, dich zu sehen. Wie wirst du mich anschauen?

Was wirst du sagen?

Will ich es wirklich hören?
 

Sein Blick ist... fremd. Er sieht traurig aus, irgendwie ängstlich, und...

„Es tut mir leid...“, spricht er und sieht mich an. „Ich hatte eigentlich vorgehabt, es dir schon längst zu sagen.“

Ich halte dem Blick nicht stand, drehe mich weg. Ich ertrage es nicht, dies nun zu hören. Ich bin nicht stark genug dazu.

Er kommt auf mich zu, ich will zurückweichen... tue es in dem Moment, als sich eine Hand an meinen Arm legt, als er wieder zu sprechen beginnen will: „So mei-“ Ich schlage seinen Arm weg.

„Ich brauch dein Mitleid nicht!“, spreche ich etwas zu laut, sehe in seine Augen.

Verdammt, verstehst du nicht, dass deine Entschuldigung alles nur noch viel schlimmer macht?

„Lass mich doch einfach in Ruhe!“

Doch wieder kommt er auf mich zu.

Bleib weg von mir!

„Das hast du ganz-“

„Lass mich los! Verdammt!“ Ich winde mich aus seinem Griff, der meine Arme hält, sie nicht freigeben will.

Ich will nicht weinen!

„Ich werde nicht gehen!“

Stille.

Ich starre ihn an.

Das... hat er tatsächlich gesagt, dass...? Aber... das kann nicht sein. Er wollte doch zurück... er...

Ein kleines Lächeln bildet sich auf seinen Lippen.

Das kann nicht sein...

Wieso...?

„Willst du... mich verarschen?“, frage ich stockend.

Nein, es kann einfach nicht sein...

Er kommt mir näher. Ich will zurückweichen, doch er hält mich fest, legt mir die Hand in den Nacken und zieht mich zu sich.

„Niemals.“, flüstert er und seine ernste Stimme verschmilzt in einen Kuss.

Noch immer starre ich ihn an... Noch immer, auch jetzt, da seine geöffneten Augen genau vor den meinen sind. Noch immer kann ich es kaum glauben, doch jetzt... ich weiß, dass es die Wahrheit ist.

Ich schlinge meine Arme um ihn, presse seinen Körper an meinen. Ich vergrabe meine Finger in seinem Shirt und drücke mich dem Kuss entgegen.

Lass mich nicht mehr los.

Schließlich wage ich endlich, meine Augen zu schließen und als ich mich ganz diesem Kuss hingebe, spüre ich noch, wie etwas Nasses meine Wange hinunterläuft.
 

~ * ~
 

Der Rest des Tages verläuft ruhig... viel zu ruhig vielleicht. Natürlich will ich ihn fragen, wieso so entschieden wurde... natürlich will ich die ganze Sache etwas besser verstehen... doch ich traue mich nicht zu fragen. Was würde ich tun, wenn er sich dann doch noch anders entscheidet? Und genau das will ich nicht, davor habe ich Angst... deshalb frage ich nicht. Egal wieso, du wirst hier bleiben... hier bei mir.

Also sitzen wir die meiste Zeit einfach nur schweigend da. Ich will ihn festhalten, die ganze Zeit, will mich versichern, dass er noch immer bei mir ist. Doch umso länger ich ihn halte, umso öfter ich ihn küsse, ihm in die Augen sehe und die Erleichterung tief in mir spüre, desto mehr wird mir auch bewusst, dass er nicht glücklich ist, zumindest nicht vollkommen. Verständlich... denn immerhin liebt er Boston, hat dort seine Freunde... zu ihnen wird er nicht zurückgehen.

Ehrlich gesagt, tut es weh, ihn so zu sehen... zu wissen, dass er nicht so glücklich ist, wie ich...
 

~ * ~
 

Auch am Montag kommt es zu keinem wirklichen Gespräch. Ich weiß nicht wirklich, was ich tun soll, ob ich lieber etwas sage, oder es einfach so hinnehme, wie es ist. Sakuya ist sehr still, was auch seiner Mutter nicht verborgen bleibt. Mit einem irgendwie besorgtem Blick schlägt sie vor, ob wir uns nicht die Wettkämpfen zum heutigen Taiiku no Hi ansehen gehen wollen. Mir gefällt die Idee und auch Sakuya stimmt zu. Vielleicht schaffen es ja diese Sportspiele ihn wieder aufzumuntern...

Mein Hoffen ist vergebens. Es scheint ihm nicht wirklich Freude zu bereiten, die kämpfenden Mannschaften zu beobachten und auf meine Versuche, mit ihm ein normales Gespräch zu führen, geht er nur spärlich ein.

Irgendwie ist Sakuya Verhalten dem der vergangene Woche sehr ähnlich... als er mir aus dem Weg ging und nicht wirklich er selbst zu sein schien. Dies ist er immer noch nicht, selbst wenn er versucht, so zu wirken... Egal, wann sich ein Lächeln auf seine Lippen stielt oder er doch irgendwie kurz fröhlich er zu sein scheint, so ist doch nicht zu übersehen, dass er sich eigentlich überhaupt nicht danach fühlt...
 

Als wir am Abend wieder zurück sind, ich mich eigentlich gerade frage, was wir die restliche Zeit noch tun sollen, lässt Sakuya mich plötzlich stehen mit dem Satz, er käme gleich wieder.

Lange starre ich auf die geschlossene Tür, fühle mich mit einem Mal noch viel unwohler als zuvor. Ich lasse mich aufs Bett sinken, sehe zur Uhr.

Dies tue ich in der nächsten Stunde noch öfter.

Wo bist du? Was machst du so lange? Wolltest du mich einfach nicht mehr bei dir haben?

Ich fühle mich schrecklich hilflos. Was soll ich tun, damit es dir besser geht? Kann ich denn überhaupt irgendetwas tun? Ich weiß ja nicht einmal wirklich, in wie weit die Frage deines Vaters überhaupt ernst zu nehmen war oder worüber genau du in den Tagen zuvor so viel nachgedacht hast... worüber du noch immer nachdenkst.

Du erzählst es mir nicht und ich habe nicht gefragt... Ich weiß lediglich, dass diese Sache im Raum stand, dass es irgendwie darum ging, ob ihr zurück nach Boston geht... und dass du schon vorher etwas davon wusstest... Wie genau das alles aussah, davon habe ich keine Ahnung...

Wie bloß soll das alles weiter gehen?
 

~ * ~
 

Am nächsten Tag ist all das natürlich noch bei weitem nicht vergessen, doch bestimmen an diesem Dienstag auch noch andere Dinge meine Gedanken... und zwar die bevorstehenden zwei Wochen, in denen alle möglichen Tests geschrieben werden.

„....Sie werden nicht gewertet, sondern dienen nur dazu, dass ihr euch selbst besser einschätzen könnt...“, wird uns bereits in der ersten Stunde der genaue Verlauf nochmals erklärt. „Danach wisst ihr, worauf ihr euch besonders konzentrieren müsst...“

Ich seufze, senke den Blick auf meinen Block. Meine größte Schwachstelle wird wohl immer noch Englisch sein, obwohl ich durch das Lernen mit Sakuya schon ein wenig sicherer geworden bin... Ansonsten bereitet mir besonders Historische Geschichte Kopfzerbrechen, denn selbst wenn es eigentlich ganz interessant ist, was hier erzählt wird, ist es dennoch eine der Unterrichtsstunden, in denen man viel zu leicht seinen eigenen Gedanken nachhängen kann...

Ich sehe Sakuya an, der neben mir sitzt. Er starrt vor sich hin.

Du denkst nicht nur an deine Probleme in Mathe, nicht wahr?

Ich wende meinen Blick wieder ab. Auch wenn ich jetzt gerne meine Hand einfach nur auf seinen Arm legen würde, so kann ich das hier nicht tun...

Folgend bekommen wir nun die genauen Pläne ausgeteilt, wann welcher Test stattfinden wird, da diese nicht immer nur in den eigentlichen Schulstunden abgehalten werden. Bereits morgen geht es los für mich, mit japanischer Geschichte und Chemie, am Donnerstag folgen Informatik und Politik... Englisch steht erst für nächste Woche auf dem Plan.
 

„Oh Mann, wie sollen wir denn zu Morgen dieses ganze Zeug wissen?!“, stöhnt Kyo, als die Stunde vorbei ist.

Auch Sakuya sieht uns kurz klagend an, sagt aber nichts dazu. Dann wendet er sich seinen Biologiesachen zu. Kyo und ich verlassen schließlich gemeinsam den Raum. Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir, statt Geographie nun Bio zu haben...

Auf dem Flur begegnen wir Sanae, der Kyo auch sofort sein Leid vorträgt. Es folgt eine kleine stichelnde Aussage, dann Kyos schmollendes „Dafür bist du nächstes Jahr dran!“

Lachend verabschiede ich mich von den Beiden und setze meinen Weg zur nächsten Stunde alleine fort.
 

~ * ~
 

Nachmittags kommt Kyo mit zum Lernen und so verbringen wir die meiste Zeit damit, irgendwie den Stoff in unsere Köpfe zu bekommen. Selbst wenn es nur blöde Tests sind, so will man dennoch ein gutes Ergebnis erreichen... vielleicht um sich selbst ein wenig sicherer fühlen zu können, was die Gedanken an die Abschlussprüfungen betrifft.

Sakuya ist relativ still während den paar Stunden, die wir so zu dritt verbringen. Eigentlich nicht wirklich still, aber er ist bei weitem nicht so fröhlich und aufgedreht wie es normalerweise der Fall ist... und das liegt gewiss nicht am Lernen. Ich weiß nicht, ob dies auch Kyo auffällt, mir jedenfalls fällt es schwer, das zu übersehen... Warum wollte Sakuya eigentlich nicht, dass er davon erfährt?
 

Abends, als wir im Bett liegen, er fest an mich gedrückt, denke ich noch immer über die Sache nach. Vielleicht sollte ich dich doch einfach mal fragen, was genau los war... aber was, wenn du nicht darüber sprechen willst, wenn es dich dann nur noch trauriger macht...?

Du wolltest immer zurück nach Boston...

Scheinbar war es im Gespräch, dass dieser Wunsch eventuell in Erfüllung gehen wird...

Doch du wirst nicht gehen, was auch immer der Grund dafür ist... Und scheinbar ziehst du es vor, Beweggründe und alles weitere für dich zu behalten...

Aber wenn ich ehrlich sein soll, so finde ich es ungerecht... nein, das ist vielleicht das falsche Wort... aber ich bin traurig... ich finde es schade, dass du nicht mit mir sprichst, wo es doch so deutlich ist, dass dich das Thema noch immer beschäftigt...

Was hat entschieden, dass du doch hier bleibst, oder war es von vornherein eine rein theoretische Frage gewesen?

Bist du wirklich glücklich mit dieser Entscheidung? Oder wärst du lieber zurück nach Boston gegangen, hättest mich allein gelassen? Mich für dein Leben in Boston aufgegeben.... Schlimmerweise könnte ich das sogar noch irgendwie verstehen, egal wie sehr es schmerzt... Und genau das ist der Grund, weshalb ich so gerne wüsste, wie du über all das denkst... Ob du dich trotzdem freust, bei mir zu bleiben...

Wie hättest du entschieden, wenn du es könnest? Boston oder Tokyo...?

„Sakuya?“

„Hm?“

Ich spüre, wie er den Kopf hebt, selbst wenn ich ihn in der Dunkelheit nicht erkennen kann.

„Ich...“, setze ich zögernd an.

Ja, was will ich ihn fragen? „Was würdest du lieber?“ oder „Bist du glücklich?“

Aber ist es nicht gemein, eine solche Frage zu stellen? Würde ich ihn damit nicht in die Enge treiben, eine Entscheidung fordern, die er vielleicht nicht treffen kann? Würde ich ihn tatsächlich fragen... macht das nicht alles noch so viel schlimmer?

„Kida?“, kommt es fragend.

„Nichts...“ Ich seufze, beuge mich vor und küsse ihn, bevor er noch etwas sagen kann.

Nein, ich habe nicht das Recht darauf, irgendeine Entscheidung zu fordern...

Trotzdem, ich will dich doch nur endlich verstehen...
 

~ * ~
 

Dass ich gestern mit meinen Gedanken irgendwie woanders und beim Lernen nicht wirklich bei der Sache war, wird erst in Chemie deutlich. Ich weiß genau, dass wir einige der Fragen, die ich nun vor mir auf den Zetteln sehe, auch gestern durchgesprochen haben... doch beim besten Willen kann ich mich an kaum etwas davon noch so richtig erinnern. Egal wie sehr ich in meinem Kopf krame, komme ich auf keine Lösungen, die mir irgendwie bekannt erscheinen, so als hätte ich sie schon gestern besprochen. Leider hilft auch der verzweifelte Versuch, sich an die Unterrichtsstunden zu erinnern, nur bei ein paar Fragen wirklich weiter...

So kann ich zumindest die Theoriefragen eher schlecht als recht beantworten und muss mich wohl entweder viel mehr für die Abschlussprüfung anstrengen, oder hoffen, dass diese nur aus Formeln besteht... Heißt also, mehr anstrengen, lernen und konzentrieren, da unser Lehrer wohl wirklich eher Theorie abfragen wird...

Japanische Geschichte läuft leider auch nicht gerade so, wie ich es mir erhofft hatte, aber zumindest schaffe ich es, mich an ein bisschen was aus dem Unterricht zu erinnern. Verdammt, die Sache mit Sakuya bereitet mir mehr Ablenkung, als ich es gedacht habe...
 

Auf unsere Weg zurück, der uns diesmal allerdings zu Kyo führt, redet er wie ein Wasserfall, bespricht mit Kyo einige der angefragten Sachen. Ich kann währenddessen nur zuhören und mir noch deutlicher werden, dass meine Chemieprüfung tatsächlich einem Reinfall gleichkommt...
 

Es ist das erste Mal, dass ich bei Kyo bin. Sein Zimmer weist nichts Außergewöhnliches auf, außer das große Regal mit unzähligen Mangas darin.

Wir setzen uns auf den Boden und beginnen zu lernen... Politik. Diesmal versuche ich mich voll und ganz auf den Stoff zu konzentrieren, den wir durcharbeiten. Tatsächlich klappt dies sogar besser als erwartet...
 

Gegen Acht Uhr ist es, als wir uns auf den Heimweg machen. Zumindest sieht es danach aus, bis Sakuya sagt, dass er eigentlich noch gar keine wirkliche Lust hat, nach Hause zu gehen.

„Wie wärs, wenn wir hier aussteigen, und noch ne Cola trinken gehen?“, fragt er, als die Haltestelle angesagt wird, bei der das doubleX liegt.

Irgendwie verwundert sehe ich ihn an, stimme dann aber zu. Es ist das erste Mal, dass er vorschlägt, ins doubleX zu gehen... und irgendwie freut es mich, nachdem er mir ja am Freitag so deutlich gesagt hat, dass er Tatsuya nicht leiden kann...
 

Schließlich im doubleX angekommen, ist die einzig bekannte Person Sai, der in letzter Zeit auch ständig hier zu sein scheint. Diesmal allerdings befindet er sich in Begleitung einer jungen Frau. Während wir unsere Jacken am Ausgang aufhängen, sehe ich verstohlen zu ihnen.

„Wer ist das denn?“, frage ich flüsternd und er zuckt die Schultern. Irgendwie interessiert es mich wirklich brennend...

Zögernd gehen wir hinüber. Sai begrüßt uns lächelnd und stellt uns dann auch sogleich seine Begleitung vor: Chiga Hinako, seine Verlobte.

Eine Überraschung, mit der ich ehrlich gesagt nicht gerechnet hätte. Ich meine... ich habe nicht mit Tatsuya über Sai geredet, weiß nicht, was zwischen ihnen war... aber irgendwie dachte ich schon, dass da irgendwann einmal etwas zwischen ihn war...

Chiga lächelt, als sie uns die Hand hinstreckt, freundlich und dennoch ein wenig reserviert. Sie wirkt wie eine strenge Geschäftsfrau, dabei schätze ich sie nicht viel älter ein als Tatsuya...

„Tatsuya kommt gleich...“, sagt Sai im nächsten Moment als hätte er meine Gedanken an jenen erraten. „Er musste noch kurzfristig in der Uni was fertig machen...“

„Seid ihr verabredet?“, frage ich sinnloser Weise, woraufhin ich ein Nicken als Antwort erhalte.

Der im Moment einzige anwesende Barkeeper nimmt Sakuya und mir unsere Bestellung ab... danach entscheiden wir uns dazu, an einem Tisch Platz zu nehmen. Sai und Chiga bleiben an der Theke sitzen.

„Seine Verlobte?“, flüstert Sakuya, als wir außerhalb der Hörweite der beiden befinden. „Ich dachte...“

Ich nicke. „Ja, ich auch...“

Verstohlen blicke ich zu den beiden hinüber. Zum ersten Mal erwische ich mich bei dem Gedanken, ernsthaft über das Verhältnis zwischen Tatsuya und Sai nachzudenken. Was war bloß zwischen ihnen?

Unsere Getränke werden gebracht und ich starre in meine Cola, dann auf Sakuyas Finger, die er um sein Glas gelegt hat. Irgendwie weiß ich nicht recht, was ich zu ihm sagen soll... Seit Sonntag fällt es mir unheimlich schwer, ein unverfängliches Gesprächsthema zu finden, selbst wenn er heute wieder viel normaler wirkt...

„Ach, da fällt mir was ein!“, unterbricht Sakuya da die Stille. „Wir haben am Sonntag ein Spiel!“ Die Begeisterung bei diesen Worten ist deutlich zu hören.

„Echt?“

Er strahlt noch immer... es ist schön. Ja, es tut gut, ihn mal wieder etwas fröhlicher zu sehen.

In den folgenden Minuten erzählt Sakuya von dem bevorstehenden Spiel und dem heutigen Training... und auch davon, dass der Baseballclub für die Oberstufe bald nicht mehr stattfinden wird. Ein Punkt, der die Fröhlichkeit wieder etwas trübt. Ein kurzes Seufzen.

„Wie ist das bei euch im Musikclub?“

„Keine Ahnung ehrlich gesagt...“

Ich nippe an meinem Glas... und gerade als ich weitersprechen will, geht die Tür auf. Tatsuya und Ryouta kommen hinein. Sogleich spüre ich, wie mir ein klein wenig anders wird. Nur zu gut erinnere ich mich an Freitag, an die kurze Bemerkung von Tatsuya.

„Sakuya scheint Ryouta gut zu tun... Er ist sonst oft sehr ernst... Ich denke Ryouta kann ihn gut leiden...“

Ich weiß, dass Tatsuya nicht mehr meinte als das, was er gesagt hat... doch wenn auch nur ein bisschen an Eifersucht bereits besteht – entstanden zum Beispiel dadurch, wenn der kranke Freund bei einem anderen schläft – dann ist so eine Bemerkung mehr wert. Ryouta mag Sakuya, das ist nicht zu übersehen... doch wie weit, geht dieses „mögen“ wirklich? Oder interpretier ich da zuviel hinein?

Die beiden Neuankömmlinge haben uns entdeckt. Während Tatsuya uns kurz zuwinkt, dann aber bei Sai und Chiga stehen bleibt, kommt Ryouta schnell zu uns hinüber. Er lächelt... mehr zu Sakuya als zu mir.

„Darf ich mich zu euch setzen?“

„Klar!“

Sakuya scheint sich über den Besuch zu freuen, doch ich würde Ryouta am liebsten sagen, er soll wieder gehen...

Verdammt, ich glaube, langsam werde ich ungerecht...

Ich schenke ihm ein Lächeln, erhebe mich dann.

„Ich sag mal Tatsuya hallo...“, sage ich und verlasse die beiden.

Verdammt, ich bin tatsächlich eifersüchtig!

Tatsuya spricht gerade mit seinem Kollegen, als ich zum Tresen komme, handelt sich noch zehn Minuten Pause aus, bevor er die Schicht übernehmen wird. Dann zieht er sich einen Barhocker heran und begrüßt mich, beginnt anschließend ein kleinwenig zu klagen... Er habe wegen diesem Projekt von der Uni so wenig Zeit im Moment.

„Schlafen ist Mangelware...“ Er lacht Sai und Chiga an. „Ihr beide habt es echt gut...“

„Na, so toll ist das Berufsleben auch nicht...“, erwidert Sai. „Vielleicht hätte ich doch noch ein Semester dran hängen sollen...“ Sein Blick trifft mich. „Was ist eigentlich mit dir? Du gehst doch noch zur Schule, oder?“

„Ja...“ Ich zögere, komme mir plötzlich wieder viel zu jung für diese Gruppe vor, kann ich doch eigentlich gar nicht mitreden. „Ich mache gerade meinen Abschluss...“ Ich werde rot.

„Und danach?“

„Ich weiß noch nicht...“ Irgendwie ein wenig hilflos sehe ich Tatsuya an. Ich hasse dieses Thema...

„Weißt du was?“, meint Tatsuya da, bevor Sai weiter fragen kann. „Nächste Woche kommst du mich mal auf der Uni besuchen, okay?“

Ich nicke zögernd... Langsam sollte ich mich wohl erst mal entscheiden, was ich überhaupt machen werde...

„Ich komm gleich wieder...“ Chiga steht auf und verschwindet in Richtung der Toiletten.

Tatsuyas Blick folgt ihr kurz, bevor er Sai ansieht. Dieser lächelt und einen Moment lang sehen die beiden sich einfach nur an.

„Sie ist hübsch.“ Damit erhebt Tatsuya sich, geht um den Tresen herum und verschwindet in der Tür dahinter.

Ein schneller Abgang, bei dem ich mich wieder frage, was genau diese beiden eigentlich verbindet. Ich sehe Sai an... und werde mir bewusst, dass ich eigentlich noch nie wirklich mit ihm gesprochen habe. Zögern setze ich mich auf den freigewordenen Barhocker.

„Dir scheint es immer noch nicht viel besser zu gehen...“, lächelt er, was mich ihn überrascht anschauen lässt.

Ich zögere und nicke, weiß nicht wirklich, was ich darauf erwidern soll.

Sein Blick schweift in Richtung Sakuya und Ryouta. Ich folge dem.

Die beiden scheinen in ein Gespräch vertieft zu sein und ich komme nicht davon ab, dass es mich augenblicklich wieder zu stören beginnt. Ich würde gerne wissen, worüber sie reden, selbst wenn es nur belanglose Dinge sind... dennoch habe ich irgendwie nicht das Verlangen, zu ihnen hinüber zu gehen...

Ich sehe wieder Sai an, will irgendetwas unverfängliches sagen...

„Reden ist immer besser, als Schweigen!“, wirft da plötzlich Tatsuya ein, der sich, nun in Barkeeperkleidung, zu uns über die Theke lehnt.

Verduzt sehe ich ihn an, doch er lächelt mich nur vielsagend an. Woher weiß er...?

Seufzend nicke ich schließlich jedoch, woraufhin er mir kurz durch die Haare wuschelt.

„Lass das...“, grummle ich, schiebe die Hand weg, und komme mir schon wieder irgendwie wie das Kind unter ihnen vor...
 

Chiga kommt zurück, Tatsuya schenkt uns eine neue Runde Getränke aus, und ein paar Minuten später kommen schließlich auch Sakuya und Ryouta zu uns hinüber.

Sakuya stellt sich dicht neben mich und kurz spüre ich seine Hand, die meine Schulter berührt... doch dann ist sie auch schon wieder weg. Ich sehe ihn an und er lächelt, wirkt irgendwie ein kleinwenig anders, wie noch zuvor...

Ich will dich küssen...

Resignierend wende ich mich wieder meinem Glas zu, steige in das laufende Gespräch mit ein... und freue mich darauf, nachher wieder mit Sakuya allein zu sein.
 

~ * ~
 

Es ist gegen halb Zehn, als dies nach einem verspäteten Abendessen schließlich der Fall ist. Schweigend packen wir beide unsere Rucksäcke für den morgigen Tag um. Sakuya legt sein Politikbuch aufs Bett.

„Lass uns noch ein paar Fragen durchgehen...“

Ich stimme dem zu, auch wenn meine Gedanken sich eigentlich gerade um alles, aber nicht um Politik drehen wollen.

Einen Moment später, bettfertig und mit dem Buch bewaffnet, lehnt Sakuya sich an die Wand, während ich mich hinlege... ihn ansehe.

Er stellt mir ein paar Fragen, deren Antworten ich größten Teils stockend zusammenbekomme... doch umso länger wir so lernen, desto mehr habe ich das Gefühl, mein eigentliches Ziel für den heutigen Abend wieder aus den Augen zu verlieren.

Irgendwie hat Tatsuya nämlich recht... Ich sollte mit ihm reden.

Ich greife nach Sakuyas Hand. Er erwidert den Druck, beginnt dann, die nächste Frage zu stellen. Ich höre sie nicht einmal richtig.

Fragend schaut er zu mir hinunter, abwartend.

Wie soll ich bloß anfangen?

Ob es vielleicht doch falsch ist, das Thema aufzubringen... gerade jetzt?

„Na komm...“ Er lächelt. „Jahreszahl reicht auch... Das weißt du doch...“

Ich schüttle den Kopf und er wiederholt die Frage.

Zögernd richte ich mich auf, knie mich vor ihn, seine Hand noch immer in meiner. Sein Blick wird noch fragender, verwirrter, erst recht, als ich ihm das Buch aus der Hand nehme. Ich küsse ihn... er streckt die Beine aus, so dass ich auf ihn krabbeln kann.

Langsam löse ich mich wieder von ihm, lehne meine Stirn gegen sein.

Mit ihm darüber reden... Aber wie? Über was genau? Und was erhoffe ich mir eigentlich davon?

Zärtlich streiche ich ihm durch die Haare, lasse meine Finger über sein Ohr und den Hals gleiten...

Du sollst wissen, wie ich fühle, sollst wissen, dass du ehrlich zu mir sein kannst...

Sanfte Finger streichen in meinen Nacken, ein paar Mal durch meinen Haaransatz. Ein schönes Lächeln auf seinem Gesicht. Dann zieht er mich näher, haucht mir einen Kuss auf die Lippen.

„Ich liebe dich“, ist das Einzige, was ich letztendlich sage.
 

~ * ~
 

In den folgenden Tagen wird Sakuyas Laune zunehmend besser. Zwar merkt man immer mal wieder, dass er mit seinen Gedanken woanders ist, doch dies scheint ihn nicht mehr so runterzuziehen. Die größte Änderung wird am Donnerstagabend deutlich, als er nach einem Treffen mit Ryouta zurück kommt. Es ist offensichtlich, dass es ihm um einiges besser geht. Dies schürt verständlicherweise meine Eifersucht, die ich schon verspürte, als er mir erzählte, dass er zu Ryouta gehen wird. Wieso schafft es dieser Typ, dass Sakuya nun plötzlich irgendwie erleichterter wirkt? Erzählt Sakuya ihm etwas, von dem ich nichts weiß? Allein dieser Gedanke stört wahnsinnig...
 

Wenn wir nicht gerade unseren Gedanken nachhängen, so verbringen wir in diesen Tagen viel Zeit mit lernen. Hierbei stehen besonders Englisch und Mathe im Mittelpunkt, beides Prüfungen, die nächste Woche geschrieben werden. Während ich Texte übersetzen oder gar neu schreiben soll, bearbeitet Sakuya Matheaufgaben... Es ist ein ruhiges Miteinander und irgendwie ist es schön.

Abends im Bett schließlich werden die Gedanken von dem Schulischen gelöst und wir stellen uns anderen, viel schöneren Aufgaben. Wir zeigen einander, wie wichtig wir uns sind, er sagt mir nicht nur ein Mal, wie sehr er mich liebt...

Ganz langsam habe ich das Gefühl, dass wieder die Normalität zurückkehrt... dass wieder alles so ‚normal’ wird, wie es das vor meiner Abreise nach Hamamatsu noch war. Sakuya lacht wieder viel mehr, viel fröhlicher...

Und so schaffe auch ich es, mich von meinen Sorgen langsam zu lösen... spätestens, als ich ihn am Sonntag bei dem Spiel sehe.
 

„Ich bin ganz aufgeregt!“, sagt Sanae, die neben mir auf der Tribüne sitzt.

Hibbelig scharrt sie mit ihren Füßen herum, sieht immer wieder zu den Kabinen hinüber.

„Du bist ja schlimmer, als Sakuya und Kyo zusammen!“, necke ich, muss lachen. „Ich dachte schon, die beiden seien aufgeregt wegen dem Spiel... aber du übertriffst sie bei weitem...“

„Ich weiß...“, kommt es mit einem kläglichen Grinsen. „Ha, da kommen sie!“

Ich folge ihrem Blick zu den Kabinen, wo Sakuyas Mannschaft gerade herauskommt. Die Cheerleader beginnen sofort, zu grölen, was die Jungs grinsen lässt. Sakuyas Blick schweift herum, trifft auf meinen. Er lächelt mir kurz zu, bevor er irgendwas zu Kyo sagt, der daraufhin Sanae zuwinkt. Ich spüre förmlich, wie das Mädchen neben mir dahinschmilzt.

„Er sieht ja so gut aus!“, schwärmt sie, seufzt und lehnt sich gegen mich.

„Ja...“, stimme ich zu.

Ich zwinkre ihr zu, sehe dann wieder zu unserer Schulmannschaft hinüber, die mittlerweile auf einer Bank platzgenommen hat und sich bespricht. Gerade heute sieht Sakuya wirklich klasse aus... vielleicht macht das auch die Freude, die er schon jetzt an diesem noch nicht mal begonnenen Spiel hat...

Irgendwie war es schön, diese Euphorie bei ihm zu sehen.
 

Auch die andere Mannschaft, die hier ihr Heimspiel hat, betritt das Feld, versetzt seine eigenen Cheerleader in ähnliche Begeisterungsrufe. Die Spieler hingegen weisen weniger Freunde auf, wie unsere Leute zuvor. Sie wirken bei weitem nicht so fröhlich, und dass, obwohl hier viel mehr ihrer Fans sind, sind wir doch in ihrer Schule...

„Siehst du den?“ Sanae deutet auf einen besonders grimmig schauenden Jungen. „Der sieht aus, als würde es um sein Leben gehen...“ Sie lacht, winkt im nächsten Moment Kyo zu, der zu uns hinüber schaut.
 

Die Mannschaften nehmen Aufstellung und das Spiel beginnt damit, dass unsere Mannschaft am Schlag ist...

Schnell wird klar, dass es sich bei den Gegnern nicht gerade um eine schlechte Mannschaft handelt und für mich selbst unerwartet, baut sich in mir eine richtige Spannung auf. Baseball ist nicht gerade mein favorisierter Sport, und dennoch fiebere ich mit, als habe ich nie etwas anderes toll gefunden.

Verständlicher Weise kann ich mich gerade dann, wenn Sakuya am Schlag ist, richtig schwer zurückhalten. Am liebsten würde ich ihn laut anfeuern, so wie Sanae es tut, doch ich reiße mich zusammen...

Und auch ohne meine Anfeuerungsrufe, ist er einfach in bester Form, trifft alle Bälle, so dass sie weit hinausfliegen... außer einen, bei dem ihm plötzlich der Schläger aus den Händen gleitet.

Die Spieler, die im Schussfeld stehen, ducken sich oder springen zur Seite, die Cheerleader beginnen zu kreischen, und Sakuya sieht wahnsinnig geschockt aus... als das Geschoss allerdings aufgeschlagen ist, ohne jemanden verletzt zu haben, ist bei allen Anwesenden die Erleichterung deutlich zu sehen. Auch auf Sakuyas Gesicht erstrahlt ein Lachen, als er den Schläger holen geht und sich bei den gefährdeten Spielern entschuldigt... Beim nächsten Schlag gelingt ihm ein Home Run.
 

Der Rest des Spiels verläuft ohne weitere Sonderheiten und unsere Mannschaft gewinnt schließlich mit fünf zu vier Innings, nach einem wirklich dramatischen Unentschieden. Sakuya strahlt, als wir von der Tribüne steigen und zu ihnen hinuntergehen. Er ist vollkommen ausgepowert, sieht jedoch auch unbeschreiblich glücklich aus.
 

Part 25 – Ende
 

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~ Inning

~ Taiiku no Hi
 

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Part 26

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Sakuya (by littleblaze)
 

... mit ihm darüber reden... es ihm sagen, ich konnte es nicht. So viele Gründe, die mich davon abhielten... alles, viel zu viel...

Ich schließe die Tür hinter mir, verkrampfe meine Hand um den Türknauf. Es fällt mir schwer, gelassen zu wirken, ruhig zu bleiben...

„Also?“

Ich trete näher an den Schreibtisch heran, schnappe mir den etwas makaberen Briefbeschwerer. Mein Blick fällt auf das hässliche Bild an der Wand.

„Tokyo... ich will in Tokyo bleiben“, bringe ich mit fester Stimme über die Lippen, meine Finger verkrampfen sich um den Klumpen in meinen Händen.

„Sicher? Damit hätte ich aber gar nicht gerechnet“, kommt es gelassen. „Wie kommt’s?“

„Ich bin kurz vor dem Abschluss, Dad.“ Ich lasse den Briefbeschwerer vorsichtig auf den Tisch gleiten, obwohl meine Hände danach verlangen, ihn weiterhin festzuhalten wie einen rettenden Strohhalm. „Wieder alles abbrechen, wieder von vorne anfangen... gerade, so kurz davor...“

„Du wirst ja langsam richtig erwachsen.“ Er lächelt mich an, zieht seine Aktentasche auf den Tisch, kramt darin herum. „Na gut, damit wäre das dann ja wohl entschieden.“

Eigentlich das Stichwort zu gehen, doch kann ich mich keinen Schritt bewegen. Sollte ich ihm erzählen, was wirklich in mir vorgeht, worum es wirklich geht?

„Ist noch etwas Sakuya?“

Ich schüttle leicht mit dem Kopf, doch bin ich noch immer nicht wirklich bereit zu gehen. Ich will wissen, was meine Entscheidung alles prägt... was ist, wenn ich in einigen Wochen, Monaten zurück wollte? Würde da immer noch eine Möglichkeit bestehen? Doch kann ich das nicht fragen...
 

Vor der Tür treffe ich meine Mutter. Ich brauche ihr meine Entscheidung nicht mitzuteilen... sie ist eben meine Mutter. Sie drückt mich fest an sich und ich wünsche mir, dass ich stundenlang so in ihren Armen stehen bleiben könnte, doch breitet sich ein stechender Schmerz in mir aus, als mein Blick zur Treppe gleitet.

„Ist er oben?“

Ein Nicken nachdem ich mich von ihr befreie, einem Gespräch entgegengehe, das ich nicht führen will.

Schneller als gewünscht komme ich an meiner Zimmertür an. Ein komisches Gefühl vor der eigenen Tür Angst zu haben. Was mag er von mir, von der ganzen Situation denken? Ob er mich hasst, weil ich ihm so lange nichts gesagt habe... ob er mich verstehen kann, obwohl ich gar nicht bereit bin, ihm etwas zu erklären? Ich kann es nicht, ich will es nicht...

Das, was mich trifft, als ich die Türschwelle hinter mir lasse, ist ein Ausdruck geprägt von einer Menge Emotionen. Ich muss mich stark zusammenreißen, ihm jetzt nicht einfach ein beruhigendes Lächeln entgegenzuwerfen, wie falsch würde das jetzt wohl kommen?

„Es tut mir leid... Ich hatte eigentlich vorgehabt, es dir schon längst zu sagen.“

Wollte ich das? Doch was soll ich sonst sagen?

Er dreht sich weg und sofort wird mir bewusst, dass er meine Aussage missverstanden hat. Ich überwinde einige Schritte, so schwer sie mir jetzt auch fallen

„So mei...“ Er unterbricht meinen Erklärungsversuch, wirft die vorhandene Berührung fort.

„Ich brauch dein Mitleid nicht!“ Seine Stimme wird lauter, habe ich mit etwas anderem gerechnet? „Lass mich doch einfach in Ruhe!“

Bitte, ich schaff das jetzt nicht. Hör auf, mir entgegen zu treten, hör auf... ich kann das jetzt nicht, ich habe im Moment nicht die Kraft dazu. Ich will einfach nur Ruhe, alles soll einfach nur ruhig sein... ich will nicht mehr daran denken müssen.

„Das hast du ganz...“, versuche ich es erneut.

„Lass mich los! Verdammt!“ Abermals windet er sich aus meiner Berührung.

„Ich werde nicht gehen!“, hallt es in den Raum, denn ich schaffe es nicht noch länger um seine Aufmerksamkeit zu kämpfen.

Stille, ein Blick, ein Lächeln meinerseits... ein Wunder, dass ich dazu überhaupt in der Lage bin. Was habe ich alles aufgegeben, für ihn...

„Willst du... mich verarschen?“

Warum kann diese Stille nicht anhalten? Ist das wirklich zu viel verlangt...? Ich ziehe ihn näher an mich heran.

„Niemals.“, flüstere ich. Hoffe, nun alles gesagt zu haben, denn mehr schaffe ich nicht. Ich küsse ihn, sofort umschließt mich ein wärmendes Gefühl, doch kann alle Wärme dieser Welt mich im Moment nicht auftauen.
 

~ * ~
 

Den Rest des Sonntags versuche ich krampfhaft aus meinem Gedächtnis zu streichen.

Immer wieder die Frage, ob meine Entscheidung wirklich richtig war, immer wieder die Angst, dass Falsche getan zu haben.

Warum habe ich mich letztendlich eigentlich so entschieden?

Kyo, die Schule, vieles ist mit mittlerweile hier ans Herz gewachsen, doch hätte ich dies alles mehr oder weniger leicht zurücklassen können. Dass meine Entscheidung wirklich nur von ihm abhängt, kann ich nicht so ganz verstehen.

Natürlich bin ich mir mittlerweile darüber im Klaren ihn zu lieben, aber wie lange ging das jetzt? Ein paar Wochen? Wie können ein paar Wochen alles auslöschen, was mir bis jetzt immer so wichtig war, wie konnte es dazu kommen?

Ich verstehe es... mich nicht, und da bin ich garantiert nicht der Einzige. Kidas fragende Blick hingen unentwegt an mir, doch konnte ich mit ihm nicht darüber reden. Nein, ich kann mit keinem darüber reden...

Ich ließ mich umarmen, küssen, spürte wie glücklich er mit meiner Entscheidung ist, doch in mir drin, konnte ich kein Gefühl der Erleichterung finden, konnte nicht glücklich, aufgrund meiner Wahl sein.
 

~ * ~
 

Montag. Ich verfluche den Tag.

Keine Schule, keine Ablenkung, kein Entkommen... ich will alleine sein, nur ein wenig. Ich will seine Berührungen nicht spüren, will seinem Blick nicht ausgesetzt sein. Doch kann ich mit diesem Wunsch jetzt nicht kommen, würde ich nur noch mehr Unsicherheit säen... mein Kopf steht kurz vor der Explosion. Was wäre, wenn ich anders entschieden hätte, wie würde ich mich dann fühlen? Kann ich noch anders entscheiden? Will ich es?
 

Der Taiiku no Hi bringt mich wenigstens aus dem Haus. Vor einem Jahr war ich schier begeistert von diesem Event, habe sogar selber bei einigen Wettkämpfen mitgemacht, doch heute...
 

Ich bin froh, als sich der Tag dem Ende neigt und ich eine Chance erhalte, mich endlich ein wenig aus seiner Gesellschaft zu stehlen.

Zuerst sitze ich nur auf dem oberen Treppenabsatz, doch schnell kommt die Angst hoch, dass er aus dem Zimmer kommen könnte und mich hier vorfindet, also stehe ich auf.

Unten angekommen bleibe ich schuldbewusst stehen.

„Glaub mir, wenn ich die Wahl hätte, würde ich wieder in Boston leben wollen... aber die habe ich nicht...“

„Wir haben immer gehofft... dass es irgendwann wieder so sein wird wie früher.“

Alles in mir verkrampft sich. Selbst mit ihm kann ich darüber nicht sprechen, er würde es nicht verstehen. Wie soll ich ihm das sagen? Es geht nicht... niemals... doch will ich gerade jetzt so gerne mit ihm reden.

Ich greife nach dem Telefon, nehme es mit mir ins Wohnzimmer.

„Mom?“

„Ja Schatz?“

„Wo ist Dad?“

„Er musste noch mal kurz weg... ist etwas?“

Ich gehe um die Couch herum, meine Mom blickt zu mir auf.

„Nein... ich wollte Kevin anrufen, aber ich schaffe es irgendwie nicht.“

Sie legt ihr Nähzeug zur Seite und deutet mir Platz zu nehmen. Ich setze mich, schmiege mich an ihre Schulter, einige Minuten verweilen wir so.

„Denkst du, dass ich richtig entschieden habe?“ Es ist mehr eine Bitte, mir mein schlechtes Gewissen abzunehmen, doch ernte ich nur ein leichtes Streicheln über meinen Arm

„Es hat nicht wirklich was mit der Schule zu tun, so wie du es Dad vermitteln wolltest, oder?“

„Nein“, halte ich mich kurz.

„Dann kann ich dir leider nicht sagen, ob es richtig war. Das musst du schon selber wissen.“ Ihre Aussage hilft mir natürlich kein Stück weiter, doch bin ich wenigstens ein wenig froh darüber, dass sie mir meinen Entscheidungsgrund nicht übel nimmt.

„Hätte ich es Dad sagen sollen?“

„Du meinst mit dir und Kida?“

„Ja, hätte ich?“

„Nein. Irgendwann Sakuya, aber jetzt noch nicht.“

Ich gebe mir keine Mühe mich damit auseinander zu setzen, warum es wohl das Beste ist, meinem Dad nichts davon zu erzählen, präge mir aber gut ein, mich daran zu halten. Moms Ton gefiel mir nämlich gar nicht.

Es wird wieder nach dem Nähzeug gegriffen und über meinem Kopf hinweg weiter gearbeitet. Ich widme meine Aufmerksamkeit dem Fernseher zu: Ein Erdbeben irgendwo im Norden des Landes, nichts Außergewöhnliches.
 

Eine knappe Viertelstunde später lasse ich die Tür der Speisekammer hinter mir ins Schloss fallen. Ich setze mich auf den kleinen Hocker, der eigentlich dazu gedacht ist, an irgendwelches Zeugs aus den oberen Regalen ranzukommen, und tippe die Nummer 14 in der Kurzwahlliste des Telefons.

Ein überdrehtes: „Irrenanstalt. Sie sprechen mit Doktor Aaron Wyans.“ und im Hintergrund ein schrilles und gedehntes „Mom!“ lassen mich leicht lächeln.

„Hi Aaron.“

„Sakuya?“

„Ja.“

„Ziemlich früh dein Anruf... was gibt’s?“

„Ja, sorry... ich wollte eigentlich auch nur kurz mit Kevin reden. Ist er da?“

„Ja klar... warte.“ „Mom, ich geh Kevin wecken.“ „Ok.“

Ich vernehme Schritte auf der Treppe, das kurze Anklopfen und das Aufreißen der Tür.

Aufwachen! Telefon!“ „Was?“ „Los, steh auf, Sakuya ist dran...“ „Sakuya?“ „Gott, was will der denn so früh“, erklingt eine dritte Person im Stimmengewirr. Ein erdrückendes Gefühl, wollte ich doch keinen Ersatz für mich an seiner Seite dulden und wäre es so einfach gewesen, alles wieder werden zu lassen, wie es früher war.

„Sakuya?“

„Ja.“

„Ist was? Warum rufst du so früh an?“

„Alles in Ordnung. Ich wollte mich eigentlich auch nur kurz melden... ich war ja letztens nicht da, als du angerufen hast.“

„Ach so, ich dachte schon...“

„Was dachtest du?“

„Keine Ahnung, dass irgendwas los ist. Frühe Anrufe sind meistens kein gutes Zeichen.“

„Da magst du Recht haben.“

„Sag mal... ist wirklich alles OK?“

„Klar.“ Ich lasse ein kleines Lachen entstehen. „Ich wollte mich wirklich nur kurz melden.“

„Mmhh...“

„Ich leg dann auch mal wieder auf. Tut mir leid, dass ich dich aus dem Bett geworfen habe.“

„Kein Problem, dass weißt du doch.“

„Ja.“

„Sakuya... jetzt mal ehrlich. Alles in Ordnung?“

Ein Wort bestehend aus zwei Buchstaben liegt mir auf den Lippen, doch schaffe ich es nicht, es auszusprechen. Ich will das Gespräch beenden, dem entkommen, aber auflegen ist nicht, würde nicht funktionieren. Warum habe ich eigentlich jetzt angerufen?

Ich stehe auf, lehne mich nach hinten. Das Regal fängt an zu schwanken, ein Glas fällt zu Boden.

„Sakuya?“, kommt es aufgewühlt.

„War... war nur ein Glas...“, gebe ich leicht erschrocken zurück.

Ich höre genau, dass sein Atem schneller geht, dann wieder ruhiger wird.

„Ruf mich besser gar nicht erst an, wenn du vorhast mich anzulügen.“

„Das...“

„Du willst nicht darüber reden?“

„Nein.“ Ich kann nicht. Es tut mir leid, gerade er hätte ein Recht es zu erfahren.

„Warum rufst du mich dann an?“

„Ich weiß nicht genau.“ Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht... weil ich dich gerade jetzt... so unheimlich vermisse...“

Und wieder nur sein Atem, der diese riesige Entfernung zwischen uns überwindet.

„Bist du noch da?“, frage ich nach, wissend, dass es so ist.

„Ja, aber ich lege jetzt auf... Du weißt, dass ich immer für dich da bin, aber... ich würde mich wirklich freuen, auch mal ein ganz normales... freudiges Gespräch mit dir führen zu können. Und hör bitte auf mich anzurufen, wenn du mir eh nicht erzählen willst, was los ist... Ach, und Sakuya...“

„Ja?“

„Ich vermisse dich auch. Happy Columbus Day“, wird das Gespräch beendet.

Nichts fühlt sich besser an... gar nichts. Im Gegenteil. Alles erdrückt mich, alles in mir schreit immer wieder auf... doch was tun, damit die Stimmen endlich aufhören...? Einfach sagen, dass ich hundertprozentig hinter meiner Entscheidung stehe? Das kann ich nicht, weil es nicht so ist. Vielleicht wäre es besser gewesen, hätte man einfach über mich hinweg entschieden.
 

~ * ~
 

Gestern noch die Ablenkung herbeigewünscht, fühle ich mich nun vollkommen überfordert. Prüfungen für die Prüfungen, welcher Idiot ist denn auf diese Wahnsinnsidee gekommen?

Ich überfliege meinen Testplan kurz... japanische Geschichte und Chemie bereits morgen. Chemie teilt nur Kida mit mir, doch von japanischer Geschichte sind wir alle betroffen.

Den Politikunterricht hinter mir, verlassen Kida und Kyo den Raum. Biologie... endlich ein wenig Ruhe, keine nervigen Gespräche, keine bedrückende Blicke.
 

Abgesehen von der Mittagspause treffe ich nicht noch einmal auf Kida. In Mathematik und Informatik sind wir in verschiedenen Leistungskursen und so lasse ich mich von ein wenig Sanae-Schwärmerei gerne ablenken. Es ist schön, endlich mal an etwas anderes zu denken.
 

Nach der Schule gehen wir alle zu mir, Schwerpunkt: japanische Geschichte.

Stundenlang verbringen wir damit, wichtige Daten, berühmte Persönlichkeiten und noch wichtigere Ereignisse in unsere Köpfe zu bringen, und wenn wir des Themas müde sind, wird mit einigen Chemieaufgaben für Ablenkung gesorgt.

Doch auch hier steht ab und zu eine ganz andere Person im Mittelpunkt. Es ist das erste Mal, dass ich Kyo so erlebe, dass erste Mal, dass ich wirklich behaupten würde: Er ist verliebt.

Habe ich Kida eigentlich jemals erzählt, dass ich damals auch so komisches Zeugs geredet habe, dass ich mich auch oft, so verrückt-verliebt fühle?
 

~ * ~
 

Überraschend gut geschlafen, sowie im Nachhinein überrascht davon, mich nicht einmal daran erinnern zu können, gestern groß über Boston nachgedacht zu haben, lässt Überraschung drei an diesem Tage nicht lange auf sich warten.

Obwohl ich an Chemie eigentlich nie groß interessiert war, schaffe ich es relativ gut, mich an viele der Versuche zu erinnern, die richtigen Antworten zu geben.

In japanischer Geschichte schneide ich auch viel besser ab als erwartet, und so kann ich diesen Tag im schulischen Sinne eigentlich nur einen fetten Pluspunkt geben.
 

Den heutigen Nachmittag verbringen wir bei Kyo, für morgen stehen Politik und Informatik auf dem Plan.

Im Politikunterricht ein wenig aufmerksamer gewesen, bin ich eigentlich recht zufrieden mit mir, da hier weit weniger Probleme auftauchen als beim nervigen Thema Informatik. Diese werden Kyo und mir aber in weitaus besserer Qualität von Kida erklärt. Ob wir das alles bis morgen behalten, ist natürlich eine ganz andere Frage.
 

~ * ~
 

„Wie wär’s, wenn wir hier aussteigen, und noch ne Cola trinken gehen?“, schnellt wieder das leidige Thema zurück in meinem Kopf. Warum habe ich nicht vorher an ihn gedacht? Mit ihm kann ich reden, er hat nichts damit zu tun.

Ich werde zwar komisch angeschaut, doch weiß ich genau, dass er meinen Vorschlag, dem doubleX einen kleinen Besuch abzustatten, niemals ablehnen würde.
 

Im doubleX angekommen, ist die Enttäuschung über Ryoutas Nichtanwesenheit groß, doch versuche ich mir nichts anmerken zu lassen. Am liebsten hätte ich diesen Sai gefragt, ob er etwas über seinen Aufenthaltsort wisse.

„Seine Verlobte? Ich dachte...“

„Ja, ich auch...“, bekomme ich als Bestätigung aufs Sais Begleitung zielend.

Zwar wurde nie erwähnt, ob Sai hetero oder schwul ist, doch irgendwie hatten wir wohl beide etwas anderes angenommen. Ist das auch so eine Art Berufskrankheit? Stellt man sich seine Umgebung viel schneller schwul vor, nur weil man es selber ist?

Doch lange lässt sich nicht auf dem Thema rumkauen und so tritt schnell wieder Stille ein, soweit Stille, wie man sie in einer Bar halt erhalten kann.

Eigentlich habe ich gar keinen Durst, eigentlich will ich gar nicht hier sein...

„Ach, da fällt mir was ein! Wir haben am Sonntag ein Spiel!“

„Echt?“

„Ja, das letzte und auch... das letzte Mal Baseball.“ Alles in mit zieht sich zusammen. Erst jetzt wird mit bewusst, dass ich in Zukunft nicht einmal mehr auf diese Ablenkung hoffen kann.

„Wieso?“

„Die Oberstufe sollte sich mehr auf die Prüfungen vorbereiten, legte man uns ans Herz. Ist das nicht voll für’n Arsch?“

Dass er nicht wie wild empört von dieser Nachricht ist, kann ich verstehen. Es ist nicht sein Sport, nicht seine Welt und ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass er weiß, wie wichtig das für mich ist.

„Wie ist das bei euch im Musikclub?“

„Keine Ahnung ehrlich gesagt...“

Ich tippe meinen Eiswürfel hinunter und als er wieder hoch kommt, gebe ich ihm nochmals einen Freifahrtschein zum Abtauchen. Wahrscheinlich hätte ich dieser kleinen Beschäftigung stundenlang folgen können, doch treten mir zwei vertraute Personen ins Blickfeld.

Als ich ihn sehe, ist es, als würde mir eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen werden, und das Einzige, was er dazu beigetragen hat, ist durch diese Tür zu treten.

Dass Tatsuya sich zu Sai und Chiga gesellt, soll mir mehr als Recht sein, auf seine Anwesenheit kann ich gut und gerne verzichten. Ryouta kommt auf uns zu, sein Lächeln kann ich ohne Zögern erwidern.

„Darf ich mich zu euch setzen?“

„Klar!“

Ryouta setzt sich und im selben Moment erhebt sich Kida.

„Ich sag mal Tatsuya hallo.“

„Also?“, kommt es nachdem Kida außer Hörweite ist. „Warum freust du dich so mich zu sehen?“

Für einen kurzen Moment bin ich baff.

„Du bist wirklich gut“, gebe ich ihm somit die Bestätigung.

„Das hat nicht wirklich was mit gut zu tun. Du hättest mal deinen Gesichtsausdruck sehen sollen... als wenn ich irgendeine Berühmtheit wäre oder so.“ Er lacht leicht auf. „Na ja, man weiß ja nie...“ Er zwinkert.

„Ich will mit dir reden.“

„Worüber?“

„Nicht hier, nicht jetzt.“ Mein Blick schweift durch den Raum.

„Hängt der Haussegen schief?“ Die Neugier ist deutlich zu hören.

„Nein, darum geht es nicht... es ist...“ Ich stocke.

„Ja?“ Er setzt sich leicht auf, wahrscheinlich um mich besser ansehen zu können.

„Können wir uns nicht alleine treffen? Morgen oder so, bei dir...“

Ein hartes Ein- und Ausatmen, als fiele es ihm nicht gerade einfach, die Sache nun auf sich beruhen zu lassen.

„Morgen ist ok. Wann möchtest du kommen?“

„Ich denke, ich werde auf den Baseballclub verzichten, dann könnte ich so um halb vier, viertel vor bei dir sein... ist das in Ordnung für dich?“

„Kein Problem, morgen habe ich nur vormittags was in der Uni. Und... du bist sicher, dass es nichts gibt, was du mir schon heute erzählen willst?“

Ich drehe mich leicht, schaue ihn an. Wahrscheinlich habe ich mit meiner Rumdruckserei mehr Phantasie in ihm geregt, als ich eigentlich wollte. Wahrscheinlich denkt er, dass Kida mich schlägt oder dass irgendwas Schlimmes innerhalb unserer Familie geschieht.

„Ja, sicher...“ Ich lächle ihn an. „Es ist wirklich nicht so schlimm, wie du vielleicht denkst... ich brauche nur einfach jemanden zum Reden, mehr nicht.“

„Und mit ihm kannst du das nicht?“

Er deutet mit dem Kopf in Kidas Richtung. Unsere Blicke schweifen zur Theke.

„Nein.“
 

Wieder Daheim fühle ich mich um einiges besser. Ob es die Vorfreude darauf, einfach mal mit Jemandem über alles reden zu können, auslöst, weiß ich nicht, doch ist mir das auch ziemlich egal, als Kida an diesem Abend meine Nähe sucht.

Es scheint für mich das einzig Richtige auf der ganzen Welt zu sein. Nicht wichtig, ob ich in Boston lebe oder in Tokyo, nicht wichtig, ob ich arm oder reich bin... nichts ist von Bedeutung... nur er, nur seine Nähe und nur die Worte, die er mir sagt. Worte, mit denen ich ehrlich gesagt schon gar nicht mehr gerechnet habe... verdiene ich sie überhaupt?
 

~ * ~
 

Politik mit Leichtigkeit hinter mir gelassen, geht Informatik regelrecht in die Hose. Nichts fiel mir wieder ein, von dem, was uns Kida gestern noch erzählt hat. Aber was soll’s, solange es bei Informatik, Mathe und... Französisch bleibt, ist doch alles in Ordnung. Bei drei Fächern habe ich noch genügend Zeit, den Stoff nachzuholen... nur hoffen, dass es nicht noch weitere werden.
 

„In den letzten Wochen bist du echt komisch.“ Masaki steht mir mit abwertender Haltung gegenüber, Hikaru schaut interessiert.

„Wäre jetzt nicht sowieso Schluss mit dem Club, hätten einige von uns echt darauf gepocht, dass du den Posten als Mannschaftskapitän abgibst.“

„Ich weiß, es tut mir leid. In letzter Zeit war alles ein wenig viel bei mir.“

„Gerade jetzt, so kurz vor dem Spiel“, mischt sich nun auch Hikaru ein.

„Ich versteh euch ja, aber es ist wirklich wichtig für mich“, entschuldige ich nochmals mein heutiges Fernbleiben der Clubaktivität.

„Na komm, lass gut sein. Sind doch sowieso nur noch die paar Tage“, redet nun Hikaru auf Masaki ein, versucht ihn zu besänftigen.

„Aber versprich mir, dass du morgen auftauchst.“

„Ehrenwort.“ Ich hebe die Finger zum Schwur.

„Es ist wichtig Sakuya. Wir müssen die Aufstellung fürs Spiel machen.“

„Ich verspreche es.“

„Ok, dann hau endlich ab.“ Ich grinse den beiden noch schnell zu und renne dann in Richtung U-Bahn.

Kida hat es heute Morgen gar nicht gefallen, als ich ihm von dem Treffen mit Ryouta erzählt habe, man konnte es ihm richtig ansehen. Aber das wäre ich wahrscheinlich auch nicht, wenn mir irgend so ein Barkeeper blödes Zeug in den Kopf setzen würde. Warum kann sich dieser Typ nicht einfach raushalten... hat der kein eigenes Leben?
 

Nach ein Mal falsch abbiegen, komme ich dann auch fast pünktlich bei Ryouta an. Die Wohnung betreten, kommt es mir so vor, als wäre ich noch nie hier gewesen, nicht einmal an die Farbe der Tür kann ich mich erinnern.

„Möchtest du etwas trinken?“

„Ein Wasser oder ne Cola wären nicht schlecht.“

„Kommt sofort.“

Ryouta verschwindet aus dem Raum und ich schaue mich derweil auf den vielen kleinen Regalen um. Eine Menge Bilder sind darauf zu sehen, Urkunden, Pokale, Erinnerungen.

„Hier“, ertönt es neben mir.

„Danke“, nehme ich das Glas Wasser entgegen. Ich nippe kurz daran.

„Das ist echt beeindruckend.“

„Nicht wirklich.“

„Finde ich schon“, widerspreche ich. „Auszeichnungen in Kendo und in Aikido.“

„Wie gesagt, nichts besonderes.“ Er entfernt sich, setzt sich auf den Boden nahe dem niedrigen Tisch.

„Warum stehen sie dann hier? Bist du nicht stolz drauf?“

„Natürlich bin ich das.“

„Und warum dann: Nichts Besonderes?“

„Wir haben zu Hause einen Dojo“, fängt er an zu erzählen. „Mein Papa ist Meister in einigen Kampfsportarten und unterrichtet diese auch. Es ist also, wie schon gesagt, nichts Besonderes. Ich bin, seit ich klein war, damit aufgewachsen.“

„Also, ich finde das schon besonders.“ Ich setze mich zu ihm auf den Boden, stelle mein Glas auf dem Tisch ab. „Einen eigenen Dojo“, kommt es bewundernd. „Und dein Dad unterrichtet immer noch?“

„Ja.“

„Was ist mir dir“, frage ich interessiert. „Übernimmst du dann irgendwann seinen Platz? Macht man das nicht so, bei solchen Familiendojos?“ Ich grinse.

„Du wirst lachen“, kommt es ein wenig gequält. „...genauso war es eigentlich gedacht.“

„War?“

„Ja.“

„Warum nicht mehr?“

Ein Blick, als wollte er mir sagen: Sag mal, bist du zu blöd um zu verstehen?

„Würdest du deine Kinder bei einem Schwulen zum Unterricht schicken?“

Ich stocke... „Klar“, hätte ich am liebsten gesagt.

„Aber das war auch nicht der einzige Grund... aber ist ja auch egal, du bist doch bestimmt nicht hier um über meine Familie zu reden, oder? Du wolltest mit mir reden... warum?“

„Weil ich es sonst mit niemanden kann.“

„Versteh ich nicht... warum kannst du nicht mit einen deiner Freunde reden, oder mit, wie hieß er noch mal...?“

„Kevin?“

„Ja, warum nicht mit ihm?“

„Das geht nicht...“

„Und warum nicht?...Versteh mich nicht falsch“, setzt er an. „Ich freue mich natürlich, dass ich so einen interessanten Status belege, aber weshalb das so ist, würde ich schon gerne verstehen.“

„Kevin würde sich betrogen fühlen. Mit meinen Freunden kann ich darüber nicht sprechen. Was sag ich da eigentlich... Freunde? Ist schon komisch, wenn man behauptet Freunde zu haben, die aber eigentlich gar nichts über einen wissen. Abgesehen von Kyo, weiß keiner das ich was mit Kida habe, dass ich schwul bin... wie bitteschön sollen die mir also helfen können?

Und Kyo... der hat im Moment mehr als genug mit sich selber zu tun, was ich ihm auch gar nicht übel nehme, aber ihn da mit reinziehen, wäre nicht wirklich vorteilhaft, da er das Ganze auch nicht so wirklich objektiv sehen würde.

Kida! Hier liegt ja das Problem, mit ihm kann ich am wenigsten darüber reden. Abgesehen davon, habe ich das Gefühl, als würde meine ganze Umgebung sich verändern.

Freunden, denen ich nicht mehr vertrauen kann, eine Liebe, die ich verstecken muss, immer diese Angst, dass einem mal aus Versehen etwas rausrutscht... eine Berührung, die komisch aufgefasst wird. Ich komme mir vor, als würde ich auf einer Linie stehen. Auf der einen Seite meine hetero Freunde, von denen ich mich immer mehr entferne, und auf der anderen eine Umgebung, die immer mehr schwules mit einbezieht.

Weißt du, ich finde es irgendwie beängstigend, dass ich plötzlich so vieles von dem gewohnten verliere und sich dafür immer mehr ‚schwul’ in mein Leben drängt. Ich lerne kaum noch ‚normale’ Leute kennen, nein... plötzlich ist da Tatsuya... schwul... und du, ebenfalls schwul. Was auf einer Seite ja ganz toll ist, da man sich nicht verstecken muss, aber wo bitteschön bleibt hier mein Leben, das ich bis jetzt gelebt habe?

Ich kann Niemandem mehr vertrauen. Niemanden zu mir einladen, mich mit Leuten vom Club oder aus der Schule treffen. Wie soll ich ihnen erklären, dass Kida bei mir wohnt, dass wir so gut wie jede Minute zusammen sind?

Ich komme mir irgendwie isoliert vor, als wäre ich eine komische Krankheit, die man noch nicht genau erforscht hat...“ Eine Berührung unterbricht mich.

„Willst du nicht mal kurz Luft holen?“

„Tut mir leid.“ Seine Hand zieht sich zurück.

„Das muss es nicht, ich verstehe gut, was dein Problem ist.“ Er lächelt mich beruhigend an.

„Wenn das doch nur mein Einziges wäre“, lächle ich gequält zurück.

„Noch mehr?“

„Kann... ich mal dein Klo benutzen.“

„Natürlich.“

Im Aufstehen schnappe ich nach dem Glas, trinke einen Schluck.

In dem kleinen Raum angekommen, lasse ich einen prüfenden Blick über mein Spiegelbild fallen, ein Wunder, dass kein Anzeichen von Traurigkeit zu sehen ist.

Eine ordentliche Ladung kaltes Wasser setzt sich auf meinen Wangen ab, erneut fällt mein Blick auf mich selbst.

„Deswegen bist du doch nicht hier“, erinnere ich mich selbst.

Meine Aufmerksamkeit fällt auf das Regal an der Wand, wo sie auf einer Menge Medikamenten liegen bleibt.

Ich lese einige der Aufschriften, kann aber nichts weiter damit anfangen... wogegen sind bloß all diese Dinger?
 

„Bist du krank?“, ist daraufhin dann auch die erste Frage, als ich ihm wieder gegenüber sitze.

„Wegen der Medikamente?“

„Ja.“

Sein Blick weicht aus, seine Finger beschäftigen sich damit, ihm selber sein Glas zu füllen.

„Es ist eine angeborenen Herzkrankheit... einer der weiteren Gründe, warum ich nicht weiter gemacht habe, mit dem Sport.“

„Musst du sterben?“, kommt es leise.

„Das müssen wir alle mal, oder nicht?“ Sein Blick wendet sich mir wieder zu. „Aber nein, nicht deswegen... ich kann noch sehr lange damit leben.“ Ein Lächeln und ich spüre genau, dass er dem Thema nicht noch mehr Aufmerksamkeit schenken möchte. „Möchtest du noch?“ Er deutet aufs Wasser.

„Ja, bitte.“

Ich schaue dabei zu, wie sich mein Glas wieder füllt.

„Und warum bist du jetzt wirklich hier, Sakuya?“

Seine Frage bringt mich dazu umzudenken. Was, wenn er mein Verhalten kindisch findet, nicht versteht, warum ich so handle? Er ist älter als ich, hat wahrscheinlich schon viel mehr erlebt als ich, was wenn er mich nicht versteht... ich genau das Gegenteil von dem erhalte, was ich mir erhoffe? Doch was erhoffe ich eigentlich?

„Ich hatte die Chance wieder nach Boston zu gehen“, fange ich aufgesetzt gleichgültig an.

„Das ist doch gut, oder?“

„Ja, aber ich habe mich entschieden hier zu bleiben.“

„Das freut mich.“

„Ich bin nur wegen Kida geblieben.“

„Das ist aber...“

„Was?“, frage ich nach, als er nicht weiter spricht.

„Ich weiß nicht... verrückt?“

Verrückt ist eines der wenigen Worte, mit dem ich bis jetzt noch nicht versucht habe, diese Entscheidung zu erklären. Eher sind idiotisch, unvernünftig oder hirnverbrannt dafür Träger gewesen.

„Kida weiß zwar, dass ich mich entscheiden musste, aber ich habe ihm nicht gesagt, warum ich mich so entschieden habe. Ich will es ihm nicht sagen... und Kyo und alle anderen wissen rein gar nichts davon, die haben keine Ahnung... Gott, wenn ich Kevin erzählen würde, dass ein paar Wochen Kida über unsere jahrelange Freundschaft, über all das, was wir zusammen erleben wollten, gesiegt hat... wie sollte ich mich ihm erklären, er könnte es nicht verstehen. Ich kann es ja selbst nicht mal wirklich.“

„Du liebst ihn sehr, oder?“

„Natürlich, ansonsten wäre ich niemals hier geblieben, nicht für ihn. Aber das ändert nichts an dem Wunsch, dass ich eigentlich zurück möchte, dass ändert nichts daran, dass ich mich frage, wie es wäre, wenn ich zurück gehen würde. Ich komm nicht davon los, mir diese Frage immer wieder zu stellen.“

„Das kann ich ehrlich gesagt ziemlich gut verstehen.“

„Kannst du das?“

„Natürlich. Die Entscheidung ist dir nun einmal nicht leicht gefallen, und auch wenn du jetzt hier bist, heißt das doch lange nicht, dass du niemals mehr zurückgehen kannst. Irgendwann wirst du alt genug sein, um diesen Wunsch auch ganz alleine in Erfüllung gehen zu lassen. Also solltest du am besten fürs Erste mit dem Thema abschließen. Du hast dich entschieden, also Ende.“

„Das sagst du so einfach.“

„Ja ich weiß, Außenstehende haben immer gut reden.“ Ein aufmunterndes Gesicht. „Doch wenn du nicht mit ihm darüber reden willst, bist du nun mal dazu verpflichtet, das für euch beide zu lösen.“

„Ich kann es ihm einfach nicht sagen... auch wenn ich wollte... Stell dir mal vor, ich würde es tun. Kida, würde ich zu ihm sagen... nur wegen dir bin ich hier geblieben.

Natürlich würde er in der ersten Zeit glücklich darüber sein, aber irgendwann wird eine andere Zeit kommen. Dann wird er sich fragen, ob ich ihm diese Entscheidung irgendwann zum Vorwurf machen werde. Wir bräuchten uns nur mal zu streiten, das kommt doch schließlich überall mal vor. Würde er dann freiwillig den Kürzeren ziehen, nur aus Angst, dass dieser Vorwurf auftaucht?

Und ich... könnte ich mir seiner Liebe überhaupt noch sicher sein? In ein paar Monaten kann sich alles ändern, was ist, wenn er mich eigentlich gar nicht mehr liebt, wenn er liebe eine Muschi vor sich hätte als einen Schwanz in sich... Würde er dann vielleicht nur aus Schuld heraus mit mir zusammenbleiben, mich hintenrum betrügen, und ich würde es nicht einmal merken?“

„Deine Phantasie ist wirklich beeindruckend.“

Ich kann einen bösen Blick nicht unterdrücken.

„Ach, komm schon, Sakuya. Du machst dir da echt ein wenig zu viel Sorgen. Wenn du es ihm nicht sagen willst, schön! Aber hör verdammt noch mal auf, so einen Quatsch zu denken. Leg die Sache endlich ab und versucht mal wieder glücklich zu sein, immerhin ist das doch der Zweck einer neugewonnenen Liebe, oder? Ich will dich endlich mal richtig lachen sehen.“

Er klopft mir auf die Schulter, steht auf.

„Ich hab Hunger, lass uns was kochen.“

Ich schaue zu ihm auf. Soll das wirklich alles sein, soll es so einfach sein? Einfach ablegen und weiterleben? Ist es möglich, dass es so einfach ist und ich diesen Weg bis jetzt nur nicht gesehen habe?
 

~ * ~
 

Freitag: Physik, Samstag: Biologie.

Zwei weitere Tests abgelegt, das eine Fach jagt das nächste. Selbst wenn ich vorgehabt hätte, irgendwie an das Bostonthema oder an das Gespräch mit Ryouta zu denken, hätte ich kaum die Zeit dafür gehabt.

Lernen, lernen und nochmals lernen steht auch diese zwei Tage auf dem Plan, und Kyo beschwert sich zunehmend über die fehlende Zeit mit Sanae.

Ich habe es da zweifelsohne besser. Sobald wir das Lernen endlich gut sein lassen, kann ich mich zurücklehnen in eine Geborgenheit, die mir oft in der letzten Woche gefehlt hat.

Ich liebe ihn, das stand für mich nie zur Frage während ich mit meiner Entscheidung rang, und doch ist es schön, es immer wieder aufs neue festzustellen.
 

~ * ~
 

Am Sonntag dann das lang ersehnte Baseballspiel, das wir tatsächlich knapp gewinnen. Es fühlt sich an wie ein riesiger Energiestoß, den ich an diesem Tag erhalte, etwas, dass mir sagt, dass es jetzt einfach nur weitergehen muss, nur noch vorwärts... mehr nicht... so schwer kann das doch auch nicht sein...
 

Ich komme mir auf komische Art heuchlerisch vor, wenn ich mich einfach nur an ihn schmiege, ihn küsse. Als würde ich diese Berührung dafür nutzen, um von dem abzulenken, was immer noch unausgesprochen im Raum steht, aber so ist es nicht... doch denkt er genauso?

„Ich will mit dir schlafen“, hauche ich ihm von hinten ins Ohr.

Ich höre, wie das Buch, welches er bis jetzt in Händen hatte, zu Boden gleitet, dann sein langsames Umdrehen. Augen, die immer noch nach Antworten dürsten, geben seine Lippen doch nichts davon preis, legen sich mir nur sanft entgegen.

Es ist ein atemberaubendes Gefühl, ihn unter mir zu spüren. Seine Lippen, die sich nach mir sehnen, sein Körper, der aufgrund meiner eigenen Bewegungen leicht zu vibrieren scheint.

Wenn ich mich an damals erinnere, als ich mich fragte, was ich eigentlich ein seinen Körper mag, so kann ich jetzt endlich Antworten darauf geben:

Ich mag seine Haut, sie richt gut.

Ich mag jeden einzelnen Muskel, der sich bei einer Bewegung spannt.

Ich mag seine Ohren. Warum weiß ich nicht einmal, aber ich kann nicht aufhören, sie anzufassen.

Seinen heiseren Atem, wenn er stoßweise meinen Namen sagt, und wenn er schläft... da bringt er diese süßen, kleinen Laute zustande.

Oft habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde, Sex zu haben, eine Person zu lieben, jemanden so nah an sich ranzulassen... dass es so sein würde ...fasziniert mich immer wieder.
 

~ * ~
 

Am Montag nur der ziemlich leichte Englischtest und dann der eigentlich viel zu frühe Nachhauseweg. Kyo und ich verlassen das Schulgelände mit einem letzten verträumten Blick in Richtung Baseballfeld.

Den Dienstag testfrei, erwarteten mich direkt zwei Horrorfächer am Mittwoch: Mathematik und Französisch.

Auf dem Heimweg verabreden wir uns zum morgigen Mathebüffeln, da Kyo heute keine Zeit hat... er will endlich mal wieder was mit Sanae machen.

Daheim, finde ich ein leeres Haus vor, irgendwie beängstigend. Schon lange war ich nicht mehr wirklich alleine in diesem Haus. Ich lasse die Jacke meiner Schuluniform über einen Küchenstuhl baumeln, greife in den Kühlschrank und erwische eine Flasche Milch. Angewidert stelle ich sie zurück, suche nach einem Saft.

Mit dem erfrischenden Genossen sprinte ich hinauf in mein Zimmer, der Rucksack landet neben dem Schreibtisch. Ich lasse mich auf den Stuhl fallen, fische nach dem Französischbuch und meinem Vokabelheft.

„Das kann doch nur in die Hose gehen.“

Ich befreie mich von Buch und Heft und lande auf den Anschalter des PCs. Außer einer Menge Werbemails, herrscht in meinem Eingang eine gähnende Leere. Ein Grund dafür ist sicher der, dass niemand diese Mail kennt. Vielleicht sollte ich sie mir auf eine Visitenkarte drucken lassen?

Ich schalte das ICQ-Programm ein, zu meiner Enttäuschung ist Kevin nicht online.

Ich muss an unser letztes Gespräch denken. Natürlich war es vollkommen bekloppt ihn anzurufen, wenn ich eigentlich doch nichts sagen wollte... warum habe ich es also getan? Egal... jetzt gilt auch hier Schadensbegrenzung zu betreiben, damit zwischen uns wieder alles normal ablaufen kann.

Ich hinterlasse eine Nachricht:
 

Hi!
 

Es tut mir leid, wegen letztens. Ich weiß auch nicht, was mein blöder Anruf sollte. Mir geht es wieder gut, du brauchst dir also keine Sorgen mehr zu machen. Sonntag war ein toller Tag für mich. Ich denke, jetzt geht es wieder aufwärts.
 

PS: Ich schlafe mit Kida ^__~
 

Keine Ahnung, warum ich letztere Aussage dazugefügt habe. Vielleicht ist es so einfacher, ihm davon zu erzählen. So kann er es erst einmal verdauern, bis wir das nächste Mal miteinander sprechen.
 

~ * ~
 

Nachdem Kida am Montag heimkam, versuchte er über drei Stunden französische Vokabeln in mich hineinzubekommen... ein riesigen Fehlversuch, wenn man mich fragte.

Nach Essen und Duschen lag ich in seinen Armen und starrte zum Fernseher, der eine Übertragung eines Baseballspiels zeigte. In der Pause, als ich anfing mich über Kleinigkeiten aus dem Spiel aufzuregen, wurde ich durch einen sanften Kuss gestoppt.

„Was ist?“, frage ich irritiert.

„Es ist schön.“

„Was?“, frage ich mit nicht weniger Irritation als zuvor.

„Dass es dir anscheinend wieder so viel besser geht.“

„Ach so...“ Ich wende meinen Blick wieder nach vorne.

„Nicht, dass ich mir das nicht gewünscht habe, Sakuya... aber ich...“

Will er jetzt Antworten? Muss ich sie ihm geben?

„Vertraust du mir?“, unterbreche ich ihn.

„Hatten wir diese Frage nicht schon mal?“

„Ja... also?“

„Natürlich tue ich das.“ Ein leichter Kuss im Nacken.

„Dann frag mich nicht.“ Ich drehe mich wieder zu ihm. „Wenn du mir vertraust, dann bitte... lass es reichen, wenn ich dir sage, dass ich nur ein wenig Zeit brauchte, um über einiges nachzudenken.“

Ich halte seinem Blick genauso fest stand, wie er ihn an mich gibt, dann küsse ich ihn.

„Ich liebe dich“, hauche ich zart auf seine Lippen.

Seine Hände finden mein Gesicht, umschließen es.

„Und das reicht mir vollkommen.“
 

„Früher hatte ich eine Tränen-Box“, fällt es mir mitten im nächsten Spielabschnitt ein.

„Eine was?“

„Eine Tränen-Box“, erwidere ich. „Kevin hat sie mir geschenkt als ich fünf war.“

„Und was ist das?“

Meine Finger suchen seine, verschränken sich mit ihnen.

„Eigentlich war es nur eine ganz normale Pappkiste. Kevin hat sie angemalt, total bunt und obendrauf stand Tränen-Box.“ Ich lache leicht auf bei dieser Erinnerung.

„Und wofür war sie?“

„Ich habe schrecklich viel geweint, als ich noch klein war. Über jeden Mist. Wenn ich hingefallen war, wenn mir etwas nicht gelang, wenn ich nicht die richtigen Cornflakes kriegte... ich war eine wirkliche Heulsuse... Bis ich dann diese Box bekommen habe. Natürlich heulte ich immer noch oft, aber es wurde immer weniger.“

„Und wie hat sie funktioniert?“ Seine Stimme klingt wirklich interessiert.

„Ganz einfach. Ich malte den Grund für mein Weinen auf einen Zettel und warf ihn in die Box. Spätestens als dies passiert war, weinte ich schon gar nicht mehr... meistens hörte es aber schon viel früher auf, da mich das Malen viel zu sehr ablenkte. Kindisch, nicht wahr?“

„Find ich gar nicht, die Idee war doch klasse.“

„Ja, das war sie... Schade, dass man jetzt nicht mehr so leicht auf so was reinfällt. Ich meine, wäre das nicht super, wenn man eine Kiste hätte, in die man einfach all seine Sorgen reinwerfen könnte?“

„Warum soll das denn nicht funktionieren?“

„Weil ich keine fünf mehr bin...“

„Ach Quatsch, was heißt das schon.“

Kida befreit sich von mir und steht auf.

„Was hast du vor?“

„Ich bin gleich wieder da.“ Er küsst mich lächelnd.
 

Zehn Minuten später steht eine beige Pappschachtel mit Deckel und eine Kiste mit meinen alten Wachsmalstiften vor uns.

„Sorry, deine Mom wusste nicht mehr, wo sie die Stifte hingepackt hatte.“

„Und was sollen wir jetzt damit anstellen?“ Natürlich habe ich da eine genaue Vorahnung.

„Du bemalst das...“ Mir wird der untere Teil der Schachtel in die Hände gedrückt. „...und ich bemale den Deckel.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

„Natürlich... hier nimm.“ Mir wird ein blauer Stift in die Hand gedrückt. „Einfach nur anmalen.“

Kurz stocke ich noch, aber als ich ihm dabei zusehe, wie er anfängt seinen Teil der Schachtel unter vollster Konzentration zu bemalen, tue ich es ihm gleich.

Ich versuche mich krampfhaft an das Muster der anderen Schachtel zu erinnern, male diese so an, wie es mir meine Erinnerung vorschreibt.
 

„So fertig... schau mal.“

Ich sehe auf.

„Wir präsentieren... nein, nicht die Tränen-Box. Sondern die verbesserte, getunte, mit allen Extras, die unsere Zeit zu bieten hat... diiiiiieeeeee: Sorrow-Box!

Mit großen, bunten, englischen Buchstaben steht es auf dem Deckel. Von der Schachtel auf sein Gesicht abweichend, spüre ich die aufkommende Nässe in meinen Augen. Meinen Finger lasse ich gegen den Deckel tippen, der daraufhin ein Stück zurückweicht.

„Na ja, sehr viel auszuhalten scheint sie ja nicht.“ Ich lächele, während mir langsam der Platz ausgeht und sich einige Tränen den Weg über mein Gesicht bahnen.

„Wir bauen noch ein paar Spezialairbags ein... versprochen.“

Er lässt den Deckel sinken und zieht mich näher zu sich heran.

„Dass wäre ganz wunderbar.“ Unsere Lippen treffen sich, wir nehmen wahrscheinlich beide den salzigen Geschmack auf.

Er löst sich wieder von mir, und wischt mir mit seinem Ärmel übers Gesicht.

„Und... möchtest du sie benutzen?... Die Box, mein ich.“

Ich schüttle nur mit dem Kopf. Im Moment gibt es für die Box keine Arbeit...
 

~ * ~
 

Am Dienstagnachmittag bin ich wieder alleine zuhause und während ich mit meinem Französischbuch auf die Sorgenbox starre, fällt mir doch glatt wirklich eine Sorge ein, die darin Platz finden kann.

Wieder einmal habe ich ganz vergessen, darüber nachzudenken, lenkten mich zu viele andere Sachen davon ab... aber wenn es wirklich Probleme gäbe, richtige Probleme, hätte es mir Kevin doch bestimmt erzählt, oder?

Ich nehme einen kleinen Zettel und schreibe in großen Buchstaben SAM darauf und werfe den Zettel in die Box.
 

Kurze Zeit später taucht Kyo auf. Wir plündern den Kühlschrank und bereiten ein paar Kleinigkeiten für den restlichen Tag vor. Mathematik üben bis zum Umfallen steht heute auf dem Plan.

Mit Kidas Auftauchen wird dieser auch sofort in die Tat umgesetzt und so hängen wir bis nach elf Uhr abends über unseren Büchern.
 

~ * ~
 

In Französisch habe ich wenigstens das Gefühl, die Hälfte der Fragen richtig beantwortet zu haben. Was Mathematik angeht, kann ich das nicht einmal sagen. Ich habe zwar zu fast jeder Aufgabe etwas geschrieben, doch kann ich beim besten Willen nicht sagen, ob diese Antworten auch nur ein Fünkchen Wahrheit enthalten.
 

Kida ist heute mit Tatsuya verabredet, er will sich dessen Uni anschauen.

Kyo hat sich mittlerweile schon eingeschrieben und hat auch schon das OK für die Aufnahme bekommen. Vielleicht sollte ich meinem Dad auch endlich das OK dafür geben, mich anzumelden... was soll ich auch anderes nach dem Abschluss machen?
 

Am Abend werde ich dann mit haufenweise Zukunftsplänen überhäuft.

Ich versuche dem wirklich zu folgen, aber schnell verliere ich den Faden, komme nur noch so weit mit, dass sich diese Uni durch einen Job und einen geringen Anteil von seinen Eltern doch noch irgendwie finanzieren lassen würde. Was er nun wirklich studieren möchte, weiß er selber noch nicht so ganz genau, aber das wird er bestimmt schnell rausfinden, wenn er sich mit den angebotenen Studiengängen ein wenig intensiver befasst...

In mir kann ich nicht wirklich diese Vorfreude darauf teilen. Es ist natürlich klasse, dass er wahrscheinlich studieren kann, aber... warum muss es gerade diese Uni sein, warum muss es ausgerechnet Tatsuyas sein?
 

~ * ~
 

Am Donnerstag stehen Weltgeschichte und Sozialkunde auf dem Programm. Gott sei dank hat das bald ein Ende.

In der Mittagspause erwartet mich in meinem Fach ein Brief, genauer gesagt ein Liebesbrief. Ich muss ihn nicht öffnen, um das zu wissen. Der schöne Umschlag und die geschwungene Schrift darauf verraten es auch so.

„Ich habe schon ewig keinen mehr bekommen“, weise ich beim Mittagessen darauf hin.

„Vermisst du es?“, kommt es lächelnd von der Seite.

„Klar, und wie“, zwinkere ich Kida zu.

„Na los, mach ihn auf.“ Sanae scheint total neugierig auf den Absender und den Inhalt zu sein.

„Ich weiß nicht. Vielleicht sitzt sie hier irgendwo und beobachtet uns. Du fändest es bestimmt auch nicht toll, wenn dein Brief ein Gruppenereignis werden würde.“

„Ich würde so etwas nie schreiben.“ Eine zarte Röte setzt sich auf ihren Wangen ab.

„Da muss ich doch glatt mal meine ganzen Briefe durchschauen.“ Ich grinse.

„Spinner“, kommt es von Kyo, woraufhin sich Sanaes Röte noch ein wenig mehr abzeichnet.

„Du hast Recht. Es wäre nicht richtig“, stimmt Kida mir zu und erntet daraufhin eine kleine Zungen-Streck-Attacke von Sanae.

Ich lasse den Brief in meine Tasche gleiten.
 

Später, alleine in meinem Zimmer, öffne ich den Brief. Ein angenehmer Duft strömt von dem Papier ab. Gott sei dank ist der Brief in Englisch geschrieben, Mom musste mir schon eine Menge Briefe vorlesen, da ich es selber nicht konnte.

Als erstes geht mein Blick hinunter, doch ist leider nirgends ein Absender zu erkennen.
 

Hallo Ryan-san!
 

Schon wieder so ein doofer Liebesbrief. Wieder jemand, der sagt, wie sehr er Sie liebt oder Sie um ein Date bittet. Das denken Sie doch jetzt, nicht wahr?
 

Aber keine Sorge, ich würde mir niemals anmaßen von Liebe zu sprechen. Eigentlich, weiß ich noch nicht einmal genau, warum ich diesen Brief schreibe. Ich dachte mir nur irgendwie: Wenn nicht jetzt, wann dann?
 

Bald trennen sich unsere Wege, die eigentlich niemals zusammengefunden haben. Wir werden höchstwahrscheinlich auf verschiedene Unis gehen, neue Ziele suchen, vielleicht werden sie sogar irgendwann wieder nach Amerika gehen.
 

Natürlich kann ich diesen Brief nicht schreiben, ohne wenigstens einmal zu erwähnen, wie toll ich Sie finde. Sie sind so süß und ich mag es total, wenn Sie lachen, Ihre Augen glänzen dann immer so unbeschreibbar schön.

Was ich aber eigentlich sagen wollte, ist, dass ich es unheimlich schade finde, dass zwischen uns niemals irgendwas war und ich rede jetzt nicht von Liebe.

Das einzige Mal, wo Sie mich jemals beachtet haben, war als Sie sich für den aufgehobenen Bleistift bedankt haben, aber ich glaube selbst da, haben Sie mich nicht wirklich gesehen.
 

Es erleichtert ungemein, dass Sie nicht zu einem Frauenheld mutiert sind und nur ich Ihre Aufmerksamkeit nicht verdient habe, so kann ich mir immerhin noch einreden, dass es nicht an mir gelegen hat.
 

Viel mehr wollte ich auch eigentlich nicht loswerden, außer dass ich Ihnen für Ihr weiteres Leben noch viel Glück wünsche und... vielleicht lächeln Sie in Zukunft ja mal ein wenig mehr, wenn jemand Ihren Bleistift aufhebt.
 

Bye...
 

Ein wenig mehr lächeln, dass sollte doch kein Problem sein... Die nächsten freundlichen Gesten, die ich fremden Mädchen schenke, sollen an Gedanken an diesen Brief geschehen... vielleicht habe ich ja sogar ein wenig Glück, und treffe die Richtige.
 

Part 26 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Aikido

~ Columbus Day

~ Dojo

~ Kendo
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

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Part 27

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Part 28

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Sakuya (by littleblaze)
 

Freunde!

Freunde waren mir immer wichtig!

Freunde sind mir immer noch wichtig!

Freunde kann man sich aber leider nicht immer so zurechtlegen, wie man es gerne hätte...
 

Es war nicht übertrieben gedacht, als ich merkte, dass sich alles um mich zu verändern schien. Es war die Wahrheit.

Mit jedem Tag, mit jeder kleinen Notlüge spürte ich es deutlicher. Doch veränderte nur ich mich oder tat es auch die Welt um mich herum?
 

~ * ~
 

In den kommenden Wochen versuchte ich alte und neue Freunde irgendwie unter einen Hut zu bringen. Nicht, dass ich darauf scharf war, sie zusammenzuführen oder gemeinsame Interessen zu finden, aber ich bemühte mich, für alle genügend Zeit aufzubringen.
 

Vom nervigem Lernen befreit wie erhofft... riesen Irrtum.

Nach diesen komischen Tests für die Abschlussprüfung wurde der normale Stundenplan total über den Haufen geworfen und wir wurden gleichzeitig für die Abschlussprüfungen und für die Aufnahmeprüfungen auf der Uni vorbereitet. Zwei zusätzliche Lehrkräfte wurden uns für diese Maßnahmen vor die Nase gesetzt und spätestens hier hatte ich jegliche Hoffnung aufgegeben, noch eine ruhige Minute mein Eigen nennen zu dürfen.
 

Freunde, Schule, Freizeit, alles drehte sich, alles veränderte sich.

Wenn ich mich mit Masaki und Co. traf, zog es Kida in Richtung Tatsuya oder Akito.

Akito war mir fremd.

Scharf darauf ihn kennenzulernen, war ich nicht, denn auch er war einer derer, die unser Geheimnis nicht kannten. Noch jemand, vor dem ich mich hätte verstecken müssen, den ich belügen müsste ohne es wirklich zu wollen. Auch wenn ich selber nicht bereit war, meinen Freunden mein Geheimnis anzuvertrauen, fraß es mich dennoch innerlich auf. Manchmal wollte ich es einfach rausschreien, sollten sie doch denken, was sie wollen... doch meine Angst hielt mich zurück.
 

Die Abneigung Tatsuya gegenüber ließ nicht nach und sich auch bis zum heutigen Tag nicht erklären. Ich sah einfach rot sobald es um ihn ging, irgendwas war da, was mich störte. Seine Altklugheit? Immer auf alles eine Antwort zu haben? Sich einzumischen? Ich wusste es nicht genau, doch irgendwas sagte mir, dass da etwas nicht stimmte.

Dass Kida sich mittlerweile wirklich an dessen Uni angeschrieben hatte, machte es natürlich auch nicht wirklich besser.

Ich selber hatte mich Kyo angeschlossen. Nicht nur, weil ich ihm versprochen hatte mit ihm die Uni zu teilen, sondern auch, da mich an den Fachgebieten auf Kidas wohl baldiger Uni nichts interessierte.

Wie das werden wird…

Kaum noch sehen, Uni, Kidas Arbeit, die er sich dann suchen muss, das unterschiedliche Lernen… ich wollte es mir im Moment auch gar nicht vorstellen.
 

~ * ~
 

Thanksgiving verbrachte ich mit meiner Familie in Osaka.

Genau wie letztes Jahr trafen wir uns mit einer anderen amerikanischen Familie, den Hountens, zu diesem amerikanischen Feiertag.

Die Hountens hatten vier Kinder, nur Mädchen. Eines der Mädchen saß im Rollstuhl und somit war natürlich klar, dass wir den Weg auf uns nahmen. Osaka war nicht weit entfernt, trotzdem blieben wir drei volle Tage dort.

Dass Kida mich dorthin nicht begleiten konnte, war mir eigentlich klar, trotzdem war ich ein wenig enttäuscht, als mein Dad mich noch einmal darauf hinwies.

Für ihn war dieser Feiertag einfach DER Feiertag, noch heiliger als Weihnachten oder der 4. Juli und so war es auch hundertprozentig ausgeschlossen, dass ich meinen Dad irgendwie davon überzeugen konnte, zu Hause bleiben zu dürfen.
 

Seit Wochen waren Kida und ich das erste Mal wieder getrennt.

Er nahm diese Nachricht besser auf als ich dachte... doch was hatte ich erwartet?

Unsere Beziehung hatte sich in den letzten Wochen ziemlich entwickelt, richtig gefestigt... es war ein schönes Gefühl, ihm zugehörig zu sein.

Ich wusste, dass ich ihn liebe und ich wusste, dass er mich liebt... Und trotzdem, auch wenn ich ihm vertraue, das Gefühl habe, dass er mich niemals hintergehen würde, nahm ich ihm das Versprechen ab, an diesen drei Tagen bei sich zu Hause zu schlafen.
 

~ * ~
 

Knapp eine Woche bis Weihnachten und nicht nur ich werde des Öfteren gefragt, was ich am 24. denn so vorhabe. Was für eine blöde Frage, Weihnachten feiern natürlich.

Hierzulande scheint man diesen Tag als eine Art zweiten Valentinstag zu sehen und so kommen mehr Angebote als jemals zuvor. Jedes lehne ich freundlich lächelnd ab.
 

Gestern hat Kevin angerufen, er und Malcolm kommen über Weihnachten und Neujahr nach Tokyo. Zuerst war ich ein wenig enttäuscht, dass er gerade ihn mitbringt. Über Sam, deren Launen und komischen Anwandlungen sich in den letzten Wochen wohl noch verschlechtert haben, hätte ich mich viel mehr gefreut.

„So billig werde ich nie wieder nach Japan kommen“, kam es von Malcolm im letzten Telefongespräch, und zugegeben muss ich ihm hier Recht geben. Doch trotzdem habe ich das Gefühl, dass es nicht das Selbe sein wird, wenn Malcolm dabei ist... Doch für Kevin wird es doch eh nie wieder das Selbe sein, oder? Habe ich mich nicht schon zu viel verändert, um wieder Ich zu sein? Das Ich, was er kennt...
 

~ * ~
 

„Morgen kommt er, nicht wahr?“

„Ja, SIE kommen morgen. Erst wollten sie am 23. kommen, aber davon habe ich dann abgeraten.“

Ich nehme ein weiteres Stück Wäsche von Ryouta entgegen und hänge es über die Leine.

„Ich bin schon richtig neugierig auf ihn.“

„Warum?“ Ich stocke in der Bewegung.

„Du sagtest doch, wir wären uns ähnlich.“

„Ach so...“, kommt es erleichtert.

„Was dachtest du denn?“

Ich zucke unwissend mit den Schultern.

„Ich dachte an eine kleine Party.“

„Eine Party? Wofür?“

Ich hänge das letzte Kleidungsstück auf, folge ihm wieder hinein.

„Eine Neujahrsparty... so mit Luftschlangen, Ballons, Chips, Musik... eben amerikanisch.“

„Aha... und wann willst du das machen?“

„Ich hab noch nicht wirklich drüber nachgedacht... am 28. vielleicht? Ich kann es ja schlecht am wirklichen Neujahrstag machen. Es wäre einfach eine gute Gelegenheit, damit sich alle mal kennenlernen...“

In Japan muss ich mich dem traditionellen Neujahrfest beugen. Nichts mit Party, Feiern, Spaß haben, nur Nudeln futtern und blöde Matschklöße machen, die einem beim Essen dann auch noch im Halse kleben bleiben.

Mit den Verwandten meiner Mom, die wir immer besuchen gehen, habe ich überhaupt kein Gefühl eines familiären Verhältnisses. Dass ich mich durch Kevins Besuch nun davon befreit sehe, macht die Aussicht, mich mit Malcolm arrangieren zu müssen, direkt leichter.

„Wen willst du einladen?“

„Alle.“

„Schließt das Tatsuya mit ein?“, kommt es schief grinsend.

„Natürlich, er ist ein Freund von Kida.“

„Und so im Großen gesehen hast du da keine Bedenken?“

Ich weiß genau, worauf er hinauswill.

„Eigentlich nein. Meine Eltern sind zwischen Weihnachten und Neujahr nicht da, meine Freunde von der Schule werde ich nach dem Abschluss im Februar kaum noch sehen und selbst für Tatsuya müsste es doch möglich sein, den Punkt schwul für einen Abend zu verbannen... also, was sollte schon groß schief gehen?“

„Wo sind deine Eltern?“

„Nach Weihnachten fliegen sie weg. Das machen sie schon immer. Nach Weihnachten weg, vor Neujahr wieder da... ein paar Tage nur für sich.“
 

Ryouta hat seinen Platz eingenommen. Mindestens einmal in der Woche sehen wir uns, manchmal mit, doch des Öfteren ohne Kida. Die Beiden werden irgendwie nicht richtig warm miteinander.

Wenn er mir nicht gerade bei irgendwas Schulischem hilft, was in der letzten Zeit schon fast zu einem Dauerzustand geworden ist, gehen wir ins Kino, shoppen oder ziehen nur einfach ein wenig durch die Stadt.

An den meisten Tagen ist Ryouta mehr Kind als ich. Er albert herum, sprüht vor Energie und man hat das Gefühl, dass er ein Pferd nach dem anderen stehlen möchte. Doch dann gibt es da noch diese anderen Tagen.

Ich schaffe es nicht, seinen Zustand dann so wirklich zu beschreiben, geschweige denn zu verstehen. Er ist wie ein ganz anderer Mensch... negativ, lustlos, verschlossen.

Mit der Zeit traue ich mich nicht mehr zu fragen, ob an diesen Tagen irgendwas nicht stimmt, etwas vorgefallen ist. Ich bekomme immer nur die gleichen Antworten, den gleichen Blick, dass ich nicht weiterfragen soll...
 

~ * ~
 

Am nächsten Vormittag schlendere ich abwartend durch die kleinen Geschäfte des Narita Airports, während Kida sich den letzten Schulstunden dieses Jahres widmet. Zwischen Unmengen an Souvenirs, Zigaretten und Süßigkeiten schweift mein Blick immer wieder zu den Anzeigetafeln.

In einer der vielen kleinen Sitzecken mit Fernseher treffe ich meinen Dad an. Ich setze mich zu ihm, werfe einen kurzen Blick auf seine Zeitung und fange, ohne es wirklich zu wollen, damit an, auf den Sitz hin und her zu wackeln.

Die ersehnte Ansage erfolgt, ich springe auf.

„Es dauert bestimmt noch ne halbe Stunde“, kommt es wissend.

„Ich weiß...“ Ich tippele von einem Fuß auf den anderen. „Ich glaube, ich gehe noch einmal aufs Klo.“

„Tu das.“

Ich nehme drei Stufen auf einmal, überquere den breiten Raum, drücke die Tür auf. Warum bin ich nur so nervös?
 

Eine Dreiviertelstunde später treten sie in den Empfangsbereich.

Kevins Haare sind ein gutes Stück länger, Malcolms dagegen kürzer geworden. Es fühlt sich toll an, wie mein Herz ein klein wenig schneller schlägt, als sich endlich unsere Blicke treffen.

Ich spüre den neuen Größenunterschied sofort, als Kevin mich zur Begrüßung in seine Arme zieht.
 

Part 28 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ 23. Dezember

~ 24. Dezember

~ Independence Day

~ Neujahr

~ Osaka

~ Thanksgiving

~ Weihnachten
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

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Part 29

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Kida (by Stiffy)
 

Ich war noch ein Kind, als ich Weihnachten das letzte Mal als etwas Besonderes ansah. Mein Vater war es, der damals ein kleines Fest für uns drei daraus machte, der die Weihnachtsstimmung und Musik mit nach Hause brachte und mit mir am 24. stundenlang spielte, nachdem er von der Arbeit zurück kam. Meine Mutter war damals nicht wirklich an diesem westlichen Fest interessiert. Von Zuhause aus kannte sie es nicht, dass so ein Trubel darum gemacht wurde... weshalb mein Vater solche Freude daran hatte, weiß ich bis heute nicht.

Für mich waren diese Tage gegen Ende des Jahres immer die Schönsten des Jahres. Auch wenn sie es nicht aufgrund von Weihnachten tat, spielte meine Mutter in diesen Tage mehr mit mir als sonst, zumindest dann, wenn sie sich nicht gerade damit beschäftigte, das Haus fürs neue Jahr auf Hochglanz zu bringen.
 

Ab dem Jahr, in dem mein Vater starb, gab es kein Weihnachten mehr. In den nächsten drei Jahren verbrachte ich diese Zeit der Weihnachtsferien bei der Schwester meines Vaters und erst am Abend vor Neujahr sah ich meine Mutter wieder. Ich weiß nicht, was sie alleine machte, sie wollte mich einfach nur nicht dabei haben...

Auch als sie dann Takehito kennenlernte, gab es kein Weihnachtfest... und erst als Lynn geboren wurde, schien meine Mutter wieder ein wenig dazu zurück zu finden...

Es war ein richtig merkwürdiges Gefühl, als ich in dem Jahr unsere Wohnung geschmückt vorfand. Plötzlich war die Weihnachtsstimmung, die ich seit Jahren vermisste, wieder da, einfach so... Zunächst fühlte ich mich erdrückt davon, konnte mich nicht mal wirklich über den Weihnachtskuchen freuen, den meine Mutter seit Jahren endlich mal wieder gebacken hatte...

Meine kleine Schwester hatte hingegen umso mehr Spaß. Sie bewunderte die Lichterketten mit großen Augen, aß die Sahne vom Kuchen mit Hochgenuss... und hatte wohl an diesen Abenden, die wir zu viert verbrachten, genauso viel Spaß wie ich, als ich noch klein war.
 

So verbrachte ich also die letzten drei Weihnachten Zuhause, auch wenn ich nun langsam in das Alter kam, in dem man an jenem besonderen Abend andere Dinge vorhat. Doch davon wollte meine Mutter nichts wissen... und so lehnte ich jede Frage nach einer Verabredung ab.
 

Dass es dieses Jahr auch nicht viel anders sein würde, ist mir eigentlich schon länger klar, spätestens aber seit ein paar Tagen. Da nämlich rief meine Mutter mich an und erinnerte mich im Laufe eines ‚Ach, ich wollte nur mal wieder mit dir sprechen’-Gespräches so ganz nebenbei daran, dass ich am 24. spätestens Mittags zuhause sein soll, Lynn würde sich ja schon so darauf freuen.

Sakuya reagierte ein wenig enttäuscht auf diesen Anruf, auch wenn schon von vornherein klar war, dass ich Weihnachten ohnehin nicht mit ihm und seiner Familie verbringen könnte...
 

~ * ~
 

„Kida?“, reißt mich in dem Moment Sanae aus meinen Gedanken.

Ich wende meinen Blick von der Straße vor mir ab, sehe sie an.

„Hm?“

„Woran hast du gedacht?“

„Ach nichts, nur an Weihnachten...“

„Ach so...“

Einen Moment laufen wir schweigend weiter. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln, wie sie mit den Bändern ihres Rucksacks spielt. Es ist nicht zu übersehen, wie nervös sie ist. Das Treffen mit Kevin... es scheint sie ganz schön zu beschäftigen...

„Ach, sag mal...“, wirft sie irgendwann in die Stille, „Was schenkst du eigentlich Sakuya?“

Ich wende meinen Blick von ihren nervösen Fingern ab.

„Ehrlich gesagt... ich weiß es nicht...“, gebe ich zu und seufze resignierend. Warum fällt es mir bloß so schwer, das Richtige zu finden? Es sollte doch eigentlich ganz einfach sein, der Person, die man liebt, etwas zu schenken... wieso also kommt mir einfach keine Idee? Es muss doch auch nur eine Kleinigkeit sein... „Ich habe einfach keine Idee... Ich will ihm nicht einfach nur etwas kaufen, das wäre zu unpersönlich... aber was soll ich sonst machen? Was basteln... ist das nicht zu albern?“

„Albern? Wieso das denn?“

Ich zucke mit den Schultern. „Weiß nicht... Ich will nur nicht, dass er es doof findet oder so...“ Ich fahre mir nachdenklich durch die Haare. „Die Zeit wird immer kürzer... langsam sollte ich mich wohl entscheiden, was?“

Ein zögerliches Nicken, immer noch die gleiche Beschäftigung ihrer Finger. Sie ist nicht wirklich bei der Sache, das ist deutlich zu merken....

Was ist da bloß bei ihr noch, Kevin betreffend?

„Und du?“, frage ich, versuchend, sie auf andere Gedanken zu bringen, auch wenn es dazu vielleicht nicht das richtige Thema ist. „Was schenkst du Kyo?“

Ein Rotschimmer ziert sogleich ihre Wangen. „Ich habe lange überlegt... na ja... wir werden wohin gehen an dem Abend...“ Ein Schulternzucken und ein kurz Blick, der mir sagen soll ‚du weißt schon’. Komischerweise wirkt sie kein bisschen glücklich darüber, zumindest gerade nicht.

„Hast du dir schon überlegt, wo ihr hingeht?“

„Wir haben letzt darüber gesprochen und uns... was ausgesucht...“

Schweigen kommt wieder auf und weiß nicht, wie ich es brechen kann. Wir erreichen das Gleis, keine Sekunde zu früh, denn die Bahn fährt gerade ein. Als wir drinnen nebeneinander stehen, weicht Sanae meinem Blick aus. Sie ist noch immer Rot bis zu den Haarspitzen, und dennoch ist ihr Blick abwesend.

Ich muss an das vergangene Jahr denken. Viele wollten an Weihnachten mit ihr ausgehen, natürlich jeder Einzelne mit diesem ganz speziellen Hintergedanken. Sanae hat nie zugestimmt, hat zu mir immer nur gesagt, dass sie es nicht überstürzen wolle... Sie wollte immer warten, bis sie ‚den Richtigen’ gefunden hat.

Ob sie ihn jetzt wirklich gefunden hat?

„Was ist denn mit euch?“, unterbricht sie meine Gedanken.

„Ich habe meiner Mutter versprochen, zu Hause zu sein... wegen Lynn.“

„Oh... Ich hätte gedacht, dass deine Mutter dies Jahr...“

„Ach Quatsch... Sie hat mich die letzten Jahre nie weggelassen, da würde sie es dieses Jahr erst recht nicht.“

„Sie haben also immer noch was gegen euch?“

„Ja, aber wenigstens redet Mama wieder normal mit mir...“

Ich seufze, muss an die paar Tage denken, in denen Sakuya in Osaka war und ich Zuhause. Es war zwar keine richtige Aussprache zwischen meiner Mutter und mir, aber zumindest scheint sie endlich begriffen zu haben, dass sie es weder verschuldet noch ändern kann.

„Aber weißt du...“, sage ich. „Es ist ja nicht so, als würden sie mich von einem romantischen Abend abhalten... Sakuya feiert mit seinen Eltern und Kevin und Malcolm sind ja auch noch da...“

„Stimmt...“

Ihr Gesichtsausdruck ändert sich, so als wäre sie bisher froh gewesen, dass dies Thema nicht angesprochen wurde.

„Sag mal... Sanae...“, setze ich nun zögernd an, doch im selben Moment erreichen wir unsere Haltestelle.

Gemeinsam mit unzähligen anderen verlassen wir die Bahn, und als wir dem Getümmel endlich entronnen sind, steht Kyo vor uns.

„Hey, da bist du ja“, begrüßt Sanae ihn mit einem nervösen Lächeln.

„Klar, ich will unsere Gäste doch auch gleich begrüßen...“ Ein Zwinkern.

Wir gehen wieder los.

„Ach Kida, was wolltest du mich eigentlich gerade fragen?“

„Hat sich erledigt...“ Ich schenke ihr ein Lächeln, ernte darauf einen forschenden Blick.

„Na gut...“
 

Den Rest des Weges zu Sakuya nach Hause schweigen wir. Sanae hält nun Kyos Hand und läuft mit nachdenklichem Blick zwischen uns her.

Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung wie sie dazu steht, Kevin gleich wiederzusehen... Ich habe nicht gewagt zu fragen und als ich ihr von dem Besuch erzählte, war in ihrem Gesicht auch nichts zu lesen. Dafür stand für sie aber unumstößlich fest, dass sie heute auf jeden Fall auch mit zu Sakuya kommen wird...

Ich frage mich, wie Kyo dazu steht...
 

Was mich angeht, so freue ich mich über den Besuch der Beiden. Zunächst, als es hieß, dass Kevin zu Vesuch kommt, war ich etwas erschrocken, was sich aber schnell wieder legte, als klar wurde, dass er statt Sam diesen Malcolm mitbringen wird.

So nun war es schön zu sehen, wie Sakuya sich auf den Besuch freut, wie er noch gestern Abend ganz aufgeregt neben mir lag...
 

„Hey, da bist du- was macht ihr denn hier?“

Sakuyas Blick wandert von mir zu meinen Begleitern.

„Na, das ist doch mal ne Begrüßung!“, lacht Kyo und schiebt sich an mir vorbei ins Haus.

„Sanae wollte unbedingt mit...“, erkläre ich ihr Auftauchen und folge nach drinnen, spüre fast einen stechenden Blick im Rücken.

„Ja ja, ich versteh schon...“, grinst Sakuya Sanae an, die gerade protestieren will, und legt ihr den Arm um die Schulter. „Na kommt, lasst uns hochgehen...“

Damit schiebt er sie in Richtung Treppe... und es ist wohl meiner widerspenstigen Jacke zu verdanken, dass ich es bin, der sich als letzter in Bewegung setzt und somit von Sakuyas Mutter aufgehalten wird.

„Ach Kida, könntest du mir mal kurz was helfen...?“, fragt sie und ihr Blick folgt den anderen Dreien, die schon im Obergeschoss angekommen sind.

„Natürlich.“

Eine Kiste im obersten Regal des Abstellraums ist es, die ich ihr herunterheben soll. Darin befinden sich alle möglichen Formen für Kuchen und Plätzchen, sowie sonstiger Kram, den man zum Backen benötigt...

„Feiert ihr auch noch Weihnachten?“, fragt sie, während sie zwischen zwei Kuchenformen abwägt.

„Ja... für Lynn. Dies Jahr hat sie Mama sogar überredet, Plätzchen zu machen, nachdem sie in der Vorschule verschiedene Rezepte bekommen hat...“

„Das ist doch schön...“ Ein zufriedenes Lächeln begleitet ihre Worte, dann deutet sie auf die Kiste. „Wärst du so lieb, und würdest sie wieder hochstellen?“
 

Nachdem ich noch ein paar Worte über mein bevorstehendes Weihnachtsfest mit Mrs. Ryan gewechselt habe, begebe dann auch ich mich schließlich nach oben. Lachen dringt an mein Ohr, als ich mich Sakuyas Zimmer nähere... doch als ich dies betrete, verklingt es schnell wieder. Stattdessen werde ich von fünf fröhlichen Gesichtern angesehen, darunter ein mir vollkommen unbekanntes.

Erst begrüße ich Kevin, der mir am nächsten ist, danach stößt sich Malcolm vom Bett ab und streckt mir die Hand hin. Ein breites Grinsen ziert seine Lippen, als er sich vorstellt.

„Hi, I a~m Malcolm! Niii~ice to meee~et youu~u!“

Er grinst mich an, während er die Worte überdeutlich spricht. Hält er mich für vollkommen blöd?

Ich erwidere den Gruß, woraufhin er irgendwas unverständliches zu Kevin sagt, was diesen zum Grinsen bringt. Zwar komme ich mir für einen Moment etwas doof vor, doch Sakuyas Lächeln beruhigt mich wieder.
 

Das Gespräch, in das ich hineingeplatzt bin, wird wieder aufgenommen. Ich lasse mich neben Kyo auf den Boden sinken, versuche so gut es geht, ohne Sakuyas Übersetzungen dem Gespräch zu folgen. Auch wenn ich wenigstens ein paar Sachen verstehe, gelingt es eher schlecht als recht. Die beiden sprechen die meiste Zeit einfach viel zu schnell und undeutlich, als dass ich sie ohne weiteres verstehen könnte.
 

Irgendwann kommen wir zu der Frage, wie eigentlich die Gestaltung des heutigen Abends und des morgigen Tages aussieht, ob irgendwas Spezielles geplant ist.

Sanae ist es, der sofort etwas einfällt.

„Der Kaiserpalast!“, meint sie vielsagend. „Immerhin hat er nur zweimal im Jahr geöffnet... Und wenn sie schon mal hier sind, dürfen sie das doch nicht verpassen...“

„Ich war auch noch nie dort...“, gibt Sakuya zu.
 

Viel besonderes tun wir nicht mehr an diesem Abend. Gegen acht Uhr verabschieden sich Sanae und Kyo und so sitzen wir danach zu viert in Sakuyas Zimmer und reden. Naja, eigentlich ist es wieder so, dass eher die drei reden, aber wirklich stören tut es mich nicht einmal, vielleicht, weil ich gerade viel zu faul bin, mich wirklich zu unterhalten. So komisch es klingen mag, irgendwie genieße ich es sogar, einfach so dazusitzen und der mir noch immer fremden Sprache zu lauschen... und dabei festzustellen, dass ich doch schon mehr verstehe, als das letzte Mal.

Was Sakuya angeht, so tut es ihm gut, irgendwie spüre ich das. Nachdem wir in den letzten Wochen kaum Abwechslung hatten, aufgrund unseres uns eigens auferlegten Lernplanes, muss es schön sein für ihn, mal wieder so richtig lange mit jemandem über Dinge zu reden, die zum größten Teil nichts mit der Schule zu tun haben...
 

~ * ~
 

Am Abend irgendwie die Zeit vergessen und dadurch viel zu spät ins Bett gekommen, werden wir am nächsten Morgen viel zu früh aus diesem geklingelt. Ein Schlag nach dem nervigen Wecker, dann ein verschlafenes Blinzeln...

„Ausschlafen!... Naja, war wohl nix...“, grinse ich Sakuya an, der dem nur ein Nicken samt Gähnen schenkt.

Mühevoll setzt er sich im Bett auf, schaltet das gerade viel zu grelle Licht an.

„Aber wenn es wirklich so voll ist, wie Sanae sagt, ist es wohl besser, früh hinzugehen...“, seufzt er, bleibt aber trotz seiner eigenen Worte einfach nur sitzen.

Ich strecke meine Arme nach ihm aus, kuschle mich gegen ihn.

„Nur ein bisschen...“, murmle ich. „Zum Wachwerden...“

„Ja, klar... wohl eher das Gegenteil!“, lacht er und wuschelt mir durch die Haare.

Dennoch verweilen wir ein paar Minuten einfach so, bis Sakuya mich schließlich von sich schiebt. Ein energischer Blick, ein sanfter Kuss und dann entsteigen wir letztendlich dem warmen Bett.
 

Nachdem wir uns förmlich im Schneckentempo fertiggemacht haben, begegnet uns Mrs. Ryan auf der Treppe.

„Ist gestern ziemlich spät geworden, was?“, zwinkert sie, deutet dann auf die Gästezimmertür. „Vielleicht solltet ihr mal nachsehen, ob die beiden überhaupt schon wach sind...“

Tatsächlich sind sie es nicht. Nachdem Sakuya sich durch das dunkle Zimmer zwischen Bett und Futon zum Fenster durchgearbeitet hat, sehen wir auf zwei schlafende Gesichter.

Der Weckruf Sakuyas hilft zunächst nichts. Auf dem Bett wird nur etwas gemurmelt, dann sich weiter in Kissen und Decke vergraben... Und die Person auf dem Futon bleibt vollkommen regungslos liegen.
 

Nach der mühevollen Aufgabe, die beiden aus den Federn zu bekommen, finden Sakuya und ich uns schließlich am Frühstückstisch wieder. Kaum haben wir uns niedergelassen, klingelt es auch schon an der Tür... und so stehen kurz darauf Sanae und Kyo vor uns.

„Guten Morgen!“, kommt es fröhlich von Kyo, als er sich auf einen Stuhl plumpsen lässt.

Sanae hingegen bietet sich sofort an, Mrs. Ryan beim Frühstück zu helfen.

„Gott, wie könnt ihr um diese Uhrzeit bloß schon so fit sein?“

„Sie haben nicht die halbe Nacht durchgemacht...“, erinnert mich Sakuya.

„In den Ferien um halb Acht aufstehen ist trotzdem unmenschlich!“
 

~ * ~
 

Es ist ein paar Jahre her, dass ich das erste und letzte Mal im Kaisergarten war. Sanaes Familie hat mich damals mit hergenommen und ebenso wie in jenem Jahr, erwartet uns auch heute eine riesige Schlange vor dem Haupttor, und das, obwohl wir schon eine Stunde vor Einlass da sind.

Mehr als eineinhalb Stunden dauert es dann tatsächlich, bis wir endlich das Haupttor erreicht haben... die Schlange hinter uns scheint nicht enden zu wollen...

Gerade rechtzeitig erreichen wir den Platz, an dem nur Minuten später das große Jubeln losgeht. Um uns herum werden Fahnen geschwenkt, Sanae tut es den anderen gleich, versucht sich zu strecken und einen guten Blick auf das Fenster zu erhaschen, hinter dem man die wohl berühmtesten Personen Japans vorfindet: Kaiser Akihito und Kaiserin Michiko zusammen mit ihren Kindern und deren Ehepartnern.

Ein Stimme ertönt über dem Platz, augenblicklich ist es still. Es ist nur eine kurze, förmliche Begrüßung, und dennoch bringt sie die Leute erneut zum Jubeln... fast lässt man sich anstecken von dieser Begeisterung.

Nur drei Minuten dauert der ‚Auftritt’ der Kaiserfamilie und fast erwartet man Zugabe-Rufe wie auf einem Konzert. Natürlich bleiben diese aus. Menschen packen ihre Fahnen weg, die Masse löst sich in alle Richtungen auf.

„Kommt!“, meint Sanae, und greift nach meinem Arm, „Lasst uns dahin gehen!“

Sie zieht Kyo und mich mit in die Richtung der sich bildenden Traube, die anderen drei folgen uns so gut es geht. Das Gästebuch, na ja, beziehungsweise die Gästebücher.

Auch hier stehen wir eine ganze Weile, bis wir endlich an der Reihe sind.

„Wenn schon mal hier, dann auch richtig...“, grinst Sanae mich an, als sie sich über eines der Bücher beugt.
 

Nachdem wir noch ein bisschen durch den Garten gelaufen sind, verlassen wir ihn schließlich mit der Absicht, jetzt erst mal etwas zu Essen zu uns zu nehmen.

„Und was machen wir jetzt?“, fragt Kyo in die Runde, als wir uns vor ein paar riesigen Schüsseln Ramen wiederfinden.

Ich zucke mit den Schultern, wende meinen Blick grinsend von Malcolm ab, der in seiner Schüssel herumstochert und dabei nicht gerade vor Begeisterung sprühende Worte von sich gibt, und sehe Sakuya an. Auch er scheint zu überlegen.
 

Die Entscheidung fällt auf Karaoke in Roppongi. Und wenn wir schon mal da sind, sollten wir doch auch gleich ein paar Läden abklappern, das zumindest meint Sakuya und Kevin stimmt ihm ausdrücklich zu.

So also führt unser Weg zu den Roppongi Hills... und nachdem wir bestimmt zwei Stunden lang einen dieser extrem teuren Einkaufsbummel hinter uns haben, an denen ich noch nichts finden kann, machen wir uns schließlich auf den Weg zum nächsten Karaokecenter.

Es werden witzige Stunden, einfach schon deshalb, weil dies eine Beschäftigung ist, der man ganz ohne Verständigungsprobleme nachgehen kann. Jubel und Buh-Rufe sind allseits gleich und so bleiben wir länger, als ich eigentlich erwartet hätte.
 

Ziemlich erschöpft fallen wir nach einem ausgedehnten Spaziergang durch das nächtliche Tokyo ins Bett. Nur ein paar Zärtlichkeiten tauschen wir in dieser Zweisamkeit aus, bis wir schließlich einschlafen.
 

~ * ~
 

Als ich am nächsten Vormittag Zuhause ankomme, treffe ich zunächst... auf Lichterketten.

„Dieses Jahr übertreibt sie’s aber wirklich...“, murmle ich und ziehe meine Schuhe aus.

In der Küche finde ich Lynn vor, die mit ihren Wachsmalstiften über einem Bild sitzt und ganz konzentriert daran malt. Sie hat mich noch nicht bemerkt, weshalb ich einen Moment lang einfach stehen bleibe und sie beobachte.

„Hey Kleines“, sage ich schließlich, was ihren Kopf hochfliegen lässt.

Ein Strahlen, als sie aufspringt, doch sofort dreht sie wieder um, lässt das Bild, an dem sie gerade gemalt hat, unter dem Papierstapel verschwinden. Erst dann kommt die freudig auf mich zugerannt.

„Ist Mama da?“, frage ich, als ich sie fest an mich drücke.

Ein Kopfschütteln. „Ist einkaufen...“

„Ach so...“ Mein Blick fällt auf die Küchenablage, wo ein aufgeschlagenes Backbuch liegt. „Und was machst du schönes?“

„Nichts“, kommt es schnell, verheimlichend.

„Schade, ich dachte grad, du malst was für mich.“ Gespielt enttäuscht, woraufhin ihr Griff um meinen Hals gleich etwas fester wird.

„Aber... ich...“

„Schon gut, Kleines.“ Ich küsse sie, setze sie dann wieder auf dem Stuhl ab. „Mach weiter, ich guck auch nicht hin, versprochen!“

Ein forschender Blick. Ich drehe mich um, richte meine Aufmerksamkeit auf das Backbuch. Auf der einen Seite liegen zwei Blätter mit Plätzchenrezepten, die andere zeigt das Rezept für die Biskuitsahnetorte, die meine Mutter jedes Jahr macht. Beiläufig überfliege ich die Zutaten.

In dem Moment geht die Wohnungstür auf... kurz darauf: „Kida?“

„Ich bin hier.“

Mit zwei schweren Tüten beladen, betritt sie die Küche.

„Schön, dass du schon hier bist“, lächelt sie, beginnt sofort damit, die Einkäufe wegzuräumen. Die Sachen, die sie für die Torte draußen lässt, betrachte ich forschend.

„Jetzt gibt’s erst mal Mittagessen...“, meint sie, meinen Blick bemerkend. „Hilfst du uns danach beim Backen?“

„Ja.“

Ihr Blick ist mehr als überrascht bei dieser Antwort.

„Vielleicht... könntest du den Biskuitboden auch schon mal vorbereiten... der muss nämlich eh so lange abkühlen...“ Sie deutet auf das Rezept.

Gesagt, getan... schnell eine große Schüssel herbeigeholt und schon beginne ich damit, den Teig zu mischen, erleichtert darüber, festzustellen, dass sie genügend Zutaten gekauft hat...

„Ist das nicht zu viel Mehl?“, kommt es nur kurz darauf ermahnend von meiner Mutter, die am Reiskocher hantiert.

„Nein, das ist schon richtig so...“

„Na, wenn du meinst...“, erwidert sie und dreht sich grinsend zu Lynn um, die noch immer beim Bildermalen sitzt. „Also Schatz, wenn der Kuchen nachher nicht schmeckt, wissen wir, wem wir die Schuld geben können...“

Sie erntet einen verwirrten Blick, dreht sich dann wieder dem Reiskocher zu, nicht aber, ohne mich beim Abmessen der Butter genaustes zu beobachten... Sagen tut sie allerdings nichts mehr, auch nicht, als ich kurz verschwinde und schließlich mit einem extra Utensil zurückkomme...
 

Nach dem Mittagessen und während die Biskuitböden abkühlen, bin ich schon wieder am Abwiegen von Zutaten, diesmal allerdings für den Plätzchenteig. Lynn steht gespannt auf einem Hocker neben mir. Es ist das erste Mal, dass sie Plätzchen backt.

„Wann kommt Takehito heute nach Hause?“, frage ich zögernd, über das Geräusch des Mixers hinweg.

„Ich weiß es nicht... Er geht erst noch zu einer Feier der Firma, wollte aber nicht so spät nach Hause kommen...“

Ich nicke, sage nichts dazu. Es würde ihr wehtun, wenn ich sag, dass ich auf seine Anwesenheit gerade heute keinen besonderen Wert lege.

„So Schatz...“ Ich stelle den Mixer aus, Knete den Teig stattdessen mit den Händen noch etwas weiter durch. „Im Flur steht mein Rucksack... Im vorderen Fach ist eine Tüte mit Plätzchenformen... holst du sie mir bitte?“

Ein heftiges Nicken, dann springt sie vom Stuhl und flitzt aus der Küche.

„Hast du etwa welche gekauft?“

„Nein... Mrs. Ryan hat sie mir geliehen... Ich weiß ja, dass wir kaum Formen da haben...“

Ein Nicken, bevor sie die leere Schüssel von mir entgegen nimmt. Ihr Blick ist mit einem Mal ein wenig ernster geworden. Stört es sie etwa?

„Da!“, präsentiert Lynn stolz und klettert zurück auf den Hocker.

„Prima, dann können wir ja anfangen.“
 

Als Kuchen und Plätzchen letztendlich fertig sind, werde ich sofort zu einer weiteren Tätigkeit überredet... und so sitze ich nur kurz darauf im Wohnzimmer auf dem Boden und spiele. Irgendwie erinnert es mich gewaltig an damals, als ich noch so klein war, als mein Vater noch da war...

Doch für diese traurige Erinnerung kann Lynn nichts, und so versuche ich, mich an diesem Nachmittag voll und ganz ihr zu widmen.
 

Zu meiner Überraschung kommt Takehito tatsächlich rechtzeitig zum Abendessen, was besonders meine Mutter sichtlich freut. Zudem scheint er noch außergewöhnlich gut draufzusein, was man besonders daran merkt, dass er fast normal mit mir umgeht, nicht so vernichtend wie sonst immer.

Wir genießen das Essen, danach ein großes Stück des Kuchens... wobei ich echt erleichtert bin, als er essbar, nein, sogar extrem lecker ist.
 

~ * ~
 

Ausschlafen ist eine Sache, die mir auch an diesem Morgen nicht wirklich vergönnt ist. Um neun Uhr werde ich zum Frühstück gerufen, treffe dabei sogar auf Takehito, der heute erst etwas später in der Firma sein muss.

Lynn sitzt aufgekratzt auf ihrem Stuhl, wartet wahrscheinlich sehnsüchtig auf ihre Geschenke... die es nach einem ausführlichen Frühstück auch endlich für sie gibt.

Eine neue Puppe, ein paar Spiele... und ein kleines Päckchen bunter Kekse, das ich den anderen Geschenken noch schnell beigefügt habe.

Fragend werde ich von der Seite angesehen, während Lynn versucht, die Schleife, an der ein kleiner Engel hängt, vorsichtig zu öffnen.

„Von Sakuyas Mutter“, erkläre ich, woraufhin Takehitos Blick düsterer wird.

Meine Mutter hingegen lächelt nur... und es wirkt sogar ehrlich. Anders als mit den Plätzchenformen scheint sie diese kleine Geste wirklich nett zu finden.
 

„Und? Was hast du heute noch vor?“, werde ich etwas später von meiner Mutter gefragt, während wir gemeinsam die Küche aufräumen.

„So genau weiß ich das ehrlich gesagt noch gar nicht...“, antworte ich zögernd, habe ich mir bisher eigentlich noch nicht mal richtig Gedanken darüber gemacht.

„Ach, du gehst nicht wieder zu ihm?“

Ich schüttle den Kopf. „Nein... ich geh erst morgen wieder hin.“

Sie wirkt verblüfft, sagt jedoch nichts dazu.

„In Amerika ist Weihnachten ein Familientag“, erkläre ich. „Ich weiß nicht genau, was sie vorhaben, aber es ist vielleicht besser, wenn ich mal nicht dabei bin...“ Vor allem wegen seinem Vater, spreche ich die eigentliche Erklärung, den Grund, nicht aus.

„Ach so...“

„Also hast du keine Pläne?“

„Nein, nicht wirklich...“
 

Viel tue ich tatsächlich nicht mehr an diesem Tag. Kurz überlege ich, Tatsuya besuchen zu gehen, tue es allerdings letztendlich nicht. Eigentlich habe ich gar nichts dagegen, einen Tag mal einfach nur zu Faulenzen.

Trotzdem rufe ich ihn später an, und zwar, um mit ihm noch mal über die bevorstehende Party zu reden, bei der noch nicht klar war, ob Sai und Chiga vielleicht auch kommen wollen. Die Antwort ist „Ja“ und nachdem dies Thema geklärt ist, telefoniere ich bestimmt noch eine Stunde mit ihm, ohne wirklich über irgendwas Interessantes zu reden.
 

~ * ~
 

„Wo willst du hin?“, werde ich von meiner Mutter an der Tür aufgehalten, als ich gegen kurz vor Elf unsere Wohnung verlassen will. Ihr Blick ist auf den Karton in meinen Händen gerichtet.

„Weg.“

„Das sehe ich. Wo willst du hin?“

„Zu Sakuya!“ Vielsagend sehe ich sie an.

Sie seufzt, nickt resignierend. „Also nun doch... Okay...“

„Keine Sorge. Ich bleibe nicht lange.“

Damit drehe ich mich um und gehe, weiß, dass sie mich am liebsten aufhalten würde. Ich denke, sie hat mittlerweile aber einfach gemerkt, dass sie nichts tun kann, außer einfach irgendwie damit zu leben...

Meine schnellen Schritten bringen mich zur Bahnstation. Noch immer sind einige Leute auf der Straße, selbst um diese Uhrzeit...

In dem Wagon, den ich betrete, sitzen nur zwei Pärchen und ein paar einzelne Personen. Obwohl Unmengen an Plätzen frei sind, bleibe ich an der Tür stehen. Ich bin viel zu nervös um auch nur dieses kurze Stück ruhig sitzen zu bleiben.

Der Blick einer alten Frau richtet sich auf das Päckchen in meinen Händen, das ich vorsichtig umklammere und bei dem durch die Verpackung deutlich erkennbar ist, dass es sich um ein Geschenk handelt. Ein Lächeln liegt auf ihren Lippen... und wahrscheinlich denkt sie, ich würde nun meine Freundin treffen.

Naja, so falsch liegt sie ja nun wirklich nicht.

Je näher wir der Haltestelle kommen, desto unruhiger werde ich. Zwar war mir von Anfang an klar, dass es nicht wirklich das ist, was ein Junge einem anderem schenken würde, aber so unsicher fühlte ich mich da noch nicht.

Was, wenn du es wirklich albern findest, kitschig... einfach nur blöd?

Ich versuche diese Gedanken zu verscheuchen, aber so ganz will es einfach nicht klappen.

Mein Blick trifft sich mit dem der alten Frau. Sie lächelt immer noch, steht kurz darauf auf und kommt zu mir. Fast habe ich das Gefühl, sie wolle etwas sagen, doch sie tut es nicht... und nur ein kurzes, freundliches Nicken wird mir noch geschenkt, als sie an der nächsten Station die Bahn verlässt.

Weiter geht es... noch eine Station, nur noch ein paar Minuten, fast schon Sekunden. Ich schaue mich um, nur um nicht die ganze Zeit auf mein Päckchen zu starren, betrachte eines der Paare, die sich händchenhaltend unterhalten.

Wie wirst du gleich wohl reagieren? Wirst du dich darüber freuen, dass ich vorbeigekommen bin? Wenigstens ein wenig?

Die Bahn wird langsamer, hält schließlich... Ich betrete das Gleis, während mein Herz immer fester schlägt. Bevor ich die Treppe nach oben steige, fällt mein Blick auf den Fahrplan. Vielleicht sollte ich wieder umkehren...

Doch was mache ich dann? Dir das Geschenk morgen geben, wenn vielleicht sogar Kevin und Malcolm daneben stehen?

Meine Schritte werden langsamer, je näher ich der richtigen Straßenecke komme. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich ein wenig zu früh bin. Prompt werde ich noch langsamer.

Du wirst es mit Sicherheit vollkommen unpassend finden!
 

Als ich schließlich vor dem Haus der Ryans stehe und die Lichterketten betrachte, die im Garten angebracht sind, hat mich der Mut schon vollkommen verlassen. Ich krame mein Handy dennoch hervor, wähle die Nummer von seinem... Lange schwebt mein Finger über der Taste, die mich mit ihm verbinden wird.

Selbst wenn du es albern finden wirst... irgendwie wirst du dich bestimmt auch freuen... irgendwie.

Ich drücke die Taste, lausche... und bin nach dem achten Mal Tuten gewillt, wieder aufzulegen. Und jetzt? Du hast es nicht bei dir, das hätte ich mir denken können.

„Kida?“

Sofort ziehe ich meinen Daumen zurück. Mein Herz rast wie schon lange nicht mehr.

„Ja“, antworte ich und kann irgendwie ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Was ist los?“

„Nichts...“ Mein Kehle ist trocken.

„Wieso rufst du an?“ Fast klingt er ein wenig besorgt.

„Ich...“ Ich spreche nicht weiter, denn in dem Moment tritt ein Schatten ans kargbeleuchtete Fenster links oben... Sein Zimmerfenster.

„Kida, was...? Wieso bist du...“

„Kommst du runter?“

Nur ein kurzes „Ja“ ist noch zu hören, dann ist die Leitung tot. Ich lasse mein Handy sinken, in meiner Jackentasche verschwinden... und weiß nicht so recht, ob ich lieber hier stehen bleiben oder auf die Eingangstür zugehen soll.

Ich entscheide mich gegen beides, trete stattdessen von der Einfahrt hinunter. Plötzlich habe ich das Gefühl, es könnte mich jemand sehen, der es nicht soll... Sakuyas Vater zum Beispiel.
 

Die Tür wird geöffnet, kurz darauf wieder geschlossen. Mit schnellen Schritten kommt Sakuya auf mich zu, bleibt direkt vor mir stehen. Nur kurz fällt sein Blick auf das Päckchen in meiner Hand, dann sieht er mich an.

„Hey“, lächelt er.

„Hey“ Meine Stimme zittert schon bei diesem kleinen Wort. Gott, so nervös war ich ja seit unseren ersten Treffen nicht mehr. „Lass... Lass uns ein Stück gehen...“

Nur ein kurzes Zögern, dann nickt er... und gemeinsam setzen wir uns in Bewegung. Als wir ein Stück außer Sichtweite sind, greife ich nach Sakuyas Hand. Sie ist angenehm warm... und ich bin froh, als er sie nicht zurückzieht.

„Ich... wollte dich sehen...“, spreche ich zögernd und drücke seine Hand ein wenig fester, lenke unsere Schritte von den sonst belebteren Straßen weg, auch wenn hier heute ohnehin nichts los ist. „Ich hoffe, das ist okay...“

„Natürlich.“ Ein Lächeln, als ich ihn ansehe. „Ich kann nur nicht zu lange...“

„Ich weiß...“

Eine weitere Ecke, um die wir gehen, dann finden wir uns in einer etwas dunkleren Gegend wieder. Ich bleibe stehen, lasse seine Hand los... und ehe ich noch groß darüber nachdenken kann, drücke ich ihm das Päckchen gegen die Brust.

Ein fragender Blick, als er es mir abnimmt, auch wenn ihm ja schon vorher klar gewesen sein muss, dass es für ihn ist. Ich spüre, wie ich knallrot anlaufe.

„Es ist nichts besonderes“, sage ich leise. „Im Gegenteil... aber ich wusste einfach nicht, was ich dir schenken soll. Du hast nie gesagt, was du dir wünscht... und alles, an das ich denken konnte... na ja, das hätte ich mir wohl nicht leisten können...“ Ich versuche ein Lächeln, das wahrscheinlich gerade viel zu gezwungen wirkt, suche nach weiteren Worten. „Vielleicht hätte ich dir irgendwas basteln sollen, aber ich bin nicht sonderlich geschickt und kreativ darin... ebenso wenig kann ich Stricken oder Zeichnen... Aber ich wollte, dass du irgendwas von mir bekommst, sei es noch so... kitschig...“

Ich weiche Sakuyas Blick aus, sehe stattdessen den weißroten Karton an. Am liebsten würde ich danach greifen, nur um mich an irgendwas festhalten zu können. Immer unsicherer bin ich, ob die Idee nun richtig oder falsch war, dabei war ich ihr noch viel sicherer, als ich diesen Karton gekauft habe...

„Ich weiß, es ist eigentlich schon ein Tag zu spät dafür, aber Geschenke gibt es nun mal heute am 25.... deshalb... wollte ich, dass du ihn heute bekommst...“

Ich hebe meinen Blick wieder, schaue in sein erwartungsvolles Gesicht. Sein Blick ist liebevoll und er wirkt, als würde ihn schon dies hier freuen. Selbst wenn du es jetzt dämlich finden solltest... allein dafür, dass du nun gerade bei mir bist, ist das wert.

„Mach es auf“, spreche ich weiter, strecke dann meine Hände aus, so dass er den Karton darauf abstellen und den Deckel leichter hochheben kann.

Einen Moment halte ich die Luft an, irgendwie plötzlich ängstlich darüber, dass was kaputt gegangen ist. Nein, alles noch heil.

„Hast du den etwa...?“, fragt er nach ein paar Sekunden der Stille.

Ich nicke, sehe ihn zögernd an... und bin unglaublich erleichtert über das Lächeln, das auf seinen Lippen liegt.

„Das ist wirklich kitschig“, kommt es, gefolgt von einem liebevollen Zwinkern.

Sein Blick wandert prüfend herum, bevor er Finger nach einem der Sahnehäubchen ausstreckt, ihn danach ableckt und sich zu mir vorbeugt. Ein tiefer Kuss, nach dem er mir fest in die Augen sieht.

„Ist echt süß...“, lächelt er, und ich bin mir sicher, dass er damit nicht den Kuchen selbst meint.

„Im wahrsten Sinne des Wortes...“, erwidere ich, muss dabei knallrot sein.

Sakuya küsst mich erneut, wobei er gegen den Karton stößt. „Ups.“

„Nichts passiert.“

Ich stelle den Karton mit dem Kuchen auf ein kleines Mauerstück, trete dann das Stück an Sakuya heran, das uns trennt.

„Frohe Weihnachten“, flüstere ich und schlinge die Arme um ihn.

„Frohe Weihnachten“, haucht er zurück, bevor seine Lippen erneut die Meinen treffen.

Es ist ein langer, sanfter Kuss, den wir teilen, bevor Sakuya mich fest an sich zieht, sein Gesicht in meinen Haaren vergräbt.
 

„Es tut mir leid, dass ich schon wieder zurück muss...“, meint Sakuya, als wir uns einige Minuten später auf den Weg zurück machen. „Ich wäre auch gerne...“

„Ist doch okay. Ich war es immerhin, der dich überfallen hat...“

Ein kurzes, sanftes Lachen. „Stimmt...“ Er drückt meine Hand, während er auf der anderen den Karton balanciert.

Eine Ecke vor seiner Straße bleiben wir stehen.

„Es ist besser, wenn du alleine zurück gehst... nicht, dass dein Vater grad guckt wo du bleibst, oder so...“

„Glaub ich zwar nicht, aber zur Sicherheit...“

Sakuya dreht sich zu mir, sieht mir tief in die Augen. Ein Blick, den ich für einen Moment einfach nur genieße.

„Schade, dass wir ihn nicht zusammen essen können... aber ich hoffe, er schmeckt dir auch so...“, sage ich nach einer Weile

„Bestimmt“, erwidert Sakuya lächelnd, drückt dann meine Hand etwas fester. „Ich liebe dich, Kida...“, kommt es leise.

„Ich liebe dich auch, mehr als alles andere...“

Ein fester Blick, aber keine von uns hat den Mut, gerade mehr daraus werden zu lassen... und so verabschieden wir uns schließlich.

„Wir sehen uns morgen“, lächle ich.

„Ja, bis morgen.“

„Bis morgen.“

Sakuya lässt meine Hand los, sieht mich noch mal kurz an und verschwindet anschließend um die Ecke. Erst als seine Schritte langsam verklungen sind, lasse ich mich gegen die nächste Wand sinken. Mein Herz schlägt noch immer viel zu fest.

Wenn du wüsstest, wie ungern ich dich gerade gehen lasse, wie gern ich dich einfach noch stundenlang festgehalten hätte... wenn du wüsstest, welchen Drang ich danach habe, dir jetzt einfach zu folgen, Hand in Hand mit dir das Haus zu betreten und deinem Vater endlich die Wahrheit zu sagen... damit wir uns zumindest dort nicht mehr verstecken müssen...

Aber ich weiß, dass es jetzt noch nicht... na ja, vielleicht im ja nächsten Jahr.
 

Part 29 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Kaiser Akihito

~ Kaiserpalast

~ Weihnachtskuchen
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

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Part 30

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Part 31

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Kida (by Stiffy)
 

Das Erste, was ich denke, als ich die kleine Schachtel in meiner Hand entdecke? Das, was wohl jeder denken würde...

Es ist schon ein kurzer Schreck, aber nichts Negatives, einfach nur für eine Sekunde lang ein übermäßiges Erstaunen, bis er mich dann auch gleich aufklärt, dass es nicht das ist, was ich denke...

Doch was ist es dann?

Noch neugieriger geworden öffne ich die Schachtel nun. Entgegen blitzt mir das Silber von zwei kleinen Gegenständen. Meine Augen bleiben an dem strahlenden roten Steinen hängen, die darin eingefasst sind... Wow... mehr fällt mir gerade nicht dazu ein.

„Eigentlich ist auch nur einer für dich. Den anderen wollte ich tragen“, erklärt Sakuya, bevor ich noch irgendwie weiterdenken könnte. Ein Gefühl der herrlichen Überraschung steigt in mir auf.

Zögernd nur hebe ich die Hand, traue mich fast nicht, die Schmuckstücke zu berühren. Unerwartet schwer wiegt der kleine Gegenstand schließlich in meinen Fingern.

Er will tatsächlich, dass wir den selben Ohrring tragen?

„Keine Angst, sie waren nicht sehr teuer... und wenn, wenn du nicht magst, ist das auch ok“, kommt es, nun leicht zögernd, und erst jetzt wird mir bewusst, dass ich meiner Freude vielleicht mal Ausdruck verleihen sollte...

Ich lege den Ohrring zurück, die Schachtel zur Seite und ziehe Sakuya dann an mich, ganz fest, eigentlich immer noch total sprachlos.

„Habe ich dir heute eigentlich schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?“, wispere ich.

„Weißt du was, das habe ich mich auch schon gefragt.“

Ein Lächeln, dann ein Kuss, der mir für einen Moment das Gefühl gibt, es könne nicht mehr schöner werden, als es gerade ist...

Fest vergrabe ich meine Finger in seinem Shirt, als ich ihn nach dem Kuss an mich drücke, starre über seine Schulter hinweg das geöffnete, dunkelrote Samtkästchen an. Ehrlich gesagt... ich hätte nie gedacht, dass er für so etwas bereit wäre... Um so schöner ist es jetzt.

„Danke...“, flüstere ich und schließe die Augen, ziehe den frischen Geruch seiner Haare ein. „Sie sind wunderschön...“

Er drückt mich ein wenig weg, küsst mich erneut, diesmal leidenschaftlicher... Gott, ich könnte schon wieder...
 

Etwas später entscheiden wir uns dazu, jetzt endlich mal runter zu gehen um unsere Spuren von zuvor wegzuräumen. Eine gute Entscheidung wie sich herausstellt, denn nur ein paar Minuten darauf kommen Kevin und Malcolm zurück. Ehrlich gesagt, habe ich die beiden ganz vergessen... weshalb ich auch einen Moment das Gefühl der Enttäuschung verspüre, den Abend nicht mit Sakuya allein verbringen zu können... aber was soll’s, es liegt noch alle Zeit der Welt vor uns...
 

So verbringen wir also den restlichen Tag zu viert. Sakuya berichtet mir genau, was bisher für die morgige Party geplant wurde, wobei ihm immer neue Sachen einfallen. Mit vollstem Enthusiasmus ist er bei der Sache und wir anderen drei lassen uns am Ende sogar von seiner Nervosität, es könnte irgendwas vergessen werden oder fehlen, anstecken.
 

~ * ~
 

Die Vorbereitungen am nächsten Tag scheinen hektischer als meine Mutter in ihren schlimmsten Momenten sein kann... und dennoch sind sie auf komische Art und Weise gegliedert. Als würde eine Liste abgearbeitet, wird eins nach dem anderen gemacht... doch auch wenn wir gut vorankommen, ist es eine große Hilfe, als Sanae und Yun vorbeikommen. Zwei Mädchen sind gar nicht so schlecht, stelle ich fest, als ich den beiden für eine kurze Zeit beim Garnieren des Essens zuschaue.

„Hilf mir mal wer! Die Luftschlangen halten nicht!“, werde ich im nächsten Moment aber auch schon von Sakuya aus meinen Gedanken gerissen und gehe dem sogleich nach.

Er steht auf der einen Seite des Zimmers auf einer Leiter und deutet zur Querwand hinüber.

„Ich kann grad nicht...“, richtet sich sein Blick entschuldigend wieder auf die widerspenstigen Luftballons.

Als ich fertig mit den Luftschlangen bin, die der Weihnachtsbaumbeleuchtung wirklich extrem nahe gekommen sind, will ich gerade zu Sakuya hinübergehen und ihn für den Moment einfach nur an mich ziehen, als Kevin ins Zimmer kommt und etwas fragt. Eine kurze Antwort, dann ein Zögern... Sakuya steigt die Leiter hinunter, folgt Kevin auf die Veranda und schenkt mir im Vorbeigehen einen sanften Blick, samt den letzten Luftballons, die noch untergebracht werden müssen...
 

~ * ~
 

Irgendwie bin ich wahnsinnig froh, als endlich die ersten Gäste kommen. Egal was noch kritisch von Sakuyas letztem, prüfenden Blick begutachtet werden könnte, ist ab jetzt Nebensache.

Die Ersten, die auftauchen, kenne ich nicht wirklich, weshalb ich mit Sanae und Yun etwas abseits stehen bleibe, während Sakuya seine amerikanischen Freunde vorstellt.

Nicht viel später taucht dann auch schon Tatsuya auf, zusammen mit Sai und Chiga.

„Und? Wo ist mein Arbeitsplatz für diesen Abend?“, wendet Tatsuya sich an mich, während Sakuya noch mit zwei Jungen im Gespräch verwickelt ist.

Ich deute ihm, mir zu folgen, führe ihn zu unserer provisorisch aufgebauten Cocktailbar, auf der Unmengen verschiedener Flaschen zu finden sind.

„Na, dann werd ich doch gleich mal loslegen!“, krempelt er sich die Ärmel hoch. Er lässt den Blick schweifen, sieht dann mich an. „Was möchtest du? Noch hast du freie Auswahl...“

„Egal...“, erwidere ich, „Nur nicht so stark...“

Ich wende mich in Richtung Sai, der erst mal Sakuya begrüßt hat und nun mit Chiga zu uns herüber kommt. Irgendwie wirkt ihr Blick, den sie über die bereits versammelten Gäste wirft, als fühle sie sich ziemlich fehl am Platz, doch als sie bei mir ankommt, lächelt sie.

„Schön, dass ihr hier seid“, erwidere ich es.

„Danke für die Einladung...“, kommt es förmlich zurück, dann wendet sie sich Tatsuya zu und bestellt einen Drink.

Ich sehe Sai an. Auch er lächelt, wirkt dabei aber weniger steif.

„Ihr habt euch echt Mühe gegeben!“, lobt er mich, lässt seinen Blick herumschweifen. „Da ist man doch schon richtig in Sylvesterstimmung!“
 

Die nächsten gute Stunde verbringe ich fast die ganze Zeit bei Tatsuya an der ‚Bar’ und mit ihm oder Sai im Gespräch. Chiga hält sich dabei zwar etwas zurück, doch irgendwie ist sie dennoch nicht ganz so verschlossen wie die anderen Male, als ich sie traf. Es wirkte immer so, als habe sie Angst davor, zu viel von sich preiszugeben, wenn sie ein wenig mehr aus sich herauskommen würde... Heute jedoch scheint dies nicht so, sie lacht viel mehr als sonst.

„So kenne ich sie ja gar nicht...“, wende ich mich an Tatsuya, als das Paar für einen Moment außer Hörweite ist, da Chiga gerne tanzen wollte. „Ich könnte mich glatt daran gewöhnen...“

Ein Nicken, während dem er mir den von mir bestellten, alkoholfreien Drink reicht.

„Ich hab mich sonst immer gefragt, wie er es mit ihr aushält...“, gebe ich lachend zu.

„Sie kommt aus einer reichen Familie... da ist diese steife, höfliche Umgang ganz normal, sagt Sai zumindest...“

Ich sehe zur Tanzfläche hinüber.

„Also wenn sie immer so wäre, würde sie viel besser zu ihm passen...“

„Hm.“

Mehr als dies erhalte ich nicht zur Antwort und so ist dies Gespräch auch schon wieder beendet. Bevor ich aber auch nur über ein weiteres Thema nachdenken kann, spricht mich eine weibliche Stimme von der Seite an.

„Hi Kida!“, ist es Maki, die Keyboarderin aus unserem Musikclub.

„Hi“, erwidere ich den Gruß lächelnd.

„Tolle Party!“

Ich nicke, deute dann fragend auf die vorbereiteten Drinks. Dankend nimmt sie einen entgegen, nippt daran, lobt den Barkeeper, der schon wieder an seiner nächsten, diesmal knallblauen Kreation ist.

„Mit wem bist du hier?“

„Mit Ryoko.“

Sie deutet auf ein Mädchen auf der anderen Seite des Raums. Kein Junge, was ich doch irgendwie gehofft habe... Maki ist zwar wirklich nett, aber sie scheint auch mich wirklich nett zu finden, was mir besonders in den letzten Wochen beim Musikclub sehr deutlich wurde...

„Tanzt du mit mir?“

„Okay...“, gehe ich auf ihre Aufforderung nicht zum letzten Mal an diesem Abend ein.

Wieso auch nicht?
 

Auch wenn Maki in den nächsten Stunden kaum von meiner Seite weicht, so stört es mich nicht sonderlich... Denn eigentlich ist es ziemlich einfach, sich mit ihr zu unterhalten, was auch Tatsuya feststellt, der irgendwann, als wir uns wieder an der Bar einfinden, von ihr über seinen Barkeeperjob ausgequetscht wird, da sie sich schon einen für die Zeit nach den Prüfungen besorgt hat.
 

Irgendwann, nach einem weiteren Tanz zieht sie mich mit zu Ryoko hinüber, wo ich nun auch schon ins nächste Gespräch verwickelt werde, während ich in den Augenwinkeln mitbekomme, wie mein Freund an der Seite eines Mädchens durchs Zimmer geht... na ja, eher wankt er schon ein wenig, was es ist, das mir Sorgen bereitet.

Lange kann ich bei diesem Gedanken nicht verweilen, wird mir auch schon wieder eine Frage gestellt, die es den Erwartungen nach möglichst weit auszuschmücken gilt.
 

Die letzte Zeit bis Zwölf vergeht eigentlich ziemlich schnell und ehe ich mich versehe, sind alle lauthals am Runterzählen der letzten Sekunden. Ich suche nach Sakuya und versuche mich aus dem Griff von Maki zu befreien, was diese allerdings nicht zulässt. So also ist sie die erste, die von mir in den Arm genommen wird, als es heißt „Frohes neues Jahr!“.
 

Mich endlich befreit, sehe ich Sakuya am anderen Ende des Raumes ein paar Gläser einsammeln. Schnell gehe ich zu ihm hinüber, trage ihm voraus ein Tablett in die Küche. Dort angekommen, bin ich ihm das erste Mal seit einigen Stunden wieder etwas näher, sehe in müde und ein bisschen glasige Augen...

Doch er will meine Sorgen nicht hören, fährt mich stattdessen erschreckend forsch an, was mich dazu bringt, ihn wieder allein zu lassen. Ob er immer so ist, wenn er getrunken hat?
 

Wieder im Wohnzimmer, begegne ich dem nächsten Paar, das gerade nicht wirklich zufrieden scheint. Sai und Chiga funkeln sich wütend an und besonders aus ihren Augen scheint der Zorn zu sprühen. Tatsuya wirft mir einen resignierenden Blick zu.

Chiga tritt an ihren Freund heran, zischt ihm etwas ins Ohr, woraufhin er den Kopf schüttelt.

Unruhig kramt sie währenddessen in ihrer Handtasche herum, flüstert noch etwas. Wieder wird es verneint.

„Ich fahre!“, setzt sie schließlich lauter hinterher, als sie den Autoschlüssel endlich gefunden zu haben scheint.

„Chiga, warte doch... du-“

„Halt dich da raus!“, bricht sie Tatsuya ab, wirft noch einen letzten vernichtenden Blick auf Sai und stolziert dann an mir vorbei aus dem Zimmer.

Na wenigstens kann ich Sakuyas schlechte Laune auf den Alkohol schieben!, fährt es mir durch den Kopf, als ich ihr hinterher sehe.

„Was war denn los?“, frage ich zögernd, als Sai ein wütendes Knirschen hören lässt.

„Sie wollte, dass ich mit ihr nach Hause geh... aber ehrlich gesagt, habe ich noch gar keine Lust... ich will noch ein bisschen Spaß haben!“

Auch wenn er wirklich entschlossen klingt, sieht man ihm schon an, dass er nicht ganz glücklich mit der Situation ist... vielleicht hat er auch ein bisschen zu viel getrunken, um noch richtig zu urteilen...

In dem Moment kommt Maki zu uns herüber, doch noch bevor sie mich erreichen kann, wird sie von Sai am Arm gegriffen.

„Hey! Tanzt du mit mir?“

„Äh... ja...“

„Gut!“

Ein verwunderter Blick trifft mich, als er sie mitzieht. Ich grinse in mich hinein, sehe Tatsuya an, dessen Blick den beiden folgt.

„Ich wollte nicht, dass er geht...“, kommt es nachdenklich, fast ein wenig bedrückt. „Aber vielleicht hätte ich ihn dazu überreden sollen... Chiga kann ziemlich nachtragend sein...“

„Mach dir doch darum keine Kopf!“, stoße ich ihn leicht in die Seite. „Die kriegt sich schon wieder ein...“

„Hm... hoffen wir’s... Wie geht’s eigentlich ihm?“ Tatsuyas Kopf deutet in Richtung Sakuyas. „Er sieht fertig aus...“

Ich nicke zustimmend, schaffe es nur schwer, meinen Blick wieder abzuwenden. „Ist er auch... und das von nur zwei Drinks...“

„Er hatte mindestens drei...“

„Mindestens?“

Ein Schulternzucken. Besorgt sehe ich wieder zu meinem Freund hinüber, entscheide mich aber dagegen, zu ihm zu gehen. Er würde mich wohl eh wieder abweisen... Wahrscheinlich muss diese Situation jetzt einfach ausgestanden werden...

„Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend?“, frage ich Tatsuya nach einer Weile. „Ich würd ja mit dir tanzen, aber ich glaub das kommt nicht so gut...“, grinst er mich an.

„Da hast du wohl recht...“

„Aber ich glaube, das übernimmt auch schon wer anders für mich...“

Kaum hat er dies ausgesprochen, steht auch schon wieder Maki vor mir, eingehakt bei Sai, der nun wieder etwas fröhlicher wirkt.

„Löst du mich ab?“, sieht er mich fragend an, wendet sich dann an Maki. „Nichts für ungut, meine Schöne, aber ich brauch ne Pause...“ Damit lässt er sie frei und ihr Blick wandert von ihm zu mir.

„Tanzen wir?“

„Gerne.“
 

Als wir nach mehreren Liedern beschließen, jetzt auch wieder ne Pause zu machen, sind Tatsuya und Sai nicht mehr da. Wir gehen zu Ryoko und zwei anderen Mädchen, die sich angeregt über irgendwas unterhalten und mich schnell in das Gespräch miteinbeziehen, auch wenn es mich nicht wirklich interessiert.

Sakuya habe ich ebenfalls seit ein paar Minuten nicht mehr gesehen...
 

Es ist etwas später, als ich gerade Ryoko, Maki und eine weitere Freundin verabschiede, als ich Schreie höre... Erschrocken drehe ich mich um, sehe hinauf zur Treppe, von wo sie kommen.

Sakuya?

Gehetzt umarme ich Maki, will sie am liebsten nur aus der Tür schieben.

„Es war schön.“

„Ja.“

Geht doch endlich!

„Also dann, Tschüss!“

In der Sekunde, als ich die Tür zuknalle, stürzen Kevin und Malcolm die Treppe hinauf. Sofort renne ich hinterher, muss sogleich zur Seite weichen, um nicht mit Ryouta zusammenzustoßen.

Was ist hier los?

Oben angekommen steht... Sakuya. Und er sieht noch schlimmer aus als die letzten Male, da ich ihn sah...

„Wir haben dich schreien hören“, nehme ich Kevins Stimme wahr.

Wieso hast du geschrieen? Wieso siehst du so... vollkommen verwirrt aus?

„Sakuya?“, versuche ich es besorgt, werde aber sofort gestoppt.

Geht es dir nur einfach nicht gut? Aber da ist doch noch etwas anderes, oder?

„Was hast du denn?“, frage ich zögernd.

„Nichts...“

Er sieht mich an... so, wie er es noch nie getan hat... und dann... Ein undefinierbarer Schmerz durchzuckt mich, als er die nächsten Worte spricht, Kevin zu sich zieht und ihn küsst... Doch das alles ist nichts zu dem, was er danach sagt, kurz bevor er auf Malcolm zustürzt, kurz bevor ich die Flucht nach unten antrete.
 

Mein Spiegelbild dreht sich... und das, was ich erkenne, ist kreidebleich. Ich starre es an, dieses Trugbild, das ich gerade nicht mal wirklich wahrnehme... sehe im Spiegel die Szene von eben... und Ryouta, der an mir vorbei die Treppe hinunter stürzt.

Ich höre das Zuschlagen der Tür von draußen, es hallt in meinem Kopf wieder. Ich habe das Gefühl, ihn irgendwo gegen schlagen zu wollen...

„Kida?“ Ein Klopfen an der Tür.

„Nein!“, rufe ich zurück, verwundert, dass es überhaupt funktioniert.

Einen Moment der Ruhe, Rauschen in meinen Ohren... dann erneut eine Tür...

„Alles in Ordnung?“, klopft es wieder.

„Lass mi-“ Ich unterbreche mich selbst, weil ich das Gefühl habe, würgen zu müssen. Ein trockenes Husten schüttelt mich, ich starre mein hässliches Spiegelbild an.

In was für einem Alptraum stecke ich hier bloß gerade fest?
 

Es vergehen Minuten, bevor es erneut klopft. Diesmal ist es Sanaes besorgte Stimme, die mich ruft... Ich zögere lange, bevor ich aufschließe und ihr entgegentrete.

Im nächsten Moment schlinge ich die Arme um sie.

Zum Glück stellt Sie in diesem Moment keine Fragen, sondern erwidert meine Umarmung einfach nur. Auch ich schweige. Was sollte ich auch sagen? Ich... kann es doch noch nicht mal denken!

„Es sind jetzt alle weg...“, tritt Tatsuya an uns heran.

Seine Hand legt sich auf meine Schulter und auch wenn es eine nette Geste ist, so ertrage ich sie gerade nicht.

Ich schiebe Sanae von mir, hoffe inständig, dass ich trotz meiner brennenden Augen nicht angefangen habe, zu weinen.

„Gut...“, krächze ich und folge das kurze Stück zur Haustür, sehe mich im Flur um, in dem jetzt nur noch wir vier stehen.

Ich spüre ihre Blicke auf mir ruhen, versuche ihnen ein Lächeln zu schenken, das wohl gründlich misslingt.

Ein Seufzen, dann greift Tatsuya nach der Jacke, die Sai ihm hinhält.

„Können wir dich wirklich allein lassen?“, fragt er.

„Ja...“ Ich nicke Sanae noch mal bestätigend zu.

„Na gut... wir bringen sie nach Hause... ruf an, wenn was ist...“

„Ja.“

Damit öffnet und schließt sich die Haustür erneut und ich stehe allein im leeren Flur. Meine Beine wollen mich nicht mehr tragen, doch ich zwinge sie, das Geländer zu erreichen. Daran halte ich mich krampfhaft fest.

Als ich die Augen schließen will, sehe ich Sakuyas vernichtenden Blick vor mir. Sofort öffne ich sie wieder, nehme in dem Moment Kevin wahr, der im Inneren des Wohnzimmers herumläuft. Kurz sieht er mich an, bevor er Richtung Veranda geht.

Ich folge ihm aus dem Gefühl heraus, gerade nicht länger stehen bleiben zu können. Als ich ihn draußen erreiche und die plötzliche Kälte mich sofort umhüllt, ist er gerade mit der Plane für den Pool beschäftigt.

Schweigend helfe ich ihm und wir verdecken den Pool, stellen uns dabei gerade vielleicht nicht unbedingt professionell an, schaffen es aber schließlich. Während ich einfach stehen bleibe und auf die nun abgedeckte Fläche starre, geht Kevin wieder Richtung Verandatür.

Ihn hat er auch geküsst!, fährt es mir nun schon zum x-ten Mal durch den Kopf... doch irgendwas sagt mir auch schon die ganze Zeit, dass nicht dieser Kuss es ist, der mich stören sollte... Alkohol hin oder her, was ist da bloß passiert?

„I don’t think, it was on purpose...“, unterbrechen die ruhigen, fremdsprachigen Worte meine Gedanken. Ich sehe ihn an. „He would not do something like this...“

Mir liegen alle möglichen Antworten auf den Lippen, doch gerade bekomme ich keine davon so heraus, dass er sie verstehen würde. Also sage ich nichts dazu, folge ihm nur aus der Kälte wieder zurück ins Haus.

Glaubt er wirklich, was er da sagt?

Nachdem ich die Verandatür abgeschlossen habe, beobachte ich Kevin dabei, wie er die Lichterketten des Weihnachtsbaums aus den Steckdosen zieht. Es wird merklich dunkler im Wohnzimmer.

Ich gehe ein paar Schritte in den Raum hinein, stolpere dabei über eine achtlos auf dem Boden liegende Flasche. Wütend über das Ding, hebe ich sie auf...

„Leave me alone!“, spreche ich, hoffe dass er nicht nachfragt, sondern einfach geht.

Tatsächlich erfüllt er meinen Wunsch... und kaum ist er außer Sichtweite, pfeffere ich die Flasche mit voller Wucht auf den Boden... Sie ist aus Plastik, was mir den erlösenden Effekt, dass etwas zerbricht, nicht beschert.

„Mist!“, fluche ich und trete gegen die Flasche, so dass sie gegen das Sofa fliegt.

Es hilft mir nicht wirklich, meine Wut zu dämpfen, auch nicht, als ich erneut dagegen trete. Meine Wut? Aber ist es wirklich Wut? Ist es nicht viel mehr ein Gefühl der unendlichen Enttäuschtheit?
 

Lange noch bleibe ich unten stehen. Das Wohnzimmer um mich herum ist nun sogut wie unbeleuchtet und während ich meinen Blick herumwandern lasse, kann ich nicht wirklich was erkennen, so sehr ich auch versuche, einzelne Stellen wahrzunehmen... um mich abzulenken.

Fast schon beginne ich damit, aufzuräumen, als ich Geräusche aus dem ersten Stock wahrnehme, Türen. Gleichzeitig gibt mein Körper mir zum x-ten Mal ein Zeichen, dass ich einfach nur total fertig bin.

Meine langsamen Schritte tragen mich hinauf. Ich will nicht zu ihm rein... weiß nicht, ob ich ihn jetzt wirklich sehen will... Aber was soll ich auch sonst tun?

Als ich das Zimmer betrete, ist dieses vollkommen in Schwärze getaucht. Nur der Lichtstrahl, der nun von der geöffneten Tür ausgeht, erhellt es ein wenig, dabei auch ein Stück des Bettes. Darin liegen zwei Personen, und die eine sieht mich nun an.

„He’s sleeping“, flüstert er durch das Zimmer.

Unschlüssig bleibe ich weiterhin an der Tür stehen... Wenn er hier bleibt... dann ist drüben...

Ohne ein weiteres Wort ziehe ich die Tür wieder von außen zu, gehe die paar Schritte zur gegenüberliegenden. Hier brennt noch Licht, als ich die Tür öffne. Malcolm sieht mich an, kein Stück verwundert.

Ich lösche das Licht im Flur, schließe dann die Gästezimmertür wieder und bleibe einfach einen Moment bei ihr stehen, auf das leere Futon starrend, das vor mir auf dem Boden liegt. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal hier...

„Starr mich nicht so an!“, fauche ich Malcolm an, als ich seinen Blick noch immer auf mir spüre. Auch wenn er mich nicht versteht, wendet er sich nun ab.

Ich lösche das Licht, ziehe mich aus... spüre, wie meine Finger zittern.

Wieso das alles? Wieso mit Ryouta? Wieso...

„Irgendwas musste ja passieren, gerade mit ihm!“, spreche ich laut in die Stille, da diese gerade unerträglich ist.

Natürlich kein Wort zur Antwort, einfach nur weiterhin Stille. Dann ein Rascheln des Bettes.

Ich taste mich zum Futon, lege mich darauf... fühle mich scheiße...und finde bestimmt zwei Stunden lang einfach keine Ruhe...
 

~ * ~
 

Eigentlich habe ich wirklich das Gefühl, ich sei aus einem Traum erwacht, als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlage... zumindest so lange, bis ich realisiere, wo ich mich befinde.

Kein Traum, verdammter Mist!

Unruhig wälze ich mich zur Seite, erkenne, dass das Bett leer ist, greife nach dem Handy, das auf dem Nachtschrank liegt.

Zeit zum Aufstehen, verrät es mir.

Wenig später stehe ich angezogen im Flur. Ich höre Geklapper aus dem Untergeschoss, während mein Blick an der gegenüberliegenden Tür hängen bleibt.

Ob er wach ist?

Ich versuche nicht, dem auf den Grund zu gehen, weiß ich doch ohnehin nicht, was ich dann sagen soll. Die ganze Zeit, die ich gestern noch wachlag, habe ich genau darüber nachgedacht... ich habe keine Ahnung, wie ich das nächste Mal reagieren soll, ich weiß nur, dass die Enttäuschung ganz tief in mir sitzt.
 

In der Küche treffe ich auf Kevin und Malcolm, die gerade den Frühstückstisch notdürftig freigeräumt und gedeckt haben. Nur ein kurzer Gruß von beiden, dann lassen wir uns alle auf den Stühlen nieder. Einer bleibt leer, ebenso wie der Teller vor diesem nicht angerührt werden wird... Eigentlich bin ich froh, dass Sakuya gerade nicht hier ist.

Schweigend schmiere ich mir ein Brot, kaue danach lustlos darauf herum. Mir ist schlecht und eigentlich bin ich überhaupt nicht bereit, etwas zu mir zu nehmen... Die schweigenden Gesichter der beiden anderen sagen ungefähr das Selbe aus.

Ein Scheibe hinuntergewürgt, schiebe ich den Teller von mir, starre auf Malcolms Finger, die mit ein paar Krümeln auf seinem Teller spielen. Das schlechte Gefühl in mir verstärkt sich immer mehr, und auch wenn ich gerade unheimlich froh bin, dass keiner etwas sagt, so finde ich es auch unheimlich unerträglich...

Es schließlich nicht mehr aushaltend, stehe ich auf, beginne damit, die wenigen Sachen vom Frühstückstisch wieder wegzuräumen.

Malcolm und Kevin beginnen schweigend, mir dabei zu helfen, und schnell geht die Aufräumaktion auch auf das Zeug von Gestern über.

Als die bis zum letzten freien Loch vollgepackte Spülmaschine das erste Mal läuft und die Küche wieder so weit frei ist, dass man weitere Sachen hereinholen kann, mache ich mich auf den Weg in den Flur. Hier beginne ich nun als erstes, die Dekoration abzuhängen... Luftschlangen und -ballons landen so im Müll. Ich setze meine Tätigkeit im Wohnzimmer fort, wo Malcolm gerade unzählige Gläser auf einem Tablett stapelt.

Schweigend arbeite ich so vor mich hin und versuche nicht daran zu denken, was wohl der heutige Tag noch bringen mag, als ich plötzlich eine Person genau hinter mir wahrnehme.

Es ist Sakuya... und als ich das festgestellt habe, wende ich mich auch gleich wieder meiner Arbeit zu. Plötzlich merke ich, dass ich es wirklich einfach nicht schaffen werde, auch nur einen Ton über die Lippen zu bekommen, eine Anschuldigung oder den Ausdruck von Enttäuschung.

Eigentlich bin ich gerade noch nicht mal bereit, ihm überhaupt zuzuhören... weshalb ich mich für das vielleicht Schlimmste entscheide und versuche, ihn nicht zu beachten.

Dass das nichts bringen würde, hätte ich mir vielleicht denken können... und so höre eine Entschuldigung, die ich eigentlich hören wollte, nur vielleicht nicht gerade jetzt. Es ist ein schreckliches Gefühl, als er ausspricht, dass er Ryouta geküsst hat... dass er mich trotzdem noch liebt...

Was bitte soll ich dazu sagen?

Ich kann das nicht einfach so vergessen!

Doch ehe ich noch zu einer Entscheidung kommen kann, schreit er mich plötzlich an, zieht mich zu sich herum, sieht mich auf einmal mit einem Blick an, der so gar nicht zu der Situation hier zu passen scheint... Genau so ein Blick, wie der, den er mir gestern schon zugeworfen hat...

Sollte ich wirklich vorgehabt haben, irgendwas zu sagen, so versagt mir meine Stimme letztendlich ganz den Dienst... und diesmal nicht, weil ich nicht weiß, wie ich meine Enttäuschung rüberbringen soll, sondern weil er genau zu wissen scheint, wie er seine in Worte fasst.

Es ist, als würden sie sich um meine Kehle legen und ganz fest zudrücken, während in meinem Kopf alles was er sagt, wiederhallt... und mit einem Mal alle Wut, die zuvor noch in mir war, verschwunden ist.

Übrig bleibt... der Schreck, dass er es weiß... das Gefühl, etwas wahnsinnig falsch gemacht zu haben... das Gefühl, sich nicht erklären zu können... der Schreck, über all die Worte, die er nun sagt...

Vollkommene... Sprachlosigkeit.

Ich weiß nicht, was ich tun soll... kann ihn nicht ansehen, kann mich bald auch nicht mehr bewegen.

Ich wollte nicht, dass es so kommt!, schreit es in mir, doch bringe ich keine Wort über die Lippen...

Es tut weh, es tut so wahnsinnig weh, mehr noch als das Gefühl, dass ich die Nacht über hatte, oder heute Morgen, als ich aufgewacht bin... Wenn man betrogen wurde, kann man die Schuld beim anderen suchen, doch was... wenn man selbst betrogen... gelogen hat? Wo sucht man dann die Schuld, außer bei sich selbst... und das ist eines der schwersten Dinge, die es gibt.

Es tut mir leid, es tut mir so wahnsinnig leid! Doch aussprechen kann ich auch diese Worte nicht.

Sie würden nichts bringen, gar nichts. Es sind nicht die Worte, die du jetzt hören willst, nicht wahr? Vielleicht sollte ich eine Erklärung finden, doch... es gibt keine, keine, die jetzt irgendetwas ändern oder besser machen würde.

Ich sage nichts, selbst da nicht, als er mir bedeutet, zu gehen... als er einen Schlussstrich für das jetzige Gespräch zieht... nur für das jetzige?

Ein riesen Kloß steckt mir in der Kehle, als ich durch den Flur gehe... meine Jacke greife, in meine Schuhe schlüpfe... und mein Kopf nach Worten sucht, die nicht kommen wollen.

Irgendetwas muss ich doch sagen... aber was? Was würde das alles nicht nur noch schlimmer machen? Was würdest du in diesem Moment überhaupt akzeptieren?

Ich weiß es nicht... und darum gehe ich, ohne etwas gesagt zu haben. Die Haustür schlägt hinter mir ins Schloss, während mein ganzer Körper sich verkrampft... und mir auf einmal Tränen in die Augen steigen.

War es das jetzt?

Ist das das Ende?
 

~ * ~
 

„Kida? Was ist los?“

Ohne sie eines Blickes zu würdigen oder etwas zu erwidern, gehe ich an meiner Mutter vorbei in mein Zimmer, schließe die Tür hinter mir zu... und sinke in die Knie. Ich reagiere nicht auf ihr Klopfen, bin froh, als es endlich verstummt und ich die Hände von den Ohren nehmen kann...

Doch auch so schreit es noch immer in meinem Kopf, höre ich wieder und wieder seine Worte, die Anschuldigungen...

Alles dreht sich, als ich wieder aufstehe, als ich in meinem Zimmer herumblicke und das Gefühl habe, mich übergeben zu wollen. Das ist doch alles nicht wahr, das kann einfach nicht wahr sein!

Unschlüssig gehe ich zu meinem Schreibtisch, lasse mich auf den Stuhl sinken, springe Sekunden später wieder auf. Ich kann doch jetzt nicht einfach ruhig hier rumsitzen und warten, was passiert, ich kann doch nicht...

Mir wird schwindelig.... ich lass mich aufs Bett fallen, vergrabe meinen Kopf in den Kissen.

Es ist aus!, schreit es in meinem Kopf.

„Ist es nicht!“, flüstere ich in mein Kissen. „Ist es nicht!“

Tränen, die ich in der Bahn nicht weinen wollte, kommen jetzt heraus, benetzen mein Kissen. Sie zurückzuhalten versuche ich nur kurz, denn es will einfach nicht gelingen. Ich heule... wieso heule ich schon wieder?

Es ist doch meine Schuld, MEINE!!

Hätte ich es ihm gesagt... wäre ich von Anfang an einfach vollkommen ehrlich zu ihm gewesen... dann hätte er es auch nicht von einem anderen erfahren können!

Wut, die in diesem Moment heftig in mir hochsteigt, Wut auf Tatsuya. Wieso sagt er es ihm? Will er meine Beziehung zerstören? Will er...

Nein, das würde er nicht tun... das würde er bestimmt nicht...

Aber sonst weiß es doch keiner... oder?

Oder?

Aber was war da noch mit Ryouta? Wieso... ist er so fluchtartig davongestürzt? Liegt es nur an dem... Kuss?

Oder kann es etwa sein, dass er.... dass Tatsuya es ihm...

Wie konnte er nur? Wieso hält er nicht einfach die Klappe?

Scheiße!

Das ist es nicht, worüber ich nachdenken sollte, nicht das...

Wie ich es drehe und wende, bin doch immer ich es, der diese Situation ausgelöst hat. Wenn ich doch nur den Mund aufgemacht hätte, wenn ich es ihm gesagt hätte, als er fragte... dann wäre es ganz egal, was irgendwer sagt... dann wäre jetzt nicht alles kaputt!

Verdammt!
 

~ * ~
 

Der heutige Tag ist... der Horror.

„Willst du was Essen?“ – Nein...

„Komm doch endlich mal raus...“ – Nein...!

„Sag doch, was passiert ist...“ – Nein!

„Verdammt, schließ endlich die Tür auf!“ – Nein!!

„Du musst aber was essen!“ – NEIN!

Ich habe das Gefühl, mein Kopf würde zerspringen, jedes Mal, wenn es wieder an der Tür klopft... wenn ich ihre besorgte Stimme höre, später seine wütende...

Natürlich macht sie sich Sorgen, natürlich will sie wissen, was los ist... aber ich kann nicht, versteht das denn keiner?

Lasst mich doch einfach ein bisschen in Ruhe... einfach nur Ruhe.
 

Wenn man’s genau nimmt, habe ich zuviel davon an diesem Tag. Stundenlang liege ich nur da... liege da und denke... sehe ihn vor mir, höre seine Worte... denke wieder und hasse mich selbst.

Doch ich kann nicht aufhören damit. Ich kann mich nicht zur Bewegung aufraffen oder über irgendeine Lösung nachzudenken.

Welche auch?

Es gibt keine... keine, die ich selbst wählen kann.

Mich entschuldigen... ja, entschuldige dich!

Nein.

Das bringt nichts. Er will keine Entschuldigung... er will... Abstand, Zeit zum Nachdenken...

Verdammt, ich aber nicht!
 

Egal, wie oft ich in diesen Stunden aufstehe, beschließe etwas Ablenkendes zu tun, so gelingt es mir nicht. Ich kann mich nicht konzentrieren, kann nur weiter denken... viel zu viel denken.

... Und schließlich wie erschüttert vor einem Stapel mit Büchern hocken und stundenlang darauf starren.

Wie lange ist das her? Drei Monate? Dreieinhalb...?

Wie lange waren wir damals...? Noch nicht ganze zwei Wochen, glaube ich... noch nicht ganz.

Zittrige Finger, die vier der Bücher entfernen, eine weiße Fläche preisgeben... Vorsichtig hebe ich das Blatt an, bin froh, dass es das Einzige ist, das sich vom Untergrund hebt...

„Es sind Vergissmeinnicht...“, flüstere ich vor mich hin, als ich die getrockneten Blüten betrachte...

Diese Worte hallen noch immer in meinem Kopf, als hättest du sie erst gestern gesprochen... gestern, als noch alles in Ordnung war....
 

~ * ~
 

Wie ich es letztendlich geschafft habe, einzuschlafen, weiß ich nicht, doch geweckt werde ich von meinem knurrenden Bauch und den rasenden Kopfschmerzen.

Auf der Suche nach der Uhrzeit drehe ich mich in die falsche Richtung, starre bloß gegen eine Wand... meine Zimmerwand...

Auch diesmal war es also kein Traum...

Ich setze mich auf, presse mir die Hand vor die Stirn, greife nach links zum Wecker...

Kurz nach sechs... viel zu früh.

Und viel zu spät für einen Magen, der seit fast einem Tag nichts mehr bekommen hat...

Aber eigentlich ist mir viel zu schlecht zum Essen... eigentlich würde ich keine Bissen herunterbekommen... Dennoch stehe ich auf und schleiche in die Küche... Mein Magen dreht sich, als ich die Kühlschranktür öffne... doch ebenso schreit meine Kehle plötzlich nach der Flasche Saft, die ich entdecke. In einem Zug schütte ich fast die Hälfte davon in mich hinein...

Und jetzt?

Was essen...

Ich greife mir eines der verpackten Reisbällchen, drehe es ein paar Mal in der Hand, bevor ich die Kühlschranktür schließe, ohne es wieder hineingelegt zu haben. Das Rascheln der Plastikfolie erscheint mir plötzlich viel zu laut in der leisen Wohnung, ebenso das eigentlich leise Knacken des Stuhls, auf den ich mich nieder lasse...

Es riecht nach Lachs... und sofort wird mir schlecht.

Dennoch stecke ich mir einen Brocken Reis in den Mund... kauen, schön kauen, nicht kotzen!

Doch als mein Körper erst einmal merkt, dass er gerade genau danach verlangt hat, ist der Rest des Reisbällchens schnell verschlungen. Viel mehr allerdings würde ich jetzt trotzdem nicht in mich hinein bekommen...

Ich bleibe sitzen, meinen Blick auf die Plastikfolie gerichtet... abwesend kratze ich mit dem Daumennagel darauf herum.

Was soll ich bloß tun?

Plötzlich nehme ich eine Bewegung von der Tür aus wahr.

„Guten Morgen.“ Das Lächeln einer besorgten Mutter.

Sogleich habe ich das Gefühl, aufspringen zu wollen, doch ich zwinge mich, sitzen zu bleiben...

Bitte keine Fragen...

Einen Moment bleibt sie in der Tür stehen, bevor sie zum Wasserkocher geht und diesen anstellt... ich beobachte sie dabei, wie sie wartet und sich schließlich den Tee aufgießt... Bei jeder Handbewegung rechne ich mit einer Frage, doch es kommt keine...

Auch mir wird eine Tasse Tee vor die Nase gestellt, und einen Moment lang nehme ich den angenehmen Geruch in mir auf, sehe sie dann wieder an, wie sie mir am Tisch gegenüber sitzt. Die Fragen, stehen in ihrem Gesicht geschrieben, auch wenn sie versucht ihre Sorge mit einem Lächeln zu verdecken...

Ich bin dir dankbar, dass du gerade nichts wissen willst.

Dafür beginnt sie schließlich, mich ein paar Sachen wissen zu lassen. Zum Beispiel, dass wir dieses Jahr nicht zu meiner Großmutter fahren, sondern zu Takehitos Eltern, da sie besonders Lynn schon so lange nicht mehr gesehen haben...

Gott, auch das noch, mir bleibt auch nichts erspart!
 

So vergehen also die ersten Minuten dieses Tages... bis der Blick meiner Mutter auf die Uhr fällt und sie plötzlich hektisch aufspringt: Frühstückmachen! Fast im selben Moment höre ich Schritte...

„Ich glaub’s nicht, er ist hervorgekrochen...“, ist der erste Satz, den ich an diesem Morgen von Takehito höre, bevor er weiter ins Bad geht. Schon jetzt habe ich die Schnauze wieder voll.

„Ich geh rüber“, verkünde ich und lasse meine Mutter mit ihren nicht ausgesprochenen Fragen allein.

Allein in meinem Zimmer habe ich das Gefühl, sofort wieder von der Leere in mir ergriffen zu werden, habe ich es doch gerade geschafft, ihr wenigstens für ein paar Sekunden zu entrinnen...

Ich lasse mich zurück ins Bett fallen, hoffe, noch mal einschlafen zu können... verwunderlicher Weise bin ich wirklich ziemlich müde.

Kaum nehme ich Minuten später das leise Öffnen und Schließen der Tür wahr, das Anheben der Decke und der kleine, warme Körper, der sich an mich drückt... denn tatsächlich gelingt es mir erneut für ein paar Minuten den Gedanken zu entrinnen...
 

Als ich wieder aufwache, ist es zehn Uhr. Lynn liegt noch immer neben mir und schläft tief und fest. So leise wie möglich verlasse ich mein Bett und schleiche aus dem Zimmer, um dem Bad einen kurzen Besuch abzustatten.

Die Wohnung ist genauso still wie heute Morgen und einen Moment bleibe ich unschlüssig im Flur stehen... Genau in dem Moment lässt mich das Klingeln eines Handys zusammenfahren... es kommt aus meiner Jacke.

Mit plötzlich rasendem Herzen gehe ich darauf zu. Nein, ich glaube nicht wirklich, dass er es ist, ich hoffe es nur, ich hoffe...

Tatsuya, steht es auf dem leuchtenden Untergrund geschrieben.

Mein Herzklopfen scheint sofort in Magenschmerzen umzusteigen, als ich meine Hand sinken lasse, mich zurück gegen die Wand lehne und mit geschlossenen Augen warte... warte, bis das Klingeln nach gerade viel zu vielen Malen endlich abstirbt.

Ich werde nicht mit ihm reden, versprochen!
 

Irgendwann später ist es, als ich meinen Computer anschalte, aus dem Autostart auch ICQ hochfährt und... mir das Herz stehen bleibt. Naja, eigentlich hatte ich schon daran gedacht, es vielleicht sogar gehofft, dass Sakuya online sein würde, doch dass er es tatsächlich auch ist... nimmt mir für einen Moment alle Kraft.

Und jetzt?

Ihn ansprechen?

Es nicht tun?

Was genau ist jetzt besser?

Fändest du es aufdringlich? Du wolltest deine Ruhe... darf ich sie jetzt wirklich... stören?

Ich öffne ein Chatfenster... starre es an.... Schrecke im nächsten Moment durch den Nachrichtenton zusammen.

Es ist nicht Sakuya, sondern nur der Gitarrist aus dem Musikclub. Nur ein kurzer Gruß steht in seinem Fenster...

Ich kann jetzt nicht. Ich könnte mich auf kein noch so einfaches Gespräch konzentrieren...

Ich schalte das Fenster weg, starre wieder das von Sakuya an. Ich betätige den Button zur History. Nur einmal haben wir gechattet seit ich deine Nummer habe... natürlich, immerhin war ich sonst auch immer bei dir.

Nur ein paar kurze Worte... eigentlich ziemlich kitschige Worte.

Ich schließe die History wieder, starre weiterhin auf das leere Chatfenster.

Zögernd ziehe ich die Tastatur etwas näher zu mir heran, schreibe ein paar Worte... lösche sie wieder... schreibe sie anders formuliert... lösche erneut.

Es tut mir so leid, dass ich dich belogen habe, so schrecklich leid...

Doch es geht nicht. Ich kann mich nicht auf diese Weise bei dir entschuldigen, kann dir auf diese Weise nicht sagen, wie sehr ich es wirklich bereue... und dass ich dich liebe, das ist eh etwas, das kann ich dir besser zeigen, als es zu schreiben.

Meine Finger streichen über die Tasten.

Erwartest du auch nun, da du mich on siehst, dass ich etwas schreibe? Erwartest du eine Nachricht von mir?

Gott, wenn ich das doch bloß wüsste... wenn ich bloß wüsste, was nun richtig und was falsch ist...

„Kida?“

Erschrocken fahre ich hoch, gerade überhaupt nicht darauf vorbereitet, angesprochen zu werden.

Es ist meine Mutter, wie sie mit einer Einkauftüte in meiner Zimmertür steht.

„Wo ist Lynn?“

„Äh... Bei Mayu...“

„Ach so...“ Sie verschwindet aus meiner Zimmertür, kommt aber nur Sekunden später zurück. „Hilfst du mir?“

Einen kurzen zögernden Blick werfe ich noch auf den Bildschirm, bevor ich mich erhebe.

„Ja.“
 

Der Tag vergeht, ohne dass ich eine Nachricht an Sakuya geschrieben habe. Dennoch läuft mein Computer die ganze Zeit, ebenso ICQ... Ich weiß nicht weshalb, aber irgendwie traue ich mich nicht, es auszuschalten, diese Verbindung, die eigentlich gar keine ist, zu kappen... Wenn du siehst, dass ich online bin, weißt du, dass ich da bin... du könntest mich erreichen, wenn du willst.

Natürlich bleibt all mein Hoffen umsonst.

Wer sich stattdessen meldet, ist Tatsuya. Noch einige Male versucht er, mich anzurufen, doch nie nehme ich an, zum Unmut meiner Mutter, die mich bittet, wenigsten den Klingelton auszustellen... doch das tue ich nicht. Was wenn ich dann nichts von einem Anruf mitbekomme, der vielleicht nicht von Tatsuya kommt... sondern von... ihm?

Genauso schwer fällt es mir am Abend, de Computer auszuschalten. Der Cursor der Maus schwebt minutenlang untätig über dem Startbutton.

Es ist schon spät... du bist nicht mehr online... wirst es die ganze Nacht nicht sein. Ich kann ihn problemlos ausschalten... ich kann...

Als ich es schließlich getan habe, fühle ich mich schlecht. Vielleicht wirst du... Ach Quatsch, natürlich wirst du nicht!

Mich zwingend, stehe ich auf, krieche in mein Bett, schalte das Licht aus... und liege da, plötzlich wieder hellwach.

Die letzten Stunden über habe ich meiner Mutter geholfen, unsere Wohnung aufzuräumen... Der jährliche Sylvesterputz, der mich sonst immer nervte, mir dieses Mal jedoch genügend Ablenkung verschaffte... Ich habe es geschafft, nicht an dich zu denken... zumindest nicht die ganze Zeit. Doch jetzt... jetzt gibt es keine Ablenkung mehr... und prompt kommen alle Gefühle wieder in mir hoch... mit ihnen ein Gedanken, den ich bisher erfolgreich verdrängen konnte: Boston.

„Wärst du nicht gewesen, wäre ich gegangen...!“

Wäre ich nicht gewesen...

Nur wegen mir.

In dem Moment, als er diese Wort sagte, hatte ich das Gefühl einer Faust im Magen. Zum ersten Mal verstand ich wirklich, weshalb er damals geschwiegen hatte... und zum ersten Mal wünschte ich mir, er hätte es auch weiterhin getan.

Es war... deine Entscheidung?

Du hast dich gegen deinen Wunsch entschieden... für mich?

Und ich? Was mache ich?

Ich mache alles kaputt, mit einer dämlichen Lüge...

Ich drehe mich zur Seite, ziehe die Decke enger um mich, schließe die Augen...

Habe ich deinen Wunsch, wegen mir hier zubleiben, nun ausgelöscht?

Nein... das kann... das darf nicht sein...

Ich merke doch schon jetzt, mit jeder Sekunde, die vergeht, mehr, wie extrem du mir fehlst. Wie gerne, würde ich mich jetzt an dich schmiegen... wie gerne würde ich deinen Geruch wahrnehmen, deinen ruhigen Atem. So einfache Dinge...

Doch was, wenn ich das alles nie wieder erleben darf? Wenn ich nie wieder so normal wie in den letzten Wochen bei dir sein darf?

Nein, es kann nicht sein, dass alles vorbei ist... es darf nicht sein!

Eine schreckliche Angst steigt mit jeder Sekunde weiter hin mir hoch.

Kannst du deine Entscheidung noch ändern?

Boston...

Wirst du...?

„Nein!“, fauche ich in die Stille hinein, hoffend, diese unerträglichen Gedanken irgendwie damit zu verdrängen.

Du wirst nicht gehen, oder?

Das kannst du nicht tun...

Das darfst du nicht...

Ich will dich doch jetzt nicht verlieren und mir dann immer wieder sagen müssen, dass alles anders gelaufen wäre, wenn ich doch nur ehrlich zu dir gewesen wäre.

Verdammt... Wieso habe ich es dir bloß nicht von Anfang an erzählt? Habe ich es tatsächlich für so unwichtig gehalten, nur weil es kein richtiger Sex war?

Wie konnte ich nur so naiv sein?
 

~ * ~
 

Am nächsten Tag ist das Großreinemachen auf seinem Höhepunkt angelangt. Ich bin dankbar darüber, etwas zu tun zu haben, auch wenn mein Körper aufgrund den wenigen Schlaf, den ich heute Nacht bekommen habe, ziemlich fertig ist... und meine Mutter es dafür heute in ihrer Kleinlichkeit ein wenig übertreibt

Ich versuche, so wenig wie möglich über irgendetwas anderes nachzudenken, was erstaunlicher Weise ganz gut gelingt, vielleicht aber auch nur deshalb, weil die meiste Zeit Lynn um mich herumwuselt und mir alles mögliche erzählt...

Trotz allem höre ich instinktiv in Richtung Zimmer, egal was ich tue. Mein ICQ läuft und ich habe den Ton ganz laut gedreht, so dass ich es auch ja nicht verpasse, wenn ich tatsächlich eine Nachricht bekommen sollte. Ein paar Mal ertönt dies schreckliche „oh-oh“ tatsächlich... doch zu meiner Enttäuschung sind es wieder nur irgendwelche anderen Personen...
 

Nach dem Aufräumen ist am späten Nachmittag Schmücken angesagt. Kiefernzweige, Strohgebinde und andere dekorative Dinge werden überall in unserer Wohnung aufgehängt... Wie jedes Jahr mal wieder viel zu viel...
 

Als am Abend die Arbeit getan ist und auch das Abendessen hinter uns liegt, bekommt endlich Lynn die Aufmerksamkeit, die sie schon den ganzen Tag wollte. Bis ihr die Augen fast von alleine zufallen, spielen meine Mutter und ich eine Runde nach der anderen mit ihr.

Anschließend, als sie in meinen Armen eingeschlafen ist, sitzen wir noch eine Weile beim unbeteiligten Takehito im Wohnzimmer und reden über den bevorstehenden Sylvestertag... zum Beispiel, dass wir schon um acht Uhr losfahren werden, damit wir nichts vom Tag vergeuden und natürlich auch beim Reiskuchenstampfen dabei sind...

Oh, wie großen Wert ich doch darauf lege...

„Sag mal, Kida...“, reißt mich meine Mutter schließlich aus meinen Gedanken, die sich ausnahmsweise nur um meine unliebsamen Stiefverwandten drehen, „Was ist eigentlich los?“

Mein Magen zieht sich zusammen bei dieser Frage. Irgendwie habe ich gehofft, dass sie sie nie stellen wird... muss es nun wirklich sein?

„Ich... habe einen großen Fehler gemacht.“

Einen Moment sagt sie nichts, sieht mich nur an, als warte sie, dass ich mich erkläre... Auch Takehito hört zu, das spüre ich genau... Doch bevor irgendwer weiter fragen kann, stehe ich auf und nehme vorsichtig die schlafende Lynn auf meine Arme.

„Ich geh jetzt schlafen...“

Ich kann einfach nicht mit ihr darüber sprechen!
 

~ * ~
 

Damals, als meine Mutter mit der Nachricht ankam, sie habe einen neuen Freund, war es wie ein Schlag ins Gesicht. Schon damals beschloss ich, dass ich ihn nie als meinen Ersatzvater akzeptieren würde... und genau so trat ich ihm auch gegenüber, doch nicht nur ihm. Auch seine Eltern, seine beiden Schwestern und deren Kinder waren für mich ein rotes Tuch, was ich wohl nicht gerade verbarg.

Ich glaube damals war ich ein ziemlich ungezogener Junge... Klar, dass sie mich nicht gerade ins Herz geschlossen haben...

Dafür aber ist Lynn ihr kleiner Engel – verständlicherweise. Und ebenso freut auch sie sich darauf, ihre Großeltern mal wieder zu sehen, plappert mir während der Fahrt ununterbrochen die Ohren voll.

Für sie ist dieser ganze Trubel um Sylvester noch ein vollkommenes Highlight... auch verständlich.

Ich hingegen sehne mich eigentlich nur danach, dass dieser Feiertag möglichst schnell dem Ende zugeht.... leider ist gerade das nun noch ziemlich weit entfernt.

Erstaunlicherweise werden wir alle sehr gut gelaunt begrüßt. Michiko strahlt übers ganze Gesicht, als sie von ihrer Enkelin umarmt wird, und sogar mir schenkt sie ein freundliches Lächeln.

Im inneren der Wohnung treffen wir auf Joushi, Takehitos Vater, sowie auf die Schwestern Kaori und Nanami. Deren Ehemänner und die drei Kinder kommen wahrscheinlich erst in knapp zwei Stunden nach.
 

Wenn man das Schlimmste erwartet, wird es meist gar nicht so schlimm... so auch in diesem Fall. Zwar kann ich nicht sagen, dass ich mich gerade bestens mit der mir irgendwie immer noch fremden Familie verstehe, doch bei weitem nicht so schlecht, wie ich es gedacht hätte. Sie sind höfflich und auf eine bestimmte Art auch nett... und selbst Takehito passt sich dem an...

Ein kleines Sylvesterwunder vielleicht.

Dennoch fühle ich mich irgendwie unwohl hier, egal wie ich versuche, mich einzufügen, bei den Vorbereitungen für die Reiskuchen und das O-Sechi Ryori zu helfen oder schließlich zusammen mit den anderen drei Kindern, von denen das älteste Mädchen 11 Jahre alt ist, zu spielen. Irgendwie kann ich die Freude von ihnen nicht ganz nachempfinden, fühle ich mich nicht, als stehen wir kurz vor dem Jahreswechsel oder ähnliches...

Und zudem lassen mich selbst hier die Gedanken an Sakuya nicht los.

Während ich die kleine Figur auf dem Spielbrett setze, muss ich daran denken, wie ich heute Morgen noch mal kurz im ICQ war. Es war die Hoffnung gewesen, vielleicht doch noch irgendwas von ihm zu hören... nur ein ganz paar geschriebene Worte zu lesen.

Natürlich war mein Hoffen umsonst und keine Nachricht empfing mich.

Also dann... bis nächstes Jahr?

Genau das ist es, was mir zu schaffen macht... der Gedanke, diesen Jahreswechsel vorübergehen zu lassen, ohne noch einmal mit ihm geredet, ja nur geschrieben zu haben... wieso muss das letzte Jahr bloß so enden?
 

Nach dem gemeinsamen Abendessen, das aus Nudeln besteht, wird sich ins Wohnzimmer vor den Fernseher begeben. Die Kinder spielen ein Stück weit entfernt irgendein Spiel, während ich mich wie die anderen vor den Fernseher setze.

Halb Acht... Kohaku Uta Gassen.

Seit Takehito bei uns ist, habe ich diese Sendung einige Male gesehen. Die Familie meiner Mutter legte nie sonderlichen Wert darauf, doch er schaffte es immer wieder, sich bei unser eigentlichen Feier abzuschotten und sie dennoch zu gucken... und da ich, durch Erzählungen in der Schule angeregt, auch neugierig auf die Sendung war, schaute ich das ein oder andere Mal sogar mit...

Natürlich wurde es immer nicht gerade gern gesehen, wenn er sich so abkapselte, nur um eine Sendung zu sehen, - auch wenn sie meist eigentlich nicht wirklich böse darum waren. Doch wenn ich heute darüber nachdenke, hat sein Verhalten diesbezüglich wahrscheinlich nicht einmal etwas damit zu tun, dass er es von Zuhause nicht anders kannte und er wirklich gerne diese Sendungen sehen wollte, sondern viel eher damit, dass er sich genauso fremd in unserer Familie fühlte, wie ich in seiner... und er dem einfach für eine kurze Zeit entrinnen wollte...

Als ich dies Jahr hier sitze, bei seiner Familie, habe ich das erste Mal das Gefühl, ihn wenigstens in einem Punkt zu verstehen...
 

Es ist kurz vor Ende der Sendung, als wir plötzlich allesamt vor Schreck zusammenfahren, ich vielleicht am meisten, da es mein Klingelton ist, das Vibrieren in meiner Hosentasche.

Sofort springt ich auf, trete zur zwei Schritte entfernten Balkontür und nach draußen.

Unbekannter Anrufer, verrät mir mein Display wider meiner Hoffnung und so starre ich einfach nur einen Moment darauf.

Wer um Himmels Willen...?

„Geh endlich dran!“, ruft Takehito von drinnen, was mich aus meiner Starre löst.

Mein Finger wandert von der Auflegen- zur Annahmetaste.

„Hallo?“

Hätte ich jetzt irgendeine Idee oder Hoffnung gehabt, wer mir am anderen Ende antworten würde, so wäre ich enttäuscht worden... denn in der Leitung bleibt es still.

Ganz still... nur entfernt meine ich, ein Atmen mitzubekommen, kann es aber auch das plötzliche Rauschen meiner Ohren sein.

„Hallo?“, frage ich noch einmal. „Wer ist da?“

Keine Antwort, nur weiterhin Stille.

„Sakuya?“

Es ist nur ein plötzlicher Instinkt. Ich habe keine Ahnung, wie ich auf die Idee komme... nein, wieso ich mir plötzlich vollkommen sicher bin, dass er es ist... Ich weiß es einfach, irgendwie.

Mein Körper verkrampft sich, während ich das Handy an mein Ohr presse, versuche es trotz vor Kälte und Nervosität zitternder Hand still zu halten, damit ich vielleicht wirklich ein Atmen hören kann...

„Du bist es, oder?“, spreche ich immer leiser, spüre, wie in mir mit einem Mal Tränen aufsteigen.

Antworte doch!... Am liebsten würde ich schreien. Antworte mir, sag irgendwas!

Ich tue es nicht, fordere es nicht, sondern lausche weiterhin.

So viele Worte durchstreifen meinen Kopf, alles mögliche, was ich ihm nun so gerne sagen würde, doch ich bekomme kein einziges über die Lippen.

Ich sinke an der Wand neben der Balkontür zu Boden, lege meinen Kopf auf die umklammerten Beine.

Ich weiß nicht einmal, ob es mir mehr wehtut, dass du anrufst und nichts sagst, oder ob ich einfach nur unglaublich glücklich sein soll, dass du es überhaupt tust...

Gott, ich vermisse dich so sehr!
 

Ich weiß nicht wie viele schweigende Minuten so vergehen, bis plötzlich neben mir die Tür aufgeht.

Erschrocken fahre ich hoch.

„Kommst du wieder rein?“, fragt meine Mutter mit besorgtem Unterton in der Stimme... und im selben Moment, bevor ich auch nur darüber nachdenken könnte, was ich nun tue, nehme ich das Tuten in der Leitung wahr.

Aufgelegt.

„Verdammt!“, entfährt es mir, worauf ich einen erschrockenen Blick ernte. „Ich... ja, ich komme gleich...“

Mit der Antwort scheint sie zufrieden zu sein und die Tür schließt sich wieder.

Ich sinke zurück gegen die Wand, starre mein Handy an.

Ob du irgendetwas gesagt hättest... wenn sie nicht gekommen wäre?

Mein Blick wandert hinauf zum dunklen Himmel, dann schließe ich die Augen.

Aber eigentlich ist das auch egal... du hast angerufen, das ist alles, was zählt...
 

Part 31 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Kohaku Uta Gassen

~ Mochi

~ O-Sechi Ryori

~ Toshi-Koshi Soba
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 32

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Sakuya (by littleblaze)
 

Kinder sollten sich nie über etwas Ernsteres Sorgen machen müssen als über Baseball. Darin liegt alles, was man wissen muss:

Erfolg und Versagen,

Augenblicke, wenn man zusammen kommt und Augenblicke, wenn man auf sich allein gestellt ist.

Und es hat ein Ende.

Kein zeitliches Ende, wie in anderen Sportarten, aber ein Ende...
 

Das Gefühl der Hilflosigkeit zieht mich zu Boden. Was habe ich getan?

Die Haustür fällt ins Schloss.

Wenn es nur ich alleine gewesen wäre, der einen Fehler gemacht hat, nur ich Schuld an all dem wäre... ich könnte sie bei mir suchen, müsste mich selber zur Rechenschaft ziehen, mit den Konsequenzen leben... Warum musste er nur ebenfalls einen Fehler begehen?

Am liebsten würde ich gegen den Boden schlagen, irgendetwas gegen die nächstbeste Wand werfen, doch woher die Kraft dazu nehmen? Ich möchte schreien, nur einmal... bitte, ich brauche das gerade so sehr... tatsächlich schaffe ich es, auch wenn es, entgegen meiner Bedürfnisse, viel zu leise ist.

Plötzlich sehe ich Kevin auf mich zu kommen. Warum kommst du erst jetzt? Du hast doch schon vorher gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war, warum bist du erst jetzt hier? Warum hast du mich nicht davon abgehalten, all dies zu ihm zu sagen?

Ich schreie nun nicht mehr den leeren Raum an, ich will nicht, dass er mir zu nahe kommt... und er geht.

Einen momentlang kann ich ihm einfach nur ungläubig hinterher schauen, bis meine Sicht der Flut der aufkommenden Tränen vollends weichen muss.

Was zur Hölle ist denn hier los? Wut gesellt sich der Verzweiflung und Angst in meinem Kopf hinzu, ein weiteres Mal schreie ich laut auf... was?

Ich wehre mich gegen die feste Umarmung, den Druck, der sich gegen meinen Körper setzt, doch trotzdem verschafft es eine unglaubliche Erleichterung...
 

Ich liege schweigend auf meinem Bett, erst jetzt nehme ich meine Umgebung richtig wahr. Das trübe Licht im Zimmer wird von der Dunkelheit, die vor den Fenstern haust, schon beinahe verschlungen. Wie habe ich es eigentlich geschafft, diesen Tag zu Ende zu leben?

Ich erhebe mich ein Stück, greife nach den Kopfschmerztabletten, die Malcolm mir gebracht hat, zerkaue sie und schlucke sie hinunter.

Kida! Ryouta! Mein Kopf scheint zu zerspringen, wenn ich nur daran denke. Wie konnte ich das nur tun? Ich weiß es beim besten Willen nicht.

Ich lege mich für ein paar Minuten wieder hin, warte bis die Medikamente wenigstens ein wenig angeschlagen haben und stehe dann auf, ziehe mich an und gehe vorsichtig die Treppen runter.

Raus, einfach nur raus... eingesperrt fühle ich mich, brauche frische Luft.

Ich will nicht nachdenken, auch wenn ich dies behauptet habe. Ich will mich nicht fragen, ob ich es vielleicht beenden sollte. Ich will nur wieder vergessen, dass ich es erfahren habe...
 

Zwei Stunden lief ich durch das nächtliche Tokyo, wobei ich belebten Straßen auswich. Die Kälte ließ mich frieren, die ersten Schneeflocken fielen auf mein erhobenes Gesicht. Eine Taubheit, der man sich am liebsten einfach so hingeben würde.

Ich schließe leise auf, betrete den dunklen Flur und stolpere beinahe über eine Kiste. Es erklingt ein schepperndes Geräusch und ich klettere über weitere Kisten, die im Flur stehen. Abgesehen von diesen, sieht das Haus aus wie geleckt, keine Ahnung wie die beiden das geschafft haben.

Als ich das Wohnzimmer betrete, erkenne ich sie vor dem Fernseher. Malcolm schaut mich lächelnd an, Kevins Blick ist weiter auf den Fernseher gerichtet. Diese Kälte, die von ihm ausgeht, macht mich krank, doch ich kann nicht auch noch daran denken.

Schweigend setze ich mich neben ihn, schaue ebenfalls starr auf dem Fernseher, bis ich nach einigen Minuten meinen Kopf einfach zur Seite kippen lasse und er auf seiner Schulter landet. Kurz verweilen wir so, bis sich sein Arm unter mir befreit und er mich an sich zieht. Ich ziehe die Beine zu mir hoch und drücke mein Gesicht in das weiche Shirt. Ob er immer noch für mich singen würde?
 

~ * ~
 

Irgendwie habe ich angenommen, dass ich tagelang keinen Bissen runter kriegen würde, doch schon am nächsten Tag überkommt mich ein schrecklicher Hunger und ich stopfe wahllos alles in mich hinein.

Was wir mit dem Alkohol machen sollen, erreicht mich die Frage. Ich trete an den Kühlschrank heran, greife nach einer der Flaschen, starre hinauf. Ob es auch passiert wäre, wenn ich die Finger davon gelassen hätte? Doch die wichtigere Frage: Hätte ich das mit Tatsuya jemals erfahren, wenn die Sache mit Ryouta nicht gewesen wäre? Hätte er es mir jemals von alleine gesagt? Ich denke nicht!

Der Alkohol, sowie der Kuchen wandern ohne große Schwermut in den Müll.
 

Keine Ahnung wie es dazu kommt, sitze ich mit Malcolm gegen Mittag in meinem Zimmer und starre ihn über den Rand des Kissens an, welches auf meinen angezogenen Beinen ruht.

Seine gestellten Fragen verwundern mich nicht, immerhin konnten er und Kevin nicht wirklich nachvollziehen, worum es eigentlich ging. Doch ich möchte nichts erklären, möchte gar nicht daran denken.

„Warum hast du Kevin geküsst? Hat es etwas damit zu tun?“

„Nein.“ Dass ich rot werde, ist wohl nicht zu vermeiden. Dass ich es überhaupt getan habe, ist mir natürlich wieder eingefallen, versuchte ich es aber zu verdrängen und mich nicht jedes Mal zu fragen, was er jetzt wohl von mir halten würde.

„Ich habe Ryouta geküsst“, bin ich jetzt doch bereit zu erklären.

„Warum hast du das getan?“

„Keine Ahnung... außerdem habe ich erfahren, dass mich Kida die ganze Zeit über belogen hat.“

„Belogen?“

„Ja... ist aber egal. Ich will nicht darüber reden. Am liebsten würde ich mich in ein tiefes Loch verkriechen und einfach gar nichts machen...“

„Wenn Menschen Angst bekommen, reagieren sie vollkommen unterschiedlich. Manche kämpfen, versuchen das Ding, vor dem sie Angst haben, zu zerstören oder versuchen so weit wie nur möglich von ihm wegzukommen und trotzdem stehen wir an einer Klippe, jeden Tag...“ Kevin taucht im Türrahmen auf. „...Wir fallen und können gar nichts daran ändern. Es macht nur den Unterschied, ob du schreist und zappelst, während du fällst oder ob du dich öffnest und abwartest, was passiert.“

Malcolm folgt meinem Blick und verstummt kurz.

„Jemanden zu finden, bei dem man sich weniger alleine fühlt, vielleicht liegt gerade hier das Geheimnis sich zu verlieben.“ Malcolm grinst.
 

Kurz nach diesem seltsamen Gespräch, nach dem ich mich nun frage, ob ich Malcolm total falsch eingeschätzt habe, stehen Kyo und Sanae auf der Matte. Ein Besuch, den ich im Moment gar nicht ertragen kann. Trotzdem höre ich mir ihre Aussagen an und umgehe geschickt Fragen, die ich nicht beantworten will. Zum Glück bleiben sie nicht sehr lange und so sehe ich mich kurze Zeit später wieder alleine in meinem Zimmer.

Wie konnte das alles nur geschehen? Warum hat er es mir nicht von Anfang an gesagt? Hat er so wenig Vertrauen in mich... hätte ich damit leben können? Kann ich es jetzt? Das Gefühl zu ersticken, treibt mich dazu, das Fenster aufzureißen, mir die benötigte Luft zuzuführen. Ich sauge die kalte Luft tief ein, ein kleines Brennen in der Luftröhre.

Ich schaue zum Schreibtisch, der mit Unmengen an Schulsachen belegt ist. Zwei Aufsätze, einen Geschäftsbrief für Französisch und eine Aufgabe für den Kunstunterricht, für die mir Kida extra ein Bildbearbeitungsprogramm auf den Computer installiert hat. Die Rücksäcke neben dem Schreibtisch realisiere ich als nächstes...

Meine Finger greifen nach dem Seinem. Ich setze mich auf den Stuhl und lasse das Gepäckstück auf meine Beine sinken. Kurz bin ich gewillt ihn zu öffnen. Würden mich hier vielleicht noch mehr Geheimnisse erwarten, von denen ich nichts ahne? Doch ich tue es nicht. Vielleicht will ich gar nicht wissen, ob da noch etwas ist.

Der Rucksack gleiten gen Boden. Ich schalte meinen Computer an, öffne das Bildbearbeitungsprogramm. Keine Ahnung, wie ich hier beginnen soll, ich war noch nie besonders gut in irgendwas, das mit dem Computer zusammenhing. Vielleicht sollte ich Kevin... nein...

Ich entscheide mich für den Französischbrief, auch nicht wirklich besser.
 

Ein bekanntes Geräusch ertönt nach einiger Zeit müheseligen Übersetzens. Der Stift fällt mir vor Schreck aus der Hand, nervös suche ich das blöde ICQ-Icon. Ich öffne es aus der Taskleiste heraus und auch schon vorher ist mir klar, welchen User ich dort antreffen werde, denn außer Kevin habe ich nur Kida in meiner Kontaktliste.

Kurz habe ich das Gefühl, erwischt worden zu sein, doch bei was?

Was wenn er mich anspricht? Würde ich antworten?

Sollte ich besser offline gehen... aber würde er dann nicht denken, dass ich nur wegen ihm rausgegangen bin?

Ich will nicht weiter darüber nachdenken, will weiter an meinem Brief arbeiten. Nervös suche ich den Stift, bis mir einfällt, dass dieser sich ja in Richtung Boden verabschiedet hat. Ich hebe ihn auf und beim wieder hoch kommen, bleibe ich abermals am ICQ hängen. Der Stift wird gedankenlos zur Seite gelegt, ich öffne ein Fenster. Nein, ich will ihm nicht schreiben... doch, wenn ich es wollte, was würde ich ihm wohl sagen?

Ich vermisse dich!, schreibe ich in das geöffnete Fenster, lösche es wieder.

Vermisst du mich auch?, stelle ich die Frage, lösche sie wieder.

Warum hast du das getan? Mich angelogen, es mir nicht gesagt. Warum?

Ich dachte immer, dass wir über alles reden können, dass du mir vertraust, sagtest du das nicht mehr als ein Mal? Warum also diese Lüge? Bitte, sag es mir doch!

Ich schließe das Fenster wieder.
 

~ * ~
 

Am darauffolgenden Tag versuche ich alles, um mir nicht anmerken zu lassen, dass etwas nicht stimmt. Ich begrüße meine Eltern fast schon zu überschwänglich, werde mit einem fragenden Blick konfrontiert.

„Die Party muss ja super gewesen sein“, schlussfolgert mein Dad aus meiner guten Laune heraus.

Ich überlasse es Malcolm davon zu berichten und bin mächtig erleichtert, dass meine Eltern in ein paar Stunden schon wieder nach Kobe aufbrechen.

Es klingelt an der Tür, erschrocken zucke ich zusammen.

Nein, nicht jetzt. Ich kann doch unmöglich jetzt mit ihm darüber reden. Und wenn es vielleicht gar nicht Kida ist... vielleicht Ryouta?

Es klingelt erneut.

„Machst du nun auf oder nicht?“

Die kurze Distanz über ist mein Körper damit beschäftigt, alle Anzeichen für Nervosität und Angst zum Vorschein zu bringen. Das Zittern, mit dem ich die Türklinge ergreife, ist da echt das kleinste Übel.

Ein Mädchen steht vor der Tür... Erleichterung!

„Hi.“

„Hi“, erwidere ich. Kenne ich sie?

„Ich wollte dich besuchen kommen.“ Sie lächelt.

„Warum?“, kommt es ziemlich patzig und ihr Lächeln verebbt sogleich.

„Ohh... sorry, ich... mein Tag war nur echt beschissen... wenigstens bis jetzt“, füge ich nun lächelnd hinzu.

„Vielleicht, sollte ich lieber ein and...“

„Nein, schon okay, komm doch rein“, bitte ich sie.

Ich führe sie in die Küche, wo alle versammelt sind.

„Das ist...“

„Harumi“, ergänzt sie und verbeugt sich gleichzeitig.

„Genau“, kommt es verlegen.

„Komm setz dich doch“, fordert Mom sie auf.

„Nein... ich...“ Die viele Aufmerksamkeit scheint ihr peinlich zu sein.

„Du musst das Mädchen mit dem Kuchen sein.“

„Kuchen?“, schaut sie mich fragend an und kurz scheint mich diese Anspielung aus der Bahn zu werfen, dann nicke ich ihr aber leicht zu.

„Ja... ja genau... der Kuchen...“ Diese Lüge lässt sie noch um vieles mehr verlegen wirken.

„Ein Tipp für den Valentinstag“, mein Dad löst sich von seinem Kaffee. „Sakuya ist gegen Schokolade allergisch.“ Er zwinkert.

„Danke für den Tipp“, wird sich brav ein weiteres Mal verbeugt.

„Wir gehen dann mal kurz nach oben.“

Ich greife nach ihrer Hand und weise ihr den Weg in mein Zimmer. Als wir es erreicht haben, schaut sie sich neugierig um, ich schiebe ihr den Schreibtischstuhl hin.

„Also, was gibt es?“

Sie fängt an in ihrer Tasche zu kramen. Was jetzt?

„Zuerst wollte ich einen Brief schreiben.“ Ich nehme den blauen Umschlag entgegen. Ein angenehmer Duft strömt von dem Papier aus... ich kenne diesen Duft...

Ich öffne ihn, der mir aber nur seine Leere verrät. Verwundert schaue ich auf.

„Aber nachdem wir zusammen getanzt haben...“

„Getanzt?“

„Ja. Auf der Sylvesterparty. Du...“ Sie wird leicht rot, wendet den Blick ein wenig ab. „...sagtest, ich rieche gut.“

Vage schaffe ich es mich zu erinnern.

„Ich dachte mir einfach, dass es besser wäre, dich persönlich zu fragen.“

„Was zu fragen?“

„Ob du mein fester Freund sein möchtest.“

„Ich...“ Total perplex stehe ich vor ihr. Es ist schon einige Zeit her, dass ich so ein direktes Angebot erhalten habe, und ich habe beim besten Willen keine Ahnung, wie ich jetzt am besten handeln soll, um ihr nicht allzu weh zu tun.

„Wenn du Zeit zum nachdenken brauchst, dann...“

„Das ist es nicht. Ich... kann nicht! Ich habe mein Herz schon an jemand anderen verschenkt.“
 

Nachdem sich meine Eltern wieder guter Dinge auf den Weg gemacht haben, fand ich es an der Zeit, wenigsten eines meiner Probleme in Angriff zu nehmen. Natürlich entscheid ich mich für das Einfacherer: Ryouta.

„Also, was sollte das alles?... Warum hast du mich geküsst?“

Ich sitze ihm gegenüber. Vielleicht ist es nicht gerade klug, sich hier mit ihm zu treffen, hier, wo nichts ist, was mich retten könnte.

„Ich mag dich, sehr sogar.“

„Warum?“

„Weil es nicht gerade einfach ist, dich nicht zu mögen...“

„Was meinst du damit?“

Ein kurzes Kopfschütteln, ein leichtes Lächeln im Gesicht.

„Man will dich einfach beschützen, man hat das Bedürfnis, dich zum Lachen zu bringen, dich festhalten zu wollen...“

„Nur weil man etwas tun möchte, muss man es noch lange nicht tun.“

„Ja, ich weiß... wie ich schon sagte, es tut mir leid.“

Ich stehe auf, laufe vor dem Tisch hin und her. Allmählich scheint diese Geste zu meinem festen Lebensinhalt zu werden.

„Dafür kann ich mir aber leider nichts kaufen und es hilft mir auch nicht dabei, zu entscheiden, ob ich... diese Freundschaft noch aufrecht erhalten kann.“

„Ich verstehe.“

„Nein, verdammt noch mal, das tust du eben nicht, sonst hättest du es gar nicht erst getan! Du musst dir doch darüber im Klaren gewesen sein, dass das nichts bringt. Was hast du denn bitteschön erwartet? Dass ich Kida für dich verlassen würde?!“ Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt lauter zu werden, ihn fast schon anzuschreien, aber ich denke nicht, dass er es mir übel nimmt.

„Quatsch, ich habe gar nichts erwartet. Ich wollte es einfach nur einmal tun, mehr nicht...“

„Ich bin echt fasziniert davon, wie einfach du die ganze Sache zu nehmen scheinst.“

„Das stimmt nicht.“

„Warum dann? Ich kann es nicht verstehen.“

„Das wäre zu kompliziert...“

„Versuch es.“

„Ich kann nicht.“

„Du willst nicht?“

„Auch.“

Wenn Blicke töten könnten, würde ich sein Umfallen gerade nicht vermeiden können.

„Du weißt aber schon, dass du mir mit dieser Haltung nicht gerade in meiner Entscheidung entgegenkommst?“

„Ja, aber was willst du denn hören? Ich fühle mich einfach wohl in deiner Nähe... du..... du bringst mich zum lachen, zeigst mir, wie man in den kleinsten Dinge etwas ganz besonderes sehen kann.“

„In kleinen Dingen was besonderes sehen? Wie soll ich das denn gemacht haben?“

„Das verstehst du nicht.“

„Sag mir, würdest du es wieder tun?“

„Ja... wenn du willst, dass ich ehrlich bin, dann ja.“

„Würdest du es auch tun, wenn ich dich bitten würde, es niemals wieder zu tun?“

Bitte, sag jetzt das Richtige, denn nur so kann ich dir weiterhin meine Freundschaft anbieten. Ich fühle mich doch auch wohl, wenn wir zusammen sind. Ich rede so furchtbar gerne mit dir über alles Mögliche, was mich bedrückt. Aber ich mag dich eben anders und nicht so, wie du mich anscheinend magst.

„Nein.“

„Dann tue es bitte nie wieder, einverstanden?“

„Einverstanden“, kommt es für mich persönlich viel zu schnell.

„Ryouta?“

„Ich habe es verstanden, ich tue es nie wieder. Versprochen.“
 

Kurze Zeit später mache ich mich dann auch wieder auf den Heimweg. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart nicht so wohl, wie die vielen Male zuvor. Es war eine bedrückende, gespannte Stimmung und ich hoffe nur, dass sie sich irgendwann wieder legen wird und alles wieder so wie vorher ist.

Was ich mich allerdings die ganze Zeit über nicht getraut habe, zu fragen, ist: Liebst du mich?

Ich denke, ich hätte mit der Antwort nicht leben können.
 

Wieder daheim ist das Haus leer. Nur ein Zettel erwartet mich, den ich gelesen, einfach dort liegen lasse, wo er ist.

Warum fühle ich mich eigentlich als Opfer, bin ich nicht auch Täter?

Gut, ich habe den Kuss sofort gebeichtet und mich auch am nächsten Tag ehrlich dafür entschuldigt... und mehr kann ich doch auch eigentlich gar nicht tun. Aber reicht ihm das? Ist er nicht auch von mir enttäuscht?

Doch was er getan hat, ist doch um einiges schlimmer als das, oder? Es kommt nicht darauf an, wie oft da etwas mit Tatsuya war oder wie weit es gegangen ist, er hat mich einfach die ganze Zeit über belogen.

Natürlich bin ich auch irgendwie sauer darauf, dass da überhaupt etwas war, wer wäre das nicht... aber das ist es doch nicht. Nicht deshalb bin ich mir ein wenig unschlüssig darüber, wie es weitergehen soll.

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht... nicht wahr? Doch das würde nicht funktionieren... Sich davor zu fürchten, immer wieder belogen zu werden. Wenn ich an das Gespräch mit Ryouta denke, dann war es unangenehm, nicht gerade förderlich für eine weitere Freundschaft, aber wenigstens ist es die Wahrheit gewesen.

Ich schalte den Computer aus. Ich habe es zuvor einfach nur vergessen, rede ich mir ein.
 

~ * ~
 

Ich war acht Jahre alt an dem New Year’s Eve, an welches ich mich als erstes erinnere. Natürlich waren einige davor gewesen, aber erinnern kann ich mich nicht mehr daran.

Den ganzen Tag lang schien die Stadt in Aufregung zu sein, überall waren die Massen unterwegs. Meine Mom zog den Einkaufswagen von einem Regal zum nächsten, murmelte andauernd etwas vor sich hin.

Mein Blick blieb am Fenster hängen. Auf der anderen Seite des Glases trugen einige Männer einen Drachen aus Pappe die Straße hinauf. Ich konnte meinen Blick gar nicht abwenden und ging näher an die Scheibe heran. Als ich sie nicht mehr sehen konnte, bemerke ich, dass ich ganz alleine da stand.

Von Tapfersein hielt ich nicht viel und so fing ich sofort an, aus Leibenskräften zu weinen und nach meiner Mom zu schreien. Alle schauten mich an, eine Verkäuferin kam auf mich zu gerannt, versuchte mich zu beruhigen. Doch ich rief immer weiter nach meiner Mom, bis sie dann irgendwann auch wieder vor mir stand und mich in den Arm nahm.

Es folgten viele weitere New Year’s Eve, die meisten mit den tollsten Erinnerungen, die man sich als Kind nur wünschen kann, und niemals wieder habe ich mich an einem New Year’s Eve so verlassen gefühlt wie an jenen Tag, als ich mit acht Jahren in einem Supermarkt verloren ging... niemals, bis heute.
 

Fast jeden dieser Feiertage habe ich zusammen mit Kevin verbracht. Nun, wo ich die Chance habe, mal wieder mit ihm zusammen zu sein, will ich es nicht.

Ich habe keine Lust durch die Stadt zu laufen, mir einige Shrines anzuschauen, Essen zu gehen oder sonst was zu machen. Ich will einfach nur hier in meinem Zimmer sitzen und daran denken, dass ich einsam bin.

Auch wenn es mit jeder Überlegung mehr schmerzt, scheint es fast schon ein neues Spiel zu sein, mir weitere Vorwürfe über mein Handeln zu machen. Wer bitteschön zwang mich denn dazu, alleine zu sein? Ich selber!

Was wäre so schwer daran, ihn einfach anzurufen und zu fragen, ob er her kommt? Nichts!

Warum tue ich es dann nicht einfach? Vielleicht, weil ich genau weiß, dass er nicht da ist?

Muss er ausgerechnet jetzt verreisen, zu irgendwelchen blöden Verwandten? Gerade jetzt wäre ich in der Lage ihm alles zu verzeihen, doch was tue ich... alleine in meinem Zimmer hocken, auf das ICQ schauen, das keinen Kontakt anzeigt, und mich fragen, warum ich gerade so einsam bin.

Seine Stimme hören, will ich jetzt. Will, dass er mir sagt, dass alles wieder okay ist, dass wir einfach weiter machen, wo wir am 26. aufgehört haben.

Nur Sekunden später halte ich das dafür nötige Werkzeug in der Hand, das Telefon. Während ich die Nummer wähle, weiß ich schon genau, dass ich keinen Ton hinaus bekommen werde. Habe ich deswegen das Telefon gewählt?

„Hallo?“

Ich lasse mich aufs Bett sinken, unterdrücke die Tränen. Er könne sie hören. Warum habe ich die letzten Tage eigentlich gar nicht geweint?

„Hallo? Wer ist da?“

Ich bin es, Sakuya. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass ich dich immer noch liebe, mehr nicht.

„Sakuya?“

Natürlich weißt du es. Ich beiße mir fest auf die Lippe. Ich will jetzt nicht mit ihm sprechen, ich kann nicht, denn ich weiß immer noch nicht, wie es genau weitergehen soll. Kann ich dir vertrauen?

„Du bist es, oder?“

Ja. Wer sonst, Tatsuya vielleicht? Hast du seither mit ihm geredet? Es gibt ein paar neue Dinge, die ich dir gerne erzählen will: Ein Mädchen war hier und hat mich gefragt, ob ich ihr fester Freund sein will. Witzig, nicht wahr... wer will mich schon als Freund haben?

Ich habe ihr gesagt, dass ich mein Herz schon verschenkt habe, an wen konnte ich natürlich nicht sagen. Ich hasse diese Heimlichtuerei. Vielleicht sollten wir endlich damit aufhören... vielleicht.

Dann war ich bei Ryouta. Nein, du musst dir keine Sorgen machen, da war nichts, das schwöre ich dir. Ich denke, dass er ziemlich viel für mich empfindet, wieder so eine verrückte Sache. Er meint man hat das Verlangen mich zu beschützen und so... Kevin hat das früher auch mal gesagt. Naja, er hat mich ja auch immer beschützt. Bin ich wirklich so bemitleidenswert? Kommt mir nämlich gar nicht so vor. Warum denkt nur jeder...

„Kommst du wieder rein?“, ertönt plötzlich eine andere Stimme und vor Schreck lasse ich das Telefon fallen, hebe es wieder auf, kappe die Leitung.

Was ist das auch für eine blöde Idee gewesen, schweigend mit dem Telefon dazusitzen?

Der Hörer wandert wieder zur Basisstation, ich bleibe aber weiterhin wie angewurzelt vor ihm stehen. Vielleicht hätte ich doch irgendetwas sagen sollen. Wenigstens fragen, wie es ihm geht oder ihm ein Frohes Neues Jahr wünschen. Ich hätte ihm auch einfach sagen können, dass ich ihm verzeihe, dass ich nicht mehr böse auf ihn bin und das jetzt alles wieder gut ist? Ich wollte es doch sagen.
 

~ * ~
 

Drei Tage lang stelle ich mir weiterhin diese Fragen, obwohl ich mir immer wieder vornehme, dies alles zu verdrängen. Drei Tage, in denen nicht besonders viel mit mir anzufangen ist. Mein schlechtes Gewissen plagt mich auch auf Kevin und Malcolm bezogen. Ein guter Gastgeber war ich bestimmt nicht und nun ist, was sie beide betrifft, auch schon alles wieder vorbei.

Fliegender Wechsel im Haus. Meine Eltern kommen zurück, zwei Stunden später ist für Kevin und Malcolm Zeit zum Flughafen zu fahren.

Malcolm scheint guter Laune zu sein, während er die letzten Gepäckstücke zum Auto trägt.

„Ob es jemals normal sein wird, wenn ich dich besuchen kommen?“

„Ich hoffe.“ Meine Finger legen sich auf der Türklinke ab, tippeln darauf irgendeine Melodie.

„Verzeih ihm.“

Ich zucke nur leicht mit den Schultern. Ich will jetzt nicht über Kida reden, ich will mich von dir verabschieden, ich will...

„Bist du böse, wegen dem Kuss?“

„Nein.“ Er kommt auf die Tür, auf mich zu.

„Wirklich nicht?“ Ich lächle verlegen. „Vielleicht ist es ansteckend und du wirst jetzt auch schwul“, scherze ich.

„Ja klar“, er lacht auf. „Aber nicht von der miesen Leistung. Ich kann mir gar nicht erklären, warum Kida noch mit dir zusammen ist!“ Er boxt mich leicht in die Seite, als er an mir vorbei geht.

„Hey, das... das war ja auch kein richtiger Kuss. Ich kann verdammt gut küssen!“, spiele ich den Eingeschnappten, werde im nächsten Moment in eine feste Umarmung gezogen.

Ich habe dich die letzte Zeit kaum beachtet, bin dir aus dem Weg gegangen, weil ich mich schämte und trotzdem...

„Verzeih ihm, ok?“

Ich drücke mich fester gegen ihn, umarme seinen Körper ebenfalls.

„Er tut dir gut und ich brauch das... ich muss wissen, dass es dir gut geht, verstehst du? Jedes Mal, wenn ich dich sehe, habe ich das Gefühl, mich mehr von dir entfernt zu haben, und wenn ich mir vorstelle, dich ganz alleine zurück zu lassen, werde ich total verrückt.“

Ich nicke leicht mit dem Kopf, ein leichter Kuss setzt sich auf meiner Wange ab, eh er sich von mir trennt, ins Auto steigt und ich wieder einmal ganz alleine bin.
 

Am späten Abend will ich nun endlich das Unausweichliche hinter mich bringen.

Das Haus schaffe ich auch dieses Mal zu betrete, ohne auf mich aufmerksam zu machen, doch der Fahrstuhl löst ein Gefühl in mir aus, das mir bis jetzt vollkommen fremd war. Vielleicht sollte ich doch lieber morgen wieder kommen?

„Hallo!“

„Oh... Hallo..“ Ich verbeuge mich tief vor der Mutter meines Freundes. Sie weiß es, was denkt sie wohl von mir? Dass ich hergekommen bin, um mit Kida zu...

„Willst du zu Kida?“

„Äh ja, wenn es keine Umstände macht? Es ist spät, ich könnte morgen wieder kommen.“

„Ist schon in Ordnung, es sind ja immerhin noch Ferien.“

„Danke.“ Ich verbeuge mich ein weiteres Mal, wenigstens muss ich ihr so nicht ins Gesicht sehen.

Sie schließt die Tür auf und ich folge ihr hinein, entledige mich meiner Schuhe und Jacke.

„Er wird in seinem Zimmer sein, geh ruhig.“

„Danke.“

Ich durchstreife schnell den Flur, auf seinen Stiefvater zu treffen, darauf kann ich echt verzichten. Ich klopfe an, warte auf ein Zeichen. Doch was, wenn er nicht alleine ist? Vielleicht hat er sich schon anderweitig Trost gesucht... Ich klopfe erneut, ein wenig lauter diesmal.

„Ja?“

Dieses kleine Wort löst beinahe einen Herzinfarkt in mir aus. Ist das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Ich drücke die Klinke hinunter, öffne die Tür, trete ein.

Verwundert, hektisch setzt er sich im Bett auf.

„Was tust du denn hier?“

„Ich... wollte einfach mal sehen, wie du schläfst, wenn du nicht neben mir liegst“, ist die erstbeste Antwort, die mir einfällt.

„Ich...“

„Sakuya... es...“

Und plötzlich ist alle Vernunft in mir verschwunden. Nicht das Bedürfnis zu reden, mir keine Vorwürfe anhören zu wollen, einfach nur bei ihm sein. Es ist schon mehr rennen als irgendwas sonst... Ich werfe mich ihm regelrecht an den Hals. Am liebsten würde ich ihn anschreien, ihn fragen, warum er sich die ganze Zeit nicht bei mir gemeldet hat.

„Hey, was?“

Ich vergrabe mein Gesicht an seinem Arm, welcher sich um mich legt.

„Lass uns morgen früh reden... ok?“, halte ich die kommende Frage auf.

„Ok.“

Ich lasse von dieser Haltung ab, strecke mich auf dem Bett aus und drücke meine kalte Stirn kurz gegen die warme Brust. Ich werde mit ihm hinuntergezogen, die Decke wird über mich gelegt. Du bist so schön warm, das warst du immer. Ich habe dich so sehr vermisst. Wie denkst du gerade von mir? Bin ich albern... kindisch... bemitleidenswert?

„Kida?“

„Ja?“

„Wegen Ryouta und dem Kuss....“, sage ich vorsichtig.

„Ich dachte, wir wollten morgen früh reden?“

„Bitte hass mich nicht!“, kommt es leise aber deutlich über meine Lippen. „Bitte.“

„Sakuya, ich... ich hasse dich nicht.“ Er sagt es genauso leise wie ich auch gesprochen habe, aber mit einer Überzeugung die mich aufatmen lässt.

„Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid, dass ich das getan habe, ich weiß nicht...“ Sein Kopfschütteln lässt mich schweigen, anscheinend genau das, was er damit bezweckt hat.

„Bitte hör auf damit, ich will das nicht hören.“

„Aber ich....“

„Bitte Sakuya, hör auf. Du hast dich doch bereits dafür entschuldigt.“

Machst du es mir wirklich so einfach? Kannst du mir so einfach vergeben?

„Liebst du mich noch?“, frage ich ihn, obwohl es mir total unpassend vorkommt.

„Ja... und jetzt schlaf...“

Doch schlafen kann ich noch nicht. Immer wieder streichelt er sanft über meinen Kopf hinweg, während meine Tränen seine Brust hinab laufen und seine in das Kissen fallen. Warum ist Liebe eigentlich so schwer, weshalb kann sie nicht nur einfach schön sein? Wo kommen diese ganzen Ecken und Kanten her, die so eine Zusammenkunft mit sich bringt?
 

~ * ~
 

Ich glaubte immer, dass ich eine gewisse Kontrolle über mein Leben habe, und oft schaffe ich es, mir weiß zu machen, dass ich tatsächlich die Kontrolle habe.

Aber dann passiert etwas, das mich daran erinnert, dass sich die Welt nach ihren eigenen Regeln dreht und ich nur ein Mitfahrer bin.

Manchmal sind die Dinge, die auf einen zukommen, mehr als man aushalten kann und jede Entscheidung, die man dann trifft, ist der Tod aller anderen Möglichkeiten.
 

Mit kleinem Schrecken werde ich wach... Natürlich, ich bin ja zu ihm gegangen, habe ihn um Vergebung gebeten und sie auch erhalten. Bon nun ich an der Reihe zu vergeben?

Die leichten Bewegungen hinter mir verraten, dass er wach ist. Nach einer Zeit des Zusammenseins weiß man so etwas.

„Kida... lass uns reden.“

„Psst, noch eine Minute“, werde ich näher gezogen. Sein Atem setzt sich warm auf meinem Nacken ab, seine Lippen können nur Millimeter entfernt sein.
 

Aus der einen werden beim nächsten Augenaufschlag ganze elf.

„Lass uns jetzt reden“, befreie ich mich nun aus seiner Umarmung, setze mich im Bett auf. Er setzt sich mir gegenüber.

„Sakuya, es tut...“

„Nein, bitte nicht.“

Er verstummt, die Verzweiflung in seinem Gesicht ist deutlich zu erkennen. Was denkt er, dass ich jetzt fordere, zu ihm sage? Soll ich etwas fordern?

„Ich muss zugeben, dass ich nicht wirklich sehr viel über das alles nachgedacht habe, wollte es einfach nur verdrängen. Ich wollte mir einfach nicht vorstellen müssen, aus welchen Gründen du mich belogen haben solltest. War es, weil er dir was bedeu...“

Seine Hand schnellt in meine Richtung, greift nach der Meinen. „Nein, das...“

„Lass mich aussprechen“, befreie ich mich unsanft.

„Entschuldige.“

Sofort tut mir meine schnelle Abwehr leid.

„Ist ja auch egal, wie gesagt, habe ich nicht viel darüber nachgedacht. Über was ich allerdings nachgedacht habe, ist, wie weit ihr dir noch vertrauen kann, und als erstes kam da die Erkenntnis, dass ich nicht zulasse, dass ich aus irgendwelchem verletzten Stolz heraus eine falsche Entscheidung treffe... verstehst du das?“

Ich verspüre den Zwang aufstehen zu wollen, im Zimmer hin und her zu laufen, mehr zu gestikulieren, doch mahne ich mich zur Ruhe, bleibe sitzen.

„Wenn man sich doch liebt, so wie wir es doch meiner Meinung nach tun, warum passiert dann so etwas? Warum hat man das Gefühl, man müsse lügen oder etwas geheim halten? Wieso denkt man, es könnte nicht funktionieren, einfach ehrlich miteinander zu sein?“

„Vielleicht will man denjenigen, den man liebt, einfach nur beschützen.“

„Und woher willst du wissen, wie viel Schutz ich brauche? Woher willst du wissen, dass ich mit der Wahrheit nicht besser leben könnte als von dir in Watte gepackt zu werden?“

„Ich weiß es nicht.“

„Ich verlange doch gar nicht, dass du perfekt bist. Auch du hast das Recht Fehler zu machen, genauso wie ich... und auch, wenn ich mich erst einmal damit auseinandersetzen muss, wenn du sie machst, würde ich sie dir doch bestimmt verzeihen... wenigstens denke ich das. Aber das Wichtigste ist doch, dass du mich nicht anlügst.“

Vertrauen, ist das nicht das A und O in einer Beziehung. Geht es nicht genau darum: Jemanden zu finden, dem man alles sagen kann, dem man, was auch kommt, vertrauen kann?

„Es kommt mir so vor, als würdest du mir nicht zutrauen, zu dir zu stehen. Ehrlich gesagt, bin ich langsam müde, dich immer wieder davon überzeugen zu müssen, dass ich dich liebe. Warum ist das nur so? Weshalb habe ich das Gefühl, es immer tun zu müssen?“

Fast schon flehend nach Antwort blicke ich ihn an.

„Das musst du nicht. Ich weiß, dass du mich liebst“, kommt es kleinlaut.

„Dann gib mir nicht das Gefühl, dass es nicht so ist. Ignorier mich nicht... niemals wieder. Ich kann das einfach nicht ertragen, besonders nicht von der Person, die ich liebe.“

Ich fühle mich in einer Sackgasse, stehe nun doch auf, um mich besser ausdrücken zu können.

„Mir ist doch so was von klar, dass ich dich nicht vergessen will. Ich will mich nicht nach dir sehnen müssen, keine anderen glucksenden Geräusche neben mir hören, keinen anderen Herzschlag an mir spüren... dass alles aufhört... Das kann ich einfach nicht akzeptieren... Ich will doch nur dich, mehr nicht. Ist das etwa zu viel verlangt?“

Ich schlucke schwer, ein Anzeichen aufkommender Tränen.

„Und wie viel ich auch hin und her überlegt habe, ich konnte keinen Grund finden, warum es falsch wäre, dich zu lieben... Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen, es niemals erfahren. Ich weiß einfach nicht mehr, wie weit ich dir jetzt vertrauen kann, doch ich möchte dir doch so gerne vertrauen können... ich muss...“

Ich hasse es zu weinen, warum passiert es nur immer in wichtigen Augenblicken?

„Ich bin nicht gekommen um eine Entschuldigung von dir zu hören, ich weiß, dass es dir leid tut. Das ist nicht der Punkt. Mir geht es einzig darum, dass ich mir sicher sein muss, dass du mich nicht wieder anlügst.“

Blitzschnell steht er auf, vor Schreck trete ich einen Schritt zurück. Er greift nach meinen Oberarmen, fast schon tut es weh.

„Das kannst du... hörst du. Ich schwöre, dass ich dich nie wieder anlügen werde.“

Auch die Tränen in seinen Augen sind nun gut zu erkennen.

„Und das glaube ich dir. Was bleibt mir auch anderes über...“, verschwimmt mit einem weiteren Augenaufschlag mein Bild. „...denn ich liebe dich.“
 

~ * ~
 

Die Menschen reden viel, als ob es das Wichtigste im Leben sei, die Dinge so zu sehen wie sie wirklich sind. Aber alles was wir tun, jeder Plan den wir machen, hat etwas von einer Lüge.

Wir verschließen unsere Augen und tun so, als würde niemals der Tag kommen, an dem wir keine Pläne mehr machen müssen.

Die Hoffnung ist die größte Lüge von allen... und die Beste. Wir müssen weitergehen und glauben, dass es richtig ist, sonst würden wir gar nicht mehr weitergehen.
 

Part 32 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Kobe

~ New Year's Eve
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 33

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Kida (by Stiffy)
 

Ich sehe Sakuya an, der neben mir läuft, sehe seine Gesichtszüge, den ruhigen Ausdruck in seinen Augen.

Ich habe das Verlangen, nach seiner Hand zu greifen... würde es tun, wenn hier nicht so viele Menschen wären, wenn wir endlich wieder allein wären.

Normalität... ab heute werden wir wieder zu ihr zurückkehren... Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich darauf freue...
 

In der Bahn sitzen wir nebeneinander. Sakuya hat den Blick auf den Boden gerichtet, während ich es nicht schaffe, meinen von seinen Fingern zu nehmen, die mit seinem Armband spielen.

Du hast mir verziehen... noch immer kann ich es irgendwie gar nicht wirklich glauben...
 

„Also gehst du nun wieder?“, hat meine Mutter mit enttäuschten Augen gefragt, als ich vor knapp zwei Stunden bei ihr in der Küche auftauchte und nicht wusste, wie ich es am besten sagen sollte. Sie wusste ja noch nicht mal, worum es eigentlich die ganze Zeit gegangen war. Na ja, dass ich hier und nicht bei Sakuya war, gab aber wohl schon Aufschluss genug...

Sie fragte, ob wir denn wenigstens noch zum Mittagessen bleiben würden. Ehrlich gesagt, freute ich mich über diese einfache Frage. Sie war bereit dazu, dass mein Freund bei uns essen würde... Hatte sie also wirklich endlich verstanden, dass es nicht nur eine Phase war?

Steif verlief es schon, dieses Mittagessen. Niemand wusste so wirklich, was er sagen sollte. Keine Ahnung, wem es wohl am Unangenehmsten war. Nur Lynn verhielt sich natürlich wie immer. Sie freute sich, über unseren Besuch und Sakuya führte mit ihr ein Gespräch. Irgendwie war es schön, ihnen zuzuhören...
 

Eine Berührung lässt mich aufschrecken, meine Augen aufreißen. Sakuya steht vor mir und grinst.

„Aufwachen, wir müssen aussteigen...“

„Ich habe gar ni-“, will ich zu protestieren beginnen, entscheide mich dann aber dagegen, nicht sicher, ob ich wirklich nicht kurz eingenickt bin. Nach der letzten, fast schlaflosen Nacht wäre es zumindest nicht verwunderlich...
 

Wir verlassen die Bahn und legen die letzten Straßen bis zu Sakuya nach Hause zurück.

So dämlich es vielleicht klingen mag, habe ich fast das Gefühl, ich käme Heim... Gott, das klingt wirklich dämlich.

Als wir das Haus betreten, finden wir es leer vor. Keine Ahnung, ob ich das jetzt gut oder schlecht finden soll...
 

In Sakuyas Zimmer hat sich so gut wie nichts verändert, selbst mein Rucksack steht noch an seinem Platz. Immer mehr habe ich das Gefühl, wieder Daheim zu sein.

Doch egal wie normal es ist, als ich mich auf Sakuyas Bett niederlasse, ist es doch so, dass es irgendwie... anders ist. Die Stimmung noch immer ein klein wenig gespannt... – Natürlich, so einfach kann man halt doch nicht zurückkehren.

Ich strecke zögernd die Arme aus und zu meiner Erleichterung kommt er auf mich zu, lässt es zu, dass ich meinen Kopf gegen seinen Bauch schmiege, ihn fest an mir halte.

Ich habe das so wahnsinnig vermisst... deine Nähe, die Hände, die mich festhalten...

Nach einer Weile sinkt Sakuya vor mir auf die Knie, ist jetzt mit mir auf gleicher Höhe. Er lächelt nicht, sondern sieht mich ganz ernst an, während seine Finger durch meine Haare streifen.

„Es ist schön, wieder hier zu sein“, flüstere ich.

Ein sanftes Nicken. „Ja.“
 

Wenn man sich wirklich klar macht, dass die Fragen und Probleme geklärt sind und dass beide Personen vollkommen damit einverstanden sind, die Zeit zurück zu drehen, vielleicht ist es dann gar nicht mehr so schwer, zur Normalität zurückzukehren... denke ich zumindest. Und als wir uns irgendwann dazu entschließen, wieder zum Alltag überzugehen, indem wir uns unsere Schulsachen herbeiholen, klappt es eigentlich ganz gut.

Nur um die einfachen Sachen kümmern wir uns jetzt, zwei Fächer, die wir beide einigermaßen drauf haben... wirklich bereit dazu, über den schweren Sachen zu brüten, sind wir heute aber nicht, da sind wir uns vollkommen einig...
 

Sakuyas Eltern kommen erst gegen Abend nach Hause. Sie haben etwas vom nahegelegenen Restaurant mitgebracht... für drei Personen. Sofort, als sie mich sieht, bietet Mrs. Ryan an, nochmals hinzugehen, doch ich, peinlich berührt, kann es ihr glücklicherweise ausreden.

„Die Portionen sind eh riesig... wir teilen uns meine...“, meint Sakuya, während wir das Essen auf den Tellern verteilen.

Als wir schließlich sitzen, erkundigt sich Mr. Ryan wie lange die Ferien noch gehen und wann Prüfungen sind.

„Am Montag müssen wir wieder hin...“, erklärt Sakuya „...dann heißt es eine Woche noch mal vollstes Lernen und ab dem 17. werden die Prüfungen geschrieben...“

„Das bedeutet dann wohl, Lernen bis zum Umfallen...“

Wir nicken beide mit wohl ähnlichem lustlosen Gefühl.

Oh Mann, ich habe es wohl echt erfolgreich geschafft, das Thema Lernen aus meinem Kopf zu verbannen, denn plötzlich hab ich das Gefühl, die Prüfungen stehen schon viel zu nah vor der Tür...
 

Es ist Abends im Bett, in Sakuyas Armen, nach einem letzten, sanften Kuss für diesen Tag, als ich wieder an den gestrigen Abend denken muss... an den Zeitpunkt, als die Tür aufging und er vor mir stand. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, konnte nicht glauben, dass er tatsächlich dort steht, dass er tatsächlich zu mir gekommen ist.

Es war schwer, nicht zu reden, mich nicht zu entschuldigen, sondern ihn einfach zu halten und zu warten, dass die Müdigkeit endlich überhand nimmt. Es dauerte lange... doch ich würde sagen, es war eine meiner schönsten Nächte seit Tagen.

Am schönsten war daran jedoch das Erwachen, ihn sehen, neben mir... so ein schönes Gefühl, verbunden mit der Sorge, was folgen mag... Das notwendige Gespräch danach... Angst, Hoffnung... Ebenso eine grenzenlose Erleichterung, wie ich sie nun in deinen Armen spüre.

Es ist so schön, wieder bei dir zu sein.
 

~ * ~
 

Tatsächlich beginnt bei uns der nächste Tag damit, dass wir uns fragen, wie wir unsere Tage bis Montag wohl am besten gestalten... lerntechnisch natürlich. Zusammen mit unseren und Kyos Stundenplan liegen wir auf dem Bett, darüber nachdenkend, welches wohl die wichtigsten Fächer sind und welches die, für die wir eigentlich allein schon die ganze Woche benötigen würden...

„Sogar Sanae scheint in Englisch mittlerweile besser zu sein, als ich...“, klage ich, als wir bei meinem Sorgenfach angelangt sind. „Dabei ist sie eine Klasse tiefer...“

„Keine Sorge“ Sakuya grinst. „Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du die Prüfung mit 1 bestehen!“

„Na, dann verlang ich das selbe aber in Mathe!“

„Vergiss es, du weißt, ich bin ne Niete...“

„Wie ich in Englisch...“

Das Handy reißt uns aus unser kleinen Kabbelei heraus. Sofort springt Sakuya auf und flitzt zum Schreibtisch. Den Anruf angenommen, deutet er auf Kyos Stundenplan.

„Hi... Ja, wir sind grad am überlegen... genau... Wann willst du dann heute kommen?... Ja... In Ordnung... bis dann!“

Er legt auf, lässt sich wieder aufs Bett sinken.

„Noch Zwei Stunden...“, seufzt er, kann sich ein Gähnen nicht verkneifen.

Mit einer schnellen Handbewebung fegt er die Stundenpläne von der Matratze, lässt sich dann zurück fallen, dreht sich zur Seite und schlingt die Arme um mich. Ein fester Kuss.
 

Um kurz nach Zwölf steht dann tatsächlich Kyo vor der Tür bepackt mit seinem Schulrucksack... und dem selben leidvollen Grinsen, welches wohl auch wir tragen. Dennoch entschließen wir uns dazu, nicht sofort mit der Arbeit zu beginne, sondern erst einmal etwas zu Essen.

Die halbe Stunde, in der wir Kochen, und die paar Minuten danach, die man zum Essen benötigt, gehen leider viel zu schnell vorbei.

„Na, dann mal los...“, meint Sakuya, als wir schließlich über unseren Büchern im Wohnzimmer sitzen...

Erstes Fach für heute – zum Aufwärmen – Politik.
 

~ * ~
 

Die nächsten Tage werden... anstrengend.

Lernen, lernen, lernen ist angesagt... und es gibt keinen vernünftigen Grund, dies nicht zu tun... außer, dass wir keine Lust haben, aber das ist nun mal kein vernünftiger Grund.

Kyo ist fast immer bei uns in diesen Tagen... mal lernen wir alle zusammen, mal jeder für sich. Und wir alle beklagen uns immer wieder, wie ätzend das alles doch ist.
 

„Haben wir nicht Ferien? Aber nein... wir lernen für die Abschlussprüfungen.“

„Abschlussprüfungen... warum muss man so was überhaupt schreiben?“

„Genau, wen interessiert schon ein guter Abschluss!“

Ja, sogar zu solchen Schlussfolgerungen kommen wir in diesen Tagen... es macht einfach keinen Spaß immer mehr und mehr in sein Gehirn zu zwängen und zu merken, dass man sich irgendwann einfach nichts mehr merken kann... zumindest bekommt man immer mehr dieses Gefühl.
 

An zwei Tagen dieser Woche kommt Sanae mit zum Lernen... besser gesagt, zum Lehren. Auch wenn sie eine Klasse tiefer ist, ist sie mir in Englisch ein kleines Stück voraus. Und weil es vielleicht mal gut ist, diese Sprache nicht nur von jemandem beigebracht zu bekommen, der sie seit der Kindheit spricht, habe ich sie gebeten, mir ein bisschen zu helfen.

So also beschäftigen wir uns an jenen zwei Nachmittagen damit, mir Englisch endlich so zu verinnerlichen, dass ich nicht mehr übersetze, sondern in dieser Sprache denke – was bisher leider nur bei einfachen Sachen funktioniert – während Sakuya und Kyo die Fächer durchgehen, die ich nicht mit ihnen teile.

„Geht es euch wieder gut?“, fragt Sanae irgendwann, mit einem kurzen Blick auf Sakuya, der die Stirn in Falten gelegt hat und wie wild irgendwas in einem Buch sucht.

„Ja“, nicke ich und schenke meinem Freund ein Lächeln, das er gerade natürlich nicht bemerkt.
 

Ehrlich gesagt hätte ich Anfangs nicht gedacht, dass es wirklich so einfach möglich sein könnte, wieder zur Normalität zurück zu gehen... ich hatte Angst davor, dass wir verklemmt sein würden, uns über alles und jedes Gedanken machen... und es schwer fällt, sich ehrlich anzulächeln...

Doch so ist es nicht, das merkte ich schnell. Sakuya macht es ganz einfach, nicht an das zu denken, was nun vergangen ist... es ist überhaupt nicht schwer, ihn ehrlich anzusehen... ihm ehrlich und liebevoll in die Augen zu sehen. Es ist genauso möglich wie zuvor... und ich bin wahnsinnig froh darüber.
 

Nur eine einzige Sache gibt es da noch, die bisher nicht mehr zur Sprache kam... beziehungsweise ein Name und die damit verbundene Zukunft. Aber es ist auch eine Sache, die ich bald mal erledigen muss...

„Ich wollte die Tage mal zu Tatsuya gehen...“, sage ich zögernd, als wir am Freitagabend wieder mit Sakuya alleine bin und wir eigentlich gerade eine Privatstunde in Mathe eingelegt haben.

Ich ernte ein zögerndes Kopfnicken darauf, während sein Stift auf dem Papier angehalten hat und er darauf starrt. Ein kleinwenig dichter scheint die Luft mit einem Mal geworden zu sein.

„Ich meine... ins doubleX“, füge ich hinzu. „Willst du viellei-“

„Nein“ Ein Moment der Stille, bevor er ruhiger wieder weiter spricht. „Ich denke... es ist besser, wenn du alleine hingehst...“

Ich nicke, weiß nicht wirklich, was ich als nächstes sagen soll, starre auf den Block auf meinem Schoß. Seit Tagen ist dies die erste etwas unangenehme Situation... aber ich muss einfach endlich wieder mit Tatsuya reden.

„Wo wir gerade dabei sind...“, ist es Sakuya, der noch etwas sagt, „Du weißt aber schon, dass ich mit Ryouta weiter für Französisch lerne...“

Nun ist es an mir, erst einmal zu schlucken...

Der kurze Stich, den mir diese Aussage bescherte, ich weiß genau, dass er falsch ist. Ich habe versprochen zurück zur Normalität zu gehen und zu dieser gehört Ryouta dazu... Ich muss ihn akzeptieren, ebenso wie Sakuya Tatsuya weitere Anwesenheit in meinem Leben akzeptieren wird.

„Ja... willst du zu ihm gehen?“

„Nein... ich dachte, er könnte her kommen...“

Ich nicke wieder, versuche Sakuya ein Lächeln zu schenken, als er den Blick hebt.

„Ich liebe dich, Kida“, kommt es sanft und ehrlich.

„Ich liebe dich auch.“
 

~ * ~
 

Es ist am nächsten Abend, als ich mich dazu entschließe, mein Vorhaben trotz mulmigen Gefühls schon in die Tat umzusetzen... Samstagabend eignet sich nun mal am besten.

Erst wollte ich Tatsuya anrufen, fragen, wann er Schicht hat, doch dann entschied ich mich, auf gut Glück beim doubleX vorbei zu gehen. Dafür rief Sakuya Ryouta an... und dieser kommt nun Montagabend zum Französischlernen vorbei. Nur kurz fragte ich mich, was wohl ich so lange machen sollte, da ich sicher nicht die ganze Zeit Aufpasserchen spielen will, doch dann fragte Kyo auch schon, ob er Montag vielleicht trotzdem kommen könne... Also werden wir dann eine Extrastunde in Mathe einlegen.
 

Beim doubleX angekommen, schaffe ich es nicht, sofort einzutreten. Ich habe das Gefühl, minutenlang vor der Tür zu stehen, Unmengen an kommenden und gehenden Gästen zu überdauern...

Ich weiß nicht wirklich, was ich sagen soll, wie mit ihm sprechen... Zwar geht mir dies schon den ganzen Tag durch den Kopf, doch zu einem Ergebnis bin ich noch immer nicht wirklich gekommen.

Er hat in den letzten Tagen... besser gesagt in diesem Jahr... nicht versucht, mich zu erreichen.

Ob er weiß, was passiert ist?

Wahrscheinlich schon... denke ich zumindest.

Als ich endlich wage die Tür zu öffnen, sieht er mich sofort und es scheint als würde der freundliche Ausdruck, den er immer bei der Arbeit trägt, mit einem Mal aus seinem Gesicht weichen... wenn auch nur für einen kurzen Moment, denn dann lächelt er mich an.

„Hi...“, grüße ich, als ich mich an der Bar niederlasse.

„Hi...“, kommt es ebenso zögernd zurück, bevor er einige Schritte zur Seite geht und einem Gast seinen Drink überreicht.

Wieder bei mir sieht er mich an, wohl ebenso ratlos wie ich, was mir fremd an ihm vorkommt.

„Ich...“, beginnt er schließlich, schüttelt dann aber den Kopf. „Nein, lass uns gleich reden... ich hab in zwanzig Minuten frei...“

„Okay...“, sage ich etwas widerwillig... aber ich sehe ja ein, dass wir so kein richtiges Gespräch führen können.

„Was... willst du trinken?“

Ich bestelle, lasse mir das Getränk ausschenken und begebe mich dann möglichst weit weg von der Bar an einen freien Tisch in der hinteren Ecke. Dort angekommen, schaffe ich es nicht lange, mich an meinem Drink zu ergötzen, sondern sehe wieder zur Theke hinüber...

Das Schlimmste an der ganzen Sache ist eigentlich, dass ich ihm noch nicht mal voll und ganz einen Vorwurf aus der Sache machen kann. Hätte ich Sakuya von Anfang an die Wahrheit gesagt, dann wäre es egal gewesen, dass Ryouta es auch weiß... dann wäre vollkommen egal gewesen, dass Tatsuya es weiter erzählt hat.

Doch davon mal abgesehen... wieso hat er es ihm überhaupt erzählt?
 

Als Tatsuya knappe 30 Minuten später schließlich neben mir sitzt, weiß ich nicht, wie ich das, was ich sagen will, am besten heraus bekomme... Doch ich brauche auch gar nicht erst was zu sagen, denn da beginnt er auch schon zu reden...

„Ryouta war hier und hat erzählt, was los war...“ Er macht nur eine kurze Pause... und ich verkneife es mir, einen schnippischen Kommentar dazu abzugeben. „Du willst wissen, warum ich es ihm gesagt habe, nicht wahr?“

Ich nicke, finde es schwer, ihn weiter anzusehen.

„Weil er mein Freund ist. Ich kenne ihn seit mehr als drei Jahren, und ich denke wir wissen fast alles übereinander... Natürlich habe ich ihm erzählt, dass ich dich kennengelernt habe, natürlich habe ich ihm auch erzählt, dass mehr zwischen uns passiert ist... Wieso auch nicht? Damals wusste ich nicht, dass wir richtige Freunde werden würde, oder dass Ryouta und Sakuya sich anfreunden... damals war ja noch nicht mal die Sache zwischen euch beiden geklärt...“

„Und der Kuss vor zwei Monaten?“, platzt es sogleich aus mir hervor.

„Das war nicht absichtlich, weder als es passierte, noch, dass ich es erzählt habe... Es ist einfach nicht normal, dass ich ihm solche Dinge nicht erzähle...“

Ein Moment der Stille tritt ein. Ich starre nun in mein halbvolles Glas, beobachte die Kohlensäureperlen, wie sie nach oben steigen. Ich weiß ja, was er meint... das was er beschreibt, so war es früher zwischen Sanae und mir immer... Es ist normal, dass man solche Dinge seinem vielleicht besten Freund erzählt..

„Ich hoffe du verstehst das, Kida...“, kommt es zögernd. „Ich wollte nicht dein Vertrauen missbrauchen oder so...“

„Ich weiß“, nicke ich.

„Ich meine, klar tut es mir leid... ich wollte nicht, dass ihr euch streitet... wenn ich das gewusst hätte, hätte ich wahrscheinlich anders gehandelt...“

„Oder ich hätte anders gehandelt...“, unterbreche ich ihn... auch wenn ich in den vergangenen Tagen das Gefühl hatte, das Thema wirklich abgeschlossen zu haben, so merke ich jetzt plötzlich, wie es doch in mir brennt, mit irgendjemanden darüber zu reden... „Ich hätte es ihm gleich sagen müssen, dann wäre alles andere egal gewesen... aber dazu war ich zu feige... und-“

„Er hat dir doch verziehen, oder?“, ist es diesmal Tatsuya, der mich unterbricht.

„Ja...“

„Dann hör auf, dir den Kopf darüber zu zerbrechen... Du weißt nun, was falsch war und wirst es nicht wiederholen... das reicht... Fehler sind immerhin etwas, das man eigentlich nur ein Mal machen sollte...“

„Eigentlich?“

Ein kurzes Stocken seinerseits, dann ein Grinsen. „Nur ein Füllwort“, sagt er schon etwas zu hastig... und dann fragt er auch schon weiter, bevor ich länger bei diese, Gedanken verweilen könnte: „Was ist mit dir?“

„Was soll sein?“

„Hast du ihm auch verziehen? Das mit Ryouta meine ich...“

Ich nicke und auch, wenn ich es gar nicht will, so zögere ich, allerdings nicht, weil ich mir meiner Antwort nicht sicher bin...

„Was ist?“

„Nichts... Ich habe mich nur gerade gefragt, ob du mir die Frage, was mit Ryouta los ist, beantworten würdest...“

„Nein“, kommt es prompt.

„Das habe ich mir gedacht.“ Ich grinse... und eigentlich ist es auch vollkommen okay so.
 

„Spielen wir eine Runde?“, deutet Tatsuya plötzlich zum Billardtisch, als die vorherigen Spieler zusammenpacken.

Fast ein wenig schockiert schaue ich ihn an. „Du weiß, dass ich nicht spielen kann...“

„Ja, ich weiß, aber das macht doch nichts...“ Er steht auf. „Na komm schon...“

Widerwillig stehe auch ich auf, folge ihm zum Billardtisch und greife zögernd nach einem Queue.

„Ich hol uns noch was zu trinken..“, deutet Tatsuya auf die leeren Gläser in seinen Händen.

Ich nicke nur, verfolge ihn mit meinem Blick. Das bedrückte Gefühl, das ich zuvor noch hatte, ist verschwunden...

Es lebe die Normalität!
 

„Wie war eigentlich Neujahr bei dir?“, frage ich nach einiger Zeit, in der ich noch immer nur eine Kugel drinnen habe, während Tatsuya nur noch eine seiner reinbekommen muss... „Du warst doch Zuhause, oder?“

„Klar... endlich mal wieder ein Paar Tage einfach der Familie widmen... meine Mutter beschwert sich schon, dass sie mich kaum noch sieht...“

„Das kommt mir irgendwie bekannt vor“, lache ich.

Tatsuya beugt sich zum nächsten Stoß über den Tisch, visiert die blaue Zwei an.

„Am Dritten ist Sai vorbei gekommen...“, erzählt er voller Konzentration. „Sie hat sich mehr über ihn gefreut, als über mich...“ Ein schelmisches Zwinkern, als er sich wieder aufrichtet... die Zwei noch immer auf dem Tisch. „Naja, verständlich, er gehörte immerhin fast acht Jahre lang so gut wie zur Familie...“

Verwundert schaue ich Tatsuya an, nicht seiner Aussage selbst wegen, sondern weil er das erste Mal wirklich etwas aus seiner und Sais Vergangenheit in den Mund nimmt. Ob er mir jetzt auch sagen würde, warum Sai danach so lange nicht mehr zur Familie gehörte?

„Hm?“

„Nichts“, lächle ich, entscheide mich gegen eine solche Frage. Tatsuya erzählt alles, was er erzählen will, von selbst, so viel habe ich mittlerweile schon mitbekommen... na ja, und da ist ja auch nichts falsches dran. „War Chiga auch mit?“

Ein Kopfschütteln. „Nein, sie ist bei ihrer Familie geblieben...“ Im nächsten Moment deutet er auf den Tisch. „Na komm, du bist dran.“

Also versuche ich mein Glück... doch die widerspenstige Neun will auch diesmal einfach nicht so, wie ich will.

„Mist!“, fluche ich zum x-ten Mal, worauf ich ein Schulternklopfen ernte.

„Das letzte Mal warst du aber besser...“

„Das war, weil wir im Team gespielt haben und Sanae dieses Spiel beherrscht!“

„Hm... da könntest du Recht haben...“

„Siehst du!“ Grinsend schaue ich ihm dabei zu, wie er die Zwei ins Loch spielt... ein ziemlich professionell wirkender Stoß, fast so als würde er jede Arbeitspause nutzen, um dafür zu üben. Naja, ich weiß ja, dass es nicht so ist...

„Ach, sag mal...“, fällt mir bei diesen Gedanken plötzlich etwas ein, das ich seit einem Gespräch, welches ich vor kurzem mit meiner Mutter geführt habe, ganz vergessen habe. „Hast du ne Idee, als was ich arbeiten könnte?“

Sein Blick hebt sich von der Acht. „Du hast noch nichts?“

„Nein...“, gebe ich kleinlaut zu. „Irgendwie hab ich bisher vergessen, mich darum zu kümmern...“

„Hm...“ Nun richtet er sich ganz auf, stützt sich auf den Queue. „Zum Kellnern bist du zu jung... schade eigentlich, wir bräuchten noch jemanden... na ja... ansonsten...“ Einen Moment scheint er zu zögern, im Geiste irgendwas durchzugehen... dann schüttelt er den Kopf. „Grad wüsste ich nicht, ob irgendjemand, den ich kenne, wen sucht... aber wenn du willst, kann ich mich mal umhören... und in der Uni hängen auch immer massig Adressen rum...“

„Klasse... das wäre echt lieb... Ich meine, ich könnte mich zwar auch selbst drum kümmern, aber ich weiß nicht wirklich wo ich da anfangen soll... und irgendwie hab ich das Gefühl, gar nicht zu wissen, was ich überhaupt machen könnte...“

„Keine Sorge, das bekommen wir schon hin... Hat Sakuya schon was?“

„Ich glaube nicht, dass er arbeiten geht... zumindest hat er nichts davon gesagt... und vom Geld her braucht er es auf jeden Fall nicht...“

„Da hast du wohl recht...“

Tatsuya beugt sich wieder vor, fixiert die schwarze Kugel... und beendet dieses Spiel.
 

~ * ~
 

Eigentlich haben wir uns vorgenommen, am Sonntag nicht zu lernen... doch letztendlich bleibt es nicht dabei. Viel hätten wir gefunden, was man noch so tun könnte... und wenn es einfach nur im Bett bleiben wäre... doch unsere Vernunft ist größer als unsere Faulheit... und so entschließen wir uns nach dem Mittagessen, doch noch ein bisschen an unseren Horrorfächern zu lernen...

Samt Mathe- und Englischbuch begeben wir uns zurück ins Bett... und verbringen tatsächlich vier Stunden damit, dem jeweils anderen ein Lehrer zu sein.

Und egal wie wenig Lust wir eigentlich darauf haben, so stellt sich doch heraus, dass es genau die richtige Entscheidung war und unser über die Woche neu erworbenes Können auf gute Weise vertieft wird.
 

„Jetzt aber genug!“, stöhnt Sakuya schließlich und pfeffert alle Schulsachen hinunter. „Mein Kopf kann keine einzige Formel mehr aufnehmen!“

Mit einer schnellen Drehung ist er über mir, legt seine Lippen auf meine... und so verbringen wir den Rest des letzten freien Tages so, wie es ursprünglich geplant war...
 

~ * ~
 

Viel gibt es leider auch über die nächste Woche nicht zu berichten, da sie nicht weniger eintönig wird, wie die zuvor. Schule, Lernen, zwischendurch Essen und Schlafen... und wieder Schule.

Nicht einmal der Musikclub kann mir in diesen fünf Tagen Ablenkung verschaffen, da alle Clubs so kurz vor den Prüfungen nicht mehr stattfinden. Mehr als die ganzen Ferien über vermisse ich es, mich ans Schlagzeug setzen zu können und für eine Weile einfach nur abzuschalten... Doch die Tür zum Clubhaus, an dem ich in diesen Tagen ein paar Mal vorbeigehe, bleibt verschlossen und sagt einem nur, dass es im Moment wichtigere Dinge gibt...
 

Am Mittwoch dieser nervtötenden und anstrengenden Woche telefoniere ich seit langem mal wieder mit Akito. Auch er beschwert sich über den vollgepackten Plan... doch schon im nächsten Satz schwingt seine Stimme um und er sagt mir, dass es tatsächlich so klappt, wie er und seine Freundin es sich erhofft haben: Sie gehen beide in Aomori studieren.

„Das ist ja toll!“, pflichte ich ihm bei.

„Ja“ Es klingt glücklich. „Miyako wurde zwar auch in Yokohama genommen, aber sie sagte gleich, dass sie mit mir kommen würde... Gott, ich liebe die Frau...“ Ein paar kurze Schwärmereien über ihre bevorstehende Zukunft folgen, bis Akito zu einer Frage kommt, die ich schon erwartet habe: „Und wie geht es mit dir und deiner Freundin? Seid ihr noch zusammen?“

„Ja.“ Ich sehe vom Bett, auf dem ich sitze, zu Sakuya hinüber, der ein paar von mir aufgegebene Matheaufgaben löst. Irgendwie ist es kein schönes Gefühl, dich noch immer zu verheimlichen...

„Tatsächlich?“, kommt es überrascht, aber mit einem Grinsen in der Stimme. „Das hätte ich jetzt nicht gedacht...“

„Na vielen Dank!“, bin ich fast ein wenig beleidigt. Sakuya hebt den Blick, sieht mich fragend an... ich schüttle den Kopf.

„Sorry Mann, war nicht so gemeint...“

Noch bestimmt zwanzig Minuten rede ich mit Akito... allerdings bemüht, das Thema Freundin weiternsgehend zu umgehen. Doch während wir so reden und ich dabei fast die ganze Zeit meinen Freund beobachte, weiß ich, dass ich es Akito unbedingt noch sagen muss, bevor er geht. Wenn er kein Problem damit hat, wie ich hoffe, können wir unsere Freundschaft auch über die nun immer größer werdende Distanz aufrecht erhalten... doch wenn er es – wider meiner Erwartungen – nicht versteht... na ja, dann hilft mir die Distanz vielleicht, damit umzugehen, in Zukunft keinen Kontakt mehr mit ihm zu haben.

Wir entscheiden uns für ein Treffen Ende Februar, da dann der ganze Stress mit Abschluss- und Aufnahmeprüfungen vorbei ist und man, bis die Uni beginnt, endlich mal ein wenig Freizeit hat...
 

Es ist am Freitag, dem letzten richtigen Schultag, als Tatsuya mich anruft. Nach einer kurzen Entschuldigung, wieso er mir das erst jetzt sagt, rückt er mit der guten Nachricht heraus: Er habe zwei Jobs gefunden, die für arbeitsunerfahrene Stundenten geeignet und zudem noch recht gut bezahlen werden... Zum einen ein kleines Restaurant in der Nähe der Uni, bei welchem ein Posten zur Küchenhilfe frei ist... und zum anderen eine Verpackungsfirma, ebenfalls in der Nähe der Uni.

„Am besten du gehst persönlich vorbei...“, rät Tatsuya mir, nachdem er mir die Adressen durchgegeben hat.

... und so steht gleich noch eine Tätigkeit für die nächste Zeit auf meinem Plan: Noch mal mit meiner Mutter und Takehito wegen Geld und so reden... und danach die beiden Adressen abklappern.
 

~ * ~
 

Nach einem Entspurt für die ersten Prüfungen ist es am Montag schließlich soweit... und zum ersten Mal wird es einem vollkommen bewusst, dass nun das Ende angefangen hat. Bald wird die Schulzeit hinter uns liegen... und ein neuer Lebensabschnitt wird beginnen...

Dieser fängt nun langsam an, eine Gestalt anzunehmen... und wirkt nicht mehr ganz so weit entfernt...

Ist das nun gut oder schlecht?

Die Physikprüfung jedenfalls, die mir wunderlicherweise leichter fällt als erwartet, gibt dabei schon mal ein positives Gefühl...
 

Part 33 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 34

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Sakuya (by littleblaze)
 

Ich denke zurzeit über vieles nach und ich bin mir dabei vollkommen bewusst:

Ich lüge ein Leben, lebe eine Lüge und...

...ich bin nicht wirklich glücklich damit.
 

Die Sache mit Ryouta ist so eine Sache für sich. Er hilft mir auch weiterhin im schulischen Sinne sehr, doch ich kann dieses störende Gefühl in mir drin nicht abstellen. Wie soll ich ihn betreffend einfach wieder zur Normalität übergehen?

Kida hält sich in diesem Punkt tapfer, doch eigentlich bin ich mir nicht mal so wirklich sicher, wer hier mehr Tapferkeit an den Tag legen muss. Er oder ich?

Dass ihn Ryoutas Anwesenheit stört... okay, daran kann ich nichts ändern. Bei mir ist es da auch nicht anders, wenn es um Tatsuya geht. Ein Teufelskreis zwischen Liebe, Missgunst und Hass, hier fällt es mir ziemlich schwer meine Gefühle unter Kontrolle zu halten.

Es ist nicht nur die Lüge an sich, die Erkenntnis, dass überhaupt zwischen ihnen etwas war, sondern nun auch ein gewisser Ekel, den ich plötzlich mit Tatsuya verbinde. Wie kann es nur sein, das ein 22jähriger einen 16jährigen Schüler zweimal versucht zu verführen? Alles stäubt sich in mir bei diesem Gedanken.

Dieses ewige Hin und Her, die ganzen Fragen, ich will sie aber nicht mehr haben.

Ich liebe ihn, vielleicht noch mehr als zuvor. Es ist wohl wirklich was dran, dass man erst spürt, wie sehr man jemanden liebt und braucht, wenn es dabei ist, zu zerbrechen.

Und die Menschen um mich herum, wenigstens die Meisten, welche mir sehr nahe stehen, wissen über meine Gefühle bescheid, ihnen gegenüber muss ich mich nicht mehr rechtfertigen, nichts vorlügen, nicht beweisen, dass wir uns wirklich lieben... obwohl Kyo mich schon fragte, ob ich damit leben könne, dass er mich belogen hat. „Ja“, meinte ich nur darauf.

Kidas Wort soll mir fürs Erste reichen, mehr kann ich nicht verlangen, mehr will ich auch gar nicht. Würde er mich abermals bei einer wichtigen Sache anlügen, müsste ich meine Konsequenzen daraus ziehen, aber darüber will ich erst nachdenken, wenn es soweit kommen mag.
 

~ * ~
 

Die Schule hängt mir zum Halse raus. Sind die Endprüfungen jetzt endlich vorbei und man wartet nur noch ungeduldig auf die Ergebnisse, muss man sich schon wieder mit den Uniprüfungen auseinandersetzen.

Diese lösen eindeutig heftigste Eifersucht in mir aus.

Der Gedanke, dass Kida auf die selbe Uni wie Tatsuya gehen wird, stört mich nun natürlich noch um ein Vielfaches mehr. Doch ihn aus diesem Grund zu bitten, nicht dort hinzugehen, würde bedeuten, dass ich ihm nicht vertraue. Also... bitte ich nicht darum.

„Ist was?“, fragt er mich, als ich ihn über einem der Vorbereitungsbögen vertieft auffinde.

Ich ziehe ihn näher an mich, unsere Lippen lassen wirklich kaum noch Zwischenraum, ich schaue ihm tief in die Augen.

„Heute nicht, heute ist alles unwichtig. Wir werden noch viel zu viel Zeit damit verbringen, über Probleme nachzudenken...“ Ich lächle ihn an, obwohl gleichzeitig in meinem Kopf der Gedanke erscheint: „Mit welchen Problemen rechnest du denn?“

Er versteht was ich ihm damit sagen will und legt die Bögen beiseite. Ich kuschle mich an ihn, ziehe das naheliegende Kleidungsstück an meine Nase, rieche daran.

„Es besteht kaum noch ein Unterschied.“

„Unterschied?“

„Ja... du benutzt mein Duschgel, mein Deo... deine Sachen werden hier gewaschen, du bist da, wo ich auch bin. Wir riechen fast gleich.“ Ich schaue verträumt vor mich hin. „Irgendwie komisch, nicht wahr?“

„Ja.“ Er legt den Arm um mich.

„Ich mag das...“, lasse ich meine Nase leicht gegen seine stupsen, küsse ihn kurz.

„Dass wir gleich riechen?“

„Nein“, vergrabe ich mein Gesicht an seinem Hals. „Dass du immer bei mir bist... “
 

~ * ~
 

Die Ergebnisse der Prüfungen: Alles soweit bestanden, außer Französisch. Hier bin ich selbst mit Ryoutas Hilfe durchgefallen. Nicht, dass er ein schlechter Lehrer gewesen ist, ich habe mich einfach nicht gut genug konzentrieren können, habe Kida gegenüber ein schlechtes Gewissen, Ryouta in meiner Nähe zu dulden.

Meine Eltern sind stolz auf mich, obwohl ich nicht wirklich Glanzleistungen erbracht habe. Ich hätte es bestimmt besser gekonnt, wären die letzten Monate normal verlaufen.

Bei Kida sieht das alles schon ein wenig anders aus. Er hat das Gefühl, besonders Takehito etwas beweisen zu müssen. Ob er das mit seinen Ergebnissen schaffen wird, soll ich persönlich erfahren.

Wenigstens hier will ich mich nicht mehr verstecken müssen. Soll er mich doch blöde anschauen, beschimpfen oder sonst was tun, es ist mir egal. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass ich neben Kida stehen müsse, wenn es um seine Familie geht. Ich will nicht, dass sie unsere Beziehung als etwas nur Vorrübergehendes ansehen. Sie müssen sich langsam damit abfinden, dass ich ein Teil von seinem, ihren Leben bin.

Hier, an dieser Stelle finde ich den Gedanken richtig, bei mir zu Hause, belasse ich dagegen alles beim Alten.
 

Kida steht zuerst seiner Mom gegenüber, während Lynn an meinem Ärmel zieht, um mich in ihr Zimmer zu entführen. Kida nickt mir zu, dass ich ruhig gehen kann und so spiele ich einige Minuten mit einer kleinen Puppenküche. Ich mische irgendwelche Holzzutaten in einem kleinen, roten Topf, während Lynn ihre Puppen fürs Essen um den Tisch versammelt und leise vor sich hin singt.

Als ich meinen Puppenkindern das Essen auftue, höre ich, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt.

„Papa ist da“, schreit Lynn glücklich auf und läuft an mir vorbei. Für einen kleinen Moment bin ich nicht gerade gewillt, ihr zu folgen, will einfach weiter mit der kleinen Puppenküche spielen.

Ich trete aus dem Zimmer, gerade, als Takehito vorbei läuft. Er schaut mich verwundert an, sein Blick wandert von oben nach unten, so als wolle er sagen „Oh, wir sind also zur Abwechslung mal nicht nackt.“ und nickt mir dann schließlich leicht zu. Wie soll ich das jetzt interpretieren?

Ich folge ihm und Lynn in die Küche, treffe dort auf Kida und seine Mom.

Als ich auf meinen Freund zugehe, durchstreift mich ein komischer Gedanke: Es wird Zeit erwachsen zu werden. Zeit für das einzustehen, was mir wichtig ist. Endlich aufhören sich wie ein eingeschnapptes, jammerndes Kind zu verhalten.

Ich greife nach seiner Hand, während seine Mom das Blatt mit den Noten an den Herrn des Hauses weitergibt. Abgesehen von Lynn scheint uns alle die Spannung festzuhalten.

Takehito schaut nach kurzem Überfliegen dessen wieder auf. Es fällt mir schwer, Kida weiterhin zu berühren, doch ich lasse nicht los. „Erwachsen werden, erwachsen werden, erwachsen werden“, feuere ich mich innerlich an.

„Na ja, wenigstens etwas scheinst du hinzubekommen“, kommt es mit tonloser Stimme. Ich lächle leicht auf, Kida ebenfalls.

In seinem Zimmer umarme ich ihn, im Fahrstuhl küsse ich ihn und als wir aus dem Wohnblock hinaustreten, greife ich nach seiner Hand.

„Was?“, werde ich überrascht angeschaut.

„Nichts.“

Ich grinse garantiert wie ein Honigkuchenpferd. Lass uns erwachsen werden... zusammen.
 

Unser nächstes Ziel für den heutigen Tag ist ein Juwelier.

Der Inhaber ist wahrscheinlich mehr darüber verwundert, dass ich meiner Begleitung leicht über den Rücken streichle, während ich auf einige Gegenstände in den Vitrinen deute, als dass wir beide hier sind, um uns Ohrlöcher stechen zu lassen.

Bald ist Valentinstag, man merkt es besonders hier. Ketten mit Herzanhängern, Partneranhänger, Ringe und Valentinsdekoration machen einem dies bewusst. Eigentlich auch gar keine schlechte Idee, etwas zu schenken, was einen verbindet, doch gleichzeitig denkt man sich: „Braucht man wirklich ein Schmuckstück um jemanden seine Liebe zu zeigen?“ Die Ohrringe sehe ich nicht wirklich als das an. Ich dachte einfach nur, dass dies eine schöne Idee wäre, und einen Ohrring wollte ich sowieso schon immer mal haben.

Aber was kann man schenken, damit sich jemand verbunden fühlt? Ich schaue mich weiter um, merke dann irgendwann, dass ich mit Kevins Armband spiele. Zum ersten Mal, stelle ich mir die Frage, wie oft ich dies unbemerkt tue. Warum tue ich es? Gibt es mir eine Art Sicherheit?

Was ich im Laden sehe, will ich nicht schenken. Es ist zwar irgendwie schön und bestimmt auch verbindend, doch stößt mich der Gedanke ab, einen Herzanhänger oder eine Partnerkette zu verschenken. Davon abgesehen trage ich eh schon mehr Schmuck als ich mir je erträumt habe.

Wir verlassen den Juwelier wieder und die brennenden Frage, was ich Kida zum Valentinstag schenken will, begleitet mich. Besonders jetzt, wo er auf eine andere Uni geht wie ich, brauche ich das Wissen, dass er etwas bei sich hat, was ihn immer an mich erinnert.
 

Den nächsten Nachmittag nehme ich mir frei.

„Was meinst du mit frei?“

„Ich möchte dir gerne etwas zum Valentinstag besorgen.“ Was hätte ich ihm auch anderes erzählen können, das nicht nach Lüge klingt? Immerhin kennt er meine täglichen Aktivitäten besser als irgendwer sonst.

„Valentinstag?... Stimmt ja, wir haben ja bald wieder Februar. Aber es ist echt nicht nötig, dass du mir was holst.“

„Ich weiß, ich will aber gerne.“

„Und was?“, kommt er gefährlich schauend auf mich zugekrabbelt.

„Keine Ahnung“, hebe ich die Decke als Schutzwall empor.

„Lügner.“ Er lässt sich auf mich fallen, drückt mich hinunter.

„Nein“, schüttle ich energisch den Kopf. „Ich habe echt keine Ahnung.“

„Also hilft durchkitzeln nicht?“

„Nein.“

Er lässt zu, dass ich uns umrolle, ich nun auf ihm liege.

„Wünscht du dir denn irgendetwas?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Ich schon...“

„Und was?“, fragt er interessiert nach.

„Das kann ich dir doch nicht verraten.“

„Warum nicht?“

„Na, weil es doch sonst nicht in Erfüllung geht.“
 

~ * ~
 

Nach drei Stunden bin ich mir sicher, dass die gängigen Juweliergeschäfte mir nichts zu bieten haben. Ratlos laufe ich auf der Ginza umher, hoffe, dass mir doch noch der rettende Einfall kommen mag, als ich plötzlich einen bekannten Haarschopf erblicke.

Ich drängle mich entschuldigend durch die mir entgegenkommenden Menschen und hole die mir bekannte Person ein, tippe ihr leicht auf die Schulter.

„Hi“, grinse ich, als Sai sich umdreht.

„Sakuya...“

„Jep... und? Auch auf Shoppingtour?“

„Nein. Meine Familie hat hier den Hauptsitz der Firma, ich war kurz bei meinem Vater.“

„Nicht schlecht.“

„Und du?“

„Ich suche ein Geschenk zum Valentinstag, hatte aber bis jetzt noch kein Glück.“

Wir fangen an die Straße hinunter zu laufen.

„Suchst du etwas Spezielles?“

„Nein, eigentlich nur etwas, dass mir gefällt. Aber ich stelle wohl viel zu hohe Ansprüche.“

„Das kenne ich... Ich hätte Lust auf einen Kaffee, und du?“

„Kaffee nicht, aber ne Cola trinke ich gerne mit.“

Und so betreten wir das nächste Café, welches unseren Weg kreuzt. Die Bedienung ist freundlich und zuvorkommend, das Ambiente ziemlich ansprechend. Man merkt direkt, dass man nicht bei McDonalds eingekehrt ist.

„Ich habe euch gesehen“, werfe ich unüberlegt in den Raum, während ich Sai beim Trinken beobachte.

„Ja?“

„Ja, auf meiner Sylvesterparty...“

Wüsste ich nicht selber, welches wohl heikle Thema ich hier anspreche, würde ich einfach nur denken, er hätte sich an seinem Kaffee verbrannt. Sein Blick schafft es nicht sich zu heben.

„Wie ist das eigentlich mit dir und... Chiga? Ihr wollte heiraten, nicht wahr?“

„Das ist korrekt“, wirkt er plötzlich ziemlich steif.

„Aus Liebe oder war es ein geplantes Ding?“

„Geplant...“

„Mmhhh.“

„...was nicht heißt, dass ich sie nicht auch liebe.“ Sein Blick hebt sich nun endlich von der Kaffeetasse.

„Tust du das?“, stelle ich eher rhetorisch die Frage.

„Ja.“

„Vielleicht war ich auch einfach zu betrunken...“ Ein leichtes Grinsen umschließt meine Lippen. „...und meine Sinne haben mir nur einen üblen Streich gespielt?“

Unsere Augen halten kurz einander fest. Was erlaube ich mir auch eigentlich? Ich habe kein Recht, mich hier einzumischen, mich ging das Ganze nichts an. Das ist ganz alleine seine Angelegenheit.

„Danke.“

„Aber sag mal, wo kauft Chiga eigentlich ihren Schmuck?“

„Keine Ahnung, wieso?“

„Wie schon erwähnt, suche ich etwas zum Valentinstag.“

„Warum lässt du nicht einfach etwas nach deinen Wünschen anfertigen?“

Er steht auf, ich ebenfalls.

„Das ist gar nicht dumm.“

„Mein Vater hat für meine Mutter etwas zum Geburtstag machen lassen. Es gibt dafür einen tollen Laden, ganz hier in der Nähe. Wenn du magst, zeig ich ihn dir.“

„Das wäre wirklich klasse.“

Wir bezahlen und verlassen das Café.
 

Auf dem Weg nach Hause, hole ich Kida bei Sanae ab.

„Scheint ein erfolgreicher Tag gewesen zu sein?“

„Ja.“ Mein Lächeln signalisiert ein Geheimnis.

„Zeigst du es mir?“

„Was?“ Ich setze ein von-was-redest-du-Gesicht auf.

„Was du gekauft hast.“

„Ich habe nichts gekauft“, erkläre ich ehrlich, lege abermals das geheimnisvolle Grinsen auf.

„Du lügst!“

„Nein“, lache ich auf, greife nach seiner Hand und verschränke unsere Finger. Kurz gehen wir stumm nebeneinander her. Wir haben bis jetzt noch gar nicht über diese neue Angewohnheit von mir gesprochen. Vielleicht denkt er bis jetzt auch nur, dass das letzte Mal eine Ausnahme war... doch wenn er es nicht will, würde er es doch nicht zulassen, oder?

„Ich habe Sai unterwegs getroffen.“

Mein Daumen beginnt über seine Hand hinweg zu streicheln.

„Wo?“

„Ginza.“

Ich erzähle, dass seine Eltern den Firmensitz dort haben, dass wir im Café waren und dass er mir bei meiner Geschenksuche ein großes Stück weiter geholfen hat. Vor der U-Bahn-Station lasse ich seine Hand wieder los.

Die Bahn ist voll und wir werden in eine Ecke gepresst. Im letzen Moment drehe ich mich noch zu ihm um, damit ich nicht einem fremdem Gesicht gegenüberstehen muss. Am liebsten würde ich ihn jetzt küssen, einfach so, hier und jetzt, warum soll ich mich darum kümmern, was andere denken?

Meine Hand legt sich auf seine Hüfte und würden wir nicht schon so nahe beieinanderstehen, hätte ich ihn wohl zu mir herangezogen. Er lächelt, doch schnell verschwindet dies wieder.

Alles sagt mir, dass ich gerade jegliches ausstrahle, was auf einen kommenden Kuss hinweisen mag, doch trotzdem bin ich ein wenig überrascht von mir selber, als ich mich zu ihm beuge und meine Lippen auf seine legen will. Als er sich allerdings abwendet, bin ich mir nicht wirklich sicher, was ich davon halten soll.

Mit einem enttäuschten Gefühl verlassen wir die Bahn, reden kein Wort miteinander.
 

Wir bringen das Abendessen hinter uns, hocken noch ein wenig über den Vorbereitungsbögen und gehen dann ziemlich zeitig ins Bett.

Zuerst verspüre ich den Wunsch, mich einfach von ihm wegzudrehen, aber die kleine Stimme, welche mir zu ruft „Werd erwachsen.“ lässt mich dann doch anders wählen. Was würde es mir auch bringen? Eine schlaflose Nacht mehr in meinem Leben.

Verlangen und Sehnsucht, gebündelt mit ein wenig Angst. Meine Hand legt sich auf seine Wange. Warum ich solche Angst davor habe, dass er sich mir ein weiteres Mal entzieht, verstehe ich nicht. Mir ist doch eigentlich klar, warum es in der Bahn passiert ist... aber hier... warum sollte es...?

„Ich war einfach... überrascht“, spricht er als erster die Sache an.

„Ich weiß.“ Und das weiß ich wirklich. Ich habe viel zu unüberlegt und plötzlich gehandelt, was habe ich auch erwartet?

„Entschuldige.“

„Nein, ich sollte mich entschuldigen, es war falsch... Gerade scheint mir alles so leicht zu fallen.“

„Ja“, kommt es zustimmend. „Hast du keine Angst mehr, dass...“ Er bricht ab.

„Nein, eigentlich nicht.“ Wieso dies so ist, kann ich niemanden erklären. Vor was hatte ich eigentlich die ganze Zeit solch große Angst, was kann schon passieren?

„Die Schule haben wir so gut wie hinter uns und bald gehen wir an verschiedene Unis. Wir werden uns nicht mehr so viel sehen und ich habe keine Lust, unser bisschen Zeit damit zu verschwenden, darüber nachzudenken, was andere von mir oder uns halten mögen. Ich habe keine Lust mehr, der Welt was vorzuspielen, ich will sein dürfen, wer ich bin.“

Wie viel Überzeugung in meiner Stimme oder in meinem Gesicht liegt, weiß ich nicht, doch ganz tief in mir drin wünsche ich mir nichts mehr als endlich auch in der Öffentlichkeit ganz normal mit ihm umzugehen. Wird das jemals möglich sein?

„Ich...“

„Es ist okay, wenn du noch nicht so weit gehen willst“, füge ich schnell hinzu.

„Nein... ich meine... Doch, ich denke schon, dass ich es auch will.“

„Sicher?“

„Ganz sicher...“ Er zieht mich nah an sich heran. „Lass sie doch reden, was sie wollen. Solange du bei mir bist, kann ich alles ertragen.“

„Lass es uns einfach ganz langsam angehen, wir müssen es ja nicht gleich übertreiben...“

„Ganz langsam...“

„Ja, ganz langsam...“

Unsere Lippen streben langsam aufeinander zu, berühren sich zärtlich.
 

~ * ~
 

Trotz unseres Übermutes, machen wir erst einmal vor der Schule halt. Wir sind zwar entschlossen, es der Welt zu zeigen, so entschlossen dann aber auch nun wieder nicht. Die letzten paar Wochen wollen wir einfach noch ein wenig Ruhe haben.
 

Es wird unheimlich viel gesprochen in der kurzen Zeit, welche noch bis zur Abschlussfeier bleibt. Leute, die man nur vom Sehen her kennt, sprechen einen an, um einem zu sagen, wie schade es doch ist, sich niemals besser kennengelernt zu haben. Man bekommt Telefonnummern, die man eigentlich gar nicht haben will, und schenkt jedem ein freundliches Lächeln. Es ist fast so, als würde bald die Welt untergehen, nur mir einem fröhlicheren Unterton verbunden.

Unterricht nach Plan findet für die Abgänger natürlich auch nicht wirklich statt. Man verbringt viel Zeit damit, über die Kriterien und Fragen der Uniprüfungen zu sprechen, lernt noch hier und da den Stoff auf und verbringt die restliche Zeit damit, andere auszuquetschen, wie sie sich denn nun das weitere Leben vorstellen.

Hier bin ich wieder an meinem Schulterzuck-Punkt angekommen. Das Einzige, was ich mir, seit ich fünf war, vorgestellt habe zu werden, ist ein Profibaseballspieler. Mehr will ich nicht sein. Das witzigste daran ist, irgendwie habe ich diesen Traum immer noch nicht aufgegeben.

Ich will Profibaseballspieler werden.

Natürlich ist das hier, in Japan auch nicht wirklich unmöglich, aber meine Chancen rechne ich mir hier weitaus geringer aus als in den Staaten. Ich habe meine ganze Kindheit damit verbracht zu spielen, jeden Tag mindestens zwei Stunden. Ich bin zusammen mit Kevin in jeden Ferien in ein Baseballcamp gefahren, um mein Können zu perfektionieren, und ich arbeite gezielt an meinen Muskelaufbau. Soll das wirklich alles umsonst sein?

In den Staaten gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten weiter zu kommen, besonders die Uniteams bereiten einen sehr auf die Profiliga vor. Doch wie ist das alles hier gestrickt? Kann man hier überhaupt als Amerikaner, der ich nun einmal laut Ausweis immer noch bin, Fuß fassen? Würden sie nicht zuerst den japanischen Spielern die Chancen geben? Und wenn nicht Baseball, was sonst?

Ich habe null Ahnung. Eigentlich interessiere ich mich für nichts weiter groß, wo ich jetzt sagen kann „Daraus mache ich einen Beruf.“ Was soll ich mit meinen Leben denn anfangen?
 

Vielleicht habe ich auch gar nicht so viel Angst davor, dass ich nicht weiß, was ich machen soll, sondern dass ich es alleine machen muss.

Nicht, daas Kyo ein Niemand wäre, aber er ist nun einmal nicht Kida. In den letzten Monaten waren wir so viel zusammen, ich kann mir noch gar nicht wirklich vorstellen, wie es erst ist, wenn die Uni anfängt. Bis zum späten Nachmittag werden wir dort sein, danach wird Kida noch einige Stunden in der Woche irgendwo arbeiten müssen. Von der Zeit für die Hausaufgaben und dem Lernen mal abgesehen: Essen, duschen... und dann tot ins Bett fallen. Wo werden wir da noch bleiben? In dieser Hinsicht gefällt mir das Erwachsenwerden so gar nicht.

Dazu kommt noch die brennende Eifersucht, die ich mir wirklich zuschreiben muss. Nicht nur, dass Tatsuya da sein wird, es werden auch eine Menge anderer, neuer Menschen in Kidas Leben treten, mit denen ich nichts zu tun haben werde, von denen ich nichts weiß... die mehr Zeit mit ihm verbringen als ich selber.

Und wenn ich darüber nachdenke, doch die Uni zu wechseln, beschleicht mich in vielerlei Hinsicht das Gefühl, dass dies genau die falsche Entscheidung wäre. Wer bitteschön hat jemals gesagt, dass Erwachsenwerden einfach ist? Ich meine, wenn es so einfach wäre, dann könnte es doch schließlich jeder...
 

~ * ~
 

Ende Januar tue ich mich ziemlich schwer im Schreiben eines Briefes. Sam hat bald Geburtstag und ich will sie nicht mit einer plumpen Karte abspeisen.

Ihr geht es anscheinend wieder etwas besser, wenigstens besucht sie jetzt freiwillig den Psychiater, den ihre Eltern für sie ausgesucht haben, darüber hinaus weiß ich nicht viel. Wie auch? Kevin erzählt mir nicht alles, das spüre ich genau, und sie selber findet es wohl nicht nötig, auf meine Anrufe und E-Mails zu antworten.

Am liebsten würde ich ihr schreiben, dass sie jetzt endlich wieder zur Besinnung kommen soll, dass ihr Leben nicht wegzuschmeißen hat, und mit ein paar guten Ratschlägen prahlen. Aber was weiß ich schon? Ich habe keine Ahnung, was einen dazu verleitet, so abzudriften, was einen dazu bringt, Drogen zu nehmen und ungeschützten Geschlechtsverkehr zu haben... Es ist einfach zu sagen „Lass es!“, aber bringen, würde das sowieso nichts.

Obwohl es gar nichts mit mir zu tun hat, obwohl ich sowieso nichts daran ändern kann, frage ich mich doch immer wieder: Wäre es auch passiert, wenn ich in Boston geblieben wäre?
 

Ich überreiche den Brief, damit meine Mom ihn auf den Weg bringt.

„Die Zeit vergeht so schnell. Jetzt gehst du schon bald zur Uni.“

„Ja, sie ist nicht aufzuhalten... Mom?“

„Ja?“

„Wegen Dad... ich... wann denkst du, kann ich es ihm sagen?“

„Was sagen?“, geistesabwesend holt sie eine Briefmarke aus der Schublade, klebt diese auf den Umschlag.

„Das mit Kida und mir.“

„Ich denke nicht, dass dies eine gute Idee wäre.“

„Warum nicht?“

„Glaub mir einfach Sakuya.“ Sie legt mir eine Hand auf die Schulter, lächelt schief.

„Ich will es ihm aber irgendwann sagen.“ Ich weiß nicht, ob ich von ihr oder von meinem Dad enttäuscht sein soll. Vielleicht bildet sie sich das ja auch nur ein, woher will sie denn so genau wissen, dass er was dagegen hätte?

„Manchmal ist es besser, ein Geheimnis so lange zu bewahren, wie es nur irgend möglich ist.“ Sie geht an mir vorbei.

Warum kann es nur so falsch sein, es ihm zu sagen? Er ist doch schließlich mein Dad, nie hat es irgendwas gegeben, dass ich mir sagen würde, er liebe mich nicht. Warum soll ich hier ein Geheimnis vor ihm haben, ihn nicht an meinem Leben teilhaben lassen, mir dies schwieriger machen?
 

~ * ~
 

Am darauffolgenden Samstag trifft sich das komplette Baseballteam auf dem Schulgelände. Zum Abschied noch einmal zusammen spielen ist der Gedanke.

Einige Mädchen sind ebenfalls anwesend, die sich die Genehmigung dafür wohl mit Bestechung von mitgebrachten Speisen und Getränken erkauft haben.

Es ist ein wirklich schöner Nachmittag, einfach mal wieder nur Baseball im Kopf. Wie Ferien kommt es mir vor, und wieder einmal stelle ich fest, wie sehr ich dieses Gefühl brauche, um leben zu können.
 

Den Abend und die Nacht verbringe ich bei Kyo. Sein Dad ist glücklich, mich mal wieder zu sehen, und erst als ich ihm ins Gesicht sehe, wird mir bewusst, wie lange ich schon nicht mehr hier war.

Wir essen zusammen, wie früher. Hören uns Geschichten über den letzten Streit mit irgendwelchen Lieferanten und die neusten Anekdoten über Kyos Bruder an und spielen eine runde Mahjongg.
 

Als wir später im dunklen Raum liegen, erzählt mir Kyo von der Beziehung zu Sanae. Dass es im Moment ganz gut laufen würde zwischen ihnen, und dass sie nun auch schon weitergegangen sind.

Weitergegangen? Natürlich brauche ich nicht zu fragen, um zu wissen, was er damit meint.

Wenn ich ihm von meinen sexuellen Erfahrungen erzählen würde, würde er wohl vor Schreck an die Decke springen. Was Kida und ich so alles treiben, ausprobieren... einiges davon traue ich mich kaum in den Mund zu nehmen.
 

~ * ~
 

Am Montagnachmittag bin ich abermals alleine unterwegs und schaue bei der Adresse vorbei, die mir Sai nahe gelegt hat. Mein prüfender Blick gleitet über das Schmuckstück hinweg. Es ist nicht ganz so geworden, wie ich es mir vorgestellt habe, aber es gefällt mir trotzdem.

„Es soll noch eine Gravur hinzukommen“, gebe ich den Auftrag.

Der Angestellte übereicht mir ein Blatt Papier und einen Stift. Ich schreibe und reiche es zurück.

„In zehn Minuten ist es fertig.“

„Ok, ich warte.“

Der Angestellte gibt mein Geschenk an einen weiteren Angestellten weiter und widmet sich einem ziemlich verliebt aussehenden Paar, welches sich an den Partnerketten ergötzt. Was würde ich alles dafür tun, um ebenfalls so normal von der Gesellschaft aufgenommen zu werden? Vieles... ziemlich vieles sogar.
 

Zehn Minuten später verlasse ich das Geschäft mit einer kleinen Tüte in der Hand, in welcher ein Schmuckkästchen auf ihr Öffnen wartet. Ich erwische mich dabei, wie mein Herz ganz unkontrolliert und schnell schlägt, als ich mir vorstelle, wie es wohl sein wird, wenn er es endlich öffnet.
 

Part 34 - Ende
 

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~ Ginza
 

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Part 35

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Kida (by Stiffy)
 

Drei Jahre... Manchmal fragt man sich, wie schnell die Zeit eigentlich vergehen kann, ob es nicht doch möglich ist, sie irgendwie zu manipulieren, sie schneller dahinfließen zu lassen... so zumindest kommt es mir vor an diesem Tag. Noch allzu gut kann ich mich daran erinnern, als ich das erste Mal durch dieses Tor ging, diesen Hof betrat... und heute... werde ich es wohl zum vorerst letzten Mal tun.

Es ist merkwürdig, mehr als das.

Drei Jahre, bei denen ich das Gefühl habe, es sei so viel geschehen, und doch nichts Nennenswertes außer die Entwicklungen, die mein Liebesleben angehen. Und sonst? Ich habe so viel hier erlebt und dennoch ist es so, als könnte ich keine Sache als wirklich besonders hervorheben...

Irgendwie ist das deprimierend...

Seit Anfang der Schulzeit wünscht man sich nichts sehnlicher, als sie endlich beenden zu können, endlich das Abschlusszeugnis in der Hand zu halten und zu wissen, dass hiermit die Schule vorüber ist... und dann, wenn es soweit gekommen ist, kann man nicht sagen, ob man das immer noch will.

Ich weiß noch nicht mal, weshalb es mich so traurig macht... Ich habe nicht wirklich viele Freunde hier, nichts, was mir sonderlich wichtig und was gleichzeitig nur mit der Schule zu verbinden ist... und dennoch ist es ein mulmiges Gefühl.

Schluss, Aus, Vorbei... wenn ich nachher mein Zeugnis in der Hand halte, ist dieser Lebensabschnitt besiegelt.
 

„Kida? Bist du fertig?“ Meine Mutter, die darauf bestanden hat, dass ich an diesem Tag mit ihnen zusammen zur Schule gehe, klopft an meine Tür, lässt mich so kurz zusammen zucken.

„Ja, gleich...“, rufe ich zurück, überprüfe noch schnell mein Spiegelbild bevor ich mein Zimmer verlasse.

„Wow!“, strahlt sie, „Du siehst toll aus!“

„Danke...“

Mein Blick wandert herum, trifft Takehito, der ihn einen kurzen Moment erwidert, sich dann aber auch schon wieder abwendet.

„Und? Aufgeregt?“, fragt Mama, was mich zögernd nicken lässt... andererseits, wenn man ihre eigene Aufregung mit meiner vergleicht, bin ich wohl der ruhigste Mensch der Welt.
 

Das Passieren des Schultores ist gar nicht so ein großer Augenblick, wie ich es mir ausgemalt habe. Fast ein wenig enttäuschend, so ganz ohne Trommelwirbel oder dramatische Musik im Hintergrund... einfach wie jeden Tag, abgesehen davon, dass vor mir Unmengen schick gekleidete Menschen umherlaufen. Ganz schnell ist dieser Moment auch schon wieder vorbei und wir gehen über den Schulhof hin zum Eingang der Turnhalle, die für den heutigen Tag umfunktioniert wurde.

„Hey Kida!“, kommt es mit einer Mädchenstimme von der Seite.

Als ich mich umdrehe, kommt Maki auf mich zu. Sie strahlt übers ganze Gesicht, als sie mir plötzlich um den Hals fällt. Nur eine kurze Umarmung ist es, bis sie mich wieder loslässt, ich noch immer verdattert von so viel Überschwänglichkeit.

„Ich wollte mich von dir verabschieden...“, lächelt sie. „Nach der Veranstaltung werden wir uns vielleicht nicht mehr sehen, und da dachte ich, dass ich es jetzt tue.“

Neben dem strahlenden Lächeln erkenne ich auch traurige Züge in ihrem Gesicht. Auch sie kann das Gefühl, dass nun eine Menge vorbei geht, nicht einfach so beiseite schieben.

„Wie sind die Prüfungen bei dir gelaufen?“, fragt sie, während wir langsam weiter zur Halle gehen.

„Gut, ich war richtig überrascht! Und bei dir?“

„Ebenfalls...“ Kurz macht sie Anstalten, sich bei mir einzuhaken, lässt es dann aber sein.

Wir erreichen den Eingang und schnell lasse ich meinen Blick herum schweifen. Tatsächlich entdecke ich den blonden Haarschopf, den ich suche, sofort, umringt von vielen schwarzen. Maki bleibt stehen, ich tue es ihr gleich.

„Also dann...“, sage ich, plötzlich irgendwie mit einem Kloß im Hals. Nicht weil ausgerechnet sie es ist, sondern weil es die erste Verabschiedung von vielen ist, die ich an diesem Tag mitmachen werde. „Ich hoffe, man sieht sich mal...“

Ein Nicken, als sie sich streckt, ihre Arme nochmals um meinen Hals legt.

Schnell ist diese irgendwie bedrückende Situation auch schon wieder vorbei, da sie von einem anderen Mädchen gerufen wird. Ich drehe mich um während sie weggeht, lasse meinen Blick nochmals durch die Halle schweifen, die außer dem Boden und den Wänden nichts mit unserer Sporthalle gemein hat. Es ist nicht viel Schmuck und dennoch gibt es dem Raum einen ganz anderen Flair, was natürlich unterstützt wird durch die akkurat aufgereihten Stühle und die Bühne mit dem Podium. Mein Blick trifft Sakuyas am anderen Ende der Halle und er lächelt mir zu bevor er sich wieder in sein Gespräch vertieft. Ich überlege einen Moment, ob ich mich schon hinsetzen soll oder nicht, als mir die nächste Person, die sich von mir verabschieden will, diese Entscheidung abnimmt.
 

Die Veranstaltung hat etwas, was einem eine Gänsehaut verleiht. Die Reden, die gehalten werden, geben einem ein irgendwie ganz komisches Gefühl, verstärken das mulmige nur noch. Zwar geht es zum Großteil darum, wie stolz unsere Lehrer darauf sind, so viele Schüler erfolgreich durchgebracht zu haben, doch auch vergangene Ereignisse oder unsere Einschulung werden angesprochen. Bald erkennt man in allen Gesichtern ein Gemisch aus Freunde, Anspannung und Traurigkeit, selbst wenn wohl bei jedem eigentlich das erste überwiegt, man es aber nicht schafft, die anderen zu unterdrücken.

Die Rede des Schulsprechers rührt ein paar Mädchen zu Tränen, weil sie so mit Erinnerungen verbunden ist, dass es wohl selbst für ihn schwer ist, das fröhliche Gesicht weiterhin zu tragen.

Anschließend ist die Zeugnisübergabe, die sich als einziges etwas hinzieht – wohl deshalb, weil man eigentlich nur endlich selbst an der Reihe sein will.

Noch eine abschließende Rede folgt... und dann ist es auch schon wieder vorbei, einfach so.

Einen Moment lang bleibe ich sitzen, während um mich herum die Schüler - oder besser gesagt Ex-Schüler – aufspringen. Ich habe das Verlangen, zu Sakuya hinüber zu gehen und seine Hand zu greifen, doch lasse ich es sein, da ich dazu Erstens den halben Raum von wild durcheinander laufenden Menschen durchqueren müsste und er zum Anderen auch schon wieder umzingelt ist.

Das war es nun also? Nun bin ich kein Schüler mehr... So viele Jahre und dann ist es einfach so vorbei. Tief in mir drin spüre ich schon, dass es mich froh macht, irgendwie auch glücklich... aber gerade ist mir eher danach, darüber deprimiert zu sein.
 

Als ich am Abend bei Sakuya im Bett liege und wir den Tag Revue passieren lassen, ist es bei weitem nicht mehr so deprimierend. Wir lachen über die Versprecher des Schulsprechers, über die unglaublich traurige Miene einer Lehrerin und über den ein oder anderen der unzähligen Menschen, die einen heute verabschiedet haben.

„Du sahst aber auch so aus, als würdest du gleich in Tränen ausbrechen...“, neckt Sakuya mich grinsend. „Du wirktest richtig verloren...“

„Na kein Wunder, wenn mein Freund sich mit hübschen Frauen umgibt und mich nicht beachtet!“, zwinkere ich.

„Kannst du es mir verdenken? Sie waren doch auch so süß in ihren schwarzen Kleidchen...“, kommt es mit einem Lachen, das ich trotz allem nur erwidern kann.

Mit einer schnellen Drehung bin ich über ihm, presse ihn sanft in die Kissen. „Ja ja, das hört man gerne!“ Ich bringe mein Gesicht näher an seines, fast als würde ich ihn küssen wollen... doch dann entferne ich mich wieder ein Stück, flüstere: „Schade, dass mir so was nicht stehen würde, was?“

„Wieso? Lassen wir deine Haare noch ein bisschen wachsen, dann sähst du bestimmt niedlich aus! Ob Sanae mir ein Kleid für dich ausleiht?“

Lachen, das mich vergessen lässt, dass ich vor einiger Zeit noch deprimiert war. Du schaffst es tatsächlich immer wieder mich aufzumuntern, selbst wenn es mit solchen absurden Themen ist.

„Ich weiß nicht... das kann doch nicht wirklich bequem sein...“

„Wieso nicht?“ Seine Hände greifen nach meinen Hüften, er zieht mich näher an sich. Eine Hand gleitet meine Seite hinab. „Ich denke nur praktisch...“

Ein Zwinkern... und im nächsten Moment reckt er sich mir das Stück entgegen, presst seine Lippen auf meine. Die störende Hose ist nur wenige Sekunden drauf verschwunden und vergessen...
 

~ * ~
 

Während die Tage unsere Schulzeit sich entfernen und stattdessen die Uni näher rückt, ist da auch noch ein anderer Tag, der in dieser Zeit unaufhaltsam näher kommt und meine Gedanken fordert: Der Valentinstag!

Komisch eigentlich, wenn man sich als Junge plötzlich um diesen Tag in dieser Weise Gedanken macht... eigentlich ist es doch so, dass man etwas bekommt, sich vielleicht vorher fragt, von wem, und sich um das, was man verschenkt, erst einen Monat später den Kopf zerbricht... Naja, das ist dann wohl der kleine, aber feine Unterschied, wenn man sich in einer Beziehung mit einem Jungen befindet... immerhin sind es ja die Jungen, die an diesem Tag etwas bekommen... und ich habe das Gefühl, obwohl ich Sakuya natürlich etwas schenken will, ziemlich in der Klemme zu stecken.

Egal durch welche Läden man geht oder wo man sich umsieht: Schokolade, Schokolade und nochmals Schokolade... Die Übliche und beliebteste Zutat, aus der Valentinstagsgeschenke gemacht werden... und zugleich die einzige, die ich Sakuya wohl niemals schenken kann.
 

„Was machst du da?“, ertönt es neugierig hinter mir und im selben Moment flitzt die Maus auf das kleine X in der oberen Ecke.

„Gar nichts...“, versuche ich zu sagen, ohne den Ton, erwischt worden zu sein... wobei es ja wohl allzu deutlich war.

Ein Kopf legt sich auf meine Schulter, Arme schlingen sich um mich.

„Das sah aber ganz anders aus...“

Resignierend lasse ich die Arme sinken, schiele zu ihm... und versuche gleichzeitig im Kopf zu rekonstruieren, was auf neben dem kleinen Text, den ich gerade überflogen habe, noch auf dem Bildschirm zu sehen war. Ausschlaggebende Überschriften vielleicht? Oder Bilder? Ich glaube nicht...

„Also? Was hast du für Geheimnisse?“, fragt er mit einem Grinsen in der Stimme, dreht den Kopf ein wenig.

„Du hast nichts gesehen?“, forsche ich zögernd nach.

Ich spüre sein Kopfschütteln, dann küsst er mich am Hals.

„Kein wirkliches Geheimnis...“, sage ich, schließe meine Augen und strecke die Arme nach hinten zu ihm aus. „Nur meine Überraschung für dich...“

Naja, irgendwie stimmt das leider noch nicht ganz so genau, denn selbst wenn mich der Text ein kleines Stück weiter gebracht hat in meinen Überlegungen, weiß ich dennoch noch nicht genau, was ich mit der neugewonnenen Information anfangen soll...

Seine Lippen küssen sich zu meinen vor, verdecken sie für einen kurzen Moment.

„Aha...?“, kommt es dann neugierig.

„Sagst du mir, was ich bekomme?“, grinse ich in mich hinein.

„Ja... in einer Woche“, erhalte ich ungefähr die erwartete Antwort, verbunden mit dem Schreck, dass ich ja tatsächlich nur noch sieben Tage Zeit habe, etwas zu finden... ist mir irgendwie länger vorgekommen.

„Gut, dann wirst du dich auch so lange gedulden müssen...“ Ich ziehe ihn zum nächsten Kuss heran, versuche mir im Kopf eine Notiz zu machen: bei der nächsten Gelegenheit unbedingt die History leeren! Nur für den Fall, dass er auf die Idee kommt, dass es so was geben kann...
 

~ * ~
 

Am nächsten Nachmittag treffe ich mich mit Sanae, während Sakuya mit Ryouta verabredet ist. Selbst wenn es immer noch komisch ist, habe ich mich dennoch ganz gut daran gewöhnt, dass sich hierbei nichts ändern wird... Es würde ohnehin nichts bringen, ständig darüber nachzudenken. Warum soll man über Probleme nachdenken, die keine sind und auch keine werden müssen?

„Ich hab schon ein tolles Schokoladenrezept gefunden...“, grinst Sanae auf meine Frage hin, was sie für Kyo zum Valentinstag hat. Sie wirft sich auf ihrem Bett zurück, breitet die Arme aus und formt ein Herz in der Luft. „Am liebsten würd ich ihm sooo ein großes machen...“, lacht sie, schielt zu mir und zwinkert. „Wäre wohl etwas übertrieben, nicht wahr?“

„Nö, warum?!“, grinse ich sie vom Bettrand, auf dem ich mich niedergelassen habe, an.

Ich betrachte ihr strahlendes, unbesorgtes Gesicht... bevor sie sich wieder auf die Seite rollt, mich erwartungsvoll ansieht.

„Ich habe darüber nachgedacht, irgendwas mit weißer Schokolade zu machen...“, beantworte ich ihre unausgesprochene Frage. „Im Internet steht, dass da so gut wie kein Theobromin drin ist, sollte also in Ordnung sein...“

„Theobromin?“, kommt es verwirrt.

„Das ist ein Inhaltsstoff vom Kakao... und Sakuya ist dagegen allergisch.“

„Im ernst? Kann einem ja richtig leid tun... und er darf gar keine Schokolade essen?“

„Genau... aber wie gesagt, weiße Schokolade würde gehen...“

„Okay... Und was willst du machen?“

„Das ist das andere Problem...“, zucke ich mit den Schultern. „Aber mir wird schon noch was einfallen...“

Ich lasse mich ebenfalls nach hinten sinken, sehe sie an.

„Es muss was ganz tolles sein...“, erklärt Sanae. „Das was ich Kyo schenke, meine ich...“

„Hast du Angst, er könnte was besseres bekommen?“, grinse ich.

„Ein bisschen...“ Sie wird rot, woraufhin ich ihr lachend durch die Haare wuschle.

„Keine Sorge... egal was er bekommt, deines wird immer das Schönste sein, selbst wenn es nur ne Tafel Schokolade wäre...“

„Dummkopf!“ Sie schiebt meine Hand weg, streicht sich mit einer verlegenen Geste die Haare zur Seite.

„Ne, im Ernst... er hat doch eh nur Augen für dich... wenn du ihm jetzt so ein Hammergeschenk machst, kriegt er sich gar nicht mehr ein...“

Sanae lacht. „Wäre bei Sakuya doch genauso...“

„Genau deswegen soll es nicht all zu kitschig werden... der Kuchen an Weihnachten war schon peinlich genug...“

„Kuchen?“

Sofort hebe ich abwehrend die Hände, während mir komisch bewusst wird, dass sie davon gar nichts wusste. „Frag nicht! Was Kitschigeres konnte mir echt nicht einfallen!“

„Aber er hat sich gefreut, nicht wahr?“

„Ja...“

Sie dreht sich auf den Rücken, streckt die Arme wieder hoch.

„Ein Kuchen...“, kommt es nachdenklich. „Vielleicht sollte ich ihm einen Schokoladenkuchen backen... Und die Verzierung...“
 

Zwar bin ich an diesem Tag noch immer nicht wirklich weiter gekommen, was mein Geschenk angeht, dafür aber Sanae, die sich nicht wirklich auf das, was wir für ihre bevorstehende Matheprüfung gelernt haben, konzentrieren konnte. Was mein Geschenk angeht, so hoffe ich einfach, dass mir noch etwas gutes einfa- Natürlich!

Genau in dem Moment, als ich im Fahrstuhl die Taste fürs Erdgeschoss drücken will, kommt mir DIE Idee.

Zwar ist es auf eine gewisse Weise auch kitschig – mein Gott, welches Geschenk aus Schokolade ist das nicht?! – doch wieso bin ich vorher nicht darauf gekommen?

Von voller Euphorie gepackt, kann es mir gar nicht schnell genug gehen, bis das Erdgeschoss erreicht ist, ich das Gebäude verlasse und mich auf den Weg in Richt- ja, wohin eigentlich? Abrupt bleibe ich wieder stehen, werde dabei fast von einer Frau angerempelt. Schnell entschuldige ich mich, trete aus dem Schussfeld.

Ich könnte es selber machen, mir ein Rezept suchen... die Schokolade an sich wäre kein Problem... aber was die eigentliche Form angeht... wie würde ich die flüssige Masse ausgerechnet in die Form bekommen?

Aber was dann? Idee verwerfen? Ist doch auch Scheiße, wo mir endlich der perfekte Einfall gekommen ist...

Langsam beginne ich mich in Bewegung zu setzen, die Bahnstation anzusteuern.

Es gäbe da noch eine andere Möglichkeit... aber kann eine Confiserie ohne weiteres in weniger als einer Woche so was hinbekommen? Naja, wieso eigentlich nicht? Aber welche? Wo? Und vor allem... für wie viel?

Fragen über Fragen, die mir durch den Kopf rauschen, als ich in der Bahn nach Hause sitze.

Da dachte ich, ich hätte eine gelöst, da kommen auch schon unzählige neue... aber was soll’s... wenn es tatsächlich klappen sollte...

Ein Lächeln stielt sich auf mein Gesicht, ein bisschen durch die Erleichterung, nun eine Idee zu haben...
 

Beim Abendessen kommt mir die Idee, wie ich wenigstens die wichtigste Frage des „wo“ lösen kann....

„Ich komm gleich nach...“, sage ich zu Sakuya, als er sich, einige Zeit nachdem schon sein Vater die Küche verlassen hat, vom Tisch erhebt, um nach oben zu gehen.

Auch ich stehe auf, greife nach den leeren Tellern, um sie zu stapeln. Ein fragender Blick trifft mich, dann will auch er beginnen zu helfen. Hoffentlich nicht zu hektisch greife ich nach seinem Arm, sehe ihn an... lasse schnell wieder los.

„Geh bitte schon mal hoch...“

Sein Blick wirkt für einen Moment fast ein wenig besorgt, zumindest so lange, bis ich flüstere: „Noch sechs Tage, okay?“

Nach einer Sekunde des Nachdenkens scheint er zu verstehen. Er drückt mir die Schüssel in die Hand, verlässt dann die Küche. Ich bleibe stehen, schweigend, nun ihren Blick spürend... versuche seinen Schritten zu folgen, bis ich schließlich die Zimmertür höre. Vertrauen wir jetzt einfach mal darauf, dass er sie von innen geschlossen hat...

„Also?“, werde ich neugierig angesehen, als ich mich zu Sakuysa Mutter umdrehe. „Was gibt’s so geheimnisvolles?“

Ich spüre wie mein Gesicht von einer Sekunde auf die andere tief rot wird.
 

Ich habe keine Ahnung, ob es eine gute Idee ist, aber mir fiel einfach niemand anderes ein. Meine Mutter hat von so was keine Ahnung, meine Freunde auch nicht... also wen soll ich sonst fragen? Und wenn sie nichts weiß, muss ich’s halt doch auf gut Glück versuchen...

Doch so weit kommt es nicht. Nachdem ich ihr erzählt habe, was ich als mein Valentinsgeschenk plane, hat sie doch tatsächlich direkt drei Namen parat. Während sie mir eine Schüssel zum Abtrocknen reicht, scheint sie über die Einzelnen nachzudenken...

„Ich glaube der Chocolatier Taiyo ist wirklich der Beste... er ist nicht zu teuer, hat dafür aber tolle Produkte. Wir haben letztes Jahr für eine Hochzeit was bei ihm anfertigen lassen...“

Ein freundlicher Blick trifft mein immer noch warmes Gesicht.

„Danke...“, sage ich, frage mich gleichzeitig, wieso es mir eigentlich so schwer fällt, mit ihr hier drüber zu reden. Sie weiß schon so lange bescheid, da wird ihr auch klar gewesen sein, dass wir uns etwas schenken werden...

„Kein Problem.“ Sie nimmt mir das letzte abgetrocknete Geschirr ab. „Ich such dir die Adresse raus und steck sie dir in die Jackentausche, okay?“

Ich nicke und schmiede gleichzeitig schon Pläne dafür, wann ich mich morgen wohl am besten davonstehle... bis mir im nächsten Moment siedendheiß etwas einfällt: ich muss morgen ja eh los! Verdammt, das hätte ich echt fast vergessen durch all die Valentinsgedanken!
 

„Fertig?“, kommt es grinsend vom Schreibtisch, als ich das Zimmer betrete, und im selben Moment ertönt ein bekanntes „Oh~oh“ aus den Lautsprechern.

„Jup!“, grinse ich ihn vielsagend an.

Er schüttelt nur den Kopf und wendet sich wieder dem ICQ zu. „Na, da wird man ja richtig neugierig...“, kommt es zwischen dem Getippe. „Ob meine Mom mir sagt, was ich bekomme, wenn ich frage?“

„Fragst du?“

„Ich weiß nicht...“ Er dreht mir den Kopf zu, grinst nun ebenfalls. „Soll ich?“

Ich zucke mit den Schultern... doch schüttle kurz darauf zögernd den Kopf.

„Ich glaube eh nicht, dass sie es mir sagen würden...“ Sakuya steht auf, kommt auf mich zu... „Aber vielleicht verplapperst du dich ja doch, wenn ich nur die richtigen Methoden anwende...“ ...und ist mit einem Satz über mir, drückt mich hinunter in die Kissen.
 

~ * ~
 

Am darauffolgenden Mittag, als ich mich von Sakuya verabschiede, erhalte ich die Worte „Viel Erfolg!“ mit auf den Weg, ohne dass ihm klar ist, dass ich mir diesen heute nicht nur bei der Sache erhoffe, die er denkt.

Denn eigentlich ist dieser Tag perfekt dafür, dem Chocolatier einen Besuch abzustatten... Ich musste mir noch nicht mal was einfallen lassen, alleine weg zu gehen, da ich ja eh Pläne hatte. Und die Sache, dass ich fast eine Stunde vor meinem eigentlichen Termin abhaue, erkläre ich mit einem kurzen Abstecher Zuhause.
 

Meine erste Anlaufstelle ist der kleine, reichlich verzierte Laden des Chocolatiers Taiyo, den ich durch die Beschreibung, die mir Mrs. Ryan aufgeschrieben hat, auch sofort finde. Als ich hineintrete, werden gerade zwei andere Kundinnen betreut und so kann ich mich einen Moment lang umsehen...

Überall stehen kleine Skulpturen oder Figuren aus Schokolade, so reichlich verziert und klar gearbeitet, dass es echt faszinierend ist... und die Preise, die auf den kleinen Täfelchen davor stehen, sind tatsächlich noch vertretbar.

Das einzig auffällige in diesem Laden ist wirklich nur, dass man bis auf eine kleine Ecke nur schwarze oder braune Schokolade sieht, während weiße lediglich für die Verzierungen verwendet wird... na ja, in spätestens einem Monat, kurz vor White Day wird das wohl genau andersherum aussehen...

Als die zwei Frauen gegangen sind, wendet sich der Verkäufer an mich. Er ist alt und hat ein freundliches, markantes Gesicht.

„Was kann ich für Sie tun?“, lächelt er mich an und beantwortet kurz darauf meine Frage, ob mein Wunsch realisierbar ist, mit einem „Aber selbstverständlich!“.

Ich erkläre es ihm genau, was ich haben will, während er sich Notizen macht.

„Wann möchten Sie ihn abholen?“

„Am Samstag... ginge das?“

„Natürlich...“

Auch der Preis, den er mir nennt, ist vollkommen in Ordnung, und gerade, als er noch mal zur Kontrolle alles durchgehen will, klingelt mein Handy. Sofort knallrot zucke ich unter dem lauten Ton zusammen, zerre es hervor, will es ausstellen.

„Ich denke, wir haben soweit alles geklärt...“, nickt er mir freundlich zu.

„Okay, vielen Dank...“

In den Moment, als ich den Anruf entgegen nehme, tritt eine weitere Kundin in den Laden und der Verkäufer wendet sich ihr zu.

„Hi“, spreche ich leise, mich auf die Tür zu bewegend.

„Hi“, ertönt Sakuyas fröhliche Stimme aus der Leitung. „Stör ich?“

„Quatsch, nein...“

„Gut... Ich wollte dir nur sa-“

„Ach, eine Frage noch!“, werde ich in dem Moment, als ich nach der Türklinke greife, vom Verkäufer aufgehalten. „Er sollte mit weißer Schokolade überzo-“

„Ja ja, genau!“, unterbreche ich ihn hektisch, aus Angst, Sakuya könnte jetzt schon etwas gehört haben, was nicht für seine Ohren bestimmt war. So schnell es geht verlasse ich den Laden.

„Sorry... was hast du gesagt?“, spreche ich ins Handy, als ich meine Hand wieder von dem Mikrophon nehme.

„Was war das eben?“

„Ach nichts“, antworte ich kurz angebunden, hoffend, dass er wirklich nichts gehört hat. Musste der Mann denn ausgerechnet eine Frage mit „weißer Schokolade“ im Satz stellen?

„Na gut... Ich wollte dir nur sagen, dass Kyo angerufen hat und ich noch ein bisschen zu ihm gehe... Kommst du heut Abend bei ihm vorbei?“

„Ja.“

„Okay, bis dann!“

„Bis dann...“
 

Nervosität ergreift mich, als ich wenig später vor dem Restaurant stehe, bei dem ich ungefähr zwei Wochen zuvor schon einmal gewesen bin. Damals habe ich mir nicht wirklich Chancen ausgerechnet, was mein Anliegen anging, war fast davon überzeugt, dass die Notiz am schwarzen Brett in der Uni schon veraltet ist und sie schon eine Küchenhilfe gefunden haben... allerdings hatte ich Glück. Tatsächlich hat sich der Chefkoch noch nicht für jemanden entschieden, da – wie er sagte – auch nicht allzu viele hier waren und gefragt haben...

So also stehen meine Chancen gut... und es wurde ein Termin für einen Probetag ausgemacht. Naja... und dieser Termin ist heute.

Himmel, Hölle... wie das wohl werden wird.
 

Mit wild schlagendem Herzen betrete ich das kleine Restaurant, lasse schnell meinen Blick herum wandern. Zwei Tische sind besetzt. Die Kellnerin, die mich auch schon das letzte Mal begrüßt hat, sieht mich sofort.

„Hi“, lächelt sie, winkt mich zu sich. „Ich habe gehört, dass du heute kommst... Und? Aufgeregt?“

„Ein wenig...“, gebe ich zögernd zu, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob diese Offenheit wirklich richtig ist.

„Keine Sorgen... sind alle wirklich nett da drin...“, deutet sie hinter sich auf die Tür zur Küche, zwinkert mir zu.

„Hey Neuer!“ Ein Grinsen taucht neben mir auf, gekleidet ebenfalls in Kellnerkluft. Das balancierte Tablett wird auf der Theke abgestellt, dann streckt er mir die Hand hin.

„Hi“, erwidere ich, versuche ebenso locker zu wirken, als ich sie ergreife.

„Ich bin Imao, Joji...“, erklärt er dann.

„Takahama, Kida...“

„Wow, zitterst du?!“

„Quatsch!“, ziehe ich meine Hand schnell wieder zurück. Plötzlich kommt mir sein Grinsen irgendwie unecht vor...

Die Kellnerin lächelt mich nur weiterhin an, deutet dann nach hinten. „Komm, ich bring dich rein...“

Ich nicke, folge ihr durch die Schwingtür neben der Bar in die hell erleuchtete, mit Töpfeklappern erfüllte Küche.

„Ah, da bist du ja!“, werde ich auch hier sofort erkannt, und der Mann, der sowohl Restaurantchef als auch Chefkoch ist, kommt auf mich zu, nicht aber ohne einem nahe bei ihm stehenden Mann noch ein paar Anweisungen zu geben.

„Wie geht’s?“, lächelt er, verbeugt sich ein kleines Stück.

„Gut“, versuche ich ebenfalls lächelnd zu erwidern... und meinen Blick dabei nicht zu neugierig herumwandern zu lassen.

„Sieh dich ruhig um“, scheint er ihn dennoch bemerkt zu haben, bevor er sich der jungen Kellnerin zuwendet: „Arisu, du kannst wieder rüber gehen...“

„Viel Glück!“, sagt sie noch zu mir, bevor sie durch die Schwingtür zurück geht.

„Also!“, stemmt der Mann seine Hände in die Hüften. „Womit fangen wir an? Hm... Du hast gesagt, du warst noch nie in einer Restaurantküche, richtig?“

Ich nicke zögernd.

„Gut... dann zeig ich dir mal ein bisschen was...“
 

Insgesamt vier Stunden nur dauert dieser Probetag und auch wenn ich das Gefühl habe, dass die Zeit rasend schnell vergeht, werden mir doch tausende Sachen gezeigt, erklärt und beigebracht – zumindest fühlt es sich so an. Überschwemmt mit diesen neuen Eindrücken, mache ich mich auf den Weg zu Kyo...

Natürlich habe ich wie erwartet noch keine Zu- oder Absage bekommen, sondern werde wohl knapp eine Woche darauf warten müssen... warten, hoffen, beten... ich habe schon Lust, dort anzufangen. auch wenn ich eigentlich zum größten Teil Drecksarbeit machen musste – wollte er mich abschrecken? Dennoch habe ich das Gefühl, dass es toll wäre, dort zu arbeiten. Die Leute sind durchweg freundlich, wirken fast familiär miteinander, was vielleicht daran liegt, dass nur acht Leute in verschiedenen Schichten hier arbeiten –vier Kellner und vier Küchenangestellte, inklusive des Kochs... und plus seiner Frau, die für die Verwaltung zuständig ist, die ich aber noch nicht kenngelernt habe.

Was den Job angeht, so könnte ich noch nicht sagen, was genau letztendlich meine Aufgaben würden, aber ich denke, das variiert sowieso immer herum... wo ich eben gerade gebraucht werden würde.
 

„Wie war’s?“, werde ich von zwei gespannten Gesichtern erwartet, als ich wenig später bei Kyo eintreffe.

„Gut... denke ich...“

„Denkst du?“

„Ja... Nein, im Ernst... ich hab nichts fallen lassen, nichts falsch gemacht und mich, hoffe ich zumindest, nicht allzu doof angestellt...“

„Das klingt doch gut! Wann weißt du genaueres?“

„Nächste Woche...“

Ein Nicken. „Nächste Woche musst du doch auch noch zu dieser anderen Firma, oder?“

„Ja...“ Mein Blick fällt auf ein aufgeschlagenes Buch. „Und was habt ihr so gemacht?“
 

~ * ~
 

Am Samstag, der Tag, an dem ich mein Geschenk abholen will, fällt es schon etwas schwerer, sich loszueisen, aber mit dem Versprechen, dass die Geheimnistuerei bald ein Ende hat, und ich auch so schnell wie möglich wieder da bin, lässt er mich dann gehen.

Als ich zum zweiten Mal den Laden betrete, ist er leer. Keine Kundschaft und im ersten Moment auch kein Verkäufer, doch als ich meinen Blick gerade herumwandern lassen will, kommt er auch schon aus einem Hinterraum heraus.

„Hallo!“, werde ich freundlich begrüßt, und als ich ihm meinen Namen nenne, verschwindet er auch gleich wieder. „Einen Moment, ich hole es...“

Einige Sekunden später steht ein kleiner Karton vor mir... und als der Deckel angehoben wird, blitzt mir genau das entgegen, was ich haben wollte... im schönsten Weißgelb.

„Wow, klasse!“

Ich betrachte meine Bestellung genauer, lasse meinen Blick einen Moment gebannt über die hauchdünnen Verzierungen fahren, die mit normaler Schokolade gemacht wurden... sie müssen halt vorher abgekratzt werden, sollte aber auch kein Problem sein.

Ich habe das Gefühl, schon jetzt Sakuyas überraschten Blick vor mir zu sehen und diese Vorstellung setzt ein unglaubliches Glücksgefühl in mir frei...
 

Part 35 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Confiserie & Chocolatier

~ Valentinstag (in Japan)

~ White Day
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 36

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Sakuya (by littleblaze)
 

Mein erster Gedanke in dem Gewirr von Stühlen und Menschen: „Warum müssen unsere zugewiesenen Plätze so weit voneinander entfernt liegen?”

Mein zweiter Gedanke: „Ich darf es unter keinen Umständen zu einem Treffen unserer Familien kommen lassen!“

Alles nur nicht, dass mein Dad von Fremden über meine Homosexualität aufgeklärt wird. Bei Takehito kann ich mir wirklich alles vorstellen, ein Wunder, dass er überhaupt gekommen ist.
 

Irgendwie fühlt sich das alles so falsch an, obwohl ich mich eigentlich darüber freue, mit der Schule fertig zu sein. Aber es soll doch eigentlich noch gar nicht so weit sein! Bin ich denn schon wirklich bereit dafür?

Wir haben uns so viel vorgenommen, bevor wir auf die Uni wechseln. Wir wollten einen Trip nach New York machen, mal richtig frei sein, indem wir ein paar Wochen durchs Land streifen... Doch nun ist alles irgendwie falsch. Kevin ist nicht hier, ich gehe ein Jahr früher als er von der Schule ab, habe keine Gelegenheit mit ihm nach New York zu fahren und muss mich ab nächsten Monat schon mit der Uni rumschlagen. Mit neuen Menschen, neuen Lehrern, einem neuen Baseballteam.

Nicht, dass ich Angst vor all dem habe, mir fehlt nur irgendwie die Unterstützung, die bei so vielen Gelegenheiten präsent war…
 

Ich verbringe die meiste Zeit der Feierlichkeiten mit den ehemaligen Mitgliedern des Baseballteams und Kyo, immer ein Auge auf meinen Eltern haftend, die sich gut zu unterhalten scheinen. Mein Dad bekommt einige Visitenkarten zugesteckt, was mir verrät, dass er mehr über das Geschäft als über mich redet. Meine Mom strahlt übers ganze Gesicht, wenn andere Mütter ihren Blick auf mir haben ruhen lassen. Keine Ahnung, was es da über mich zu reden gibt.

Wirklich beruhigt bin ich erst, als sich Kida mit seinen Eltern Richtung Heimweg macht und ich somit einer Konfrontation unserer Familien aus dem Weg gegangen bin.
 

Wieder Daheim telefoniere ich als erstes mit Kevin, der ein wenig eifersüchtig darauf ist, dass ich die Schule nun bereits hinter mir habe. Meine Bedenken diesbezüglich teile ich ihm nicht mit, er würde mich doch eh nur für verrückt erklären.

Wir telefonieren lange, ziemlich lange, doch kann ich mich eigentlich an nichts groß erinnern, über was wir alles geredet haben. Ich lege erst auf, als Kida mein Zimmer betritt und sich gähnend aufs Bett fallen lässt.
 

~ * ~
 

Die nächsten Tage lassen einen schnell alles Negative vergessen. Erst als der Tag kommt, an dem Kida sich seinem wohl neuen Job widmet, ist so ein komisches Gefühl wieder zurück. Es zeigt mir nur zu deutlich, dass bald alles anders sein wird und jedes kleine Anders, bringt mich dazu, mich immer mehr zu fragen: Wo bleibe ich in dem Ganzen?

Egoistisch? Ja! Aber ich kann einfach nichts gegen diese Gedanken tun. Ob es der Job ist oder die Uni selbst... fängt erst alles an, wird sich alles Bisherige ändern. Ich weiß nicht, wie ich mich dabei fühlen werde, wenn ich ihn nur noch Abends für eine kurze Zeit wirklich bei mir haben kann.
 

~ * ~
 

14. Februar, Valentinstag!

Ich war noch nie dafür bekannt, für irgendeinen Anlass den passenden Augenblick zu finden, so auch hier. Als ich spüre, dass er wach ist, kneife ich wieder die Augen zusammen.

Natürlich, ich könnte aufstehen, zum Schrank gehen, sein Geschenk rausholen und es ihm hinhalten, doch irgendwie sind solche Dinge immer so schrecklich peinlich, verklemmt. Selbst die Neugier auf mein eigenes Geschenk veranlasst mich, nicht dazu mich dieser Herausforderung zu stellen.

„Soll ich dir Frühstück machen?“

„Nein, ich habe keinen Hunger.“

„Was?“ Ich werde leicht herumgedreht. „Bist du etwa krank?“

„Quatsch.“

„Ich könnte das Fieberthermometer holen“, haucht er mir entgegen.

„Das hättest du wohl gerne“, schiebe ich ihn lächelnd von mir.

„Heute ist Valentinstag.“

„Ich weiß.“

„Wolltest du mir nicht etwas schenken?“

„Sorry, zu krank, um aufzustehen.“ Ich strecke ihm die Zunge entgegen und verkrieche mich wieder unter der Decke.

„So war das aber nicht abgemacht... Soll ich anfangen?“

Ich lucke ein kleines Stückchen hervor, nicke.

„Okay. Augen zu und hinsetzen. Bin gleich wieder da.“

Er verlässt den Raum und ich nutze diese Gelegenheit, um mein Geschenk an ihn aus seinem Versteck zu holen und es unter mein Kissen zu packen.
 

Sprachlos halte ich kurz darauf mein erhaltenes Valentinsgeschenk in Händen.

In zweierlei Hinsicht schmelze ich sichtlich dahin. Einerseits was es überhaupt ist und zweitens aus was es besteht und es war viel zu schön, um es zu essen, doch wurde das laut Tradition von mir verlangt.

„Sorry... ich bin gerade wirklich sprachlos... ich weiß gar nicht was ich sagen soll.“

„Das macht doch nichts, Hauptsache es gefällt dir.“

„Das tut es, wirklich.“

Glücklich schaut er zu mir herüber. Ich erwidere seinen Blick, bis mir wieder mein eigenes Geschenk einfällt, welches er noch immer nicht erhalten hat.

„Ok... warte...“ Ich lege den Baseball vorsichtig auf dem Tisch ab. Trotz Verpackung habe ich plötzlich irgendwie Angst, er könne in meiner Hand einfach so dahinschmelzen.

Ich ziehe die kleine Tüte unter meinem Kissen hervor. Neugierig schaut er mir dabei zu, als ich das Schmuckkästchen herauskrame, es erst einmal für mich selber öffne.

„Ich habe versucht, ein wenig einfallsreich zu sein.“ Ich atme noch einmal tief durch. „Ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht wirklich.“

Ich stehe auf, trete an ihn heran, berühre sanft sein Handgelenk, während meine Augen ihn zwingen, mich weiterhin anzuschauen. Ich werfe das leere Kästchen sachte aufs Bett, fingere ohne hinzusehen an dem Schmuckstück herum, versuche es anzulegen.

„Als wir uns das erste Mal küssten... ich kann mich noch genau daran erinnern.“ Ich küsse ihn leicht auf den Mund. „Ich weiß noch, an welchem Tag du mir zum ersten Mal sagtest, dass du mich liebst, und ich erinnere mich an den Augenblick, als ich mir sicher war, ebenso zu empfinden.“

Endlich schaffe ich es, dass Armband zu schließen. Meine Hand verdeckt weiterhin die Sicht darauf.

„Ich frage mich oft, wie es wohl wäre, wenn wir uns nicht begegnet wären, wenn wir uns nicht lieben würden. Wie sähe wohl unser Leben aus?“

Eine rein rhetorische Frage, ich erwarte keine Antwort, bekomme auch keine. Nur einen verträumten Augenaufschlag.

„Mir kommt immer wieder der gleiche Gedanke: Dass ich ohne dich unglücklich wäre. Ich liebe dich... du bist meine Welt.“

Einen kleinen Schritt zurück, meine Hand weicht und gibt die Sicht frei.

Ich habe die Schriftzeichen auswendig gelernt, damit ich sie ohne Probleme zur Gravur bringen konnte. Ich habe versucht etwas zu finde, was all meine Gefühle für ihn, meine Wünsche mit ihm und meine Hoffnungen für uns aussagen konnte... Auf einem Plättchen aus Weißgold stehen sie geschrieben: Watashi no Sekai
 

Nachdem wir mit meinen Eltern zusammen zu Abend gegessen haben, schalten wir den Fernseher an, machen es uns auf dem Bett gemütlich. Ich öffne vorsichtig die Verpackung der süßen Köstlichkeit, da sie unbedingt am heutigen Tage noch ihrer Bestimmung folgen muss. Ich lege sie auf einen Teller, schaue eine Weile, mit dem Messer in der Hand hinauf.

„Was ist los?“

„Ich kann es nicht“, lache ich.

„Was?“

„Ihn zerstören... machst du es?“ Ich reiche ihm das Messer.

Er lächelt, nimmt mir das Messer ab. Ich schließe die Augen, als er es ansetzt und kurz danach ein Geräusch der Zerberstung wahrzunehmen ist. Neugierig schaue ich auf den Teller.

„Schokolade!“, weißt Kida zuerst darauf hin.

„Ja, Schokolade.“

Ich nehme ein Stück auf, drehe es zwischen meinen Fingern. Wohl zu unser beider Überraschung ist der Baseball nur von außen mit weißer Schokolade überzogen, innen ist er kräftig braun. So richtig braun, schokoladenbraun halt.

„Es tut mir leid“, kommt es bedauernd.

„Ach quatsch...“

„Doch, ich wollte dir etwas tolles schenken, aber...“

„Du hast mir etwas tolles geschenkt“, unterbreche ich ihn, lege das Stück Schokolade beiseite und umarme ihn.

„Ach, hör doch auf...“ Er dreht sich leicht von mir weg. „Du schenkst mir etwas so tolles“, deutet er auf das Armband, „und ich schaffe es nicht einmal einen Baseball aus weißer Schokolade zu kaufen.“

„Komm schon, dass ist doch nicht der Weltuntergang.“

„Für dich vielleicht nicht, deine Geschenke sind ja auch immer perfekt.“

Ich kann die Wut, die er auf sich selber empfindet, nicht verstehen, und besonders jetzt bin ich nicht gewillt, dass auch nur eine Sekunde zuzulassen. Also tue ich das Erstbeste, das mir einfällt. Ich greife nach einem Stück Schokolade und stopfe es mir in den Mund.

„Sakuya!“, versucht er mich aufzuhalten, doch sind meine Bewegungen schneller. Wild kaue ich auf dem Stück herum.

„Was verdammt noch mal tust du da?“

„Ich... Gott... ich...“

Ängstlich schaut er mich an, rechnet wahrscheinlich damit, dass ich jeden Moment tot umfalle.

„Das schmeckt einfach irre...“

Ich stopfe mir ein weiteres Stück in den Mund.

„Ich denke, du bist dagegen allergisch?“

„Bin ich auch.“

„Und warum?“

„Hast du schon einmal Schokolade gegessen?“

„Natürlich.“

„Einfach irre, nicht wahr?“ Meine Zunge durchforstet jeden Mundwinkel. Dieser Geschmack, einfach atemberaubend.

„Na ja, ich weiß nicht.“

Ein weiteres Stück verlässt den Teller.

„Hör auf, bitte.“ Immer noch ängstlich ist sein Blick, als er mich darum bittet. Zu süß finde ich diese Besorgnis, fast so süß, wie die Schokolade in meinem Mund. Ich beuge mich zu ihm herüber, küsse ihn, lasse den Geschmack zwischen uns wandern.

„Mach dir keine Sorgen, ich habe alles gegen die Allergie hier.“

„Und was passiert jetzt?“

„Ein echt übler Ausschlag, aber wie gesagt, ich habe alles da. Salben, Tabletten, und sollte es wirklich mal soweit kommen, dass ich Atemprobleme habe, sind Spritzen da.“

„Du willst mich verarschen!?“

„Nein, kein bisschen... Vielleicht sollten wir das Zeug mal lieber holen gehen.“

„Hä?“

„Ich zeig dir, wie man die Spritze aufzieht und setzt.“

„Was?“

„Na komm schon“, ziehe ich ihn hoch. „Es hört sich schlimmer an, als es ist.“ Das gerade genommene Stück Schokolade wird mir aus der Hand gerissen.

„Denkst du, ich will, dass du wegen meinem verletzten Stolz dein Leben aufs Spiel setzt?“

„Ach, komm schon, so schlimm ist das gar nicht.“

„Nur weil du bis jetzt Glück hattest, muss das nicht immer so sein.“

„Ich...“ Ein Ausdruck, den ich bis jetzt noch nicht kannte... Besorgnis. „Es tut mir leid, ich habe nicht wirklich darüber nachgedacht.“

„Anscheinend nicht.“

„Ich wollte nicht...“

„Ja, ich weiß.“

Seine Hände umschmeicheln mein Gesicht.

„Ich könnte nicht mehr leben ohne dich.“

„Das ist gut.“

„Findest du?“

Ich nicke.

Ein wohliges, warmes Gefühl setzt sich zusammen mit dem Überbleibsel des Schokoladengeschmackes in meinem Mund ab. Er hält mich fest an sich gedrückt, während wir uns küssen, was es mir nicht gerade leicht macht, mich wieder davon zu befreien.

„Ich denke, wir sollten jetzt gehen.“

„Ok.“

„Ach... und vielen Dank für dieses wundervolle Geschenk.“
 

Von meine Mom habe ich mir einiges anhören dürfen, als ich ihr meinen Ausschlag am Abend präsentierte, doch war ihr Zorn schnell wieder verraucht und ihr Mitleid überwiegte.

Nur mit Jogginghose bekleidet lief ich durch das Haus, stöhnte vor mich hin. Dass es so schlimm sein würde, hatte ich nicht gedacht. Ich konnte keine Kleidung am Oberkörper ertragen, kein Stuhl, kein Bett, nichts, das mich berührte. Trotz Salben ließ der Juckreiz nicht nach und ich musste mich schon sehr beherrschen, um mir nicht die Haut von den Knochen abzukratzen. Glücklicherweise hielt das ganze nur zwei Tage an.
 

~ * ~
 

Anderthalb Wochen sind seitdem vergangen. Alle Prüfungen, Tests und Aufnahmegespräche sind positiv ausgefallen und so finde ich mich heute, zusammen mit Kyo, auf einem Uni-Kennlerntag wieder. Zu meiner Überraschung scheine ich nicht der einzige Ausländer zu sein.

Zwei kommen aus der Schweiz, eine aus Deutschland, drei aus China und zwei weitere aus der USA. Dass vor allem letztere Erkenntnis sehr zu meinem Wohlgefallen ausfällt, brauche ich glaube ich nicht mal zu erwähnen.

Steven, der mir weitaus sympathischere der Beiden, fängt auch direkt an über Gott und die Welt zu labern. Egal was man anspricht, er hat zu fast jedem Thema was zu sagen. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können.

Colin scheint ein wenig zu sehr von sich selber überzeugt zu sein. Ein richtiges kleines Genie halt, das es anscheinend überhaupt nicht leiden kann, wenn man nicht seiner Meinung ist.

Im Großen und Ganzen ist dieser Tag weniger vergeudet, als ich es mir zuvor vorgestellt habe.
 

Bei Kida ist mit der Uni nun auch alles klar gegangen und sein Kennenlerntag steht ihm noch bevor. Auch er wird neue Leute kennenlernen und Freundschaften schließen.
 

~ * ~
 

Am Ersten des darauf folgenden Monats beginnt Kida mit seinem Job. Er wird nun drei Mal die Woche Abends arbeiten. Ein bedrückendes Gefühl und gleichzeitig verspüre ich so etwas wie Beschämtheit. Während er arbeiten muss, kann ich zu Hause abhängen.
 

Den ersten Kida-freien Abend habe ich für Ryouta eingeplant. Ich dachte: „Toll, endlich kannst du dir mal wieder einiges von der Seele reden“, aber schon als ich ihm gegenüberstehe, ist mir klar, dass es nicht mehr ganz so ist, wie zuvor. Schon alleine mit ihm in seiner Wohnung zu sein, lässt mich leicht schlucken, obwohl ich genau weiß, dass es nicht noch einmal passieren wird. Ich versuche so locker wie nur irgendmöglich rüber zu kommen, doch natürlich sieht er mir gerade diesen Versuch sofort an.

„Das ist doch lächerlich.“

„Ich weiß.“

„Wenn du dich hier nicht wohl fühlst, können wir auch woanders hingehen.“

„Nein... wie du schon sagst, es ist lächerlich.“

„Trotzdem... komm...“

Er steht auf, geht zur Tür und zieht sich Schuhe und Jacke an.

„Was ist? Willst du alleine hier bleiben?“

„Äh... nein.“ Ich ziehe mich ebenfalls an.

Wir laufen kreuz und quer umher, trinken oder essen etwas und betreten einige Geschäfte. Hier draußen ist es auf einmal viel leichter, auch von meinen Bedenken kann ich ohne weiteres berichten.

„Änderungen sind doch ganz normal. Ohne sie würdest du doch niemals weiter kommen im Leben.“

„Müssen es denn so viele sein?“

„Aber... dafür bleibst du die nächsten Jahre dann wieder weitgehend änderungsfrei.“

„Trotzdem... selbst du wirst Kida bald mehr sehen als ich.“

„Wie kommst du denn auf den Gedanken? Erstens haben wir ein völlig verschiedenes Interessengebiet, zweitens sind wir viele Jahrgänge auseinander und drittens bin ich doch so gut wie fertig. Noch ein halbes Jahr und die Uni ist mich los!“

„Ich vergesse immer wie alt du schon bist.“

„Hey!... Das hört sich aber gar nicht vorteilhaft an... Komm, lass uns einen Film anschauen.“

Ich werde an der Hand ins nächste Gebäude gezogen und vor die verschiedenen Plakate gestellt.

„Also was willst du sehen?“

„Ich...“ Ein Vibrieren in meiner Hose unterbricht meine Entscheidung.

Ich ziehe mein Handy hervor, die Nummer auf dem Display sagt mir gar nichts.

„Ja?“

„Äh, hallo, Sakuya?“

Eine weibliche Stimme, irgendwie kommt sie mir bekannt vor.

„Ja...?“

„Oh Entschuldige, hier ist Kidas Mama.“

Ich werfe Ryouta einen wohl so verdutzten Blick zu, dass er sofort wortlos fragt, was los sei. Ich schüttle nur kurz mit dem Kopf und bevor ich selber etwas sagen kann, spricht sie auch schon weiter.

„Ich kann Kida nicht auf seinem Handy erreichen.“

„Er ist heute bei seinem neuen Job“, gebe ich erleichtert, dass dies nur der Grund ihres Anrufes ist, als Auskunft. „Der Chef mag es nicht, wenn seine Leute während der Arbeit telefonieren, deswegen hat Kida sein Handy zu Hau... ich meine, bei mir gelassen.“

„Ach so...“

Eine merkwürdige Stille entsteht.

„Soll ich ihm später etwas ausrichten?“

„Äh... nein...“

„Kann ich sonst irgendetwas tun?“, frage ich formhalber nach.

„...Ich... weiß nicht... könntest du?“

Ich habe das Gefühl, irgendwie auf dem Schlauch zu stehen. Habe ich was verpasst?

„Könnte ich was?“

„Du magst doch Kinder, oder?“

„Sie wollen, dass ich auf Lynn aufpasse?“, frage ich vielleicht ein wenig zu erstaunt.

„Nein... du hast Recht, dass kann ich nicht verlangen.“

„Ich mach es“, lasse ich die peinliche Situation enden.

„Wirklich?“

„Aber ja, wann soll ich da sein?“

„Vor fünf Minuten.“ Ihre Erleichterung ist deutlich zu hören.

„Ich komme sofort.“

„Ich werd dann schon mal gehen, Lynn macht dir dann auf. In drei Stunden bin ich wieder da...“

„In Ordnung.“

„Okay... und ach ja... danke, Sakuya.“
 

Empfangen werde ich von einem strahlenden Kindergesicht und einem Notizzettel:

Essen ist im Kühlschrank, mein Mann ist nicht in der Stadt, Schlafengehen ist um 21.00 Uhr.

Meine Armbanduhr zeigt kurz nach Acht.

„Spielen wir was, spielen wir was?“

„Aber natürlich, deshalb bin ich doch da, oder?“, schenke ich ihr mein liebstes Lächeln.

Sie nimmt mich bei der Hand, versucht mich auf die Couch hinunter zu drücken. Ich setze mich, sie rennt davon und kommt sekundenspäter mit vollbepackten Armen zurück.

„Du willst Go spielen?“

„Ja, ich bin schon groß.“

„Kein Zweifel... möchtest du anfangen?“

„Ja.“

Und so fange ich an, die wohl verrückteste Partie Go in meinem ganzen Leben zu spielen, in der ich meine Steine absichtlich so lege, dass ich überhaupt nicht gewinnen kann.
 

„Möchtest du noch etwas essen?“, frage ich eine knappe halbe Stunde später nach.

„Ja.“

„Sollen wir in die Küche gehen und uns etwas machen? Du kannst mir zeigen, wo alles ist.“

„Ok.“ Sie rutscht von der Couch, nimmt mich bei der Hand.

„Also, das ist der Kühlschrank, das ist der Herd, da drüben ist der Reiskocher, da ist der Reis drin... ach ja, hier ist der Tisch“, sie klopft auf die Tischplatte, „und das sind die Stühle.“ Einer wird hervorgezogen und sich hinaufgesetzt.

„Danke, dass war wirklich sehr hilfreich. Dann wollen wir mal schauen was wir uns denn Leckeres kochen können.“ Ich öffne den Kühlschrank.

„Kannst du denn kochen?“

„Ein bisschen.“

„Mein Papa kann nicht kochen. Mama sagt, er würde ohne sie verhungern.“

Ich lächle. „Also, was möchtest du denn gerne?“, frage ich nach, da ich mich nicht wirklich für etwas entscheiden kann. Ein prüfender Blick wird in den Kühlschrank geworfen.

„Das da!“, folge ich ihrem Finger.

„Das hier?“

Sie nickt.

„Darfst du denn so spät noch Süßes essen?“

„Klar.“

Der Aussagen nicht so ganz glaubend, ziehe ich trotzdem den gewünschten Pudding hervor.

„Ok, aber nur einen und danach putzen wir sofort die Zähne.“

Sie nickt wild.
 

Nach dem Zähneputzen ist es auch schon Zeit fürs Bett. Ich schaue ihr dabei zu, wie sie sich dafür fertig macht und mir dann mit erwartungsvollem Blick ein Buch hinhält.

„Ließt du mir etwas vor?“

„Ich ähm...“ Ich blättere kurz in dem Buch. „Würde wirklich gerne, aber ich kann nicht.“

„Kannst du nicht lesen?“

„Doch, eigentlich schon, nur deine Bücher nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil sie nicht in meiner eigentlichen Sprache geschrieben sind.“

„Was ist eine eigentliche Sprache?“

„Ähm... weißt du, dass du mich in Erklärungsnot bringst?“ Ich kitzle sie ein wenig, sie lacht laut auf. „Aber wenn du möchtest kann ich dir eine Geschichte erzählen.“

„Jaaaaaaaaaa...“

„Ok, rutsch rüber.“

Erwartungsvoll macht sie mir platz und bevor ich mich neben sie lege, dimme ich das Licht.

„Liegst du? Hast du die Augen zu?“

„Ja. Ja.“

„Ok... dann stell dir jetzt einmal vor, dass du im Reich der Dschungel-Prinzessin bist. Überall um dich herum wachsen große Bäume, in deren Äste viele große wunderschöne Vögel ihr Zuhause haben. Überall siehst du Blumen, große wunderschöne Blumen, wie du sie vorher noch nie gesehen hast... kannst du sie sehen?“

„Ja, ich kann sie sehen“, kommt es aufgeregt von der Seite.

„Gut, den in dem Reich der Dschungel-Prinzessin scheint jeden Tag die Sonne, die noch schönere Blumen wachsen lässt...“
 

„Und konnte die Prinzessin dem Elefantenbaby helfen? Hat sie die Jäger aus dem Dschungel verjagen können? Singen die Blumen nun keine Lieder mehr?“, scheint meine Geschichte den Einschlafeffekt wohl nicht ganz hinbekommen zu haben.

„Wenn ich das nächste Mal hier bin, erzähle ich dir, wie es weitergeht...“

„Ich will aber jetzt wissen, wie es weitergeht.“

„Es ist schon spät, Lynn, du musst schlafen.“

„Ich will’s aber wissen!“, folgt es trotzig.

„Du musst aber jetzt schlafen, sonst bekomm ich noch Ärger mit deiner Mama.“

„Wirklich?“

„Oh ja.“

„Ok, dann schlaf ich jetzt.“ Sie setzt sich auf und küsst mich auf die Wange. „Aber erst weggehen, wenn ich schlafe.“

„Einverstanden.“

Die nächsten Minuten lausche ich auf ihren Atem, bin mir nicht sicher ob sie bereits schläft.

„Werden Kida und du heiraten?“, wird meine Hoffnung weggewischt.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Mama und Papa sagen das.“

„Das hast du bestimmt nur falsch verstanden.“ Ich will mir gar nicht erst vorstellen, welches vor Sarkasmus triefende Gespräch sie mitangehört haben mag.

„Du bist lieb und wenn du Kida heiratest, dann kannst du mir jeden Tag eine Geschichte erzählen.“

„Wir werden sehen... jetzt schlaf aber.“ Ich streichle leicht durch ihr Haar.

„Werdet ihr dann Kinder haben?“

„Was?“

„Wenn ihr verheiratet seid... dann kriegt man doch auch Kinder. Mit denen könnte ich dann spielen und ihnen auch Geschichten erzählen.“

„Süße... ich denke nicht, dass wir Kinder haben werden...“

„Warum denn nicht? Willst du keine Kinder?“

„Weiß du... eigentlich... tu mir doch bitte den Gefallen und schlaf jetzt, ja? Du willst doch nicht, dass ich Ärger bekomme und deswegen nicht mehr zu dir kommen darf?“

Natürlich ein wenig dick aufgetragen, aber wie soll ich ihr das alles jetzt erklären?

„Nein... ich schlaf jetzt, versprochen. Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“
 

Keine Ahnung wie viele Minuten ich mir noch über ihre Worte den Kopf zerbrochen habe, doch bin ich wohl irgendwann eingeschlafen. Mein Handy weckt mich.

„Ja.“

„Hey, wo bist du?“

„Was?“ Ich versuche mich zu orientieren. „Ich muss eingeschlafen sein.“

„Das war nicht meine Frage. Bist du bei Ryouta?“

„Nein.“ Mein Lächeln kann er nicht sehen, während ich das Kinderbein von meinem Körper schiebe.

„Wo bist du dann? Ich bin schon seit einer Stunde bei dir und deine Mom macht sich auch langsam Sorgen.“

„Wie spät ist es denn?“

Ich verlasse das Bett.

„Kurz vor Mitternacht. Also sag schon, wo du bist.“

„Ich steige gerade aus dem Bett eines Mädchens“, versuche ich ihn noch ein wenig wegen seiner Neugier zu ärgern. „Sie ist ziemlich hübsch, wie ein Engel... schade, dass sie gerade mal vier ist. Nicht mein Wunschalter, verstehst du?“

„Wo bist du?“

„Bei dir zu Hause.“

„Wieso?“

„Deine Mom brauchte jemanden, der auf Lynn aufpasst.“ Ich verlasse das Kinderzimmer, erblicke die auf der Couch sitzende Frau, die mich leicht anlächelt. „Aber ich komm jetzt nach Hause.“

„Tust du das?“

„Ja.“

„Ich warte auf dich.“

„Bis gleich...“

Ich lege auf.

„Warum haben Sie mich denn nicht geweckt?“

„Ich weiß nicht...“

„Na ja, ist ja auch egal. Ich geh jetzt heim.“

Ich ziehe mir gerade die Jacke an, als sie hinter mir auftaucht.

„Hier.“ Sie streckt mir einen 5.000 Yen Schein hin.

„Was ist das?“

„Deine Bezahlung.“

„Ich will kein Geld.“

„Aber du hast dich gut um sie gekümmert, du hast es dir verdient.“

„Seit wann nimmt man Geld von der eigenen Familie?“ Ich zwinkere ihr kurz zu, bevor ich die Wohnung verlasse.
 

„Du siehst müde aus. War die Arbeit schwer?“

„Es geht... und du siehst aus, als würde dich etwas beschäftigen. Hat meine Mama irgendwas Blödes gesagt?“

„Nein.“

„Was ist es dann? War was mit Ryouta?“

„Nein“, lache ich leicht.

„Was dann?“

Die Fahrt nach Hause konnte ich an nichts anderes denken und ich bin mir einhundertprozentig sicher...

„Ich will Kinder.“

„Hä?“

„Kinder. Kleine stinkende, mit Milch vollgesabberte Dinger, die einen Nachts nicht schlafen lassen und besonders in der Pubertät reichlich unausstehlich sind.“

„Ich weiß was Kinder sind, aber wie kommst du jetzt darauf?“

„Lynn hat mich gefragt, ob wir heiraten und Kinder bekommen werden. Mir war sofort klar, ich will später Kinder haben. Was ist mir dir?“

„Weiß nicht... ich habe noch nie darüber nachgedacht. Ich meine...“

„Ja?“

„Ich weiß nicht...“

„Ich will Kinder haben, Kida.“

„Aber ich kann dir keine geben.“

„Oh, das muss mir wohl irgendwie entfallen sein“, kommt es sarkastisch. „Es geht mir nicht darum. Man könnte sich eine Leihmutter nehmen, Kinder adoptieren... ich will nur wissen, was du überhaupt davon hältst?“

„Ich mag Kinder“, kommt es ein wenig geistesabwesend.

„Aber willst du auch welche?“

„Warum ist dir das jetzt so wichtig?“

„Ich will es einfach nur wissen, mehr nicht.“

„Was ist, wenn ich ja sage?“

„Dann machst du mich noch ein klein wenig glücklicher als ich es sowieso schon bin.“ Ich greife nach seiner Hand, drücke sie leicht.

„Und wenn ich nein sage?“

„Dann kann ich nur hoffen, dass du deine Meinung noch irgendwann ändern wirst. Wir sind ja noch ziemlich jung... vielleicht brauchst du nur noch Zeit, um dich mit diesen Gedanken anzufreunden. Vielleicht...“

Ein Kuss unterbricht mich, sanft schließen sich seine Arme um meinen Körper.

„Du brauchst nicht länger versuchen mich zu überzeugen. Ich hätte von Anfang an mit ja geantwortet... ich wollte nur mal schauen, was du sagst.“

„Mieses Schwein.“

Ich drücke ihn von mir, schubse ihn aufs Bett. Ich lasse mich hinterher fallen.

„Du bist gemein.“

„Das war meine Rache... für die Sache mit dem Mädchen im Bett.“

Gleitend erforschen meine Finger sein Gesicht, verbannen einige Haare daraus.

„Ich liebe dich.“

„Gut.“

„Mehr hast du mir heute nicht zu sagen?“

„Nö!“

„Dann lass mich los...“ Ich trample ein wenig rum.

„Ich liebe dich.“

„Na, geht doch.“

„Und danke, dass du heute für Lynn da warst.“

„Habe ich gerne gemacht... Sie war heute im Reich der Dschungel-Prinzessin...“
 

Part 36 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 37

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Kida (by Stiffy)
 

Wieso ist es eigentlich so, dass es fast immer als etwas schlechtes gesehen wird, die Zeit nicht anhalten zu können? Kann man nicht anders denken, in eine andere, weitere Richtung?

Wenn die Zeit nie weiterlaufen würde und man immer bei einem schönen Moment hängen bleibt, lernt man nie etwas neues, lernt nie, dass es Augenblicke gibt, die noch schöner sein können, als die anderen zuvor. Man wird nie überrascht, kann sich nicht mehr auf neue Dinge freuen... und sich nicht nach dem nächsten schönen Augenblick sehnen, der bevorsteht.

Ein gutes Beispiel dafür ist wohl der Moment, in dem er mir dies wunderschöne Schmuckstück gab, das nun mein Handgelenk ziert... es war eine einmalige Situation, so dass man sich wünscht, noch etwas länger darin verweilen zu können... doch wenn es nicht weitergehen würde, könnte ich dies Armband nie tragen, könnte nie stolz darauf sein, so etwas von ihm zu haben... könnte es nie träumerisch berühren und daran denken, was wir wohl als nächstes erleben.

Daher denke ich, dass es eigentlich ganz gut ist, dass es weiter geht, dass die Zeit nicht gefriert und man weiter einen Fuß vor den anderen setzt... selbst wenn das heißen sollte, fremde, neue Orte zu betreten. Das gehört einfach mit dazu, ob man es nun will oder nicht...

So zumindest denke ich gerade jetzt, in diesem Moment, in dem ich in der Bahn sitze, zu meiner Arbeit fahre und unterbewusst eine Tätigkeit aufgenommen habe, die ich zuvor immer nur bei dir gesehen habe. Jetzt merke ich, dass ich mit meinem Daumen über die winzigen Schriftzeichen fahre, die dünne Gravur darunter spüre...

Doch egal wie ich mir einrede, es sei gut, dass es weitergeht, kann ich dennoch die Sorgen nicht unterdrücken.

Mein neuster Lebensabschnitt hat nun entgültig begonnen. Die letzten Tage als einfacher Schüler liegen hinter mir und ich werde gleich zum ersten Mal wirklich arbeiten gehen.

Nein, ich fühle mich nicht wirklich bereit dazu.

Was, wenn etwas schief geht, was, wenn es überhaupt so gar keinen Spaß macht, was, wenn ich keine Zeit mehr für andere Dinge haben werde... für Sakuya?

Und doch, trotz allem, bin ich gespannt darauf... habe Erwartungen und frage mich, ob sie erfüllt werden...
 

Ich lasse von dem Armband ab, als die Bahn zum Stehen kommt und ich aussteigen muss. Nur ein kleines Stück ist das Restaurant mit dem Namen Chowa Don von der Haltestelle entfernt... und nur eine Station von meiner Unihaltestelle. Ziemlich praktisch eigentlich.

Meine Schritte werden ein wenig langsamer, als ich um die eine Ecke gehe und das kleine Gebäude vor mir sehen kann. Wieso bin ich eigentlich immer noch nervös? Ich war doch schon zwei Mal hier und weiß, dass sie alle sehr nett sind...

Ein wenig hoffe ich darauf, wieder von Arisu begrüßt zu werden, als ich das Restaurant betrete, doch sogleich entdecke ich neben dem mir bekannten Kellner einen anderen, mir fremden. Immer nur zwei Kellner sind gleichzeitig da, sie also diesmal nicht.

Dennoch werde ich sogleich bemerkt und erkannt. Das bekannte Gesicht grinst mir kurz zu, bevor er den letzten Teller von seinem Arm auf den Tisch verfrachtet. Noch ein paar kurze Worte zu den Gästen, dann kommt er zu mir zur Bar.

„Hey!“, grinst er freundlich... doch seine nächsten Worte wischen den Eindruck gleich wieder weg: „Ich dachte du arbeitest hier, wieso kommst du dann durch den Gästeeingang?!“

„Ich...“, stottere ich. „Ich kenne nur diesen bisher...“ Ich muss knallrot sein... und ich will im Erdboden versinken. Meine Nervosität steigert sich zunehmend, zusammen mit einer komischen Übelkeit.

„Ja ja, schon gut...“ Er verdreht die Augen. „Das wirst du dann wohl heute alles lernen... hoffen wir’s zumindest!“

„Joji, lass ihn doch!“, tritt nun auch der andere Kellner hinzu. „Du bist Takahama, nicht wahr?“

„Äh... ja...“

„Hi, ich bin Shin, Makato...“, stellt er sich vor und gibt so preis, ein Teil der Familie zu sein, welcher dieses Restaurant gehört.

„Der verwöhnte Teil des Hauses...“, verdreht Imao grinsend die Augen.

Shin wirft ihm einen genervten Blick zu, grinst dann aber auch schon wieder, deutet in eine andere Richtung. „Ich glaube dein Typ wird verlangt...“

Irgendwie zu meiner Erleichterung verschwindet Imao ohne einen weiteren Kommentar.

„Also Takahama!“, wendet Shin sich nun wieder an mich und deutet mir an, ihm zu folgen, als er los Richtung Ein- beziehungsweise Ausgang geht. „Da heute nicht besonders viel los ist und Joji das alleine schafft, habe ich die Aufgabe, dir alles mal genauer zu zeigen... Also mit Verwaltung, Personaleingang, Kühlraum und so weiter... wo du letzt hier warst, hast du ja nur die Küche selbst gesehen, nicht wahr?“

„Ja.“

„Gut...“ Er bleibt stehen nachdem wir durch einen schmalen Gang zwischen diesem und dem Nebengebäude gegangen sind und uns nun auf einer Art Hinterhof wiederfinden. „Hier ist der Hintereingang... Er wird vom Personal benutzt und als Eingang zum Haus meiner Eltern, das im obersten Geschoss liegt.“ Er deutet nach oben. „Ansonsten werden hier alle Lieferungen angenommen und ähnliches. Ach, und in die Mülltonnen da drüben wird Abends der Müll vom Tag hingebracht... Alles andere wirst du mit der Zeit sehen... also machen wir drinnen weiter.“
 

Meine kleine Einführung dauert gut eine Stunde, was wohl daran liegt, dass Shin sich wirklich gerne reden hört und häufig ausschweift. Außerdem scheint er überzeugt davon zu sein, dass er ansonsten gerade nicht gebraucht wird, während ich mir eher Sorgen mache, ihn zu lange von der Arbeit abzuhalten.

Sogar die Küche wird mir nun von ihm bis ins kleinste Detail erklärt und sein Vater, der Chefkoch muss ihn ein paar mal in seinem Redeschwall unterbrechen, mit den Worten, dass ich es wohl selbst bald kennenlernen würde.

Mein erster Eindruck von Shin, als er sich schließlich verabschiedet und sagt, er wolle nun mal sehen, ob Imao die Gäste nicht zu sehr gequält hat, ist positiv. Ähnlich wie Arisu ist er mir auf Anhieb sympathisch... obwohl, oder vielleicht gerade weil er so voller Elan steckt und den Mund nicht zu bekommt.

Als er nun also weg ist, werde ich von seinem Vater sprichwörtlich an die Hand genommen und mir wird meine Arbeitskluft zugeteilt. Anschließend stellt er mich dem Hilfskoch Hanato Naoki zur Seite. Auch dieser erklärt mir nun ein paar Dinge und teilt mir dann einige ganz einfache Aufgaben zu... Gemüse schneiden zum Beispiel.

Naoki ist der komplette Gegensatz zu Shin. Er wirkt eher ernst und redet kaum, und dennoch ist auch er auf eine gewisse Weise ziemlich sympathisch. Es ist angenehm, einfach still neben ihm herzuarbeiten, Aufgaben und Erklärungen von ihm zu bekommen und auch problemlos etwas nachfragen zu können, wenn ich mir nicht sicher bin...
 

Als ich mich später auf den Heimweg mache, fühle ich mich irgendwie zufrieden. Der erste Tag ist ohne große Fehler vergangen und ich kann guten Gewissens am Freitag wiederkommen... dennoch ist auch ein Gefühl der Erschöpfung in mir, das ich in dieser Weise noch nicht kannte. Den ganzen Tag Lernen oder Schule ist doch etwas anderes als Stunden auf den Beinen zu sein und zu arbeiten – selbst wenn es nur fünf Stunden als Küchenhilfe ist. Aber das ist wohl so eine Sache, an die man sich durchaus gewöhnen kann...
 

Eigentlich schon ein wenig in Erzählstimmung komme ich an... und erfahre, dass Sakuya noch nicht zurück ist. Ich kann nicht unterdrücken, dass ein irgendwie enttäuschtes Gefühl in mir aufkommt. Ich hätte ihn nun echt gerne gesehen...
 

Als Sakuya nach halb Zwölf immer noch nicht zurück ist, und ich mich beim besten Willen nicht mehr auf die Zeitschrift, die ich gerade versucht habe zu lesen, konzentrieren kann, werde ich zunehmend unruhiger. Ich gehe hinunter in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen, werde von Mrs. Ryan ins Wohnzimmer gerufen, weil sie wissen will, ob ich schon was von Sakuya gehört habe.

„Okay...“, reagiert sie mit besorgtem Gesichtsausdruck auf meine negative Antwort.

Wieder zurück im Zimmer, greife ich nach meinem Handy und lasse mich aufs Bett fallen. Ob er es schlimm findet, wenn ich nun anrufe? Vielleicht fühlt er sich kontrolliert oder so...

Zehn Minuten später ist es mir egal. Ich will wissen, wo er ist... ob es ihm gut geht. Also rufe ich an.
 

Nach dem Gespräch kann ich es nicht unterdrücken, fast ein wenig darüber erleichtert zu sein, dass Sakuya nicht mehr bei Ryouta war. Dass meine Mutter ihn allerdings gebeten hat, auf Lynn aufzupassen, wundert mich schon ein wenig... und irgendwie tut es auch ziemlich gut.

Ich gehe nochmals ins Erdgeschoss und sage seiner Mutter, dass Sakuya nun nach Hause kommt... sie ist zusehends erleichtert.
 

Seinem Auftauchen folgt ein Gespräch, auf das ich nicht vorbereitet war, mit einem Thema, über das ich mir wirklich so noch gar nicht den Kopf zerbrochen habe.

Kinder.

Sogleich, als er seinen Wunsch danach ausspricht, wird mir ein wenig flau im Magen. Dies ist einfach nichts, was so einfach und natürlich zu erledigen ist zwischen zwei Männern. Es ist die vielleicht einzige Sache, bei der eine Frau eindeutig von Nöten ist... und irgendwie ist es ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich zu merken, dass er einen Wunsch hat, den ich niemals erfüllen könnte.

Und was ist mit mir?

Kinder...

Ich habe tatsächlich noch nie darüber nachgedacht... wieso auch, ich bin immerhin erst 17 Jahre alt, noch viel zu jung, um über das Thema nachzudenken, ernsthaft in Betracht zu ziehen, einmal Kinder haben zu wollen.

Er sieht dies scheinbar anders und auch wenn mich das Thema verwirrt, kann ich nicht anders, als später, als wir aneinandergekuschelt auf den Schlaf warten, auch im Positiven darüber nachzudenken.

Ich habe gesagt, dass ich mit ihm Kinder haben wolle... und das stimmt. Auch wenn ich noch nie darüber nachgedacht habe, war mir irgendwie trotz allem klar, dass es schön wäre, ein kleines Baby zu sich gehörig zu fühlen... es aufwachsen zu sehen, gemeinsam mit ihm. Und wenn es für Sakuya okay wäre, das Kind über ein Leihmutter austragen zu lassen, dann ist es auch für mich okay... dann ist es schön so... dann würde ich mich unglaublich darauf freuen.
 

~ * ~
 

Am darauffolgenden Donnerstag mache ich mich zu einem Treffen auf, dem ich schon lange nachgehen wollte: Ein Treffen mit Akito!

Sakuya kommt nicht mit. Gestern Abend noch haben wir lange darüber geredet und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass es das beste sein wird, Akito mein Schwulsein alleine mitzuteilen. Ich denke, auch wenn er kein Problem damit hat, ist es merkwürdig und vielleicht unangenehm für ihn, direkt meinem Freund gegenüber zu stehen. Wir sind seit so vielen Jahren befreundet, da muss er die Sache so oder so wahrscheinlich erst mal verdauen...
 

Beim Treffpunkt angekommen, einem kleinen Café, das wir schon immer sehr gerne besucht haben, sehe ich Akito sofort. Auch er ist allein... und diese Erkenntnis macht mich zugleich froh als auch noch nervöser. In Gegenwart seiner Freundin wäre mir mein Geständnis wohl bei weitem schwerer gefallen... doch jetzt habe ich noch weniger Grund, es ihm nicht zu sagen...

„Hey Kida!“, begrüßt er mich fröhlich.

„Hi! Bin ich zu spät?“

„Nein, keine Sorge, ich bin schon etwas länger hier... Ich hab dir schon mal ne Cola bestellt, hoffe, das ist okay...“

„Klar“, lasse ich mich ihm gegenüber nieder.

„Wo ist denn deine Freundin?“, fragt er auch schon im nächsten Moment.

Meine Kehle wird trocken und ich greife nach dem Glas, das auf dem Tisch auf mich wartet.

„Es... kam was dazwischen...“, lüge ich, kann ihn nicht ansehen. „Und deine?“

„Ebenfalls... Sie muss heute unerwartet länger arbeiten, daher konnte sie nicht mitkommen...“, seufzt er.

„Sie arbeitet? Wo denn?“

„Bei einem Buchladen... Aber nur noch diese Woche, weil wir dann ja umziehen...“

„Ich habe auch angefangen zu arbeiten...“, erzähle ich... weil es so viel leichter fällt, als direkt mit dem Thema ‚Schwul’ ins Haus zu fallen.

Ich berichte kurz von meiner Arbeit und Akito erzählt, dass er in Aomori schon eine Arbeit gefunden hat und ab April dort anfangen wird...

„Und deine Freundin? Geht sie auch arbeiten?“

Stille... und die Frage hängt einen Moment in der Luft.

„Nein...“, antworte ich stockend.

„Was ist?“, scheint er allerdings bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmt.

Jetzt oder nie, nicht wahr?

„Akito... es gibt da etwas, das ich dir... noch sagen wollte...“, spreche ich zögernd und bemerke, dass ich schon wieder mit meinem Armband spiele. Schnell greife ich mit beiden Händen nach meiner Cola.

„Und was?“ Doch ehe ich auch nur die Chance habe, darauf zu antworten, unterbricht er seinen fragenden Blick auch schon wieder. „Ah, da kommt Miyako!“, deutet er Richtung Eingang... und ich habe das Gefühl, gegen eine Laterne gelaufen zu sein. „Was macht sie denn hier?“, spricht er meine Frage aus.

Das kann doch wohl nicht wahr sein.

Ein Satz... nur ein kurzer Moment... dann hätte ich es gesagt... dann hätte ich verdammt noch mal endlich mein dämliches Geheimnis gelüftet.

„Ich bin schwul“, höre ich meine eigene, erstickte Stimme... weiß auch, dass es viel zu leise war.

„Was?“, werde ich angesehen, „Hast du was gesagt?“

Ich schüttle den Kopf... und dann tritt Miyako neben mich.

Situation beendet.
 

Die nächste Stunde vergeht durch normalen Smalltalk. Akito fragt nicht, was ich sagen wollte, und ich spreche es nicht von alleine an, auch wenn ich mir irgendwie wünsche, dass er fragt. Ich war so kurz davor... und zum ersten Mal fühle ich mich bereit, es ihm zu sagen, wieso also fragt er nicht?

Miyako ist... anders. Ich meine, anders als seine letzten Freundinnen, die ich alle kannte, und die so alle in ein bestimmtes Schema passten. Miyako ist nicht so. Sie wirkt ziemlich erwachsen für ihr Alter und ist vom Aussehen her eher unauffällig. Sie ist eigentlich ziemlich nett, selbst wenn ich nicht wüsste, was ich mit ihr alleine reden sollte.

Vor dieses Problem werde ich gestellt, als Akito zur Toilette geht. Sofort kehrt Stille ein und keiner von uns scheint etwas zu sagen zu wissen... Ich widme mich meinem Glas und frage mich, was ich sagen soll... frage mich, ob ich ‚es’ Akito nicht trotzdem noch heute sagen soll, frage mich, ob-

„Hab ich euch vorhin eigentlich bei irgendwas unterbrochen?“

„Nö, ich wollte ihm nur sagen, dass ich schwul bi-“ Vollkommen erschrocken unterbreche ich mich selbst, hätte mir vor Schreck fast die Hand vor den Mund geschlagen.

Scheiße! Das ist doch jetzt nicht wahr!

Ihr Blick zeigt deutlich, dass es keine Einbildung war, sondern, dass ich es tatsächlich ausgesprochen habe. Resignierend sinke ich in meinem Sitz zusammen, zwinge mich, sie anzusehen. Wegschauen wäre zu peinlich.

„Meinst du... das ernst?“

Ich nicke.

Wieso um Himmelswillen war mein Mund jetzt schneller als mein Kopf? Wieso musste ich das ausgerechnet ihr sagen, der Freundin meines Freundes...? So sollte er es nun wirklich nicht erfahren.

„Dann... gibt es deine Freundin gar nicht?“

„Doch, doch!“, versichere ich schnell, merkend, dass sie scheinbar falsche Schlüsse zieht. „Sie ist halt nur... keine Sie...“

Ob ich rot bin?

„Ach so...“

Stille, ziemlich unangenehme sogar. Miyako kratzt mit ihren Fingernägeln am Glas entlang, scheint diese Situation ebenso komisch zu finden wie ich. Was soll ich denn jetzt bloß sagen?

„Und...“, unterbricht schließlich sie das Schweigen, sieht ich wieder an, „...Akito weiß davon noch nichts?“

Ich schüttle den Kopf. „Es ist ziemlich schwer, weißt du...“

„Soll ich-“

„Nein!“, unterbreche ich hektisch, sehe in Richtung der Toiletten. Er könnte jeden Moment wiederkommen... „Ich meine... ich will nicht, dass du ihm meinetwegen was verheimlichst, es ist nur...“

„Ich denke, ich verstehe, was du meinst...“, lächelt sie. „Ich werde es ihm nicht sagen... aber ich bitte dich um eins...“

„Was denn?“

„Wir haben morgen früh eine wichtige Verabredung... und wenn du es ihm sagst, wird er, wie ich ihn kenne, bestimmt nur noch darüber nachdenken... daher... na ja...“

„Ich verstehe“, sage ich und merke selbst, wie meine Stimme kühl klingt.

Ja, ich verstehe wirklich, was sie meint... aber irgendwie gefällt es mir nicht, selbst wenn ich so einen Vorwand habe. Warum ist es so, dass man gerade dann, wenn man sich selbst bereit fühlt, etwas zu tun, was Überwindung kostet, davor zurückgehalten wird? Gerade dann ist es schwer, es nicht trotzdem zu tun.
 

Als ich am Abend Sakuyas Zimmer betrete, habe ich ein irgendwie schlechtes Gewissen ihm gegenüber.

„Du bist noch immer ein Geheimnis“, flüstere ich, als ich meine Arme um ihn schlinge.

Wieso habe ich eigentlich nicht von vornherein reinen Tisch gemacht? Dann hätte ich jetzt wohl weit weniger Probleme damit.

„Genau wie du...“, seufzt Sakuya, als er meinen Kopf anhebt und mich küsst. „Naja, das wird schon...“ Er lässt sich vom Schreibtischstuhl mit mir auf den Boden sinken.

„Ich liebe dich dafür...“

„Wofür?“

Ich zucke mit den Schultern, küsse seine Lippen. „Für alles halt...“
 

~ * ~
 

Die nächste Woche vergebt... und ehe ich mich versehe, steht dann plötzlich auch schon mein Uni-Kennlerntag vor der Tür.

„Na, schon aufgeregt?“, fragt Tatsuya grinsend, der neben mir in der Bahn sitzt und das selbe Ziel anstrebt. Er trifft sich mit zwei Mitstudenten für irgendein Projekt, das sie vor Semesterbeginn noch fertigbekommen müssen.

„Und wie!“, stöhne ich und grinse schief. „Dabei geht es ja nur darum, ein paar Leuten hallo zu sagen, mit denen man die nächsten Jahre verbringen muss...“

„So ungefähr...“ Er lacht.

„Wie war das bei dir damals?“, frage ich neugierig, während durch die Lautsprecher der Name der Station ertönt, bei der ich für die Arbeit aussteigen müsste. Nur noch ein kurzes Stück...

„Ich war nicht da?“

„Echt? Wieso nicht?“

„Naja...“ Ein Räuspern, das nicht an diese Stelle passt. „Wie schon mal gesagt, hatte ich nicht wirklich Lust auf die Uni... und der Kennlerntag hat mich nicht im geringsten interessiert...“ Er zuckt mit den Schultern. „Naja, etwas schade, dass ich nicht da war, fand ich es dann später schon... Und irgendwie war es für mich wohl auch etwas schwerer, neue Bekanntschaften zu knüpfen, als für die anderen, da sich fast alle schon wenigstens mal gesehen hatten... oder es lag an meinem Desinteresse.“

Fragend schaue ich ihn an.

„Irgendwann erzähl ich dir mal von der schwarzen Seite meines Lebens...“ Er vielsagendes, irgendwie überzogenes Grinsen, bei dem ich wie so oft beschließe, ihn nicht weiter zu fragen. Dann steht er auf. „Wir sind da.“
 

Schon am Eingang trennen sich unsere Wege, da Tatsuya in eine andere Richtung muss.

„Viel Spaß!“, grinst er mich an. „Bin gespannt, von was für komischen Leuten du mir erzählen wirst...“

„Ich auch!“, lache ich und setze mich dann in Bewegung.

Ich lasse meinen Blick auf dem menschenleeren Gelände herumschweifen. Noch sind Semesterferien und es ist nichts los. So gut wie nirgends kann ich jemanden entdecken und es ist ein bisschen das Gefühl, als würde man über verbotenes Gelände laufen... irgendwie komisch, beunruhigend... und irgendwie auch faszinierend.

Hier also werde ich einen Großteil meiner nächsten Jahre verbringen?

Ein merkwürdiger Gedanke.

Als ich das Hauptgebäude des naturwissenschaftlichen Bereiches betrete, weisen mir Schilder den weiteren Weg... und nur kurz darauf finde ich mich in einem Raum wieder, der von Menschenstimmen erfüllt ist.
 

Nach dem, was Sakuya erzählt hat, war ich sehr gespannt darauf, wie mein eigener Kennlerntag wohl aussehen würde... und später, als ich das Unigelände wieder verlasse, dabei ein paar andere mit einem „bis April!“-Gruß verabschiede, weiß ich, dass auch mein Tag ein kleiner Erfolg für sich war.

Teilnehmer von drei Studiengängen waren anwesend: allgemeine Mathematik, angewandte Mathematik und Informatik... Gemeinsam werden wir, so stand es zumindest auf dem Lehrplan, den ich vor kurzem bekommen habe, zwei Jahre lang verschiedenste Kurse zusammen besuchen, bevor sich danach erst richtig auf den eigentlichen Studiengang spezialisiert wird...

Tatsächlich war es so, dass ich als erstes mit zwei Jungen meines Alters aus dem Bereich der angewandten Mathematik ins Gespräch kam... und am Ende feststellte, dass ich nur mit drei Informatikern wirklich mehr als nur ein paar kurze Sätze gesprochen habe.

Doch auch, wenn man sich jetzt schon gut verstanden hat, heißt das wohl nichts, nicht wahr? Alles kann ganz anders kommen, wenn man im April erst mal wirklich hierher und irgendwie zusammen gehört...

Mal sehen, mit wem ich dann richtige Kontakte knüpfe... Eigentlich bin ich echt neugierig darauf!
 

Vor dem Haus der Ryans kommt mir Sakuyas Mutter entgegen.

„Oh, da bist du ja wieder!“, lächelt sie mich an. „Wie war die Veranstaltung?“

„Wirklich gut!“

„Waren ein paar nette Leute dabei?“

„Ja...“

„Schön, das freut mich!“ Sie beginnt in ihrer Tasche zu kramen. „Ich bin grad auf dem Sprung zu einer Freundin... Sakuya ist im Wohnzimmer eingeschlafen und mein Mann ist auch noch nicht zurück, daher kommst du so wohl am besten rein...“, damit überreicht sie mir einen Schlüssel. „Lass ihn einfach im Flur liegen oder so...“ Es folgt ein schneller Blick zur Uhr. „Ich muss jetzt aber wirklich los! Tschüss!“

„Tschüss!“
 

So leise wie möglich versuche ich, die Haustür aufzuschließen... doch gerade dann, wenn man versucht, keinen Laut von sich zu geben, geht es natürlich schief. Wer sollte auch wissen, dass gerade heute zwei Kisten mit leeren Flaschen mitten im Eingangsbereich stehen? Laut scheppernd fällt die oberste zu Boden und ich würde meine Kopf am liebsten gegen die nächste Wand schlagen.

Sekundenlang bleibe ich ruhig stehen und lausche auf mögliche Geräusche, doch es folgt nichts... und es unterstreicht den Hauch meiner Hoffnung, Sakuya nicht geweckt zu haben.

Nachdem ich mich meiner Schuhe, meiner Jacke und dem Schlüssel entledigt habe, sowie die Kiste wieder aufgeräumt habe, schleiche ich zum Wohnzimmer.... und zu meiner Erleichterung stelle ich fest, dass Sakuya noch immer still dort liegt und schläft.

Einen kurzen Moment lang bleibe ich einfach in der Tür stehen und betrachte meinen Freund, der sich auf der halben Länge des Sofas zusammengekauert hat und dabei ein Kissen umklammert. Es sieht einfach wahnsinnig niedlich aus.

Langsam gehe ich zum Sofa hinüber und lasse mich am Boden neben Sakuya nieder, betrachte ihn noch immer, und kann nicht anders, als mich zu strecken, ihm ein paar Haare aus den Augen zu streichen und einen kurzen Kuss auf seine wunderschönen Lippen zu setzen.

Irgendwie kommt ein unglaublich wohliges Gefühl in mir auf...

Bestimmt zehn Minuten lang, kann ich nicht davon ablassen, meinen Freund einfach nur anzusehen, bevor mein Blick auf ein Buch fällt, das direkt neben mir auf dem Boden liegt.

Neugierig greife ich danach, schlage die Seite auf, in der das Lesezeichen steckt... Englisch, natürlich, was habe ich auch erwartet. Dennoch fange ich an zu lesen, versuche mit den Sätzen klarzukommen, die ich vor mir sehe... und beginne letztendlich sogar, ohne es wirklich zu merken, mich darin zu verlieren.
 

Wieder aufschrecken lässt mich eine sanfte Berührung im Nacken, ein zärtliches Kraulen. Als ich hochblicke, sieht Sakuya mich verschlafen an.

„Hey...“, flüstere ich sanft, drücke mich ein wenig gegen die Hand in meinem Nacken.

Lächelnd streckt er sich, beugt sich zu mir, küsst mich. Das Kissen, das er bis dahin noch umklammert hielt, fällt zu Boden, als er nun auch den anderen Arm nach mir ausstreckt.

„Wie war’s?“, kommt es nach einem langen Kuss. Nun kann er sich auch ein Gähnen nicht mehr verkneifen.

In aller Kürze berichte ich von meinem Kennlerntag und Sakuya hört mir einfach nur zu.

„Seit wann liest du das?“, frage ich schließlich, als ich geendet habe und mir das Buch, das ich noch immer in der Hand halte, wieder einfällt.

„Hab heute damit angefangen. Kevin hat es mir empfohlen...“

„Es scheint wirklich nicht schlecht zu sein...“

„Verstehst du es denn?“, kommt es mit einem leicht schelmischen Grinsen.

„Naja, nur zum Teil...“, muss ich zugeben.

„Jedenfalls hat es dich so gefesselt, dass du gar nicht gemerkt hast, wie ich aufgewacht bin.“ Sakuya nimmt mir das Buch aus der Hand, blickt kurz hinein, bevor er es weg legt. „Ich werde es fertig lesen und dir dann genau erzählen, was passiert ist... okay?“ Er schlingt die Arme wieder um mich, gähnt, vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren. „Oder du liest es doch selbst weiter... würde dir auch nicht schlecht tun... hilft bestimmt, wenn wir irgendwann mal nach Amerika fliegen...“

„Meinst du wirklich, ein Buch würde dabei helfen?“

„Nicht wirklich...“ Ich spüre sein Grinsen förmlich.

„Na siehst du!“

Sakuya küsst mein Ohr, knabbert kurz daran. „Ich hab grad von dir geträumt...“

„Wirklich? Was denn?“

„Das...“, küsst er meinen Hals... „...und das...“ ...lässt seine Finger unter mein Shirt wandern...

„Aha, von so was träumst du also?“

„Von noch viel mehr...“

Er zieht mich etwas hoch, und so krabble ich über ihn, küsse ihn fest, lasse nun meinerseits meine Hände wandern...
 

~ * ~
 

Die nächsten drei Tage verlaufen ohne größere, nennenswerte Ereignisse. Wir verlassen Sakuyas Zimmer kaum... nur ich am Freitag wegen meiner Arbeit und zusammen am Sonntagnachmittag zu einem Treffen mit Kyo und Sanae. Ansonsten ist es so, als wollten wir die Zeit ausnutzen, in der wir noch so viel zusammen sein können. Auch wenn wir nie darüber sprechen, geht es uns wohl beiden immer wieder durch den Kopf.

Wie wird sich alles ändern, wenn die Unis erst einmal richtig begonnen haben?

Überhaupt reden wir kaum über Uni oder meine Arbeit in den nächsten Tagen. Stattdessen genießen wir es einfach, so viel Zeit miteinander verbringen zu können... Manchmal ist Ereignislosigkeit etwas echt schönes.
 

Eine kleine Überraschung bringt dann der Sonntag, an dem Mr. Ryan uns mitteilt, dass seine Mutter morgen zu Besuch kommen wird.

„Im Ernst?“, kann ich die Sternchen in Sakuyas Augen förmlich spüren, als er das Besteck beiseite legt und seinen Vater erstaunt ansieht.

„Ja.“

„Wieso sagst du mir das erst jetzt?“

„Es sollte eigentlich eine Überraschung werden... aber ich dachte, es würde dich vielleicht freuen, sie mit vom Flughafen abholen zu können.“

„Klar!“ Ein heftiges Nicken, bevor er den Kopf zu mir dreht, ich das Strahlen in seinen Augen nun auch sehen kann. „Wahnsinn, ich hab sie nicht mehr gesehen, seit wir hier wohnen!“

Ich erwidere das Lächeln.

„Wann kommt sie denn an?“

„Gegen frühen Abend...“ Mit den Worten legt sein Vater das Besteck weg und steht auf. „Danke fürs Essen. Ich muss noch ein paar Sachen erledigen...“

Auch Mrs. Ryan erhebt sich.

„Echt Wahnsinn!“, strahlt Sakuya noch immer. „Wie lange bleibt sie denn?“

„Ich weiß nicht so genau...“ Sie beginnt damit, die Teller zu stapeln. Ich stehe auf, um ihr zu helfen. „Aber zum Geburtstag deines Vaters wollte sie auf jeden Fall noch hier sein...“

„Das ist ja klasse!“ Auch Sakuya fängt an, sich am Aufräumen zu beteiligen.

„Wann hat dein Vater denn Geburtstag?“, frage ich zögernd nach, weil ich davon bis jetzt noch nichts gehört habe.

„In eineinhalb Wochen...“ Ein zerknirschtes Gesicht, gefolgt von einem Flüstern. „Und ich brauch immer noch ein Geschenk... Was das angeht, ist er echt kompliziert!“, klagt Sakuya mir grinsend, reicht seiner Mutter die letzten Schüsseln. „Wir gehen hoch, okay?“

„Okay.“

Noch immer strahlend macht sich Sakuya auf Richtung Tür, sprintet voller Elan die Treppe nach oben.

„Ich kann kaum glauben, dass Grandma kommt!“, strahlt er, als ich die Tür hinter mir geschlossen habe. „Dann wirst du sie auch mal kennenlernen! Ich bin sicher, sie wird dich mögen!“

„Meinst du?“, frage ich skeptisch.

„Klar, wie soll sie dir denn widerstehen?!“ Ein Lachen, während er mich an sich zieht, mein Hemd hochschiebt und meinen Bauch küsst. „Obwohl... deine schönsten Seiten kennt sie ja gar nicht...“
 

~ * ~
 

Am Montag merkt man deutlich Sakuyas Vorfreude. Er hat sein komplettes Zimmer aufgeräumt und erzählt mir alle möglichen Sachen aus seiner Kindheit, die mit seiner Großmutter in Zusammenhang stehen.

Gegen Mittag machen wir uns auf den Weg. Während Sakuya sich heute noch mit Ryouta trifft, werde ich Zuhause einen kurzen Abstecher machen, bevor ich zur Arbeit gehe.

Auf halbem Weg trennen wir uns schließlich. Zuvor sieht sich Sakuya schnell um, zieht mich ein kleines Stück die Straße hinunter, hinter die nächste Häuserecke. „Wir sehen uns dann morgen...“, lächle ich, als ich ihn umarme.

„Ja... bis morgen...“

Ein kurzer Kuss, bevor wir wieder aus der Ecke heraustreten und unsere Wege sich trennen, da ich mich zurück zur nächsten Bahnstation begebe. Ein kurzer Blick zurück zeigt mir einen Sakuya, der an einer Fensterscheibe klebt.

Was für eine Frau seine Oma wohl ist und wie der morgige Tag wohl werden wird...

Und was mache ich, wenn sie mich nicht mag?
 

Part 37 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 38

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Sakuya (by littleblaze)
 

Als Erwachsener macht man andauernd Fehler.

Jede noch so kleine Entscheidung kann das gesamtes Leben neu ordnen. Du hast dich dazu entschlossen, noch vor dem Weggehen auf die Toilette zu gehen und diese kleine, doch sehr unbedeutende Tat wird vielleicht zur Größten in deinem ganzen Leben werden. Du verschiebst dein Leben um einige Minuten und alles hat sich somit geändert... Alles!

Das Beste oder das Schlechteste, das du tun konntest?

Vielleicht bist du dem schönsten Erlebnis deines Lebens entgangen oder noch einmal dem Tod von der Schippe gesprungen...
 

... wer weiß das schon...

...davor.
 

Doch jede neue Wendung eröffnet Unmengen an neuen Wegen, an neuen Entscheidungen, an neuen Fehlern.

Als Kinder sehen wir dies nicht!

Wir fragen uns nicht: „Was wäre gewesen, wenn...?“

Kinder bereuen ihre Entscheidungen, aufs Klo gegangen zu sein, nicht, doch umso älter man wird, umso schlechter kann man mit seinen Entscheidung leben...
 

~ * ~
 

Das Überraschenste in den letzen Wochen des Nichtstuns ist die Mitteilung, dass meine Grandma zu Besuch kommt. Ein Ding, mit dem ich eigentlich niemals wirklich gerechnet habe, da der Flug doch ziemlich lang ist und sie nicht wirklich darauf steht, zwischen den Wolken zu hängen.

Nichts schafft es nun mehr meine Gedanken von der alten Frau, die ich so liebe, abzulenken. Ich räume jedes kleine Eckchen meines Zimmers auf, suche Bilder heraus und erzähle Geschichten, damit Kida wenigstens ein kleines Bild von ihr bekommt. Ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen. Ich vermisse ihre Mitternachts-Fressorgien und ihre interessanten Spiele, welche sie sich immer für Kevin und mich ausgedacht hat. Obwohl ich dafür mittlerweile bestimmt schon zu alt bin.
 

In der Nacht kann ich kaum schlafen, trotzdem bin ich topfit am nächsten Morgen. Ich wusle nur so durch das Haus, selbst meine Mom scheint die Nervosität aufgrund des bevorstehenden Besuchs ergriffen zu haben.

Gegen Mittag machen Kida und ich uns auf in die Stadt, ich treffe mich mit Ryouta. Eigentlich war dies erst für heute Abend geplant, aber nun habe ich es vorgezogen, um ganz für meine Grandma da sein zu können. Bei der Gelegenheit kann ich ihr direkt noch ein Begrüßungsgeschenk kaufen.

Kida verabschiede ich an der nächsten Ecke, ihn sehe ich erst morgen wieder. Ein kleiner flüchtiger Kuss in der Verborgenheit einer Nische, ein zärtlicher Blick und schon durchfährt nur noch die Frage, was ich meiner Grandma am besten kaufen könnte, meine Gedanken.

Ryouta ist mir dabei auch nicht wirklich eine Hilfe. Er meint nur schlicht: „Irgendwas traditionell japanisches, würde ich sagen.“ Und so schlendern wir von einem Laden zum nächsten, kommen an vielem Schönen vorbei, doch scheint mir nichts wirklich gut genug.
 

Gegen Vier mache ich mich wieder auf den Heimweg, in meiner Tüte eines der edelsten und schönsten Teeservices. Meine Grandma ist leidenschaftliche Kaffeetrinkerin, doch ihr Arzt mahnt sie schon lange, nicht so viel Kaffee zu trinken und lieber auf Tee umzusteigen. Vielleicht zeigt mein Geschenk nicht nur, dass ich sie liebe, sondern auch ein klein wenig meiner Besorgnis.

Daheim scheint die Nervosität extrem zugenommen zu haben. Ich verziehe mich schnell in mein Zimmer, um nicht unnötig im Weg zu stehen. Ich springe noch schnell unter die Dusche, verzichte auf jegliches Deo, Aftershave etc., da meiner Grandma immer schlecht von solchen Gerüchen wird, und stehe als nächstes erstaunt vor meinem Schrank.

„Mooooooooooommmmm!“

Als ich keine Reaktion auf mein Schreien bekomme, trete ich im Bademantel auf den Flur. Mein Dad saust an mir vorbei.

„Du solltest dich langsam anziehen. Wir fahren gleich.“

„Würde ich ja... Wo ist Mom?“

„Unten.“

Ich tapse die Treppe runter, finde gesuchte Person ziemlich schnell.

„Mom, wo sind meine ganzen Sachen hin?“

„Ach so... ja... hab ich ganz vergessen. Ich habe... deine Sachen ins Gästezimmer gebracht. Du weißt doch... Grandma hat es so mit dem Rücken, da dachte ich, dass ihr die Zimmer solange tauscht.“

„Okaaaaayyyy...“ Die Rückensache muss ich irgendwie verpasst haben.

„Was suchst du denn?“, hält sie mich auf, als ich wieder hinauf gehen will.

„Das kann ich auch selber“, lächle ich, wissend, dass sie doch gerade mehr als genug zu tun hat.

„Ich habe die meisten Sachen im Keller, weil ich sie noch einmal durchwaschen wollte, aber bei der Bügelwäsche ist noch einiges. Ich bring dir gleich was hoch, einverstanden?“

„Ähm... hab ich denn eine andere Wahl?“

„Nein.“ Flüchtig berührt sie meine Wange. „Es...“

„Was macht ihr denn hier? Zieh dich endlich an, Sakuya. Wir kommen noch zu spät.“
 

Die folgende Autofahrt verläuft ruhig. Wir sind wohl alle ziemlich aufgeregt.

Endlich am Ziel, brauchen wir eine halbe Ewigkeit, um einen Parkplatz zu finden. Dad legt sich mit einem kleinen nervösen Mann an, der es nicht schafft, aus der Parklücke zu kommen. Kurz darauf betreten wir das große Gebäude.

Ein Knäuel von Menschen, wie eh und je. Ich liebe diese Atmosphäre. Mein Blick schweift auf die große Anzeigentafel. Zu meiner Verwunderung kann ich keinen ankommenden Flug aus Kalifornien erkennen.

„Dad, bist du sicher wegen der Uhrzeit?“

„Natürlich“, taucht er plötzlich neben mir auf, schiebt mich weiter in die von ihm ausgewählte Richtung.

„Aber...?“

„Wartet hier, ich frage mal kurz nach.“ Er strebt den nächsten Informationsschalter an.

„Was ist denn mit Dad los?“ Sein Verhalten ist irgendwie eigenartig, obwohl ich nicht mal sagen könnte in welche Richtung genau.

„Sakuya... ich...“ Sie stockt.

„Mom, ist was?“

Verblüfft schaue ich in ihr Gesicht, das sich zunehmend verändert, und diese Veränderung macht mir aus irgendwelchen Gründen ziemliche Angst.

„Ich... wusste es selber nicht, nicht vorher...“ Deutlich ist zu erkennen, dass sie ihre weiteren Worte hinunterschluckt, mein Dad ist wieder neben mir.

„Na los, wir müssen da entlang.“

„Was ist mit Mom los?“, frage ich zwar laut, aber nicht wirklich an jemanden gerichtet.

Die Situation ist nicht mehr die Selbe wie sie noch vor Minuten war. Irgendwas geht hier vor, das ich nicht verstehe, das mir niemand erklärt. Nicht nur die Situation sondern auch unser Weg hat eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Ich suche irritiert nach der Anzeigentafel. Ankunft... Ankunft... NEIN... die Abflugdaten stehen groß angeschrieben. Was soll das alles? Ich suche nach bekannten Orten... Nichts! Also trete ich keinen Überraschungsbesuch an.

„Dad?“, vermag ich nicht mal mehr meine eigene Stimme zu erkennen.

Ihre Worte, seine Gestik, das Schweigen. Anzeichen für etwas, das mir garantiert nicht gefallen wird. Nur was?

Der mir im Moment fremde Mann klebt weiterhin an meiner Seite, Mom läuft still und mit gesenktem Kopf an seiner Anderen. Als ich erneut zu ihr hinüberschaue, fällt sie mir plötzlich auf: die kleine Reisetasche, die sie in der Hand hält. Sie ist nicht viel größer als ihre normale Tasche, welche sie tagein tagaus mit sich herumträgt, doch es ist ihre Reisetasche. Sie hat immer einen festen Platz, bei jeder Reise.

„Wo fliegen wir hin?“ Kurz wird an meiner Seite gezuckt, jedoch stetig weitergelaufen.

Nur Sekunden später erreichen wir die Abflughalle der American Airlines. Mom lässt sich auf einen Stuhl nieder, ich werde genau daneben hinuntergedrückt, lasse mich widerstandslos fallen.

„Warum sind wir hier“, flüstere ich der Frau neben mir zu. War sie bis jetzt immer eine Person, zu der ich aufschauen konnte, kommt sie mir nun wie ein kleines scheues Reh vor. Wie eine Marionette, die keinen eigenen Willen zu haben scheint.

Sie dreht den Kopf weg, schluchzt auf.

„Mom?“

Wenn ich zuvor nur mit Unbehagen zu kämpfen hatte, dann steigt nun die pure Angst in mir auf. Ich habe meine Mom noch niemals weinen sehen. Noch nie war mein Dad so abweisend zu mir. Ich fühle mich dem Tode nahe, nur meinen Hinrichtungsgrund kenne ich noch nicht. Verlässt mich meine Mom? Ist ihre Ehe vielleicht am Ende, ohne dass ich davon etwas mitbekommen habe? Doch habe ich sie noch niemals wirklich streiten hören... sind sie trotzdem irgendwo gescheitert?

Mein Dad schaut mich an, als er vom Check-In Schalter zurückkommt. Keinerlei wirklichen Ausdruck ziert sein Gesicht und ehe ich noch ein weiteres Mal eine Frage bezüglich unserer Situation stellen kann, erfolgt der Aufruf, welcher meinen Dad aufhorchen lässt.

New York?

Er reicht meiner Mom schweigend die Tickets, es sind zwei. Was auch immer der mir vorenthaltende Grund für all das ist, so bin ich mir ziemlich sicher, dass dieses zweite Ticket für mich bestimmt sein soll.

„Würde mich nun endlich mal jemand aufklären?“

„Du und deine Mom werdet jetzt in dieses Flugzeug steigen“, kommt es trocken. Ich schaue ihn nur unverständlich an, obwohl ich damit ja eigentlich schon gerechnet habe. Ich lächle leicht, um meine Unsicherheit zu verbergen.

„Ah ja, und wo bleibt die Pointe?“

„Die fällt heute aus. Du wirst in dieses Flugzeug steigen und nach New York fliegen.“

„Und was bitteschön soll ich in New York?“ Vielleicht ist ja Tante Elena gestorben? Deswegen die Trauer, deswegen dieser schnelle Abflug...

„Leben!“

„Leben? Was meinst du mit leben?“ Eine kleine Spur Panik liegt in meiner Stimme. Meine Mom hat endlich aufgehört zu weinen.

Er kommt auf mich zu, irgendwie habe ich das Bedürfnis ihm auszuweichen.

„Junge, meinst du wirklich, ich würde weiterhin zulassen, dass dich dieser Kerl anfasst?“

Kerl? Meine Augen weiten sich, schauen ihn erschrocken an. Meint er etwa Kida?

„Du wirst nach New York gehen, da kann er dir nichts mehr anhaben. Ich werde es nicht zulassen, dass er dich weiterhin anfasst. Nicht MEINEN Sohn.“ Mit jedem Wort wird seine Stimme sanfter, so als wolle er mir Mut zusprechen.

Woher weiß er...? Wieso tut er das?

Ich reiße mich von ihm los, weiche zurück.

„Ich weiß nicht... was hier los ist, aber... ich werde auf gar keinen Fall in dieses Flugzeug steigen“, stottere ich hervor. „Das kann doch nicht dein Ernst sein?“

„Letzter Aufruf für Flug D-2237 nach New York. Bitte begeben sie sich zu Flugsteig D-2!“

Die Stimme aus dem Lautsprecher drückt mir die Luft zum Atmen weg. Das kann doch alles nur ein schlechter Traum sein.

„Das kannst du nicht tun!“, schreie ich jetzt schon beinahe, während mir immer mehr die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens bewusst wird.

„Glaub mir Sakuya, es ist das Beste für dich. Ich will doch nur, dass dein Leben normal ist.“ Er schaut mich schon beinahe liebevoll an.

„Es IST normal!“, schreie ich abermals. „Du hast ja keine Ahnung wie normal... ich liebe Kida... ich will nicht nach New York... du kannst mich nicht zwingen!“

„Natürlich kann ich das, mein Sohn!“, schreit er nun ebenfalls. „Und erzähl mir ja nichts von Liebe... nicht zu diesem Jungen!“

Was ist bloß passiert? Wie konnte es denn nur so weit kommen? Das geht doch nicht, es muss wirklich alles nur ein Traum sein, aus dem ich gleich erwachen werde und mich dann an Kida kuscheln kann.

Kida... wo bist du? Hilf mir!

„Und wenn ich mich nicht zwingen lasse?“

„Sakuya. Was hast du denn vor?“ Ein siegessicheres Grinsen legt sich auf seinen Lippen und in mir keimt der Wunsch auf, es ihm aus dem Gesicht zu schlagen. Ein wenig erschrecke ich selber über diesen Drang, hat er mich doch immer bedingungslos geliebt, mir alles gegeben, was ich wollte.

„Vergiss bitte nicht, dass du ein minderjähriger, amerikanischer Staatsbürger bist. Du darfst nur hier sein, weil ich hier bin, weil ich hier arbeite. Ohne mich hast du keinerlei Auffenthalsrecht in diesem Land!“

In meinem Kopf fängt es an zu arbeiten, doch wohin ich auch schwenke, alles sagt mir, dass er Recht damit hat, dass es für mich keinerlei Ausweg gibt, wenn er nicht will, dass ich hier bin.

„Du kannst nicht zur Schule gehen, nicht arbeiten, nichts. Ich werde dich von der Polizei suchen und dich in die USA ausliefern lassen. Wo ich dich finden werde? Wird schon nicht so schwer sein, oder?“

„Warum tust du das?“ Ich könnte nicht einmal beschreiben was im Moment in mir vorgeht, wie sehr ich ihn verachte, wie sehr ich gerade verzweifle.

„Glaub mir, irgendwann wirst du es verstehen...“ Er reicht mir meinen Reisepass, den ich mit einem verachtenden Blick annehme. „...und mir dankbar dafür sein.“ Ich hege den Wunsch, ihm ins Gesicht zu spucken.

„Darauf kannst du lange warten. Ich hasse dich!“

Er scheint nicht überrascht von meiner Aussagen zu sein, einer Aussage, mit der ich gehofft habe, ihn zu treffen, ihm zu zeigen, was er für einen Fehler macht.

„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, mein Sohn... sondern Gleichgültigkeit. Und so lange du mich noch hasst, besteht eine Verbindung zwischen uns und ich kann dir immer noch den Weg weisen.“
 

Auf meinem Erste-Klasse-Sitz schaltet sich das wirkliche Denken aus und die Panik steigt. Zuvor wollte ich nur verhindern, überhaupt in dieses Flugzeug zu steigen, doch nun, in seinem Inneren, verspüre ich fast schon Todesangst. Nicht die geringste Idee wie ich es davon abhalten kann, sich zu bewegen.

Eine Hand legt sich auf meinem Arm, ich schlage sie weg. Jetzt kann ich auch auf dein Mitgefühl verzichten! Warum hast du nicht vorher zu mir gehalten, ihn davon abgehalten, dass dies alles passiert? Doch was nützt es nun noch, diese Frage zu stellen, hilft es mir sowieso nicht mehr. Was hilft mir überhaupt? Natürlich, ich könnte aus dem Flugzeug rennen, einfach hier bleiben... doch dann...?

Es ist nun einmal die ungeschminkte Wahrheit: Ich habe keine Rechte! Sie würden mich schnell wieder finden, mich zurückschicken. Doch wäre es das Vorhaben trotzdem wert, um ihn noch ein letztes Mal zu sehen?

Letztes Mal? Was verdammt noch mal denke ich denn hier? Ich will ihn nicht ein letztes Mal sehen, ich will mit ihm zusammen sein, mein ganzes Leben lang! Ich will doch nur das... mehr nicht. Ist das denn wirklich zu viel verlangt? Warum kann er das nicht verstehen?

Und wenn ich es einfach tun würde? Würde Kida Ärger bekommen? Wie sind hier die Gesetze in solchen Fällen? Ich kann schließlich nicht verlangen, dass er sein Leben, seine Familie hinter sich lässt und mit mir flieht. Gott, wie bescheuert hört sich das eigentlich an...

Das Anschnallzeichen blinkt auf.

Die Türen sind dicht, kein Entkommen mehr. Natürlich Schwachsinnig, doch hoffe ich immer noch, dass ein Prinz auf einen schimmernden Ross hinein galoppieren und mich retten wird. Dass es nun zu spät ist für irgendeinen Fluchtversuch, welchen ich ohnehin nicht unternommen hätte, löst Verzweiflung aus. Tränen, welche ich gar nicht zurückhalten möchte, auch nicht kann. So wenig Rechte ich doch auf dieser Welt habe, dann doch wenigstens dieses.

„Ich konnte ihn nicht aufhalten... es... es tut... tut mir...“ Ich schaue weiterhin nur aus dem Fenster.

„Schnallen sie sich bitte an“, kommt es von der Stewardess, doch auch ihr schenke ich kein bisschen meiner Aufmerksamkeit. Schließlich ist es meine Mom, die mir den Sicherheitsgurt um die Hüfte legt.

Genau, kette mich ruhig an diesen Sitz. Halte mich gefangen in einem fliegenden Monster aus Stahl. Egal was du tun wirst, dass wird nichts daran ändern, was ich nun einmal bin!
 

Bald haben wir unsere vorgeschriebene Flughöhe erreicht und das Anschnallzeichen erlischt. Der kleine Ton lässt mich aufhorchen, und blitzschnell erhebe ich mich.

„Wo gehst du hin?“

„Ich schnappe mir nen Fallschirm und spring ab“, werfe ich ironisch zurück. Die Bewegungen lassen mich kurz schwindeln, mir wird schlecht. Ich kralle mich in den nächstbesten Sitz.

„Brauchen sie Hilfe?“ Eine Berührung, ich schrecke zurück. Mein Blick wird von einer älteren Frau reflektiert.

„Nein, danke“, gehe ich weiter, die Übelkeit ist verschwunden.

„Äh, bitte... wo finde ich ein Telefon?“, halte ich die Stewardess in ihrer Bewegung auf.

„An ihrem Platz, Sir.“

„Ich will aber nicht an meinem Platz telefonieren“, gebe ich patzig zurück.

„Mit einer Kreditkarte können sie das Telefon hinten bei der kleinen Küche benutzen.“ Ihre Hand weist mir den Weg. Ich bedanke mich.

Der Griff nach dem Höher bleibt aber zunächst sinnlos. Ungeduldig zerre in an meinem Portmonee. Ich verfluche alles um mich herum bis ich es endlich geschafft habe, das lederne Teil hinauszubekommen.

„Verdammte Scheiße, wo bi...“ Es entgleitet mir und ich starre gebannt auf die vielen kleinen Münzen, die über den Boden rollen. Selbst als ein Steward aus der Küche kommt, die Münzen beginnt aufzulesen, ist mir nicht mehr als zu einem fiesen Grinsen zumute.

Was tue ich hier eigentlich? Du bist doch sowieso noch nicht zu Hause und dein Handy liegt in meinem Zimmer. Du bist auf der Arbeit, hast keine Ahnung, was passiert ist, dass ich mich jede Sekunde um etliche Kilometer von dir entferne... ich...

„Sir?... Bitte, ihr Geld.“

Ich wische mir über die Augen, sehe die mir zugestreckte Hand, ihren Inhalt, doch im nächsten Moment ist die Sicht schon wieder dahin.

„Kann ich irgendetwas...“

„Ich kann... nicht mehr zurück“, schluchze ich auf.

„Zu ihren Sitz, Sir?“

Ich schüttle den Kopf. „Zu ihm.“

„Ihm, Sir?“

Ich halte für kurze Zeit die Luft an. „Wie soll ich ihm das nur erklären?“
 

Die Stunden vergehen mit apathischem aus dem Fenster starren. Ich könnte ihn anrufen, könnte ihm erzählen, was passiert ist... doch was soll ich ihm sagen? Ich liebe dich? Wir sehen uns bestimmt bald wieder? Ich will zurück zu dir? Ich will nicht, dass dies alles so passiert?

Soll es mir davon besser gehen? Soll es für ihn leichter sein, dass alles zu akzeptieren?

Ich kann ihn jetzt nicht einfach anrufen und mit ihm reden... ich bin dafür nicht stark genug.

Die zweite Mahlzeit auf diesem Flug lasse ich ebenfalls stehen. Ich habe seit Montagmorgen nichts mehr gegessen. Dieses wunderbare Klisché, dass man bei Trauer keinen Hunger verspürt, ist bei mir nicht der wirkliche Anstoß, mein Essen nicht anzurühren. Ich esse nichts, um meiner Mom ein schlechtes Gewissen zu machen, was sich auch schnell mit einem: „Du musst doch was essen“, zeigt.

Doch einige Zeit später wurmt es mich dann doch zu sehr, ich muss es wissen. Ich kann es einfach nicht verstehen, muss wissen, wie dies alles passiert ist. Soll das wirklich das Ende sein, würden wir uns nicht mehr wiedersehen? Wenigstens nicht in allzu naher Zeit?

„Warum hast du es ihm gesagt?“, steche ich ins Blaue.

„Das habe ich nicht.“

„Und wie hat er es dann erfahren“, straft mein Blick sie lügen.

„Er hat euch gesehen.“

„Gesehen?“

Jeder noch so kleine Kuss in der letzten Zeit durchstreift meine Erinnerung. Wann? Wo?

„Ihr wart im Wohnzimmer.“

Im Wohnzimmer! Er hat uns gesehen! Es war... unsere Schuld. Ganz alleine unsere Schuld, wir waren einfach nicht vorsichtig genug. Wir hätten das hier verhindern können, wären wir nur etwas vorsichtiger gewesen. Das... so eine riesen Scheiße!

„Warum hast du es mir nicht vorher gesagt?“, schwingt ein wenig der Wut, die ich für mich selber empfinde, mit.

„Was?“

„Dass er uns gesehen hat.“

„Ich wusste es nicht, ich habe es selber erst heute erfahren. Nachdem du weg warst sollte ich plötzlich Anziehsachen für dich und mich packen. Ich habe erst gar nicht verstanden was los war, aber ich habe es getan... ohne zu hinterfragen. Er war so nervös, so gereizt... ich hatte... richtige Angst vor ihm. Als ich dann fertig war mit packen, erzählte er mir von euch. Er fragte mich, ob ich davon gewusst habe und ich stritt es ab... es tut mir leid, aber ich hatte wirklich Angst vor ihm...“ Sie spricht immer weiter obwohl ihr mittlerweile Tränen übers Gesicht gleiten. „Kurz darauf kam dann ein Mann von Firma, der die Koffer zum Flughafen brachte. Dein Dad wies mich an, mit dir zu Tante Elena zu fliegen, bis wir wieder zurück nach Boston in unser Haus könnten. Ich nickte nur die ganze Zeit über...“

Mein Blick wendet sich wieder von ihr ab, treibt hinaus in die Wolken. Auch wenn mir klar ist, dass sie nicht wirklich etwas hätte ausrichten können, bin ich doch zutiefst enttäuscht, dass sie es nicht einmal versucht hat.

„Als du noch nicht auf der Welt warst“, fährt sie fort, „Da wurde dein Dad mal von so einer richtig aufgetakelten Tunte... entschuldige die Wortwahl, angerempelt. Er hätte ihn beinahe Krankenhausreif geschlagen, wenn ihm nicht seine Freunde zu Hilfe gekommen wären. Keine Ahnung was damals in deinen Dad gefahren ist, aber hier hatte ich zum ersten Mal Angst vor ihm.“

„Warum... erzählst du mir so etwas nicht früher?“

„Was hätte ich dir denn sagen sollen? Dass dein Dad dich so nicht akzeptieren wird?“

„Ja.“

Wenigstens wäre ich dann vorbereitet gewesen. Wir hätten besser aufpassen können, es wäre nicht so weit gekommen. Ich könnte immer noch mit ihm zusammen sein. Bei dir sein... dich lieben dürfen...
 

~ * ~
 

Die weiteren Stunden bis zur Landung auf dem JFK International Airport in New York, vergehen nicht weniger schlecht. Ich stecke durch die Zeitverschiebung immer noch im selben Tag fest, nur wenige Stunden sind hier vergangen und doch ist es bei ihm schon fast ein Tag seitdem wir uns trennten. Oh Gott, und wie wir uns trennten... ein schneller Kuss in einer kleinen Ecke, nicht wissend, dass dies der letzte für lange Zeit sein soll.

Und dazu kommen noch all diese Selbstvorwürfe. Vorwürfe, dass es überhaupt so weit gekommen ist, Vorwürfe, dass ich es immer noch nicht geschafft habe, ihn anzurufen, mit ihm zu reden. Stattdessen immer wieder Tränen, immer wieder der Wunsch, bei ihm zu sein, immer wieder das Verlangen, meinen Vater kräftig eine in die Fresse zu schlagen.

Und Kida? Er muss doch bald zu mir kommen wollen... zu mir...

„Mom!“ Die Reifen setzen auf, ein quietschendes Geräusch ist wahrzunehmen. „Er wird ihm doch nichts tun, Kida... er wird doch nicht...?“

„Nein, Sakuya, er tut ihm garantiert nichts.“

„Bist du sicher?“ Mein Herz rast so schnell, dass ich mir vorkomme als würde ich mit dem noch rollenden Flugzeug ein Wettrennen veranstalten.

„Ja Schatz, da bin ich mir ganz sicher. Er würde niemals ein Kind schlagen.“

Beruhigt bin ich davon nicht, doch was kann ich jetzt schon groß tun außer, außer ihn anrufen...

Ich muss hier raus, ich muss an ein Telefon!

Die Apparate am Sitz sind schon ausgeschaltet, mein Handy hat keinen Empfang, ich muss hier raus, ich muss ihn erreichen bevor er zu mir nach Hause geht... Ich muss!
 

„Wo willst du hin, Sakuya?“, höre ich sie mir besorgt hinterher gerufen, nachdem ich die Passkontrolle hinter mir gelassen habe und feststellen muss, dass auch hier nicht mit einem Empfang auf meinem Handy zu rechnen ist.

„Ein Telefon... ein Telefon... wo?....ah!“

Ich vertippe mich drei Mal, bevor seine Handynummer korrekt in das Telefon eingegeben ist.

„Die gewählte Rufnummer ist leider nicht vergeben!“

„Was?... ach...“

Kann er überhaupt Gespräche aus dem Ausland annehmen? Habe ich etwas vergessen, irgendetwas, das ich davor wählen muss?

Meine Sicht fällt auf ein Ziffernblatt, kurz vor 21.00 Uhr. Also... Dienstag, 11 Uhr vormittags in Tokyo. Er wollte gegen Mittag kommen, nicht wahr? Mittag, Mittag... wann zum Teufel ist für ihn Mittag?

Meine Mom erreicht meine gegenwärtige Position, vor sich her schiebend einen Gepäckwagen auf dem mehrere Koffer trohnen.

„Ich muss ihn anrufen, hilf mir!“ Ich halte ihr den Hörer hin, den sie mir ohne Umschweife abnimmt.

„Glaubst du wirklich, dass das gut ist?“

„Ja.“

„Wie lautet die Nummer?“

Ich suche in meinem Adressbuch nach seiner Nummer zu Hause, Handy hat glaube ich eh keinen Sinn. Gefunden halte ich ihr das Handy unter die Nase. Sie wählt, reicht mir danach den Hörer. Vielleicht hätte ich doch noch kurz überlegen sollen, was ich eig...

„Hallo, hier bei Takahama.“ Seine Mutter.

„Hi... ist... äh, hier ist Sakuya, könnte ich kurz mit Kida sprechen?“

„Hallo Sakuya! Nein, tut mir Leid, er ist schon aus dem Haus. Er wollte noch ein paar Sachen für die Uni besorgen und dann zu dir kommen.“

„Scheiße!“

„Bitte?“

„Oh, entschuldigen Sie. Ich bin... bitte sagen Sie ihm einfach... ich melde mich.“ Ich knalle den Hörer zurück auf seine Station.

Dieses Mal versuche ich die Trauer zurückzuhalten, hier ist bestimmt nicht der passende Ort zum Weinen. Was wird wohl in ihm vorgehen, wenn keiner da ist, oder noch viel schlimmer, wenn mein Dad ihm sagt, dass ich nicht mehr da bin?

„Komm Sakuya, wir müssen noch durch den Zoll. Tante Elena wartet bestimmt schon.“

„Nein!“, wehre ich ihre Hand ab. „Ich gehe nicht zu dieser blöden Kuh. Das kannst du dir abschminken, aber völlig!“

„Sakuya?“

„Sie ist unausstehlich, das weißt du genau. Ich will nicht zu ihr... ich will nach Boston!“

„Aber wir können noch nicht nach Boston, es sind immer noch die Mieter in unserem Haus.“

„Ich kann sehr wohl nach Boston und das werde ich auch tun.“ Ich stiefle davon.

„Sakuya, warte... okay, du kannst gehen.“ Ich bleibe stehen. „Trotzdem, müssen wir jetzt erst einmal durch den Zoll und dann kaufe ich dir ein Ticket für den Weiterflug nach Boston. Einverstanden?“

Mein Stehenbleiben soll ihr genug Antwort geben.
 

Gegen halb Eins in der Nacht steige ich aus dem Taxi vor meinem... neuen Zuhause, könnte man schon fast sagen. Dieses liegt allerdings bereits im Dunkeln und momentan habe ich wirklich kein Bedürfnis, allen Familienmitgliedern meine Geschichte zu erzählen, also begebe ich mich in den Garten.

Ich krieche auf dem kalten, feuchten Boden herum, strecke meine Hände in jeden kleinen, dunklen Winkel aus, auf der Suche nach diesem verflixten Schlüsselstein.

Kurz gebe ich mich geschlagen, lege mich auf den Rücken. Selbst die Sterne, die ich schon tausendmal von hier gesehen haben, können mir kein bisschen Trost schenken. In meinem ganzen Leben habe ich noch niemals so ein Gefühl der Aussichtslosigkeit in mir gespürt, einfach nur den Wunsch, hier liegen zu bleiben, zu spüren, wie immer mehr Kälte von mir Besitz ergreift.

Wäre ich nicht so ein Feigling, würde ich es vielleicht tun. Doch was bleibt mir? Noch mehr Tränen, noch mehr Angst, wie all das jetzt weitergehen wird und diese ankotzende Suche nach diesem scheiß Stein!

Jede weitere Sekunde der Suche gräbt sich mehr in mir ein. Immer mehr Zeit, die mein gewesenes Leben vergehen lässt, immer mehr Unmut darüber, dass alles so ist, wie es ist. Doch endlich bin ich von einer kleinen Bürde befreit, als ich den gesuchten Stein in Händen halte.

Ich drehe ihn um, fische den Schlüssel aus seinem Versteck, stehe auf und lasse den Stein wieder ins Gras plumpsen. Ich gehe zur Hintertür, öffne diese. Ein Glück, dass Aaron der gewünschte Hund immer verweigert wurde.

Schier bedrückende Dunkelheit liegt vor mir, doch ich kenne jeden Weg in diesem Haus, keine Angst also.

Die Stufen sind schnell erklommen und kurz kommen mir Zweifel, ob ich wirklich schon jetzt ein Treffen haben möchte, eine Begegnung, die so viele Erklärungen mit sich zieht, die alle Trauer wieder herausschwemmt.

Ich drücke leise die Klinke zu seiner Tür hinunter. Mein Plan: Reinschleichen, mich zu ihm legen, schlafen... für kurze Zeit vergessen. Was mich davon abhält, dies zu tun, kann ich nur durch sperrliches Licht wahrnehmen, doch kann ich genug erkennen, um zu verstehen.

Ok... ok... ok... ok..., fahre ich mich innerlich an. Nichts, was mich erschrecken müsste, nichts was irgendwie unnormal wäre... nichts... Meine Hand schließt sich immer noch um die Türklinke.

Sie haben dich nicht bemerkt, geh raus, verschwinde... mach schon!, sporne ich mich an. Zu spät! Ein Blick liegt auf mir, jede Bewegung stoppt.

„Sakuya?“

Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich noch wahr, wie Kevin stürzt. Ich lasse die Tür hinter mir ins Schloss knallen, reiße die Tür vor mir auf, drücke mich von der anderen Seite gegen sie. Er wird versuchen hineinzukommen, wird wissen wollen, warum ich hier bin. Wenigstens denke ich dies, doch nichts von alledem passiert in den nächsten Minuten. Nur Stimmen, deren Wortlaut ich nicht verstehen kann, plötzlich Schritte im Flur, die Treppe hinunter. Weitere Stimmen... Juliet. Sie kommt zwischen den Zimmern zum Stehen.

„Was treibt ihr hier?“

„Sakuya ist hier“, kommt es von der anderen Person. Also ist Kevin gegangen. Warum?

„Sakuya?“

„Ja.“

„Hier? Du meinst er ist hier?“

„Er hat uns gesehen.“

„Na und, dass haben wir doch alle schon einmal“, kommt es belustigt. „Sakuya?“ Ein Klopfen an der Tür, eine Bewegung der Klinke, welcher ich mich aber entgegendrücke.

„Komm schon, lass mich doch rein.“

Ich drücke weiterhin dagegen.

„Lass doch.“

„Warum ist er eigentlich hier?“

„Keine Ahnung, wir hatten nicht gerade die Zeit ihn zu fragen.“

„Wo ist Kevin?“

„Weg.“

„Weg?“

„Ja.“

„Gott, ich bin zu müde für diesen Kinderscheiß, erzähl mir morgen, was es neues gibt.“
 

Die nächste Stunde ist es beängstigend still. Keine erneuten Schritte auf der Treppe, keinerlei Versuch zu mir durchzudringen, nur die Stille und Dunkelheit in dem abgeschiedenen Zimmer. Dunkelheit, die nicht einmal dem Anschalten des Lichtes weichen würde. Es ist fast so, als kann ich spüren, wie sie sich mehr und mehr um mein Herz schlingt, während ich mich selber hier gefangen halte. Ich will ihn doch noch anrufen, will mit ihm sprechen und jetzt verschanze ich mich, in der Hoffnung, dass alles einfach wieder so ist, wie noch vor zwei Tagen. Schönes Wunschdenken.

„Sakuya?“ Ein ziemliches sachtes Klopfen. „Hey? Du bist doch bestimmt nicht hierher gekommen, um vom Gästezimmer Besitz zu ergreifen, oder?“

Verschwinde!, würde ich am liebsten schreien. Hast du nichts anderes zu tun?

„Rede mit mir... Kevin wird heute bestimmt nicht wieder kommen.“

Was? Woher weißt du das so genau? Ist es ihm egal, dass ich hier bin, interessiert es ihn nicht?

Ich weiche von der Tür, setze mich aufs Bett. Es dauert bis ein erneuter Versuch, die Tür zu öffnen, stattfindet, aber bin ich unheimlich erleichtert darüber.

„Also, warum bist du hier?“

„Warum?“ Mein Hals schmerzt.

„Ja, ich meine, du tauchst mitten in der Nacht, ohne die kleinste Vorwarnung hier auf...“

„Ohne die kleinste Vorwarnung?“, unterbreche ich ihn. „Was wäre denn passiert? Hättet ihr mir weiterhin nur vorgespielt Freunde zu sein? Müsstest du weiterhin damit leben, dass ich neben ihn schlafe und nicht du? Sag bloß, dass macht dich wirklich glücklich? Wie fühlt es sich an, eine versteckte Beziehung zu führen?“

„Nicht gut“, kommt es prompt und sofort tut mir das Gesagte leid. Irgendwie projiziere ich gerade viel zu viel meines eigenen Lebens hier hinein.

„Warum er, warum jetzt? Nur weil ich... da fällt ihm also nichts Besseres ein, als auch schwul zu werden?“

„Ziemlich viel Selbstvertrauen, was? Aber glaub mir, in diesem Punkt ist er dir meilenweit voraus. Wenn du denkst, dass er dir nur nacheifern wollte, dann liegst du aber so was von falsch, mein Lieber!“

„Und warum hat er es mir dann nicht gesagt?“ Die verfluchten Tränen tauchen abermals auf, diesmal kann ich den Grund dafür aber nicht einmal spezifizieren.

„Da musst du ihn schon selber fragen.“ Er steht auf, dreht sich weg.

„Ich kann nicht mehr zurück.“
 

~ * ~
 

Ich träume ziemlichen Unsinn in meinem unruhigen Schlaf hinein, meine Augen sind feucht, als ich sprunghaft erwache. Zu meiner Schrecken nehme ich das Gästezimmer wahr, doch immer noch hoffend, dass dies alles nur ein Traum gewesen ist. Auf dem Nachttisch liegt ein Zettel:
 

Guten Morgen Sakuya,

sorry, aber wir mussten zur Schule.

Alle wissen schon bescheid, dass du da bist,

und auch warum... ich hoffe, es war in Ordnung,

dass ich es erzählt habe?!
 

Bis später,

Malcolm (und Kevin)
 

Als nächstes fällt mein Blick auf den Wecker: 13.24 Uhr.

Was soll ich denn jetzt tun? Einfach alles hinnehmen, mein Leben weiterleben, so als wäre nicht passiert? Kann ich denn eigentlich überhaupt irgendetwas tun oder bleibt mir wirklich nur die Möglichkeit, mich mit allem abzufinden?

Ich stehe auf, mein Kopf schmerzt vom vielen Weinen und mir wird plötzlich schlecht. Ob es daran liegt, dass ich die letzten zwei Tage kaum etwas gegessen habe, oder ob es andere Gründe sind, ist mir einfach nur egal.

Ich betrete den Flur, vermeide es durch Kevins Zimmer ins Bad zu gehen, benutze den Außengang.

Aber auch hier finde ich Unmengen an Hinweisen auf ihr Zusammensein: Verschiedene elektronische Zahnbürsten, zwei Haarbürsten, zwei Mal Rasierzeug. Sie rasieren sich schon? Bei mir ist das noch gar nicht nötig.

Ich bleibe vor dem Waschbecken stehen. Eine Weile rühre ich mich gar nicht, bis ich wie in Trance zum Wasserhahn greife, ihn aufdrehe. Ich lasse einen Schwall flüssiger Seife über meine Hände gleiten... schließe die Augen.

„Du musst das nicht tun, ich kann mich selber waschen.“

„Gib doch zu, dass es dir gefällt.“

„Ja das tut es...“

„Ich könnte das stundenlang machen.“

...

„Ich liebe dich, Sakuya Michael Ryan.“

„Nenn mich nicht so, dass hört sich doof an.“

„Nein, tut es nicht. Es ist der schönste Name von der ganzen Welt. Du bist das schönste auf der ganzen Welt. Ich liebe dich so sehr, Sakuya Michael Ryan.“

Ich will wieder zurück, genau dort hin! Ich kann das nicht, ich kann nicht hier sein, ich will nicht hier sein!

Ich sinke auf die Knie, drücke mich den kalten Fließen entgegen. Ein plötzliches Klopfen an der Tür lässt mich zusammenzucken.

„Bist du da drin, Sakuya?“, höre ich Kevins Mom rufen.

„Ja“ Ich wische mir die Tränen von den Wangen und stehe zitternd wieder auf.

„Deine Koffer sind gerade vom Flughafen angekommen. Ich stelle sie dir ins Zimmer, ok?“

„Ja... danke.“

Der kleine Schrecken lässt mich wieder klarer denken. Ich schlüpfe auf meinen Sachen, die ich mittlerweile nun auch schon zwei Tage lang anhabe, und steige in die Duschkabine.

Das kochendheiße Wasser lässt mich spüren, dass ich noch lebe, denn danach fühlen tue ich mich nicht.

Ich schluchze abermals in mich hinein, das Wasser gibt mir irgendwie eine Art von Sicherheit.
 

„Geht es dir besser, Schatz?“

„Nein“, gebe ich ehrlich zu, betrete die Küche.

„Kevin kommt bald wieder“, sagt sie mit tröstender Stimme. „Möchtest du was essen?“

„Nein, keinen Hunger.“

Ein kritischer Blick.

„Aber heute Abend wird etwas gegessen, versprochen?“

„Versprochen.“

Ich setze mich an den Küchentisch, lausche ihren Ausführungen von der neuen Krankenreglung, dass sie mit den Gedanken spielt einen Gemüsegarten anzulegen, und das ein oder andere kleine Problem einer arbeitenden Hausfrau und Mutter. Warum sie nicht auf mich zu sprechen kommt, ist mir natürlich klar. Das Gröbste weiß sie schon durch Malcolm und darüber hinaus würde sie niemals fragen.

„Deine Mom hat vorhin angerufen. Ich habe ihr gesagt, dass du solange bleiben kannst, wie du willst.“ Sie kniet sich vor mich. „Du weißt doch, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn du Hilfe brauchst?“

Ein kaum hörbares „Ja“ verlässt meine Lippen und im nächsten Augenblick schlinge ich meine Arme um den Körper vor mir.

Mom, warum hast du mir nicht geholfen? Warum hast du nichts getan, um mich zu unterstützen, warum hast du mich so im Stich gelassen?
 

Kurz darauf finde ich mich in Kevins Zimmer wieder. Geflüchtet, als Aaron nach Hause kam, um nicht noch einem weiteren bemitleidenden Blick gegenüber zu stehen.

Die Bilder an den Wänden haben sich ein wenig verändert. Es sind nun aktuellere dabei. Eines, wo ich am Tokyo Tower stehe und eines von unseren gemeinsamen Weihnachten. Was man geben würde, um im Gegenzug etwas dafür zu bekommen, ist meistens immer so schnell dahin gesagt... ich würde meine Seele an den Teufel verkaufen, nur um wieder bei ihm sein zu können.

Die wieder aufsteigende Traurigkeit, versuche ich mit dem Fernseher abzulenken. Ein wenig gelingt es.

Ich starre hinauf, nicht wirklich aufnehmend, was genau vor mir abläuft. Nicht wirklich begreifend, wie die Zeit dabei vergeht, denn als ich mich das nächste Mal wirklich im Raum umschaue, ist er abgesehen vom Fernseher ins Dunkel getaucht. 18.38 Uhr.

Ich schalte den Apparat aus, lasse mich zurückfallen. Nur Sekunden später, kaum Zeit irgendeinen Gedanken aufzunehmen, ein zaghaftes Klopfen.

„Hi. Mom meinte, ich solle dir was zu essen rauf bringen.“

Ich gehe Juliet entgegen, nehme ihr das Tablett ab.

„Alles ok?“

„Nein.“

„Es tut mir wirklich leid.“

„Mmhhh.“

„Mom hat dein Lieblingsessen gemacht, lass es dir schmecken.“

Sie verlässt den Raum und ich stelle das Tablett auf den Tisch. Mein Magen fängt bei dem Anblick sofort an zu knurren, trotzdem rühre ich nichts davon an. Ich setze mich auf die Couch, starre nur weiterhin auf das Essen. Mein Magen knurrt immer noch, ein weiterer Beweis, dass ich noch lebe. Irgendwie schon ein beruhigendes Gefühl.

Abermals vergehen einige Minuten, bis der eigentliche Herr dieses Zimmers eintritt. Alleine.

„Du solltest essen“, ist seine Begrüßung und würde ich mich gerade nicht so verdammt schwach fühlen, würde ich ihm gerne zeigen, wo er sich das Essen hin stecken kann.

„Ich meine es ernst, iss etwas.“ Er nimmt mir gegenüber Platz, schiebt das Tablett näher zu mir.

„Ist das deine einzige Sorge?“

„Im Moment schon, also iss.“

Warum ich ihm nachgebe, mir nachgebe...? Doch mehr als ein paar Bissen bekomme ich beim besten Willen nicht runter ehe sich ein Würgreflex einstellt. Ich schiebe das Tablett wieder ans andere Ende des Tisches.

Wir sitzen uns gegenüber wie nie zuvor in unserem Leben. Nie hatte ich das Gefühl, ihn doch eigentlich gar nicht zu kennen.

„Warum hast du es mir niemals gesagt?“, breche ich die Stille.

„Ist das deine einzige Sorge?“

„Im Moment schon, also?“

„Wann denkst du denn hätte ich es dir am besten erzählen sollen?“ Er beugt sich ein wenig vor. „Nachdem du nach zwei Jahren Abwesenheit einfach wieder aufgetaucht bist oder nachdem ich erfahren habe, dass du es ebenfalls bist?“

„Ja, warum nicht?“

„Gut... also: Hey, Sakuya. Du hast zwei Jahre nichts von dir hören lassen, freut mich, dass du wieder da bist... ach ja, und übrigens, ich ficke meinen Freund gerne in den Arsch! So etwa? Oder halt, vielleicht lieber so: Ach, du bist auch schwul... Göttchen, was für ein Zufall. Ist das nicht schön, so haben wir ja noch was gemeinsam. Und das erzähle ich dir natürlich, wo du dir nicht einmal sicher warst, ob du diesen Weg weiter bestreiten willst. Natürlich! Noch andere Vorschläge?“

„Na ja, das...“

„Du hast mir es nicht gerade leicht gemacht, dir irgendetwas mitzuteilen. Du hattest viel zu viel mit dir selber zu tun. Hast du mich eigentlich jemals gefragt, wie es mir geht? Überleg mal. Es warst immer nur du, der in dieser ganzen Zeit im Vordergrund war. Und hey, ich mach dir nicht einmal einen Vorwurf daraus, aber mach du mir dann bitte auch keinen, dass ich niemals den passenden Moment gesehen habe, es dir zu erzählen. Und jetzt weißt du es ja, oder?“

„Ja.“ Ich werde rot bei dem Gedanken.

„Und, da wir gerade so schön bei der Wahrheit sind... ich wusste es schon bevor du es mir gesagt hast“, fährt er in Japanisch fort.

Ich weiß nicht, ob ich darüber beeindruckt oder einfach nur schockiert sein soll.

„Was hast du denn erwartet? Ich bin ebenso mit der Sprache aufgewachsen wie du, habe nach deinem Weggang zwei weiterführende Japanischkurse besucht, denn mir war klar, dass ich dich irgendwann wieder sehen wollte, selbst, wenn ich dafür nach Japan gehen müsste. Als du es mir dann endlich persönlich sagtest... Ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnerst, aber ich konnte nichts weiter als für einen Moment nur beschämt darüber hinwegzulachen. Nicht weil du es mir gesagt hast, sondern weil ich es einfach nicht schaffte, es dir zu sagen. Ich, der doch eigentlich immer der Stärkere in solchen Sachen war.“

„Doch, ich kann mich erinnern.“

„Aber was soll’s, alles Vergangenheit. Jetzt weißt du es ja endlich.“

„Glaubst du, dass unsere ganze kindliche Schmuserei, dass in einem Bett schlafen, all diese Dinge uns vielleicht zu dem gemacht haben?“ Keine Ahnung, wie ich jetzt auf so eine idiotische Frage komme.

„Nein, ich denke, wir haben beide nur eine ganz besondere Person gefunden.“

Bei dem Gedanken fällt es nicht leicht, die Tränen zurückzuhalten und irgendwie bin ich auch sehr darüber verwundert, dass ich die letzten paar Minuten gar nicht daran denken musste.

„Ich kann nie wieder zurück.“

„Hör auf so einen Mist zu reden, natürlich kannst du.“

„Ja?“

„In knapp einem Jahr wirst du 18, dann kannst du tun, was du willst. Du darfst zwar noch nicht in Spielcasinos oder Alkohol trinken, aber du darfst vieles andere und... wenn ihr euch wirklich so sehr liebt, dann ist ein Jahr doch gar nichts, oder?“

„Ein Jahr?“ Ein wirklich kleine Zahl und zugleich eine undenkbar lange Zeit.

„Wie geht es ihm eigentlich jetzt?“

„Ich... weiß es nicht.“

„Was meinst du damit?“, schaut er verwundert auf.

„Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.“

„Warum nicht?“, wird seine Stimme lauter.

„Ich weiß nicht, ich habe es ja versucht aber... und dann, ich weiß nicht.“

„Muss ich dir etwa sagen, dass dies totaler Schwachsinn ist?“

„Nein.“

„Gut, dann rufen wir ihn jetzt an.“

Er steht auf und holt das Telefon.

„Telefonnummer?“

„Ähm... warte.“

Ich gehe hinüber ins Gästezimmer, krame mein Handy in den dreckigen Sachen hervor und gehe wieder zurück. Jetzt soll es also soweit sein, nun soll ich nur noch seine Stimme haben? Eine Akustikversion seiner Selbst, die mich um die halbe Welt erreicht. Ich reiche Kevin das Handy mit der aufgelisteten Nummer.

Mir wird das Telefon überreicht, ich lausche. Leise klingelt es auf der anderen Seite der Welt, viel leiser als es sonst der Fall war.

„Takahama“, kommt es schnell, in hektischer Stimme am gewählten Ende. Ich lege auf.

„Was tust du?“

„Ich kann das nicht.“ Zitternd lege ich das Telefon auf den Tisch.

„Natürlich kannst du!“

„Nein“, laufen mit Tränen übers Gesicht. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, stoße ich verzweifelt aus. „Ich weiß es einfach nicht!“

„Das ist in Ordnung.“ Er drückt mich feste an sich. „Glaub mir, das musst du auch gar nicht.“

Einige Minuten hält er mich fest, wartet, bis sich das Weinen wieder gelegt hat.

„Und jetzt rufst du ihn an“, hält er mir das Telefon hin, welches ich an mich nehme und die Wiederholungstaste drücke.

„Takahama“, ist es abermals er.

„Hal...“

„Sakuya, wo bist du? Dein Dad meinte nur, dass du nie wieder kommen würdest und hat mir meine Sachen vor die Füße geschmissen. Was ist denn passiert?“

„Ich bin in New Yo... nein, in Boston. Ich sollte eigentlich nach New York, aber da wollte ich nicht hin, also bin ich zu Kev... aber, ich will gar nicht hier sein, ich will nur bei dir sein, ich will hier weg, ich will zu dir...“

„Ich versteh das alles nicht“, ist nun auch seine Verzweiflung deutlich zu hören.

Mein Hals schnürt zu, das Gefühl, brechen zu müssen, legt sich hinauf...

„Ich ertrag das nicht... ich will zurück... ich sterbe, wenn ich nicht...“ Mir wird der Hörer entrissen.

Ich will protestieren, doch außer weinen und immer wieder kläglich aufzuschreien, bringe ich nichts zustande. Nach Kurzem legt Kevin auf, zieht mich zwischen Couch und Tisch hervor und legt mich in sein Bett.
 

Auch in der Nacht finden mich meine Tränen immer wieder und ich lasse ihnen freien Lauf. Ich weine seit Stunden, mehr tue ich nicht. Erst als ich eine Hand auf meinem Gesicht spüre, öffne ich entkräftet die Augen.

„Es tut mir leid Sakuya, ich hätte dich niemals alleine lassen dürfen.“

Ich schlucke, mein Körper bebt bei jedem Versuch den Tränenfluss zu stoppen. Mein Kopf schmerzt und das ganze Laken unter meinem Gesicht ist feucht. Ich schaffe es einfach nicht. Ich bin so müde, so erschöpft, ich will nur noch schlafen. Leise fängt Kevin an zu summen, ich kann nur dafür beten, dass es auch dieses Mal hilft.
 

Part 38 - Ende
 

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~ JFK International Airport

~ Schlüsselstein
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

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Part 39

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Kida (by Stiffy)
 

„Sag mal, Takahama, hast du eigentlich eine Freundin?“

Ganz unvermittelt ist es irgendwann bei der Arbeit, als ich gerade dabei bin, den Bambus zu zerkleinern, als Naoki mir diese Frage stellt... die erste persönliche in diesen knapp zwei Wochen, die ich jetzt hier arbeite.

Überrascht sehe ich ihn an und lasse Bambus Bambus sein... er hingegen rührt einfach weiterhin in seinem Topf herum.

„Nein...“, antworte ich zögernd und sehe ihn prüfend an.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, es nicht mehr weiter zu verbergen, aber dies ist meine Arbeit... wenn hier jemand nicht damit umgehen kann, habe ich ein Problem...

Aber was ist das auch für ein Quatsch? Nicht damit umgehen können?

Sollte es nicht normal sein?

„Wieso fragst du?“

„Nur so...“ Er dreht sich weg und holt weitere Zutaten herbei, wechselt ein paar Worte mit Imao, der die neusten zwei Bestellungen bringt... dann sieht er mich doch wieder an und zu meiner größten Verwunderung ziert ein Grinsen seine Züge. „Na, so hast du heute wenigstens keine Probleme, was?“ Er zwinkert mir zu, bevor er sich wieder seinem Topf widmet, ein paar Gemüsestücke hineinwirft. „Oder hast du viele Verehrerinnen, die du bedenken musst?“

„Wieso?“ Ich lasse schon wieder von meiner Tätigkeit ab, die mittlerweile zu Ingwer gewechselt hat. Ich verstehe seine Aussage beim besten Willen nicht.

„Na wegen White Day!“ Er deutet auf mein Schneidebrett, um mir deutlich zu machen, dass ich nicht aufhören soll. „Ich weiß immer noch nicht, was ich meiner Freundin heute Abend mitbringen soll... Ich weiß, ich bin ein schlechter Freund... aber das ist echt ne Qual, glaub mir!“

Erst jetzt geht mir endlich ein Licht auf, was er die ganze Zeit bezweckt hat.

„Ach so!“, lache ich auf und fühle mich von einer Sekunde auf die andere gar nicht mehr so verkrampft. „Stimmt, damit habe ich wirklich keine Probleme...“ Um ehrlich zu sein, hatte ich sogar ganz vergessen, dass es diesen Tag überhaupt gibt!
 

Es dauert noch ein paar Minuten, doch dann schaffen Naoki und ich es tatsächlich, unser Gespräch wirklich in Gang zu bekommen. Er erzählt davon, was seine Freundin ihm an Valentinstag geschenkt hat und gemeinsam überlegen wir nun, was sie denn dafür zurückbekommen könnte... Ohne wirklichen Erfolg, wie ich zugeben muss.

Am Ende ist es eine andere Frau, die den rettenden Tipp gibt, und zwar Arisu, die sich irgendwann für ein paar Minuten zu uns gesellt, da im Lokal selbst gerade nur zwei Tische besetzt sind.

Naoki ist erleichtert und überlegt dann auch schon weiter, wo er so schnell noch die passende Verpackung herbekommt... währenddessen sieht Arisu mich neugierig an.

„Und du?“, grinst sie. „Was schenkst du deiner Freundin?“

„Er ist single...“

„Echt?“ Arisu sieht mich verwundert an, dann beugt sie sich etwas vor, als mustere sie mich genauer. Ich spüre, wie ich rot werde.

„Nein, ich habe wirklich keine Freundin“, unterstütze ich Naokis Aussage nur, ohne ihr doch nicht ganz zuzustimmen. „Versuchst du mir den Grund grad im Gesicht anzusehen?“

Ein kurzes Lachen, dann tritt sie wieder einen Schritt zurück.

„Sorry, das sollte nicht so aufdringlich wirken. Ich hab mich nur gefragt, ob du was für mich wärst...“

„Und?“

„Nee, bist mir doch zu jung... und außerdem hab ich nen Freund...“ Sie zwinkert mir zu und will gerade zu einem weiteren Satz ansetzen, als uns eine strenge Stimme unterbricht.

„Jetzt ist aber gut mit Smalltalk! Arisu, ich glaube, wir haben neue Gäste... Geh Imao helfen!“

„Klar!“

Sie zwinkert Naoki und mir fröhlich zu und macht dann einen Abgang, bevor ich mich wieder meiner Arbeit widme und Naoki, der immer noch nicht sicher ist, wo er sein Geschenk am besten kauft.
 

Gegen Elf Uhr ist es, als ich mich auf den Weg nach Hause mache – diesmal zu meinem wirklichen Zuhause, was mich irgendwie ein bisschen enttäuscht... und andererseits erleichtert: noch ein halber Tag mehr, bevor ich dieser hochgelobten Großmutter unter die Augen treten muss. Irgendwie macht mich der Gedanke schon ziemlich nervös...

In der Bahn krame ich nach meinem Handy, stelle irgendwann fest, dass ich es wohl tatsächlich bei Sakuya vergessen habe. Mist, ich kenne seine Nummern immer noch nicht auswendig... und auf Festnetz sollte ich jetzt ohnehin nicht mehr anrufen.

Zuhause angekommen, ist nur noch meine Mutter auf den Beinen, fast wirkt es, als habe sie auf mich gewartet.

„Ah, da bist du ja!“, lächelt sie und steht vom Sofa auf. „Wie war die Arbeit?“

„Gut.“

„Möchtest du noch etwas essen?“

„Nein... ich hab schon bei der Arbeit gegessen...“

„In Ordnung... ich gehe dann auch ins Bett... Gute Nacht.“

„Gute Nacht!“

Bevor ich es ihr gleich tue, statte ich noch dem Bad einen Besuch ab, sowie der Küche, um mir etwas zu trinken zu holen. Noch schnell an meinem PC die eMails gecheckt – unter anderem ein kurzer Bericht von Akito, wie er die ersten Tage seines Jobs verlebt hat – lasse ich mich dann tatsächlich ziemlich bald ins Bett fallen.

Bis ich jedoch eingeschlafen bin, vergeht noch die ein oder andere Minute.

Wie der morgige Tag und das Kennlernen mit Sakuyas Oma wohl werden wird...
 

~ * ~
 

Tatsächlich beginnt der Tag damit, dass ich ein paar wichtige Einkäufe für die Uni erledige... Naja, was heißt schon wichtig... Man kann schon fast sagen, dass das eigentlich eher ein kleiner Vorwand meinerseits ist, um nicht zu früh, bei den Ryans aufzutauchen... Erstens käme es komisch, wenn ich schon jetzt dort antanze, und zweitens kann ich so das Zusammentreffen, vor dem ich komischerweise immer mehr Angst bekomme, etwas länger vor mir herschieben.

Er liebt seine Oma so sehr... ob er ihr die Wahrheit über uns sagen wird?

Irgendwie zweifle ich daran... und dann wieder muss ich daran denken, wie enttäuscht er immer wieder ist, dass sein Vater die Wahrheit nicht kennt. Ob er es also wirklich noch so einer wichtigen Person verschweigen würde?
 

Mit den Gedanken im Kopf betrete ich das Grundstück der Ryans. Auch wenn ich mich nervös fühle, kann ich dennoch nicht abstreiten, auch eine gewisse Neugierde zu verspüren, als ich die Türklingel betätige.

Es ist Mr. Ryan, der mir öffnet...

„Da bist du ja!“, klingt es keinesfalls so freundlich, wie man meinen könnte, sondern abfällig... missbilligend.

Er tritt nicht aus dem Weg, gibt mir keinen Platz um ins Haus zu gelangen... und dann auch keinen Platz für irgendwelche Spekulationen mehr:

„Verschwinde!“, zischt er und nicht nur die Worte lassen mich zurückstolpern, sondern auch ein Blick, der nur so vor Verachtung sprüht.

„Wie bitte?“, frage ich perplex, versuche ins Innere des Hauses zu blicken.

Was soll das denn jetzt?

„Du hast mich schon ganz richtig verstanden! Verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken!“

„Aber-“ Eine schnelle Bewegung unterbricht mich... dann halt ich eine Tüte in den Händen, die anderen zwei fallen zu Boden.

Was um alles in der Welt...?

„Was...?“, spreche ich erschrocken aus, versuche mit Mühe meinen Rucksack zu fangen, den ich fast an den Kopf bekomme.

„Du wirst meinen Sohn nie wieder hier vorfinden, also vergiss ihn! Und nun verpiss dich, Schwuchtel!“

Damit ist die Tür zu... und ich spüre nur noch, wie mir meine Beine nachgeben und ich auf irgendwas weichem zu knien komme.

Was um Himmels Willen?!

Vollkommen verwirrt sehe ich mich um, versuche irgendein Anzeichen von einer Art versteckten Kamera zu entdecken, doch da ist keins... da ist nur irgendeine Person aus der Nachbarschaft, die gerade vorbeikommt und mich stirnrunzelnd mustert.

Ich schließe die Augen, schlucke fest und wende meinen Blick wieder nach vorne... doch als ich meine Augen wieder öffne, ist alles immer noch so, wie es vor ein paar Sekunden war: Ich sitze vor dem Haus der Ryans inmitten drei Tüten mit... mit meinen Sachen, wie ich schnell erkenne.

Von einer plötzlichen Unruhe ergriffen, beginne ich zu kramen... finde mein Handy irgendwo in der zweiten Tüte.

Akku leer.

„Verdammt!“

Ich springe auf... und bleibe stehen.

Und jetzt?

Ich sehe zur verschlossenen Haustür, die nur knapp eineinhalb Meter von mir entfernt liegt.

Klingeln... das kann alles nur ein Traum sein... ich muss klingeln... gleich wird Sakuya herauskommen und mich fröhlich anlachen... mir sagen, dass es nur ein Scherz war, dass... dass er mir nur zum Spaß eine so riesengroße Angst einjagt!

Doch das passiert nicht. Die Tür bleibt verschlossen, egal wie oft ich auch auf den Knopf drücke... Schließlich höre ich nicht mal mehr das Klingeln selbst... abgeschaltet.

Das kann doch jetzt gerade alles nicht wirklich passieren!

Als ich mich wieder umdrehe, starre ich auf meine verstreuten Sachen... Allerhand Klamotten, eine noch volle Tüte und meinen Rucksack...

„Na vielen Dank!“, schreie ich und stolpere die Stufen wieder hinab, zurück auf die Knie.

Tränen stehen mir in den Augen, während ich versuche, meine Sachen wieder zurück in die nun leeren Tüten zu stopfen.

Ich darf jetzt nicht weinen, befehle ich mir wieder und wieder. Jetzt bloß nicht weinen, du weißt doch gar nicht, was los ist!

Aber irgendwie weiß ich es doch... ganz tief in mir drin habe ich eine kleine Idee, was das alles hier bedeutet... Doch selbst wenn ich falsch liege, eines ist klar: Es wird nichts mehr so sein wie zuvor.
 

Ich habe keine Ahnung, wie ich es schaffe, nach Hause zu kommen, bin ich doch viel zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt... Ich merke erst, wie ich aus meiner Trance erwache, als meine Mutter vor mir steht.

Seit wann bin ich überhaupt in meinem Zimmer?

„Kida? Was ist los?“, werde ich gefragt und sie sieht mich sorgenvoll an. Doch ich schüttele nur den Kopf.

Was soll ich denn auch sagen? Ich weiß es doch nicht... ich habe doch selbst keinen blassen Schimmer!

Ich sinke auf meinem Bett zusammen, nehme wahr, wie meine Mutter vor mir in die Knie geht und mir den Rucksack vom Rücken nimmt.

Lass mich allein...

Ich muss nachdenken...

Ich muss verstehen was hier los ist...

Ich muss wissen... wo du bist!

„Sakuya hat angerufen.“

„Was?“ Ich springe auf. „Wann?“

Ich will zum Telefon sprinten, doch hält sie mich am Arm fest.

„Vor knapp zwei Stunden“ Sie drückt mich zurück aufs Bett... und dann den Telefonhörer, den ich erst da in ihrer bemerke, in meine Hand. „Ich soll dir sagen, dass er sich meldet.“

Ich nicke, beginne als nächstes die Wahlwiederholung abzusuchen... Dein Nummer, ich brauche deine Nummer.

„Sie ist nicht hier...“, murmle ich, fische nach meinem Rucksack, der jetzt neben meinem Bett liegt, suche nach meinem Handy, das ich zuvor hineingestopft habe. „Wo bist du denn, du verdammtes Ding?!“

Fluchend suche ich weiter, bis ich es schließlich gefunden habe. Schnell stöpsle ich es ein...

Geh schon an!

Ich wähle die Nummer, die ich mit zittrigen Fingern hervorgesucht habe...

„Sie spreche mit der automa-“

„Verdammt!“ Ich feuere das Telefon aufs Bett. „Verdammt noch mal!“

„Kida!“ Ich sehe sie an, ohne sie wirklich zu sehen. „Hörst du mich?“, wird nach meiner Hand gegriffen und diese hinuntergedrückt. „Er ruft dich an, hat er gesagt!“

„Aber...“

„Warte nur ein bisschen. Er ruft ganz sicher an.“

„Ich... ja...“

Resignierend lasse ich meine Hände sinken. Mit einem Mal ist eine Energie von mir gewichen, so dass ich es nur noch schaffe, mich in die Kissen fallen zu lassen... und mit der Hand den Telefonhörer zu mir zu holen.

„Lass mich allein“, bitte ich und presse die Augenlider herunter, höre kurz darauf meine Zimmertüre sich schließen.

Es ist noch immer zu früh zum Weinen, Kida! Noch weißt du gar nichts!
 

In den nächsten Stunden klingelt das Telefon sage und schreibe fünf Mal... Fünf Mal, in denen mein Herz sofort aufgewühlt wird und kurz darauf wieder enttäuscht... fünf Mal, ohne dass Sakuya am anderen Ende ist.

Es ist niemand da, sage ich, und lege wieder auf.

Das Telefon muss frei sein... Du musst durchkommen, wenn du es versuchst, du musst mich erreichen!

Während der Zeit, in der es diese fünf Mal klingelt, kommt meine Mutter zwei Mal herein... ein Mal wegen dem Essen, das ich ablehne, und das zweite Mal, weil sie einfach nur sehen will, ob es was neues gibt.

Ich verneine und sie lässt mich wieder allein. Ein Glück.

Als das Telefon dann zum sechsten Mal klingelt, weckt es mich aus irgendeinem konfusen Traum.

Wann bin ich eingeschlafen?

Sofort reiße ich den Hörer an mich, melde mich... Doch wird die Verbindung auch ebenso schnell wieder getrennt und es tutet nur noch.

Sakuya! Das warst du, ganz sicher!

Ich starre den Hörer an, krampfe meine Finger darum.

Nicht auflegen, verdammt, sprich mit mir!

Wieder klingelt es... und dieses Mal gibst du einen Ton von dir, der dich eindeutig identifiziert.

Sofort sprudelt die wichtigste aller Fragen auf mir hervor: Wo bist du?

Boston...

Kevin...

Weg...

Moment... Amerika?

Ich höre kaum, was du sagst, selbst wenn sich jedes Wort in mich einfrisst.

Und immer wieder: Amerika!

Ich spüre, wie die Tränen nun endlich hinaus wollen, verkrampfe meine Hand an meiner Brust...

Ich auch! Ich will auch, dass du hier bist, hier bei mir! Du weinst so schrecklich... bitte hör doch auf... ich ertrage es nicht dich so zu hören wenn ich nicht bei dir bin... Hör doch auf, verdammt noch mal, hör auf... hör auf und komm zu mir zurück...

Amerika!

Oh bitte, lass das aufhören!

„Kida, ich bin’s!“, entfernt sich plötzlich das Weinen meines Freundes von mir. „Kevin.“

Sakuya, bleib hier!

„Hörst du mich, Kida?“

Ich presse ein „Ja“ hervor, während ich hinter ihn lausche, wo ich noch immer das Weinen vernehme.

Oh Gott...

„Gut... Hör mir kurz zu, okay?“, ist die jetzige Stimme am anderen Ende viel zu ruhig und wartet erst gar nicht auf meine Antwort. „Soviel ich weiß, hat Sakuyas Vater das mit euch herausbekommen und ihn ohne Vorwarnung in ein Flugzeug gesetzt...“

„Aber das... wie denn... das geht doch nicht...“

„Leider schon...“

„Aber.. wieso... ich meine...“

„Viel mehr weiß ich auch nicht... tut mir leid.“

Das kann doch nicht... Sakuya!

„Ich glaube, wir lassen das mit dem Telefonieren für heute und probieren es morgen noch mal.“

„Äh... Ja...“

„Das Ganze tut mir wirklich leid, Kida...“

„Mhm...“

>„Bis morgen.“

Warte! Ich will noch mal mit dir reden! Ich will dir noch etwas sagen! Ich-

Ich habe das Gefühl, in mir zusammenzufallen, als ich das Geräusch vernehme, welches mir zeigt, dass das Gespräch beendet ist.

Nein verdammt, das kann nicht wahr sein!

Ich starre auf das nun wieder stille Gerät in meiner Hand.

Das ist doch jetzt nicht wahr!

Was geht hier bloß vor?

Schlafe ich noch?

Ich habe doch nicht wirklich mit Kevin geredet... der kann doch gar kein Japanisch!

Und du in Amerika? Nein, das kann nicht sein, nicht Amerika...

In welchem Albtraum bin ich hier gefangen?
 

Erst etwas später, als meine Mutter ins Zimmer kommt, wird mir bewusst, dass ich tatsächlich wach bin.

„Kida... du...“ Sie sieht mich erschrocken an und verstummt, reicht mir dann ein Päckchen mit Taschentüchern.

Ich setze mich auf und lasse erst jetzt den Hörer aus meiner Hand entgleiten, führe ein Tuch an mein Gesicht... und muss plötzlich schluchzen.

Ich weine...

Das ist kein Traum...

Du bist wirklich... aber das...

„Er ist... fort...“, stammle ich und sehe meine Mutter an. „Weg, einfach so... das... das kann doch nicht... wieso... ich...“

„Kida...“

Sie sinkt in die Knie... und dann spüre ich ihre Hände auf meinen Schultern. Sie streichen weiter in mein Haar, über mein Gesicht... und plötzlich kann ich nicht anders, als zu ihr auf den Boden zu rutschen, meine Arme um sie zu schlingen und fürchterlich zu weinen.
 

„Was soll ich denn jetzt tun?“, frage ich etwas später noch immer mit belegter Stimme... aber wenigstens haben die Tränen fürs erste aufgehört.

„Ich... weiß es nicht...“

„Aber...“ Verzweifelt sehe ich sie an. Sie ist doch meine Mutter... sie ist doch erwachsen... sie muss doch irgendeine Möglichkeit kennen! „Das kann er doch nicht einfach machen... das ist doch Entführung... das ist doch...“ Schon wieder spüre ich Tränen, die mir in die Augen steigen.

„Ich weiß nicht wie genau das mit seinem Aufenthalt hier geklärt war... das...“

„Trotzdem! Sakuya hat hier gelebt! Das kann doch nicht so einfach sein!“

„Kida... bitte... beru-“

„Verdammt, nein!“ Ich springe auf, stehe mit geballten Fäusten vor ihr, die sie noch auf dem Boden sitzt. „Ich will mich nicht beruhigen! Verstehst du nicht? Sakuya ist weg... WEG! Einfach so, nur weil sein Vater das entschieden hat! Da muss man doch irgendwas machen können... Da muss man doch... irgendwas...“

Aussichtslos!, schreit es in meinem Kopf... Gar nichts zu machen!

„Scheiße! Scheiße, Scheiße, SCHEIßE!!!“

„Kida...“
 

Die nächsten Stunden verbringe ich damit, sinnlos in der Gegend herumzustarren und mich zu fragen, in was für einer verfluchten Zwischenwelt ist feststecke... denn immer wieder kommt nur dieser eine Gedanke: das kann alles nicht wahr sein!

Es kann doch nicht wirklich sein, dass du nun dort drüben bist.. unzählige Kilometer von mir entfernt auf der anderen Seite der Erde. Es kann doch nicht sein, dass es bei dir gerade Nacht ist, während bei mir die Sonne am Himmel steht...

Wir haben in den letzten Wochen fast alles zusammen gemacht, und nun sollen wir zeitlich und räumlich getrennt sein?

Das kann einfach nicht sein. Es will nicht in meinen Kopf. So schnell kann sich doch nicht alles ändern... so schnell, von einem Moment auf den anderen... von einer Sekunde zur nächsten.

Die letzten Monate können doch nicht einfach so vorbei sein!

Sie dürfen nicht vorbei sein!

Nicht so!

Was soll ich denn machen... ohne dich?

Ich kann das nicht, Sakuya, ich will das nicht!

Ich will, dass alles so wie gestern ist...

Ich will dich zurück...

Ich will kein Morgen, in dem du nicht bei mir bist!

Kann nicht alles wieder normal sein?
 

Lange, viel zu lange wälze ich mich in meinem Bett herum und kämpfe wieder und wieder dagegen an, erneut in Tränen auszubrechen... dann, wenn ich auf mein stummes Handy starre... dann, wenn ich merke, wie ich schon wieder mit dem Armband spiele... und dann, wenn ich glaube, dich in meinem Kissen zu riechen, obwohl es nur der Geruch ist, den ich mittlerweile selbst angenommen habe...

Wieder und wieder versage ich, verliere ich gegen die Tränen und durchnässe mein Bettzeug, dass ich dann wieder von mir trete, weil ich mich eingeengt fühle.

Und ich starre gegen die Decke, lange, viel zu lange... während ich aufgegeben habe und immer mehr Tränen meine Wangen hinablaufen, meine Augenwinkel höllisch anfangen zu brennen...

Irgendwann beginne ich, mich auf diesen Schmerz zu konzentrieren, mich zu fragen, ob sich das Salz meiner Tränen in meine Haut fressen kann. Alles, bloß nicht an das schmerzhafte Klopfen meines Herzens denken.

Zum ersten Mal wünsche ich mir, es würde stehen bleiben.
 

~ * ~
 

Als ich irgendwann, nachdem mich die Müdigkeit übermannt hat, wieder wach werde, habe ich für einen kurzen Moment das Gefühl, alles sei in Ordnung... doch dann öffne ich die Augen und sehe an weiße Wände... leere, farblose und kahle Wände.

Ich sei wohl nicht der Typ für so viel Krimskrams, hast du mal gesagt...

Ich stürze... innerlich.

Was mache ich hier?

Ich sollte nicht hier sein... nicht in diesem Zimmer, in diesem Bett.

Ich sollte doch bei dir sein!
 

Ich drehe mich ein Stück weiter herum, greife nach meinem Handy...

Vielleicht eine Nachricht von dir... deine Oma ist jetzt da und wieso ich denn nicht schon längst gekommen bin.

Natürlich, Fehlanzeige.

Stattdessen sehe ich die Ziffern der Uhr... und im nächsten Moment sitze ich auch schon senkrecht im Bett.

11:26 Uhr.

Ich springe auf, renne aus dem Zimmer und finde gesuchte Person in der Küche vor.

„Wo ist das Telefon?“, frage ich hektisch.

„Im Wohnzimmer.“

„Hat... hat Sakuya angerufen?“

„Nein.“

Nein... er hat nicht angerufen... und was wenn meine Mutter dann grad nicht da war?

Mit schnellen Schritten stehe ich im Wohnzimmer, nehme das Telefon an mich.

Unbeantwortete Anrufe: keine.

Das ist gut so, nicht wahr? Also hab ich dich wenigstens nicht verpasst... also wirst du noch anrufen.
 

Gut zwei Stunden lang sitze ich auf dem Sofa im Wohnzimmer und starre auf das Telefon. Zwischendurch blättere ich in ein paar Zeitschriften, verschmähe sie aber sofort wieder.

Ruf endlich an, ich will mit dir sprechen!

Um kurz nach Zwei halte ich die Warterei nicht mehr aus. Ich schalte den Computer an und suche mir eine Weltzeituhr heraus... Ich weiß, dass du einige Stunden zurückliegst... aber wie weit?

14 Stunden, wird mir schließlich angezeigt... Mehr als ein halber Tag.

Also ist es knapp 24 Uhr bei dir... das ist noch nicht zu spät, oder doch?

Verdammt, bitte, ruf mich an!

Ich will doch nur deine Stimme hören... ich vermisse sie so sehr!
 

Nach endlosen weiteren Stunden und einem kleinen, für mich extrem geschmacksneutralen Essen, habe ich das Gefühl, das für heute wirklich jedes Warten umsonst ist. Bei dir ist es jetzt Nachts, du wirst jetzt schlafen und nicht mehr anrufen...

Aber wieso?

Kevin hat es doch gesagt... dass wir morgen noch mal reden... also heute...

Wieso rufst du dann nicht an?

Wieso lässt du mich umsonst warten?

Wieso, Sakuya, sag es mir?
 

~ * ~
 

„Hey Kida, wie geht’s?“

Es ist Sai, der mich freundlich begrüßt, als ich nach langem Zögern das doubleX betrete.

„Willst du mir nicht was helfen?“, hat meine Mutter gefragt, „Du musst etwas tun, du kannst nicht einfach nur hier rum liegen...“

Aber genau das wollte ich. Stundenlang einfach nur weiterhin auf meinem Bett liegen, von ihr in Ruhe gelassen werden... und dich vermissen.

Letztendlich bin ich abgehauen, aber nur, weil ich sie nicht mehr ertragen habe, ihr Gefrage, ihre Sorgen... ich habe es einfach nicht ausgehalten, besonders nicht, als sie dann auch noch Lynn vorschickte.

Und dann... dann stand ich an der Bahnstation und habe auf die Tafel gestarrt... immer und immer wieder den Namen deiner Station wiederholt... der, die auch zu meiner wurde... unsere Station.

Ich kann nicht mehr dorthin zurück... zu dir.

Kommentarlos wende ich nun meinen Blick von Sai ab, der noch immer vor mir steht. Wenn er hier ist, ist Tatsuya auf jeden Fall auch da.

Dem ist wirklich so. In der hinteren Ecke entdecke ich ihn, zusammen mit viel zu vielen mir bekannten Gesichtern... und als er sich umdreht, drehe ich mich weg.

Nein! Nicht die alle! Das geht nicht... so kann ich nicht mit ihm reden. Es war keine gute Idee, hierher zu kommen.

„Kida? Warte doch mal!“

Verdammt nein, ich kann gar nicht mit ihm reden. Er wird genauso nerven wie meine Mutter... auch er wird Fragen stellen... er wird mich nicht einfach nur heulen lassen... wird gute Ratschläge geben wollen... auch er wird-

Eine Hand hält mich an der Tür auf... ich schlage sie weg.

„Stimmt was nicht?“

„Nein, alles okay!“, versuche ich mit Leibeskräften ein Grinsen zu Stande zu bekommen. „Deshalb geh ich jetzt auch wieder!“

Ich drehe mich zur Tür, will sie öffnen... doch schnell stellt er sich mir in den Weg. Hände packen mich.

„Was ist los?“

„Nichts“, spreche ich etwas lauter und versuche seinem Blick auszuweichen. Verdammte Tränen, wartet doch!

„Ki-“

„Nein, verdammt!“

Grob befreie ich mich aus dem Griff. Ich ertrage es nicht, lass mich in Ruhe! Ich stoße ihn zur Seite, schaffe es, nach draußen zu gelangen. Ich kann jetzt nicht reden!
 

Irgendwo in einem winzigen Park erst verlangsamen sich meine Schritte. Keuchend sinke ich zu Boden.

Scheiß auf die Hose!

Ich presse mir die Hände vor die Augen, schluchze... und versuche sofort, es zu unterdrücken, als meine brennende Kehle sich meldet.

Verdammt noch mal, was mache ich hier bloß?

Sakuya, wo bist du?

Wieso bist du jetzt nicht hier?

Wieso lässt du mich allein?

„Da bist du ja...“ Die Hand, die ich plötzlich auf meiner Schulter spüre, lässt mich aufspringen... doch ich stolpere, falle zurück auf den Boden.

„Nein, hab ich gesagt!“, schreie ich ihn an, als ich ihn erkenne. Er? „Lass mich in Ruhe!“

Mein Hals brennt noch immer, doch es ist mir egal.

Geh weg, ich will jetzt niemanden sehen! Ihn erst recht nicht!

Sakuya, verdammt, komm zu mir!

„Hey... Kida... beruhige dich doch...“

„Du hast doch gar keine Ahnung!“ Ich will nicht weinen, verdammt! Das ist so erbärmlich.

„Stimmt.“ Seine Schritte kommen näher und dann kniet er sich zu mir. Ich will aufspringen, doch er hält mich fest... lässt sofort wieder los, als ich mich gegen den Griff wehre. „Was ist denn passiert?“

„Er... er... ach, verdammt!“ Ich springe nun doch auf, balle meine Hände zu Fäusten. „Er ist weg, verdammt!“

„Wer er? Sakuya?“

„Ja!“ Sprich seinen Namen nicht aus, ich ertrag das nicht! „Ja, verdammt! Jetzt weißt du’s, also lass mich in Ruhe!“

„Warte Kida!“ Nun steht auch er wieder auf, will doch tatsächlich schon wieder nach meinem Arm greifen. „Stop, erklär mir das. Was meinst du damit, er ist weg?“

„Lass mich endlich in Ruhe!“

So schnell es geht setze ich mich wieder in Bewegung. Weg hier, einfach nur weg! Zurück nach Hause ist auch okay... aber einfach nur weg. Ich will das jetzt nicht erklären, nicht ihm!

Die Stufen zur Bahnstation stolpere ich fast herunter... und in der nächsten Ecke stoße ich mit jemandem zusammen.

„Entschul- Kida? Endlich!“ Sai? Oh Gott, nicht noch jemand! „Tatsuya hat mich losgeschickt, um dich zu suchen, er muss noch arbeiten... und Ryouta ist auch-“

„Ich weiß!“ Können die mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich brauch kein Suchkommando!

Ich versuche mich an ihm vorbeizudrängen.

Versteht denn keiner, dass ich jetzt nicht reden will?

„Kida, nun warte doch mal!“

Ich schüttle den Kopf, beschleunige meinen Blick.

„Ich werde nicht fragen, okay?“

Feste, sichere Worte... und irgendwie lassen sie mich plötzlich tatsächlich anhalten. Vielleicht aber auch, weil meine Beine wie wild zittern und mein Hals mir befiehlt, ihm endlich etwas Ruhe zu gönnen.

Ich sinke gegen die kalte Kachelwand und presse meine Stirn dagegen.

Genau, frag nicht, lass mich einfach nur... in Ruhe.

Die Schritte kommen näher, dann spüre ich eine Hand an meiner Schulter... nach meinem Zucken ist sie sofort wieder weg.

„Wollen wir... zurückgehen?“

Ich reagiere nicht auf seine Frage, presse meinen Kopf einfach weiter gegen die kalte Wand. Stille, bitte sei still.

„Nicht?... Zu dir nach Hause?“

Wieder gebe ich keine Antwort.

„Ich weiß was. Lass uns zu mir gehen... Chiga ist nicht da, sie-“ Er bricht ab und als ich ihn nun ansehe, schüttelt er den Kopf, weil er wohl gemerkt hat, dass es mich nicht interessieren wird. Dann lächelt er. „Na komm...“
 

Tatsächlich stellt Sai mir keine einzige Frage... und auch sonst redet er nicht. Nur kurz ruft er Ryouta und Tatsuya an, dann schweigt er wieder. Als wir die Bahn an einer recht ruhigen Gegend verlassen, sind so gut wie nur unsere Schritte zu hören...

Gott, tut das gut... ich könnte ewig so weiter laufen.

Ob ich dann irgendwann bei dir ankäme?

Unsere Schritte führen uns schließlich in ein großes Wohngebäude.

„Ziemlich edel...“, stelle ich im Fahrstuhl fest und wende dann meine Gedanken schon wieder davon ab.

„Da sind wir“, meint Sai, als er die Tür aufschließt und dann Licht anschaltet. „Willst du etwas trinken?“

Ich schüttle nur den Kopf.

„Da drüben ist das Wohnzimmer... ich komme gleich.“

Meine Füße tragen mich weiter... während mich diese viel zu schicke Wohnung zu erdrücken scheint.

Warum bin ich hier? Irgendwas läuft hier komisch. Ich sollte jetzt ganz woanders sein.

Sakuya...

„Ich sollte gehen...“, meine ich und bleibe mitten im Raum stehen.

„Quatsch“, ist Sai plötzlich schon wieder hinter mir. „Du bist vollkommen fertig... setz dich erst mal...“

„Ich...“

„Du willst nicht nach Hause, oder?“

Ich schüttle den Kopf.

„Na siehst du. Und hier hast du erst mal deine Ruhe... okay?“

Diesmal nicke ich tatsächlich. Ich bin todmüde...

„Willst du wirklich nichts?“

Ein Glas wird mir hingehalten... und ich nehme es an.

Wann habe ich bloß das letzte Mal was getrunken?
 

Ein unbekanntes Klingeln weckt mich. Verwirrt öffne ich die Augen, sehe mich um, sehe noch, wie Sai das Zimmer verlässt. Stimmt ja, ich bin bei ihm... und ich bin... eingeschlafen?

Gott, wie peinlich!

„Wo ist er?“, höre ich nun Tatsuyas Stimme im Flur.

Sofort drehe ich mich zurück zur Rückenlehne des Sofas. Im Gegensatz zu Sai wird er bestimmt Fragen stellen.

„Im Wohnzimmer...“

„Wie geht es ihm?“ Schritte kommen näher.

„Nicht besonders gut, aber er schläft jetzt...“

Die Schritte halten an. Rein aus Instinkt will ich mich schon fast umdrehen, sehen wo die beiden sind... doch ich lasse es sein, presse meine Augenlider herunter.

„Weißt du was passiert ist?“, flüstert Tatsuya nun und mein Herz krampft sich zusammen, noch mehr bei den folgenden Worten.

„Kida hat gesagt, dass Sakuya weg ist... das sagte zumindest Ryouta...“

„Sakuya ist weg?“

„Ja... Ich weiß auch nicht, was das bedeutet...“

Stille, einen Moment lang. Gut so, schön so... sprecht nicht weiter... vielleicht schlafe ich ja wieder ein... da muss ich zumindest nicht denken... nicht an dich denken.

„Willst du ein bisschen hier bleiben?“, unterbricht Sai meine Stille wieder. „Ich geh solange ins Nebenzimmer...“

„Ja... Wann kommt Chiga nach Hause?“

„In ungefähr einer Stunde...“

„Okay.“

Den Worten folgen Schritte... sich entfernende und näherkommende. Tatsuya scheint sich auf den Sessel zu setzen.

Kida, lass dir jetzt bloß nicht anmerken, dass du wach bist! Du kannst es jetzt nicht ertragen, mit ihm zu reden!

In dem Moment spüre ich eine Berührung, zucke zusammen. Mist! Jetzt weiß er es!

Doch es passiert nichts, außer dass die sanften Finger weiter über meinen Rücken fahren.

Es tut gut... und gleichzeitig ist es unerträglich.

Es fühlt sich so falsch an!

Ich drehe mich um. Er weiß, dass ich nicht mehr schlafe... und ich ertrage das nicht länger.

Unsere Blicke treffen sich, als er die Hand zurückzieht und lächelt. Ich spüre, wie sich eine Träne löst. Nur eine einzige, kann auch von der Müdigkeit kommen.

„Wie geht’s dir?“, fragt er mit sanfter Stimme.

Ich zucke nur mit den Schultern. Ich kann darauf nicht antworten... man kann einfach nicht in Worte fassen, wie schlecht es mir geht.

„Sakuya ist weg?“

Ich nicke zögernd, merke, wie sich in mir schon wieder Wut ansammelt.

„Wohin?“

Ich antworte nicht, trenne stattdessen unseren Blickkontakt und drehe mich wieder um. Sprich nicht darüber, bitte nicht!

Einige Minuten lang ist es still, dann vernehme ich ein Seufzen.

„Okay, ich verstehe.“ Geräusche, die klar machen, dass er aufgestanden ist. „Ich geh jetzt nach Hause... willst du mitkommen?“

Nein... eigentlich nicht... ich würde gerne hier liegen bleiben. Hier ist es so schön still und ruhig... und wenn du weg bist, fragt keiner mehr.

Ich nicke dennoch und setze mich auf.

Doch, es wird jemand fragen... Chiga. Und ich habe keine Lust, ihr zu begegnen.

„Okay... ich sag Sai bescheid...“ Damit verlässt er das Zimmer.

Seufzend erhebe auch ich mich und lasse meinen Blick herumschweifen. Er endet bei einer Uhr.

Kurz nach Mitternacht. Ob meine Mutter sich schon Sorgen macht?

Und was ist mit dir? Dein Tag hat gerade erst begonnen... Was tust du jetzt?

Gott, ich will zu dir!

„Kida?“

Ich drehe mich zurück zu der besorgten Stimme und wische mir dabei übers Gesicht.

Verdammt noch mal, schon wieder Tränen! Wo kommen die bloß alle her?
 

„Ich geh nach... Hause...“, sage ich zu Tatsuya, als wir in der Bahn sitzen.

„Wirklich? Willst du nicht mit zu mir kommen?“

Ich schüttle den Kopf. „Nein. Das... ich habe es ihm versprochen... ich meine... es-“

„Schon in Ordnung, du brauchst nichts zu erklären.“

Zögernd nicke ich und senke meinen Blick auf den Boden.

Ich fühle mich so einsam... so unglaublich einsam.

Die nächsten Minuten vergehen schweigend. Im gesamten Abteil ist es still, da wir die einzigen Fahrgäste hier sind.

Mit jeder Sekunde fühle ich mich unwohler, mehr dazu gedrängt, irgendwas zu sagen, und dabei gibt er mir eigentlich gar nicht das Gefühl, reden zu müssen.

Als meine Station kommt, stehen wir beide auf. Fragend sehe ich Tatsuya an.

„Ich bringe dich nach Hause...“

„Brauchst du nicht!“, entgegne ich sofort.

„Aber-“

„Nein“, schüttle ich etwas energischer den Kopf. „Es ist ja nur ein kleines Stück... und ich glaube es tut mir gut, wenn ich jetzt ein bisschen...“ ... alleine bin, schaffe ich beim besten Willen nicht, die letzten Worte zu sprechen.

Alleine... alleine...

Verdammt, ja, ich bin alleine!

„Meinst du wirklich?“

„Ja!“, unterstütze ich meine Aussage mit einem festen Blick und versuche alle Gedanken zu verdrängen.

„Na gut.“

Die Bahn beginnt zu bremsen.

„Wann... bist du in den nächsten Tagen zu Hause...?“, frage ich zögernd, nicht wissend, ob ich es wirklich wissen will. Aber vielleicht brauch ich es... um zu flüchten.

„Vor- bis Nachmittags auf jeden Fall, und arbeiten tu ich erst wieder am Wochenende...“

Ich nicke. Die Türen öffnen sich und ich trete hinaus. Einen Blick noch werfe ich zurück, während zögernd die nächsten Worte über meine Lippen kommen: „Er ist in Amerika.“
 

In dieser Nacht ertrage ich es zum ersten Mal nicht, als Lynn, die scheinbar durch mein spätes Nachhausekommen wach geworden ist, zu mir ins Bett krabbeln will. Ich versuche ein missglückendes Lächeln, als ich sie mit einem Kuss auf die Stirn in ihrem eigenen Bett zudecke und ihr sage, dass ich ein bisschen alleine sein muss.

Ich kann es nicht, jetzt jemanden bei mir ertragen, mich auf ihn konzentrieren.

Nur dich will ich jetzt bei mir haben, nur dich...
 

~ * ~
 

Der nächste Morgen beginnt früher als der letzte, aber genauso verunsichernd.

Kein Anruf, nichts, einfach gar kein Lebenszeichen von dir...

Stille, überall... Stille, die einfach nicht durchbrochen wird, weil das Telefon schweigt... lange, viel, viel, viel zu lange.

Warum?

Warum lässt du mich warten?
 

Nach endlosen, quälenden Stunden klingelt es gegen halb Eins dann tatsächlich... aber es ist nicht mein Telefon, sondern mein Handy... und dennoch rast mein Herz wie wild.

Ob du es diesmal da- Ich werde enttäuscht, als ich Kyos Nummer erkenne.

Oh Gott, nein, nicht auch das noch.

„Ja?“, melde ich mich dennoch, als das Klingeln auch nach sieben Mal nicht abbricht.

„Hey Kida, ein Glück, dass ich dich erreiche!“ Er klingt hektisch.

Ich lasse mich aufs Bett fallen, murre nur ein „Hm.“ in den Hörer.

„Ist Sakuya bei dir?“

„Nein.“

„Weißt du denn wo er ist? Ich war doch heute mit ihm verabredet... aber er ist nicht gekommen und auch bei ihm Zuhause ist keiner...“

„Amerika“, nuschle ich.

„Wie bitte?“

„Er ist in Amerika.“

„Was?“, kommt es nur überrascht, allerdings keinesfalls erschrocken. „Was macht er denn da? Und wieso hat er mir davon nichts erzählt?“

„Weil er es selbst nicht wusste...“ Meine Stimme lässt nach... verdammt, schon wieder.

„Hä?“

„Er...“ Ich räuspere mich, presse meine Hand vor den Mund. Beruhige dich, Kida... er ist Sakuyas bester Freund... er... Ich kann ein Schluchzen nicht unterdrücken.

„Kida? Ist irgendwas passiert?“

„Er... kommt nicht wieder...“, wispere ich in den Hörer. „Nie mehr.“

Ich kann sie einfach nicht unterdrücken, die Tränen. Jetzt fließen sie schon wieder...

„Ich verstehe nicht...“, klingt es nun vollends erschüttert am anderen Ende. „Wie meinst du das?“

„Weg... für immer...“, stottere ich, wische mir immer mehr Tränen weg, „Sein Vater... er hat ihn... er...“

„Das ist dein Ernst!?“

„Ja.“

„Aber er kann doch nicht einfach so weg sein!“

„Doch.“

„Aber... das... wie kann er denn so einfach...“

„Ich weiß es nicht.“

„Und wieso?“

„Wegen mir.“

Stille. Ich habe das Gefühl, mein Herz würde stehen bleiben... alles würde stehen bleiben.

Wegen mir?

Erst jetzt, in diesem Moment, habe ich das Gefühl, klar zu sehen... zu verstehen. Ich bin schuld, nur ich! Wegen mir musste er weg von hier... ich habe es ihm kaputt gemacht... ich bin schuld daran!

„Wie meinst du das?... Kida?“

Ich lege auf, schleudere mein Handy ins Kissen und werfe mich selbst hinterher.

Um Himmels Willen, ich habe alles einfach so... zerstört.
 

„Sag mal, spinnst du? Das ist doch vollkommener Quatsch!“, ist es Tatsuyas, der mir diese Worte einige Zeit später entgegenschleudert.

„Aber es stimmt doch... hätte ich mich nicht in ihn verliebt, dann-“

„Ach, halt den Mund! Und komm endlich rein!“

Ich werde am Arm gegriffen und ins Innere der Wohnung gezogen.

Eigentlich haben meine Schritte mich in eine andere Richtung geführt, als ich es in meinem Zimmer nicht mehr ausgehalten habe... Irgendwohin nämlich, wo niemand wohnt, den ich kenne, wo niemand ist, mit dem ich reden muss...

Letztendlich bin ich aber dann doch hier gelandet. Anders als gestern habe ich nun das Gefühl, reden zu müssen.

Wieso? Weil ich nun nicht mehr nur traurig, sondern auch noch wütend auf mich selbst bin?

Nun werde ich aufs Sofa hinuntergedrückt. Tatsuya setzt sich in den Sessel, sieht mich an.

„Also, jetzt mal ganz von vorne... was ist denn eigentlich passiert?“

So gut es geht, versuche ich tatsächlich, die Sache in Worte zu fassen... und ende dann mit meiner neusten Erkenntnis.

Tatsuya seufzt und reicht mir ein Taschentuch.

„Das ist wirklich Unsinn, Kida.“

Ich schüttle den Kopf, putze mir die Nase.

„Doch, natürlich ist es das! Sakuya ist doch nicht nur wegen dir schwul. Früher oder später hätte er das auch ohne dich gemerkt...“

„Aber vielleicht hätte sein Vater ihn dann nicht weggeschickt... oder er wäre schon erwachsen... oder-“

„Oder, oder, oder... das ist doch vollkommen egal.“ Er rutscht ein Stück vor. „Wer Sakuyas Freund ist, ändert doch nichts daran, dass Sakuyas Vater was gegen Schwule hat.“

„Schon, aber...“

„Nichts aber! Überleg doch mal, du bist der einzige Grund, warum Sakuya überhaupt noch hier ist... äh... war... sorry, ich meine, naja... Nur wegen dir ist ihm Japan so wichtig...“

„Woher...?“

„Ryouta.“ Er lächelt etwas gekniffen. „Verstehst du denn, was ich meine? Du bist der Letzte, der sich Vorwürfe machen muss!“

Ich nicke... auch wenn ich nicht ganz überzeugt bin, von dem, was er sagt.

„Und jetzt?“, flüstere ich. „Was soll ich jetzt tun?“

Dies ist eine Frage, die natürlich auch Tatsuya mir nicht ohne weiteres beantworten kann. Sein Blick wird entschuldigend und ich nicke resignierend, senke den Kopf.

„Ich ertrage das nicht...“

Wieso hat denn niemand einen guten Rat für mich?

Ich kann das Ganze doch nicht einfach akzeptieren...

Ich WILL es nicht akzeptieren!

Ich will, dass du wieder hier bist!
 

Es ist gegen 17 Uhr, als ich wieder Zuhause ankomme. Tatsuya musste zur Arbeit. Zwar hat er angeboten, abzusagen, doch dies Angebot konnte ich nicht annehmen. Eigentlich war das bisschen Gesellschaft, das ich bei ihm hatte, schon fast wieder zu viel für mich...

Es ist so merkwürdig... Ich schwenke zwischen Einsamkeit und dem Gefühl, bloß nicht allein sein zu wollen. Ich weiß noch nicht, wann es schlimmer ist, über dich nachzudenken... wann es schlimmer ist, dich zu vermissen. Denn aufhören kann ich keine Sekunde damit.

„Hat Sakuya angerufen?“, frage ich und betrete die Küche.

„Nein.“

Ich nicke. Natürlich nicht. Sie wollte mich ja auch gleich anrufen, wenn er es wirklich versuchen sollte...

Ich drehe mich um, will den Weg zurück in mein einsames Zimmer antreten.

Es fühlt sich so schrecklich falsch an.

„Aber Sanae hat angerufen.“

Ich bleibe stehen.

„Sie war ganz besorgt... willst du sie nicht eben zurückrufen?“

Einen Moment zögere ich, dann schüttle ich den Kopf.

„Morgen vielleicht“, sage ich und setze meinen Weg fort.

Mein Bedarf nach Gesprächen ist wirklich ausgereizt für heute... Es gibt nur eine einzige Person, mit der ich sprechen will...

Ich werfe mich aufs Bett und vergrabe mein Gesicht im Kissen.

Wieso hast du nicht angerufen? Wieso lässt du mich so lange warten? Ich will nicht mehr warten, verdammt, ich will nicht!

Ich krame mein Handy hervor, wähle deine Nummer aus... und schaffe es nicht, die Taste zu drücken.

Kann ich dich überhaupt anrufen... in Amerika? Erreich ich dich dort?

Aber ich will doch mit dir sprechen!

Als ich es tatsächlich schaffe, die Taste zu drücken, meldet sich nur Sekunden später diese elektronische Frauenstimme. Sofort lege ich wieder auf.

„Verflucht“, flüstere ich und krampfe meine Hand um das Handy.

Wieso habe ich keine Möglichkeit dich zu erreichen?

Ich will doch nur ganz kurz mit dir sprechen, nur ganz kurz deine Stimme hören...

Nur einen kurzen Moment lang mit dir zusammen sein...
 

~ * ~
 

Erst nehme ich das Klingeln, das mich aus einem komischen, unruhigen Schlaf reißt, gar nicht als solches wahr... dann, im nächsten Moment springe ich auf, stolpere dabei fast über meine eigenen Beine.

Telefon!

Ich stürze in den Flur, stoße fast mit meiner Mutter zusammen und reiße an ihrer Stelle den Hörer an mich.

Bitte Sakuya... bitte!

„Takahama?“, melde ich mich hektisch.

„Hi...“

Meine Beine geben mir schon bei diesem kurzen Wort fast nach. Ich stütze mich an der Wand ab, um nicht tatsächlich zu Boden zu gehen.

„Sakuya“, flüstere ich und alles verkrampft sich... und ich bin dennoch überglücklich.

Endlich.... endlich bist du da!

„Wie...?“, kommt es ganz leise, abgebrochen.

„Ich vermisse dich so sehr.“

„Ich....“ Ein Schluchzen am anderen Ende der Leitung. „Ich dich auch!“

Bitte nicht... nicht weinen... sonst fange ich auch wieder an.

„Es tut mir leid... ich... ich wollte schon früher, aber... ich... Gott Kida, ich ertrag das nicht!“

Ich sinke nun doch an der Wand zu Boden, weil meine Beine mir nicht länger gehorchen wollen.

„Sakuya, bitte... nicht weinen...“

„Du... weinst doch auch.“

„Ja... aber...“

Ich breche ab und schweige, schluchze und schweige wieder. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es scheint wie eine Ewigkeit, seit ich dich das letzte Mal diese wunderschöne Stimme gehört habe.

Aber sie klingt so fern... so endlos weit weg.

Mit jeder Minute, die vergeht, presse ich den Hörer näher an mein Ohr. Ich höre den schweren, stockenden Atem am anderen Ende, will reden, will etwas sagen, um ihn zu beruhigen, doch hält mein eigenes Weinen mich davon ab.

Innerlich bete ich nur, dass nicht schon wieder Kevin dieses Gespräch unterbricht.

„Was... machen wir denn jetzt...?“, frage ich irgendwann, wahrscheinlich nach einer Ewigkeit.

„Ich... ich weiß es nicht. Ich will zurück zu dir.“

Ich presse meine Lippen zusammen, schaffe nur ein festes Nicken. Ja, komm zurück zu mir!

„Ich liebe dich, Kida...“

„Ich dich auch! Verdammt...“

Erneut halten die Tränen mich vom Weitersprechen ab...

Kann mir denn nicht irgendjemand helfen?
 

Part 39 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 40

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Sakuya (by littleblaze)
 

Der Mittwoch wird schlimmer, als der Dienstag und der Donnerstag schlimmer als der Mittwoch.

Bereits am Freitag hat mich jegliche Kraft verlassen, selbst die zum Weinen. Ich schaffe es manchmal nicht mehr, auch nur eine einzige Träne zu vergießen, obwohl mir weiß Gott danach zumute ist.

Noch viel schlimmer als die Situation selbst, sind wohl die immer wiederkehrenden Fragen: „Wie geht’s dir?“ oder „Brauchst du etwas?“, denn gerade diese lassen mich immer wieder zurückfallen, sobald ich auch nur eine Sekunde der Ruhe gefunden habe.

Alle behandeln mich wie ein zartes Püppchen, das jeden Moment zerbrechen könnte. Die Realität: Genau so ist es und sie wissen dies. Ich weiß, dass sie mir alle nur helfen wollen, aber was können sie schon tun?

Normalität.

Genau das möchte ich im Moment.
 

Ich stehe unschlüssig in der Mitte des Zimmers.

Was würde ich jetzt eigentlich tun, wenn ich noch in Japan wäre?

Meine Augen suchen nach der Uhrzeit.

Wahrscheinlich einfach nur rumgammeln, durch die Stadt tigern oder in Kidas Armen im Bett liegen.

Was soll ich jetzt tun?

Hier?

Alleine?

Fünf Tage bin ich nun bereits wieder in Boston, fünf Tage, in denen ich mich nur in diesem Haus aufgehalten und rumgeheult habe.

Drei Mal habe ich schon mit Kida telefoniert.

Wir redeten über die Angst, uns niemals wiederzusehen. Sagten uns wie sehr wir uns liebten, wie sehr wir uns vermissten, dass wir uns nicht unterkriegen lassen wollten. Redeten von Hoffnungen, dass wir einen Weg finden würden, dass wir wieder zusammen kommen würden. Wir durften nur nicht aufgeben.

Doch wann und wie sollte das passieren?

Ich will nicht warten, ich will ihn jetzt wiedersehen, ich will jetzt bei ihm sein.

Das Miteinandersprechen tut weh, ziemlich weh sogar. Jedes Mal möchte ich am liebsten wieder auflegen, weil ich es nicht ertragen kann, seine Stimme zu hören... ich fühle mich so verdammt schwach.
 

Mit Kyo habe ich mittlerweile Kontakt aufgenommen.

Hier verspüre ich allerdings nicht den Wunsch zu weinen, was ich persönlich ziemlich erschreckend finde. Vielleicht sind aber auch einfach keine Tränen mehr geblieben, die ich vergießen könnte.

Ich bat ihn, mir von ein paar Freunden und von Ryouta die Email-Adressen zu besorgen. Mit ihnen will ich auch Kontakt haben, nicht denselben Fehler zwei Mal begehen.
 

~ * ~
 

Das Wochenende verläuft nicht viel anders als die Tage zuvor. Ich liege meistens im Bett, schluchze vor mich hin oder starre mit abwesendem Blick auf den Fernseher.

Die Stimmung um mich herum hat sich mittlerweile meiner eigenen angepasst. Wie ein verdorbener Geruch scheint sie durch jede Türritze zu kriechen, alle anzustecken.
 

Am Samstag kommen einige Kisten per UPS aus Japan an, mein Erzeuger weiß also schon, wo ich zu finden bin. Die Kisten werden ins Gästezimmer, mein neues Zuhause getragen.

Ich stehe in meinem Reich, schaue die Kisten nur an. Ich will sie nicht öffnen, ich will nicht einmal, dass sie hier sind. Aber nach einer kurzen Diskussion mit Juliet, macht sie sich schließlich daran zu schaffen. Mit einigem Werkzeug öffnet sie gekonnt die erste Kiste, entfernt die kleinen Nägel feinsäuberlich.

„Wir müssen wenigstens deine Anziehsachen befreien“, erklärt sie mir genervt von einem widerspenstigen Nagel.

Juliet zieht Wäschestück für Wäschestück heraus und verteilt sie nach Farbe und Stoff auf verschiedene kleine Haufen auf dem Fußboden. Ich schaue ihr nur still dabei zu, sitze in der hintersten Ecke des Bettes.

Mir stockt der Atem, ich habe das Gefühl, dass mein Herz aufhört zu schlagen. Blitzschnell bewege ich mich vorwärts, reiße ihr das Shirt, welches sie gerade auf einen der Haufen werfen will, aus den Händen. Verwundert werde ich angeschaut, als ich wieder in meine Ecke zurück krieche.

Ich winkle meine Beine an, lege das Wäschestück auf meine Oberschenkel, streichle es glatt, streichle einfach immer und immer wieder über den blauen Stoff. Ich habe tatsächlich den Eindruck seinen Brustkorb durch den Stoff spüren zu können, ja sogar sein Herz, das leicht dagegen schlägt.

Die Erinnerung lässt mich wieder laut aufschluchzen... ich kann nicht mehr... ich halt das alles nicht mehr aus.

Ich werde von Juliet tröstend in die Arme genommen. Ihre Worte verstehe ich nicht. Ich presse mein Gesicht fest gegen Kidas Shirt... sein Geruch haftet unter vielen anderen immer noch daran. Die Erkenntnis, ihn nur noch durch ein einfaches Wäschestück richtig wahrnehmen zu können, macht mich fertig, treibt mich in die vollkommene Verzweiflung.
 

Irgendwann kann ich nicht mehr weinen, Juliet ist immer noch bei mir.

Kurz öffne ich meine Augen, sie brennen.

Schnell schließe ich sie wieder, nicht des Schmerzes halber, sondern aus Scham.

Ich weiß, dass sie alle mit mir fühlen, trotzdem schäme ich mich für mein Verhalten. Ich drücke meinen Kopf fester gegen ihre Brust, als mir auf einmal bewusst wird, dass es wirklich ihre Brust ist, gegen die ich mich presse. Erschrocken fahre ich zurück.

„Es ist okay. Wein ruhig... schreie... schlag irgendwas kaputt. Mach was immer nötig ist, damit es dir wieder besser geht.“

Ihre Worte lassen mich erneut aufschluchzen. Nicht nur, weil sie mir gesagt hat, dass es ok ist, sondern weil mir wieder einmal bewusst wird, dass mir überhaupt nichts einfällt, was es wirklich besser machen könnte.
 

~ * ~
 

Was ich auch tue, oder besser gesagt nicht tue... habe ich das Gefühl, es alleine zu tun.

Ich könnte nicht einmal sagen, wann ich Kevin zuletzt gesehen habe, ach halt... gestern Abend, nicht wahr? Er stand in der Küche und machte sich etwas zu essen. Ich wollte zu ihm hin gehen, reden oder einfach nur bei ihm stehen, aber plötzlich trat Malcolm an ihn heran und presste sich gegen seinen Rücken. Sie küssten sich.

Ich drehte mich weg und als ich sie kommen hörte, versteckte ich mich.

Es ist nicht das Ding, dass sie schwul sind, was mich abschreckt. Es macht mich nur einfach krank, sie so glücklich zusammen zu sehen. Warum dürfen sie es sein und ich nicht?
 

Im Allgemeinen sehe ich die Beiden ziemlich wenig. Sie gehen zur Schule, Baseball spielen, haben Verabredungen mit Freunden und sind danach die meiste Zeit in Kevins Zimmer.

Natürlich werde ich immer gefragt, ob ich nicht dies oder das mit ihnen machen will, aber jedes Mal lehne ich ab.

Ich kann sie einfach nicht zusammen ertragen.

Nur wenn Kevin alleine ist, gehe ich zu ihm ins Zimmer, schaue mit ihm fern oder lasse mich zu einem Playstationspiel überreden.

Es fühlt sich an, als würde ich nur auf etwas warten. Warten, dass es vorbei ist, warten, dass man mir sagt, man habe einen Fehler gemacht, mir sagt, dass ich wieder zurück kann.
 

~ * ~
 

Meine Mom ruft täglich an. Ich denke, dass ihr die ganze Sache schrecklich leid tut und sie sich ziemlich mies fühlt, aber das ist im Moment nicht mein Problem, ich habe genügend eigene.

Am Anfang wollte ich nicht mit ihr sprechen, doch mittlerweile horche ich ihren Erzählungen über die neusten Entwicklungen, dass wir in zwei Monaten wieder in unser altes Haus können.

Ich sage ihr, dass ich nicht zurückkommen werde, und sie meint, dass ich erst mal zur Ruhe kommen soll, dann wird sich schon alles finden.

Mich werden jedenfalls keine zehn Pferde in dieses Haus bekommen... nicht mit ihm!

Er würde übrigens nächsten Monat nach New York kommen. Sie wollen auch bis zum Einzug ins Haus erst einmal dort bleiben. Ob ich nicht doch auch wieder kommen wolle, immerhin seien wir doch eine Familie.

Nein, dass will ich nicht.

Eine weitere Neuigkeit ist meine schulische Anmeldung. Ich muss wieder hin, meinte meine Mom.

Zur Schule? Ich habe doch gerade erst meinen Abschluss gemacht?

Aber hier bin ich nun einmal noch schulpflichtig, und immerhin muss ich doch einen richtigen Abschluss haben, wenn ich später zur Uni gehen will, sprach sie auf mich ein.

Wer sagt denn, dass ich das überhaupt will?

Eine amerikanische Uni besuchen? Ich habe nicht einmal vor, in einem Jahr noch hier zu sein... aber das sprach ich erst einmal nicht laut aus.
 

~ * ~
 

Sonntagnachmittag setze ich mich an den Schreibtisch, versuche zum bestimmt zehnten Mal, einen Brief anzufangen, aber jedes Mal verliere ich die Kontrolle über mich. Ich weine, zittere und bin einfach nicht in der Lage, auch nur eine Zeile zu schreiben. Ich will ganz einfach etwas zu tun haben, wenn wir nicht telefonieren können, wenn ich alleine bin... ich will ihm etwas sagen... Es kann doch nicht so schwer sein, einen Brief zu schreiben.

Ich soll mir Zeit lassen, hat Kevin gemeint, woraufhin ich ihn angeschrieen habe, dass er nicht verstehen würde, wie ich mich fühle, und dass er mich doch in Ruhe lassen solle. Ich meinte es gar nicht so, trotzdem verletzte ich ihn mit meinen Worten, ich sah es ihm an. Das Schlimme daran war, ich hatte keine Kraft, mich bei ihm zu entschuldigen.
 

Ich falte den eben geschriebenen Brief und stecke ihn in einen Umschlag auf den ich zuvor schon die Adresse geschrieben habe. Ich gehe aus dem Zimmer, in dem ich mich eigentlich immer aufhalte.

Kurz bleibe ich stehen.

Am liebsten würde ich jetzt anklopfen und fragen, ob er mich begleitet. Irgendwie habe ich ein komisches Gefühl, hinauszugehen, als hätte ich noch nie das Sonnenlicht gesehen.

Mit gesenktem Kopf schleiche ich schon beinahe die Treppen hinunter, lasse meine Füße leicht in die Schuhe rutschen, gehe hinaus. Ich gehe um den neu gestrichenen Zaun herum, weiter die mit Kopfsteinen gepflasterte Strasse entlang.

Die Sonne steht hoch am Himmel, langsam wird es wärmer.

Ich nehme das Treiben auf dem Beacon Hill wahr, grüße bekannte Gesichter von älteren Menschen, die hier schon immer wohnten, ehe Kinder, wie sie fröhlich im Garten spielen, Bällen hinterher rennen.

Nach 316 Schritten bleibe ich stehen.

Ich lege meine Hand leicht auf den kleinen Deckel, der oberhalb der Öffnung des Briefkastens ist, hebe ihn an. Kurz zittert meine Hand, bevor ich den Umschlag loslasse, höre wie er mit einem dumpfen Geräusch aufschlägt.

Eine Lüge.

Aber was soll ich denn sonst machen?

Ihm schreiben, dass es mich auffrisst, alleine zu sein, dass ich verzweifelter bin als jemals zuvor? Dass ich mir am liebsten das Herz rausreißen würde, weil es so sehr schmerzt?

Das konnte ich nicht schreiben…

Es klingt alles irgendwie lahm und drückt nicht im entferntesten aus, was er für mich ist...

Eigentlich wollte ich damit anfangen, zu sagen, wie sehr ich ihn liebe und ihn vermisse. Aber dann habe ich mich doch dagegen entschieden, aus Angst wieder anfangen zu müssen zu weinen und es dann wieder nicht zu schaffen diesen Brief zu ende zu schreiben.

Ich liebe dich so sehr.

Ich kann es gar nicht in Worte fassen, geschweige denn auf diesem Blatt Papier darlegen.

Ich will zurück zu dir.

Ich brauche dich, ich kann einfach nicht ohne dich weiterleben.

Ich will deine Arme um meinen Körper spüren, deine Lippen auf meinen fühlen und jeden morgen neben dir aufwachen.

Ich bin einsamer als jemals zuvor.

Nicht nur Kida habe ich verloren, auch zu Kevin scheine ich irgendwie im Moment keine Verbindung zu finden. Ich mache es ihm auch nicht leicht, dass weiß ich. Ich schreie ihn an, rede nicht mit ihm, ignoriere ihn... doch... warum gibt er sich nicht einfach mehr Mühe, mich zu verstehen?

„Sakuya... hey...“

Erschrocken blicke ich auf, stoße mich von Briefkasten ab, auf den ich mich ohne zu merken gelehnt habe.

„Mom sagt, das Essen ist fertig. Kommst du?“

Ich nicke Aaron zu.

„Sag mal Sakuya... bist du bald damit fertig?“

„Mit was?“, frage ich mit einem kleinen verwirrten Unterton.

„Ach, vergiss es.“ Aarons Stimme hört sich enttäuscht an, dann rennt er einfach zurück ins Haus, ohne dass ich noch irgendetwas sagen kann. Was meinte er?

Noch einmal tief durchatmend gehe ich zurück ins Haus. Gerade die Tür schließend, fährt Kevin die Auffahrt hoch. Ich stocke, öffne die Tür wieder.

Er war also gar nicht da.

Ich lehne mich gegen den Türrahmen, warte auf ihn.

Ich versuche es mit einem Lächeln, verwundert werde ich daraufhin angeschaut.

„Ist was?“, fragt er nach.

„Nein.“

„Oh... na dann, lass uns reingehen.“

Er gibt der Tür einen kleinen Stoß und schiebt mich hinein.
 

In dieser Nacht schlafe ich bei ihm. Einfach zu ihm ins Bett geschlichen, habe ich mich, ohne zu fragen. Ohne ein Wort nimmt er dies hin, gestattet mir einfach bei ihm zu sein. Ich bin froh darüber, dass Malcolm nicht da ist, denn nur so ist Kevin wirklich für mich da. Und ehrlich gesagt, brauche ich jetzt jemanden, der für mich da ist.
 

Part 40 - Ende
 

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Part 41

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Kida (by Stiffy)
 

„Hi Takahama, wie geht’s?“

Nur kurz mustere ich ihn eines Blickes, trete dann ohne ein Wort an ihm vorbei.

„Hey?“ Ich werde etwas unsanft an der Schulter berührt. „Ignorierst du mich?“

Ich versuche, nicht auf diese Frage zu reagieren, öffne stattdessen die Tür und trete hindurch.

„Hey, warte doch mal!“

Schnell schließe ich sie wieder von innen.

Dort bleibe ich einen Moment stehen, atme noch einmal tief durch... Mein Blick wandert ein Stück die Treppe hinauf, zu den Büroräumen. Das Licht ist aus... niemand ist da. Ich habe das Bedürfnis, mich dort zu verkriechen...

„Ach, da bist du ja!“, werde ich dann begrüßt, als ich doch den anderen Weg wähle, durch die nächste Tür trete, zu meinem Arbeitsbereich.

„Entschuldigen Sie“, wende ich mich meinem Chef zu. „Ich hab meine Bahn verpasst.“

„Naja, sind ja nur fünf Minuten... kein Problem!“ Er klopft mir auf die Schulter. „Nun aber los, Naoki hat schon nach Ihnen gefragt!“

Ich nicke, gehe mich schnell umziehen und finde mich dann neben Naoki wieder.

„Hi!“, grinst dieser, doch ich schaffe nicht, es zu erwidern, nicke nur und frage dann, was ich tun soll. Ein merkwürdiger Blick wird mir zugeworfen, bevor er mit die Antwort gibt.

Gerade als ich angefangen habe, kommt Imao von draußen herein. Er mustert mich unfreundlich, verschwindet dann durch die Schwingtür zum Lokal.

„Hey! Hast du deine Zunge verschluckt?“

„Was?“ Erschrocken fahre ich herum.

„Ich hab gefragt, wie dein Samstag so war... immerhin musstest du ja gestern nicht arbeiten...“

„Ich...“ Ich schlucke, zucke mit den Schultern, senke meinen Blick und fahre in meiner Tätigkeit fort, die ich noch gar nicht richtig begonnen habe.

Es geht nicht. Ich kann das nicht!

Ich habe das Gefühl, zusammenzubrechen, wenn auch nur ein persönliches Wort über meiner Lippen kommt...

Ich halte das nicht aus! Also frag bloß nicht weiter. Bitte!

Ich spüre, wie Naoki mich noch einen Moment beobachtet, dann aber tatsächlich nicht weiter fragt, in seiner Arbeit fortfährt. Ich bin erleichtert darüber und schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter.

Arbeit Kida, jetzt nur daran denken... nur daran.
 

~ * ~
 

Wie erträgt man es, wenn einem mit einem Mal, alles, was einem wichtig war, unter den Füßen weggezogen wird?

Wie hält man den Sturz aus?

Wie überlebt man die Landung?

Wie macht man danach weiter... ohne das, was einem über alles wichtig war?

Wie geht man zum Alltag zurück?
 

Natürlich, es ist noch nicht mal eine Woche vergangen, natürlich kann es nicht so leicht sein, zurück zum Alltag zu gehen... Aber... wie soll das jemals gehen?

Alltag... mein Alltag war mit ihm, wie soll ich also ohne ihn, zum „Alltag“ zurückkehren?

Außerdem will ich das nicht!

Ich will nicht mal darüber nachdenken, dass es einen Alltag ohne ihn geben wird... dass ich nach der Arbeit nicht zu ihm gehen kann, in seinen Armen versinken und ihm erzählen, was für Zeug ich diesmal auseinandernehmen musste...

Ich will das nicht!

Ich kann das nicht!

Und umso länger ich darüber nachdenke, desto mehr zerreist es mich.
 

~ * ~
 

Wie genau ich diesen Arbeitstag überstehe, ohne in Tränen auszubrechen, obwohl ich die gesamte Zeit nur an eine einzige Sache denken muss? Ich weiß es nicht... Ich habe keine Ahnung. Zwang vielleicht, das Gefühl, mich hier nicht so gehen lassen zu können... hiervon abhängig zu sein, meinen Chef nicht verärgern zu dürfen...

Dabei ist mir das alles gerade so scheißegal!
 

Als ich nach getaner Arbeit erleichtert wieder hinaus an die frische Luft trete, begegne ich auch diesmal jemandem auf dem winzigen Hinterhof. Wenigstens ist es nicht schon wieder Imao...

„Na du!“, werde ich angegrinst... und der Typ mit der Zigarette zwischen den Fingern hebt die Hand. „Könntest du Joji was von mir ausrichten? Er ist doch noch da, oder?“

Ich bleibe stehen, sehe an diesem Typen vorbei und will eigentlich nur noch verschwinden...

War Imao noch da? Ich habe keine Ahnung... und es interessiert mich auch nicht. Trotzdem nicke ich zögernd...

„Oh Mann, der verquatscht sich echt jedes Mal, obwohl er frei hat...“

Ich spüre einen fragenden Blick auf mir, fühle mich erdrückt.

Lass mich in Ruhe!

Ich setze mich in Bewegung.

„Warte doch mal! Bitte sag ihm nur schnell, dass wir auf ihn warten, okay? Ran und Sakura.“

Wie angewurzelt bleibe ich stehen, starre diesen Typen an, der mich angrinst.

Sakura.

Sakura.... nicht Sakuya...

Mein Herz beginnt zu schmerzlichen rasen, als ich meinen Weg nun fortsetze, als ich das Rufen ignoriere und mit schnellen Schritten weiter gehe.

Ich schaff das nicht, Sakuya, ich kann nicht mehr!
 

~ * ~
 

Egal wo ich hinsehe, finde ich Erinnerungen.

Ich kann noch nicht mal in den Spiegel sehen, ohne dabei dich zu sehen. Entweder ich sehe dann irgendetwas vor mir, irgendeinen Moment, in dem wir zusammen in deinem Bad standen... oder ich sehe den kleinen, glitzernden Stecker an meinem Ohr... denke daran, wie glücklich ich war, als du ihn mir gabst, wie unglaublich schön es mit dir damals war...

Damals... es ist so ein ewiges Wort... und dabei habe ich das Gefühl, dich erst gestern zum letzten Mal gesehen zu haben... oder vor einer Ewigkeit.

Ich weiß es nicht, ich weiß gar nichts mehr...

Ich schleiche zurück in mein Zimmer, lasse mich aufs Bett fallen und ziehe die Decke zu mir hinauf.

Mir ist so kalt ohne dich, Sakuya... Ich friere so wahnsinnig.

Ich küsse das silbrige Armband an meinem Handgelenk, presse meine Stirn dagegen.

Es ist unbegreiflich für mich, dass du so weit weg bist... dass du wahrscheinlich gerade erst aufstehst, während ich gleich damit kämpfen werde, endlich einzuschlafen.

Wann reden wir wieder? Morgen früh? Das ist noch so lange hin...

Viel zu lang...
 

~ * ~
 

„Hallo~o!“ Ein breites Grinsen begrüßt mich, als ich mich am nächsten Tag gegen Mittag dazu hingerissen habe, dem dreimaligen Klingeln an der Tür nachzugeben und diese zu öffnen.

Ich habe keinen Bock auf Gesellschaft, auch nicht wenn es in Form meiner besten Freundin ist, die nun die Arme um mich schlingt.

„Hi...“, sage ich nur und schiebe sie von mir.

Wie um Himmels Willen kannst du mich so angrinsen?

„Hilfst du mir bei Mathe?“

„Wie bitte?“ Entgeistert sehe ich sie an. Habe ich mich soeben verhört?

Merkwürdige Art von Alltag, verschwinde!

„Hausaufgaben... außerdem hab ich bald Prüfungen!“ Sie stolziert an mir vorbei auf mein Zimmer zu.

„Warte mal Sanae, das... ich kann das nicht!“

Mit einem plötzlich ganz ernsten Blick wird sich umgedreht. „Ich mein es ernst, Kida. Du musst irgendwas tun, du kannst nicht ständig nur hier rumhocken... Ablenkung und so, weißt du...“ Sie legt den Kopf etwas schief, sieht mich ganz liebevoll an.

Ich ertrage diesen Blick nicht, wende daher meinen ab, schüttle nur den Kopf und folge ihr in mein Zimmer.

Ablenkung... nicht mal die Arbeit schafft es doch, mich abzulenken, verdammt!

Dennoch lasse ich mich darauf ein, einen Blick auf die Zettel zu werfen, die sie mir hinhält.

Ableitungsaufgaben... und ein paar ganz einfache Integrale... Sollte nicht schwer erklärt sein...

„Also...“, beginne ich zögernd, versuche tatsächlich, jetzt nur diese Zahlen in meinem Kopf zu sehen und keinen Sakuya, der mit ebenso fragendem Blick vor mir saß, wie Sanae nun... kein Sakuya, der mich küsst, weil es mein kleiner Erpressungsversuch auf dem Weg zur Lösung war... kein Sakuya, der mich dankend umarmt, nachdem wir endlich mit den Hausaufgaben fertig sind... kein Sakuya, der-

„Scheiße!“ Ich feuere die Zettel von mir. „Scheiße!“

„Kida?“

Eine Hand an meiner Schulter, ich schüttle sie ab, vergrabe stattdessen mein Gesicht in den Händen.

„Ich denke... mir würde die Lösung schneller einfallen, wenn ich einen Kuss dafür bekäme...“

„Na gut... Aber nur einen...“

Tränen schießen mir in die Augen. Seine Worte, der liebevoll neckische Gesichtsausdruck... der sanfte Kuss. Ich weiß alles noch so genau...

Das kann doch nicht so einfach...

Einfach so...

„Es tut mir leid!“

Ich werde an einen Körper gedrückt, wehre mich nur kurz dagegen, bevor ich es dann doch geschehen lasse.

Ich will bei dir sein, verdammt! Ich will nicht tausende von Meilen von dir getrennt sein!

„Kida, es tut mir so leid! Bitte hör auf zu weinen... Bitte!“

Ich schüttle heftig den Kopf, schluchze auf, presse mich Sanae entgegen.

Wieso wird dieser Schmerz bloß immer größer?
 

~ * ~
 

Die nächsten Tage vergehen, irgendwie... ich könnte nicht einmal sagen, was ich tue, denn ich tue nichts... oder kaum etwas, wenn ich nicht gerade dazu gezwungen werde, meiner Mutter zu helfen oder zur Arbeit zu gehen. Doch wenn ich alleine bin, tue ich nichts, gar nichts.

Ich sollte lernen... die Uni fängt bald an.

Aber ich kann nicht. Ich kann mich nicht dazu durchringen, den Rucksack zu öffnen und die zwei Informatikbücher herauszunehmen, die ich mir vor kurzem besorgt habe und die das letzte Mal in deinem Zimmer aufgeschlagen wurden...

Ich kann es nicht, denn jede Seite würde mir neue Erinnerungen bringen.

Ich kann nichts tun... nichts, außer zu warten, dass irgendetwas passiert.

Aber auf was warte ich?

Was soll schon passieren?

Der Weltuntergang vielleicht? Wäre auch keine viel schlechtere Alternative.
 

Die nächsten Tage vergehen, ohne dass ich ein einziges Telefongespräch annehme. Ich will nicht mit Tatsuya sprechen, nicht mit Akito, mit niemandem... und die Person, mit der ich sprechen will, ruft nicht an. Wir haben abgemacht, nicht so oft zu telefonieren, da es zu viel Geld kostet... wir haben abgemacht, ab jetzt hauptsächlich das ICQ zu nutzen...

Aber das reicht mir nicht, Sakuya. Ich will deine Stimme hören! Ich habe Angst, sie sonst zu vergessen, obwohl ich doch noch genau weiß, wie sie klingt...
 

Die nächsten Tage vergehen... und bei der Arbeit werde ich schließlich nicht mal mehr gefragt, ob irgendwas nicht stimmt. Sogar Arisu, die ein paar Mal versuchte, mich auszuquetschen, hat aufgegeben. Ich bin froh darüber, denn wie sollte ich sonst die Stunden hier hinter mich bringen? Wie, wenn sie wüssten, dass die für mich wichtigste Person nicht mehr bei mir ist?

Ich brauche nicht noch mehr Mitleid, nicht noch mehr Leute, die sich um mich sorgen, denn verdammt, das nervt!
 

Als ich am Freitagabend von der Arbeit nach Hause komme, bin ich froh, auch diesen Tag überstanden zu haben, ohne irgendeinen gravierenden Fehler gemacht zu haben. Jetzt rausgeschmissen zu werden, kann ich echt nicht auch noch gebrauchen...

Ich schleiche in mein Zimmer, das ich nun... wie lange schon wieder richtig bewohne?

Elf Tage? Zwölf?

Ich weiß nicht, es ist auch egal...

Die Zahl, würde die Ewigkeit, die du nun weg bist, nur definieren...

„Hey! Kida! Post für dich!“, werde ich davon abgehalten, meine Zimmertür zu schließen.

„Na wunderbar! Leg’s irgendwohin, ich guck später nach!“

„Ich glaub, du willst es jetzt sehen...“

Ich bleibe stehen, lehne meinen Kopf gegen den Türrahmen.

Lass mich doch einfach in Ruhe! Hör auf mich jeden Tag aufs neue zu nerven! Ich weiß auch so, dass es dir nicht gefällt, dass die Schwuchtel wieder in deiner Wohnung lebt, du hast es mir ja schon ein paar Malgesagt!

„Was ist es denn?“, frage ich nach und sehe Takehito aus den Augenwinkeln, wie er aus dem Wohnzimmer kommt.

„Lass mal sehen...“ Er grinst fies und ich habe nur noch mehr den Drang, in meinem Zimmer zu verschwinden. „Ach ne, sieh mal an, deine Freundin... Sakuya Mich-“

„Gib her!“ Ich stürze vor, will ihm den Brief aus der Hand reißen.

„Ach ne, jetzt plötzlich doch?“ Er weicht zurück, hält ihn so, dass ich ihn nicht erreichen kann... und grinst immer breiter.

„Verdammt noch mal!“, schreie ich, bereit, mich auf ihn zu stürzen. „Gib ihn sofort her!“

Ich bekomme den Brief zu packen und presse ihn an meine Brust, will verschwinden, werde dann aber am Arm festgehalten. „Ist so süß, dass er dir schreibt, nicht?“ Er ist mir ganz nah mit seinem vielsagenden Grinsen.

Panisch sehe ich hinunter... Der Brief ist noch geschlossen, Gott sei dank!

„Halt die Klappe!“ Ich reiße mich los und schaffe es dann endlich, in meinem Zimmer zu verschwinden.

An der Tür sinke ich hinab.

Noch immer halte ich den Brief ganz fest an meine Brust gedrückt und nur zögernd schaffe ich es, ihn davon zu lösen, aus Angst, etwas zu sehen, was ich nicht will...

Aber nein, tatsächlich... kein Scherz... da steht tatsächlich dein Name...

Aber wieso schreibst du mir einen Brief?

Ohne noch länger darüber nachzudenken, springe ich wieder auf, ziehe eine Schere aus meiner Schublade hervor und öffne den Umschlag.

Ein weißes Blatt blitzt mir entgegen... und selbst wenn die Worte vor meinen Augen verschwimmen, so erkenne ich deine Schrift doch ganz deutlich.

Ich sacke hinunter, lasse mich am Schreibtisch zu Boden gleiten, starre das Blatt an.

Hör auf zu weinen, Kida, es ist nur seine Schrift, mehr nicht... noch weiß du noch nicht mal, was da steht, wieso berührt es dich jetzt schon so?

Ich schluchze auf, wische mir über die Augen und zwinge mich, die nächsten Tränen zu unterdrücken. Mit zitternden Fingern streiche ich über das Blatt, das vor kurzem noch du in der Hand gehalten hast... streiche ich über die Worte hinweg... und beginne schließlich, sie zu lesen:
 

Hallo..
 

Ich weiß nicht einmal, wie ich diesen Brief eigentlich anfangen soll. Was soll ich sagen?

Dass ich dich vermisse? Ja, das tue ich, aber das muss ich dir wahrscheinlich nicht sagen.

Ich weiß auch nicht, was ich dir erzählen kann, damit es uns wieder besser geht. außer, dass ich dir

versichern kann, dass ich es schaffen werde... ich muss das.

Ich werde mich irgendwie wieder aufraffen und stark sein...

Ich liebe dich.
 

Sakuya
 

Part 41 - Ende
 

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Part 42

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Sakuya (by littleblaze)
 

„...Mom würde sich jedenfalls freuen.“

Die Tür schließt sich und er hinterlässt ein schuldvolles Gefühl. Sie hat mich aufgenommen, steht mir bei, verteidigt mich, wie eines ihrer eigenen Kinder; Gestern erst hat sie sich lauthals mit dem Mann, welchen ich sonst immer Dad nannte, am Telefon angelegt:

„Nichts in der Welt wird mich dazu bringen, ihn aus meinen Haus zu werfen und ihn damit zu zwingen, wieder zu dir zurückzugehen!“, schrie sie in das Telefon, woraufhin ihr hysterisches Hin und Her sich in der Tonlage noch intensivierte. Wütend durchtrennte sie daraufhin die Verbindung.

Er wird Mitte nächsten Monats ebenfalls wieder in die USA kommen, vorerst genau wie meine Mom in New York bleiben, aber wenn sie wieder in unser Haus können, war es sein ausdrücklicher Befehl, dass ich ebenfalls wieder dort zu erscheinen habe.

Resignierend schleudere ich die Decke beiseite, stehe auf. Ich schlürfe die Treppen abwärts, doch an den letzten Stufen angekommen verändere ich meine Körperhaltung. Wenigstens soll man mir meine momentane Gleichgültigkeit auf das Leben nicht sofort ansehen. Doch es ist schwieriger als ich gedacht habe, nicht einmal ein kleines Lächeln bringe ich zustande, als ich von der Runde am Küchentisch überrascht angesehen werde.

„Komm schon, setz sich“, findet Juliet zuerst aus dem bewegungslosen Zustand hinaus.

Ich setze mich hin.

„Huhn oder Fisch?“, kommt es vom anderen Ende des Tisches.

„Huhn.“

Ein zusammengestellter Teller mit Huhn, Reis und Gemüse wird an mich weitergereicht und einen Augenblick lang kommt es mir so vor als würden sie alle nur darauf warten, dass ich anfange zu essen.

Malcolm nimmt das abgebrochene Gespräch wieder auf, langsam wird es wieder halbwegs normal am Tisch. Halbwegs, da ich so gar nicht in das fröhliche Bild passe, welches diese Familie eigentlich verkörpert. Sogar Juliets Verlobter Quinn passt besser hinein, obwohl seine Aufmachung schon ein wenig gewöhnungsbedürftig ist.

So eine Mischung aus Banker und Rocker. Er kann charmant, wie ebenso einfallsreich sein und es ist schwer etwas zu finden, weshalb man ihn nicht erst einmal mögen sollte. Wenigstens auf die ersten paar Blicken hin, denn mehr habe ich von ihn noch nicht kennengelernt.

Mir gegenüber turteln sie herum. Mit zusammenziehendem Herzen muss ich ihnen jedes Recht dafür zugestehen. Wie lange sind sie jetzt zusammen? Neun Monate? Wie lange ist es bei Kida und mir eigentlich der Fall gewesen? Knapp sieben?

Ich spüre Traurigkeit die Kehle hochdringen, verschnürt es mir das Vorhaben mein Essen hinunter zu schlucken.

Gewesen?

Warum kommen mir solche Worte immer wieder in den Sinn, warum denke ich so als wäre alles vorbei?

Das ist es nicht!

Vielleicht glauben sie das alle, doch durch die gezwungene Trennung wird sich nichts ändern, niemals wird man es schaffen, uns auseinander zu bringen. Niemals!

Ich lächle leicht... meine Kehle gewinnt wieder an Freiheit bei diesem Gedanken.

„Schmeckt’s dir?“

„Äh... ja.“ Ich schaffe das Lächeln aufrechtzuerhalten.

„Das freut mich.“

Ich starre auf meinen Teller, versuche eine Erbse aufzupicken. Die Stimmen um mich herum verfallen wieder in Gespräche. Gespräche, von denen ich überhaupt nichts mitbekommen habe, obwohl ich nur Zentimeter weit entfernt sitze.

Ich drehe leicht den Blick nach links, nicht zu viel, nur so weit, dass ich die Szenerie neben mir besser beobachten kann.

Auch sie sind glücklich. Auch sie haben ein Recht dazu.

Kevins Hand streichelt leicht über Malcolms Bein. Wieder dieses Ziehen in der Brust.

Weshalb ist es mir nicht vergönnt, wieso musste es ausgerechnet mich treffen? Die Hand wandert weiter hinauf, ich drehe den Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Ich will das nicht sehen...

„Ist etwas, Sakuya?“ Blicke.

„N... nein, ich habe mich nur verschluckt“, würge ich das durchgekaute Fleisch meine immer noch zugeschnürten Kehle hinunter.

Mir wird ein Glas Wasser gereicht. Die Hand auf Malcolms Bein ist verschwunden. Was Kida wohl gerade tut, ob er meinen Brief schon bekommen hat? Die letzten Tage war er immer so kurz angebunden, wir konnten kaum richtig miteinander reden.

Ein Stuhl wird zurückgeschoben. „Ich geh noch mal kurz bei Josh vorbei.“ Aaron steht auf.

„Aber nicht mehr so lange, um Zehn bist du spätestens wieder da, klar?“

„Ok, Mom.“

Zu meiner Linken hat sich die Tonlage geändert. Als mir dies bewusst wird, ist es schon zu spät, um noch irgendeinen Wortlaut herauszuhören. Malcolm steht auf, trägt sein Geschirr zur Spüle und verlässt wie mir scheint schmollend die Küche.

„Was ist?“, frage ich.

„Nichts.“ Kevin verlässt ebenfalls den Raum, sprintet der vorhergegangen Person die Treppen nach. Mein Blick klebt wieder am Teller, ein wenig verwundert darüber, wie viel ich ohne es zu merken gegessen habe.
 

~ * ~
 

„Wir wollten mit dem Boot raus. Willst du mit?“

Ich setze mich auf, schiele zur Tür.

„Komm schon, Mann, du kannst doch nicht immer nur hier drin hocken.“

Malcolm kommt auf mich zu, klopft leicht gegen mein Bein und setzt sich auf die Bettkante.

„Lass mal, ich würde euch eh nur die Stimmung verderben.“

„Wenn du meinst... aber glaub mir, dass Ganze hier tut dir nicht gut.“

„Ich weiß.“

Er erhebt sich wieder. „Dann bis später.“

Es folgt ein Donnerstagabend, wie ich ihn im Moment haben möchte: Alleine, Kevins Zimmer verlassen, den Computer für mich. Diesen schalte ich auch direkt an.

Mit wenig Hoffnung öffne ich ICQ. Er ist nicht da, wie vermutet.

Ich will aber, dass du da ist... warum bist du es nicht?

Ich stoße mich vom Tisch weg, als ich die Träne Richtung Tastatur fallen sehe, gerade noch schaffe ich es, sie aufzufangen.

Kurz wünsche ich mir sie würde wie ein Regentropfen auf meiner Handfläche herumrollen, mich davon ablenken noch weitere ihrer Art zu vergießen, doch fällt sie nur hinab, bleibt aufgeschlagen liegen und rührt sich nicht mehr. Ich wische sie an meiner Hose ab.

Ich rolle mich wieder näher an den Computer. Der Mauszeiger wandert über die Bildfläche und schnell habe ich den gesuchten Ordner gefunden. Eins nach dem anderen streift durch mein Blickfeld bis ich abrupt stoppe.

Du lächelst mich an...

Nein, nicht wirklich mich... doch für einen Moment will ich dies glauben.

Ist es nicht komisch, dass wir nie selber Bilder von uns gemacht haben? Keine gemeinsamen Erinnerungen als die in unseren Köpfen... Doch auch nie hätte ich damit gerechnet, dass ich jemals auf andere Erinnerungen angewiesen sein würde, dass ich mich nicht nur umzudrehen bräuchte, um dein Gesicht zu sehen.

Ich schließe den Ordner, schalte den Computer aus. Das Bett ist mein Ziel, ich schaue zum Fenster hinaus. Es ist bereits dunkel, warum fahren sie zu so einer Uhrzeit noch mit dem Boot raus?

Mein Atem schlägt gegen die Scheibe, lässt sie beschlagen. Ich male die Schriftzeichen hinauf, welche mir gerade in den Sinn kommen... Es war ein schönes Geschenk, nicht wahr? Mir hat es gefallen... Wenigstens du hast etwas von mir... Habe ich eigentlich auch irgendetwas von dir? Abgesehen von deinem Shirt, das seinen neuen Platz in meinem Bett gefunden hat...
 

Hochgeschreckt, mit etwas zusammengestoßen, lasse ich mich zunächst wieder zurückfallen. Alles dreht sich... ein heftiges Pochen in der Nase... Gepolter, Stimmen um mich herum, dann das grelle Licht, welches mich die Augen wieder zukneifen lässt.

„Was, verdammte Scheiße, tust du hier?“, werde ich halbwegs angeschrieen. Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen, nehme gerade noch eine Person wahr, die sich vom Bett herunterrollt, die... Hose wieder hinauf zieht.

„Das... ich...“

„Komm schon, jetzt reg dich nicht so auf.“ Malcolm berührt mich an der Schulter, doch blitzschnell schlage ich ihn weg, richte mich auf und stürme aus dem Zimmer hinaus in mein eigenes.

Scheiße verdammt, was passiert nur gerade alles um mich herum... nichts ist mehr so, wie es war, alles verändert sich. Doch das will ich nicht... Warum war ich nur so blöd, auf seinem Bett einzuschlafen...?
 

~ * ~
 

Am Wochenende telefonierte ich mit Kida. Ich hatte es einfach nicht mehr länger ausgehalten, ich wollte seine Stimme hören.

Er erzählte mir von meinem angekommenen Brief und den kleinen Schrecken, den dieser bei ihn ausgelöst hätte ,aber dann hat er sich doch sehr darüber gefreut. Ich erzählte ihn von meinem letzten Gespräch mit Ryouta und Kyo, und dass nun bald wieder die Schule für mich anfangen würde.

Eigentlich redeten wir über sehr vieles, nur nicht über uns. Es war uns wohl beiden lieber, im Moment nicht darüber zu reden wie wir uns fühlten. Es tat einfach immer noch zu weh, und das würde es garantiert noch eine ganze Zeit lang.
 

Die übrige Zeit des Wochenendes machte ich einen großen Bogen um das Zimmer mir gegenüber. Wir sahen uns nur beim Essen und wenn ich mal einen kurzen Gang durchs Haus machte.

Mit kleinen Floskeln war es meistens Malcolm, der mich zuerst ansprach. Kevin stimmte seinen Gesagten nur zu, vermied es aber meistens, mich dabei anzusehen. Dass sich auch vieles für ihn geändert hatte, wollte ich gar nicht leugnen, doch womit ich dieses Desinteresse an meiner Person verdient hatte, war mir vollkommen ungewiss.
 

~ * ~
 

Montagmorgen, mein erster Schultag auf der Senior High School. Schon beim Frühstück spüre ich unglaubliche Besorgnis um mich herum. Ich esse so gut wie gar nichts, was Kevins Mom noch trauriger schauen lässt. Selbst Juliet und Aaron streiten heute einmal nicht am Frühstückstisch.

Ich tapse Kevin und Malcolm hinterher zur Haustür, schnappe mir wie in Trance den Rucksack mit ein paar Schulutensilien und meinem Essen, welches ich wahrscheinlich sowieso nicht essen werde. Bevor ich das Haus verlasse, werde ich noch einmal in eine feste Umarmung gedrückt.

„Du schaffst das schon, Schatz!“

„Komm schon Mom, lass ihn los, wir kommen noch zu spät.“
 

Wie gebannt schaue ich die Fahrt über aus dem Fenster, man könnte denken, ich nehme die Landschaft außerhalb des Wagens wahr, aber so ist es nicht. Ich hänge in einer Art Zwischenwelt fest, wenigstens kommt mir das so vor.

Schon bald steht der Wagen wieder still und Kevin wirft mir einen prüfenden Blick zu, bevor er aus dem Wagen steigt. Ich tue es ihnen gleich, steige aus und bleibe auf dem Bürgersteig stehen, schaue mich um: blonde, hellbraune, braune Haare. Nirgends erkennt man schwarze, und wenn, dann bezweifle ich sehr, dass sie natürlich sind.

Wir nähern uns dem Schulgebäude, Malcolm begrüßt einige Freunde. Einige Blicke treffen auch mich, einige Bekannte könnten durchaus dabei sein.

Die Zwei bringen mich zur Tür des Lehrerzimmers.

„Wir müssen jetzt in die Klasse. Lass dich zu Mr. Dicks bringen, er ist der neue Schulleiter.“ Sie drehen sich um, gehen, und wie aufs Stichwort, öffnet sich die Tür vor mir.

„Oh, kann ich dir irgendwie helfen?“, fragt ein älterer, zur Glatze neigender Mann.

„Ähm, Dicks... Mr. Dicks... bitte.”

„Na, dann komm mal mit.“ Er hält mir die Tür auf und ich schlüpfe vorbei, folge ihm einen Gang hinunter bis zu einer großen Eichentür.

„So, da wären wir auch schon.“

„Danke.“

Der Mann verschwindet.

Zaghaft klopfe ich an die Tür, drinnen nehme ich eine kraftvolle Stimme wahr, die mich bittet, hereinzukommen. Ich trete ein, bleibe mitten im Raum stehen.

„Und was kann ich für Sie tun“, fragt er, ohne den Blick zu heben. Erst als ich nicht sofort antworte, schaut er auf.

„Wollen wir nicht antworten?“, fragt er mit durchdringenden Blick.

„Ent... entschuldigen Sie Mr. Dicks. Mein Name ist Ryan, Sakuya Michael Ryan. Ich bin neu und sollte mich heute Morgen hier melden.“

„Ahja, Ryan. Ich habe Sie schon erwartet.“ Er winkt mich näher, zeigt mir, dass ich platz nehmen soll. Er fischt eine Akte hervor und beginnt zu lesen.

„Sie waren also die letzten zweieinhalb Jahre in Japan und sind jetzt wieder zurück in die Heimat gekommen?“

„So kann man es nennen“, stimme ich trocken zu.

„Okaaayyyy. Wir werden Sie erst einmal in die Klasse, die für Ihre Altersstufe vorgesehen ist, stecken, also in den 11. Grad. Wenn Sie mit dem Stoff klarkommen sehe ich da keine Probleme, ansonsten müssen wir mal schauen, wie wir Sie schnellstmöglich dahin bringen.“ Er schaut mich an als wolle er einen Orden für seine großzügige Tat.

„Danke“, gebe ich gefühllos von mir. Er vertieft sich in ein weiteres Dokument.

„Ihre Klasse ist die 11-C2, ich werde Sie hinbringen.“

Er steht auf und ich folge ihm schweigend.

„Den Antrag für Ihre Schulbücher geben Sie am besten in der Schulbibliothek ab, die kümmern sich dann sofort darum.“ Er deutet auf einen großen Durchgang, auf dessen Mauerwerk in großen Lettern Bibliothek geschrieben steht.

Schließlich bleibt er vor einer geschlossenen Klassentür stehen. Der Unterricht hat mittlerweile begonnen. Er klopft an, warte aber erst gar nicht auf die Aufforderung hereinzukommen.

„Mr. Connelly, ich bringe Ihnen einen neuen Schüler“, werde ich in die Klasse geschoben und von gut zwanzig Schülern aufmerksam gemustert.

Mr. Dicks reicht dem Lehrer meine Akte und ist dann wieder verschwunden, ich wäre es am liebsten auch sofort wieder. Kurz schaue ich mich suchend im Raum um, kein Kevin...

„Willst du dich uns nicht vorstellen?“, fragt mich der Lehrer, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe. Ich antworte nicht, kämpfe immer noch mit mir, ob ich jetzt wieder raus rennen soll oder nicht.

„Na dann eben nicht. Setz dich dann einfach da drüben hin“, zeigt er auf einen leeren Platz am Fenster. Blicke haften an mir, leises Gemurmel ertönt von allen Seiten. Ich will hier weg, doch gebe ich dem Wunsch nicht nach.

„Ruhe jetzt! Schlagt eure Bücher aus Seite 57 auf.“

„Hi.“ Ich werde von der Seite angestupst. „Mein Name ist Carol-Ann Peterson und wer bist du?“

Ich ergreife die mir hingehaltene Hand. „Sakuya...“

„Nur Sakuya?“

„Sakuya Michael Ryan.“

„Freut mich, Sakuya Michael Ryan. Hast du schon deine Bücher?“

„Nein.“

„Gut...“ Sie rückt ihren Tisch näher an meinen heran. „...dann kannst du bei mir mit reinschauen.“ Sie lächelt.
 

Die ersten Minuten schaue ich auch tatsächlich in das Buch, ohne jedoch wirklich auf die Gleichungen zu schauen. Das Fenster zieht dagegen viel zu schnell meine Aufmerksamkeit an, ich schaue einfach nur hinaus.

Die Erklärungen des Lehrers streifen nur mein Ohr, meine Gedanken schweifen wieder einmal in einer ganz anderen Welt. Eine Welt jenseits dieses Ozeans, eine Welt, in der etwas ist, dass ich nicht verlieren will, dass ich lieben und küssen möchte...

„Ryan?“, werde ich angesprochen. Ich schaue den Lehrer an, der meinen Namen von einem Stück Papier abgelesen hat. „Ist mein Unterricht nicht interessant genug für Sie?“

„Ich...“ Ringsherum flammt Gelächter auf.

„Vielleicht wären Sie so gütig und lösen die nächste Aufgabe für uns... Das sollte ja dann kein großes Problem für Sie darstellen.“

Mein panischer Blick stürzt zur Tafel, auf die er zeigt, mein Kopf sucht nach der richtigen Formel.

„Sechs“, gebe ich schließlich von mir.

„Das... das ist richtig. Danke Mr. Ryan.” Das Lachen verebbt, doch ihre Blicke wenden sich nicht ab. Ich wende mich schnell wieder dem Fenster zu.

„Das war toll!“, kommt es flüsternd von dem Mädchen neben mir.

Ich weiß noch genau, wie schwer es mir damals fiel, diese Art von Aufgaben zu lösen. Wie Kida... wie er mir es beizu... zubringen ver...

„Hey...?

Wie ich ihm lachend erklärte, dass ich das doch niemals im wahren Leben bräuchte, und vorschlug, schönere Dinge mit unserer Zeit anzustellen. Wir uns küssen, zärtlich in einen anderen Kampf übergingen...

Ein leichtes Rütteln. „Alles in Ordnung?“

„Ja.“ Ich wische mir beschämt über die Augen.

„Hier“, wird mir ein Taschentuch gereicht.

„Ich will zurück... ich will nicht hier sein...“, offenbare ich mich.

„Ähm, ich...“

„Schon gut... alles ok, ist... ist schon vorbei.“

Die restliche Stunde über schaffe ich es nicht, sie erneut anzusehen.
 

„Also, wohin willst du zurück?“ Carol-Ann schaut mich neugierig über ihr Mittagessen hinweg an.

„Egal.“

„Mmhh, scheint mir aber gar nicht so. Also sag schon... ich kann Geheimnisse gut für mich behalten.“ Ihre Augen weiten sich vor Neugier.

„Ich... ich wollte... ich bin schwul“, platzt es heraus.

„Das soll dein großes Geheimnis sein?“ Sie setzt sich wieder in die Aufrechte und fängt an, genüsslich in ihr Sandwich zu beißen. „Isch bitdge disch“, redet sie kauend weiter. „Da bischt du ned allein...“ Sie würgt ihren Bissen hinunter.

„Siehst du die Zwei da drüben“, sie deutet zur Essensausgabe. Ich erblicke Kevin und Malcolm. „Die sind auch schwul und das sind bei weitem nicht die Einzigen hier.“

Ich wende den Blick ab, picke ein paar Pommes auf meine Gabel.

„Gott, sie kommen her... sie scheinen dich zu wittern.“ Sie lacht leicht auf, sich wahrscheinlich fragend, ob an dieser Theorie wirklich was dran ist.

„Malcolm, du kennst Carol-Ann aus der C2?“

Die Stühle neben und vor mir, werden nach hinten gezogen.

„Nur vom Sehen. Hi, kannst mich Malcolm nennen, denn das ist mein Name.“ Er lächelt und Carol-Ann ergreift seine Hand.

„Schön den Unruhestifter mal aus der Nähe bewundern zu können“, kontert sie.

„Na, ich bin doch schon richtig brav geworden.“

„Wie war’s?“, sterben alle Geräusche am Tisch ab, als Kevin sich mir zuwendet.

„Ok.“

„Ok ist ja mal untertrieben“, mischt sich das Mädchen am Tisch ein. „Er hat Mr. Connelly glatt an die Wand gespielt.“

„Du machst mir ja alle Ehre, Sakuya. Nicht mal ich habe das am ersten Tag geschafft!“

„Ist wirklich alles okay?“, überspielt Kevin, Malcolms kindisches Gerede.

„Ja, und jetzt hör endlich auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln.“ Schnell stehe ich auf, mein Stuhl fällt ungewollter Weise zu Boden. „Die letzten Tage warst du auch kaum für mich da, also komm mir jetzt nicht mit dieser Beschützernummer.“

Ich schnappe mir meine Tasche und verlasse unter dutzenden von Blicken den Saal.
 

Zurück in den Klassenraum gehe ich nicht, sondern schnurstracks nach Hause. Zum ersten Mal benutze ich meinen eigenen Hausschlüssel, mehr als froh darüber, dass noch niemand anders hier ist.

Ich stürze in mein Zimmer, schmeiße mich aufs Bett und heule die erste Zeit nur vor mich hin. Aus irgendwelchen idiotischen Gründen fange ich dann an, mich selbst zu befriedigen und danach fühle ich mich einfach nur schrecklich.

Es fühlt sich an als hätte ich etwas Verbotenes getan... Als wäre es schmutzig... als wäre ich Schmutz. Mit immer noch beschmutzten Händen, übergebe ich mich in die Kloschüssel.
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen komme ich das erste Mal wieder aus meinem Zimmer hervor. Dem Frühstückstisch beiwohnend, eine bedrückende Stille im Auto und ein mich erwartendes Gesicht vor der Schule.

„Hallo Sakuya!“ Sie winkt mir zu, und als ich bei ihr ankomme, bleibe ich stehen. Malcolm und Kevin gehen einfach weiter, ohne ein Wort.

„Geht es dir heute besser?“

„Nein.“

„Das macht nichts.“ Sie greift nach meiner Hand. „Lass uns vor dem Unterricht noch das mit deinen Büchern erledigen, ok?“

Ich nicke nur und lasse mich von ihr ins Gebäude ziehen. Ihre Wärme zu spüren, ist ein komisches Gefühl und kurz nachdem wir die Tür passiert haben, stehen mir noch weitere komische Gefühle bevor.

„Ich glaub’s nicht.“ Zielstrebig kommt sie auf mich zu. „Wird das jetzt zur Gewohnheit...“ Die Hand um meine verschwindet, eine andere legt sich in mein Gesicht. „...das du mir immer verheimlichst, wenn du wieder da bist?“ Ihre Augen nähern sich.

„Oh, ihr kennt euch bereits“, kommt es ziemlich laut neben mir. Sam setzt wieder ein kleines Stück zurück.“

„Und du? Ach ja... du bist die Irre von der Schülerzeitung, nicht wahr?“ Die Mädchen feixen sich an.

„Genau, wie wäre es mit einem kleinen Foto? Wir hätten da noch einen freien Platzhalter in der Rubrik: ‚Versagerin des Jahres’ zu vergeben. Du bist dieses Jahr ziemlich weit gefallen, Hynks.“

„Das geht dich ja wohl einen Scheißdreck an.“

„Da hast du verdammt recht... das schon.“

Sam wendet sich mit einem demonstrativen Gesichtsausdruck wieder von ihr ab und mir zu. „Du weißt, wo du mich findest. Hier...“ Sie steckt mir eine kleine Karte zu, die ich auch ohne Verzögerung annehme. „Ruf an, wenn du mal ausbrechen willst.“ Ein leichter Kuss setzt sich auf meinen Lippen, ehe sie verschwindet. Natürlich nicht, ohne noch einmal einen verhassten Blick auf Carol-Ann geworfen zu haben.

„Was hast du denn mit der zu schaffen?“

„Sie war mal meine beste Freundin“, antworte ich bereitwillig. „Mit ihr zusammen war ich auch... ist aber schon lange her. Weißt du... ich kenn sie so gar nicht.“ Für mich ist sie immer noch Sam, das schlaue Mädchen, welches uns mit Vokabeln genervt und uns stundenlang beim Baseballtrainig zugeschaut hat.

„Na ja, es gibt ne Menge komischer Freunde... aber jetzt komm, wie haben nicht mehr so viel Zeit bis die Stunde anfängt.“ Sie greift mich wieder bei der Hand.
 

In der Mittagspause sitzen wir auf einer Bank im Freien. Es ist immer noch kühl, doch gerade das gefällt mir. Dazu wollte ich wohl noch jemanden aus dem Weg gehen.

„Übrigens...“

„Ja?“, frage ich, als sie nicht weiter spricht.

„Was hast du eigentlich mit Kevin und diesem Malcolm zu tun? Ich meine, ihr seid heute Morgen sogar zusammen im Auto gekommen.“

„Ich wohne bei ihm.“

„Bei wem? Kevin oder Malcolm?“

„Kevin. Wir kennen uns schon seit dem Kindergarten.“

„Und... warum lebst du nicht bei deinen Eltern? Sind... sie tot?“, kommt es zaghaft.

„Nein“, und schnell gebe ich daraufhin meine kleine Geschichte zum Besten.

„Das ist dein Ernst, du machst keine Witze?“

Ein Nicken, meine Kehle fühlt sich wieder wie zugeschnürt an. Es hat mich zwar ziemlich viel Überwindung gekostet, nicht während meiner Erzählung loszuheulen, aber es ihr überhaupt zu erzählen, lässt in mir keinerlei Bedenken aufkommen.

„Das ist ec-“

„Hey Schwuchtel... heute noch keinem ne Szene gemacht?“ Ein unangenehmes Anrempeln, mein Getränk, das zu Boden geworfen wird.

„Miller, du Arsch!“

„Lass!“ Ich ziehe sie am Ärmel wieder auf die Bank zurück, schaue vorsichtig der Gruppe Jungen hinterher.

„Ich habe nichts gesagt, ich schwör... Die halbe Schule hat gestern nach deinen Auftritt sich das Maul über dich zerriss-“

„Ich glaub dir.“ Ein müdes Lächeln bekomme ich gerade noch so über das Gesicht. Ich bücke mich und hebe den halbvollen Milchkarton auf.

„Es ist nur weil du neu bist. Sie haben einfach nur nach einem Angriffspunkt gesucht, diese Wichser.“

„Lass uns gehen, die Pause ist gleich vorbei.“ Mit galantem Wurf landet der Karton im Müll.
 

~ * ~
 

Bis auf diese Wichser, wie Carol-Ann sie nennt, welche zu meinem Unmut auch noch in meiner Klasse sind, zeigen sich fast alle interessiert daran, was ich so in Japan getan habe und wie es dort war. Die Frage, warum ich denn eigentlich zurückgekommen bin, umgehe ich immer ganz geschickt.

In einer Freistunde am Donnerstag tritt Miller abermals an mich heran.

„Ich hörte, du spielst Baseball... richtig gut sogar.“

„Und wenn es so wäre?“

Ein Schulterzucken.

„Vielleicht ist ja auch gar nichts dran an dem Gerücht und du willst damit nur besser da stehen“, antwortet stattdessen einer seiner Lakaien.

„Ich muss dir nichts beweisen“, liegt mein Blick immer noch auf Miller.

„Natürlich musst du das nicht, ist ja wie gesagt... nuuuuurrrr ein Gerücht.“

Er dreht sich weg, lässt sich auf seinen Sitz fallen. Einige Augenpaare bleiben noch kurz an mir hängen, dann ist die Sache gegessen... eigentlich... doch lässt es mich nicht zur Ruhe kommen.

„Wann und wo?“ Mein Augenmerk weiterhin auf mein Schreibheft gerichtet.

„Wie wäre es heute nach der Schule, da hat die Baseballmannschaft eh Training.“

„Einverstanden.“
 

„Hey Wyans!“ Die Menge schnellt in unsere Richtung. „Mein Kumpel hier möchte gerne mal ne Runde mit euch spielen. Er hält sich für ziemlich gut.“ Millers Bande grinst blöde, während mich Kevin irritiert anschaut. Carol-Ann zupft nervös an meinem Ärmel.

„Willst du das wirklich tun?“

„Geht schon.“

Kevin kommt auf mich zu, zieht mich beiseite.

„Was soll der Scheiß? Wenn du spielen willst, gibt es andere Wege, als sich von so einen Vollidioten provozieren zu lassen.“

„Gib mir einfach einen Schläger, ok?“

Unsanft wird mir dieser auch prompt gegen den Magen gedrückt.

„Tim...“ Kevin wendet sich von mir ab. „Wirf ihm ein paar Bälle.“

Ich streife mir die Jacke ab und reiche sie Carol-Ann, die sich mit den anderen auf die Tribüne zu bewegt.

„Na los, nun zeig mal was du kannst!“, ertönt es belächelnd.

„Ja, wozu ein Mädchen so alles fähig ist!“

Das Mädchen haut dir gleich den Schläger in die Fresse!, streift es mich kurz, bevor ich mich auf den Jungen vor mir konzentriere.

Der Sand knirscht leicht unter meinen Schuhen und das glatte Holz, um das ich meine Finger gelegt habe, wird zunehmend rutschiger. Vorgebeugt nehme ich ein wenig Sand auf, reibe mir kurz damit die Hände ein... konzentrier dich, werd nicht nervös! Es ist das erste Mal seit langem, trotzdem kein Grund nervös zu sein.

Bereit!, nicke ich dem Werfer zu, die Stimmen um mich herum erreichen schon lange nicht mehr mein Ohr. Nur der Sand, das quietschende Geräusch der sich drehenden Hände und dann: Das surrende Geräusch des Balles, der die Luft wegdrückt, das Durchziehen des Schlägers und das Zusammentreffen zwischen Holz und Leder.

„Noch einen!“, rufe ich dem Werfer zu, verschwende meine Zeit erst gar nicht damit, dem ersten Ball hinterher zu sehen.
 

Vierzehn Bälle schlage ich in Folge. Nicht jeder wird ein super Schlag, aber darauf kommt es mir gerade gar nicht an. Ich will einfach nur schlagen, am liebsten wirklich mit voller Wucht in Millers Fresse. Gerade verspüre ich ein Verlangen, jemanden weh zu tun, dass es mir schon selber Angst macht. Und dabei ist es nicht Millers Blick, der mich weiterhin anstachelt, sondern der meines eigentlich besten Freundes, der vom Spielfeldrand jeden meiner Bewegungen beobachtet.
 

~ * ~
 

Bis zum Wochenende hin passiert nichts außergewöhnliches mehr. Die erste Schulwoche ist vorbei.

In Mathematik scheine ich meinen Mitschülern ein ganzes Stück voraus zu sein, und außer in amerikanischer Geschichte und Politik macht mir der Schulstoff bis jetzt kaum Probleme.

Carol-Ann hat eine nervige Angewohnheit entwickelt: sie fotografiert mich, wo sie nur kann. Meistens in einem heimlichen Moment, was ich es erst dann bemerke, sobald der Blitz aufleuchtet. Sie meint, ich hätte irgendwas faszinierendes, so etwas trauriges.

Das Baseballteam will mich, ich aber nicht das Team. Irgendwie fühle ich mich gerade gar nicht dazu bereit, mich so einer Full-Time-Aufgabe zu widmen. Ich bin noch nicht wieder so weit, und ehrlich gesagt, macht die Vorstellung, so viele Leute andauernd um mich rum zu haben, mich nicht gerade glücklich. Und irgendwie schimmert da auch noch die Tatsache durch, dass es nicht Kevin ist, der mich fragt, ob ich ins Team kommen will.

Carol-Ann ist ok... sie redet über normale Dinge. Nicht über Japan, nicht über Kida, da sie diesen ja gar nicht kennt, nicht über Kevin und nicht über Baseball. Sie ist eine einfache, neue Welt. Einfach nur unkompliziert.

Am Samstagnachmittag wird auch sie Zeuge einer Situation, welche ich im ersten Augenblick nicht wirklich verstehe.

„Streiten sie sich öfter?“

„Nein... ich denke nicht.“ Ehrlich gesagt, weiß ich es gar nicht, aber bis jetzt kam es mir nicht so vor als hätten sie irgendwelche Probleme.
 

Als Carol-Ann ein wenig später weg und Kevin zurück in seinem Zimmer ist, brauche ich ziemlich lange, um den Mut dazu aufzubringen, dieses zu betreten. Auf mein Klopfen wird erst gar nicht geantwortet, trotzdem drücke ich die Klinke hinunter.

Ich spiele mit dem Gedanken, ihm zu sagen, dass mir mein kleiner Aufstand in der Schule leid tut, dass alles nicht so gemeint von mir war... vielleicht hatte er selber die ganze Zeit über Probleme und ich habe selber nur darauf bestanden, dass er für mich da wäre.

Ich finde ihm auf seinen Bett kniend, aus dem Fenster schauend vor. Ich ziehe den Schreibtischstuhl hervor, setze mich.

„Alles in Ordnung?“

„Es gibt Dinge im Leben, die keinen Sinn machen“, fängt er leise an und ich rolle mit dem Stuhl ein wenig näher, um ihn besser verstehen zu können. „...das Witzige daran ist, auch wenn du genau weißt, dass sie wahrscheinlich nie einen Sinn machen... hast du trotzdem die Pflicht, nie aufzugeben, immer weiter zu machen und zu versuchen, einen Sinn darin zu finden und Dinge zu verstehen, die nie verstanden werden können. Man wird immer verschiedene Antworten für seine Dinge finden, aber die Fragen werden immer die selben sein.“
 

Nachdem ich ihm einige Minuten lang einfach nur weiterhin beobachtet habe, wie er zum Fenster hinaus schaute, doch zu keinem weiterem Gespräch bereit war, verließ ich sein Zimmer.

Irgendwas ist schon dran; Dinge, welche keinen Sinn ergeben, gibt es zu Genüge und Antworten sucht man immer darauf, findet sie aber in den seltensten Fällen.

Genauso ein Ding ist die Tatsache, dass mein Leben anscheinend langsam wieder einen gewöhnlichen Alltag einnimmt. Ganz von alleine, ohne dass ich es wirklich bemerkt habe, und die Frage darauf ist: Warum lasse ich dies zu? Warum sträube ich mich nicht mehr dagegen?

Und die wohl deprimierendste aller Antworten lautet: Auch wenn ich mich dagegen sträuben, nur von morgens bis abends in meinem Zimmer rumhängen, Kontakt und Essen verweigern würde... würde genau dies zu meinem Alltag werden.

Ich kann ihn einfach nicht verhindern, den ganz normalen Alltag.

Erst waren es nur Sekunden und jetzt vergehen schon Minuten, in denen ich es schaffe, mich abzulenken, von ihm abzulenken. Sollte ich mich dafür schämen, dieses Gefühl der Normalität ausgrenzen?

Aber im Grunde fühle ich sowieso nicht viel. Mein Herz scheint sich verschlossen zu haben. Es klopft immer nur ganz gleichmäßig und ruhig gegen meinen Brustkorb.

Keine kleinen oder großen Sprünge mehr, wie wenn du mich auf so vielen Arten zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht hast. Keine kleinen Aussetzer mehr, wenn wir uns zügellos liebten... Nichts!

Immer nur dieses gleichmäßige Bumm Bumm, welches gegen meinen Brustkorb schlägt.
 

Part 42 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

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Part 43

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Kida (by Stiffy)
 

„Kida! Hey, aufwachen!“

„Hm?“ Ein wenig erschrocken wache ich aus meinem Schlaf auf, wälze mich herum, blinzle, erkenne meine Mutter, presse die Augenlider wieder herunter. Was soll das denn jetzt?

„Weißt du welcher Tag heute ist?“

Wieso ist ihre Stimme so genervt?

„Freitag...“, gebe ich nach ein paar Sekunden des Nachdenkens preis.

„Ah ha! Richtig, und weiter?“

Ich zucke mit den Schultern, habe das Bedürfnis, mich unter der Decke zu verkriechen. Gestern Nacht habe ich mal wieder etwas länger mit Sakuya gechattet, der von seinem Schultag erzählte... Es war so schwer, überhaupt aufzuhören...

„Hey!“ Sie tritt an mich heran, zieht die Decke ein Stück zurück. „Steh endlich auf!“

„Wieso sollte ich?“, fauche ich nun.

„Heute ist Freitag, der 1. April Freitag. Von wegen, die Uni geht erst am Montag los! Okazaki hat vorhin angerufen und wollte fragen, ob er dich abholen soll... Und du? Du liegst im Bett und pennst! Dachtest du, der März hat neuerdings 32 Tage, oder was?... Hey! Hörst du mir überhaupt zu?“

„Ja, verdammt!“ Mit einem Mal sitze ich senkrecht im Bett, funkle sie an.

„Mach dich fertig, die Einführung beginnt in ner Stunde.“

„Ja.“

Ich folge ihr mit den Augen, bis sie meine Tür endlich wieder von außen geschlossen hat... und dann habe ich das Bedürfnis, meinen Kopf irgendwo gegen zu schlagen.

Ich springe auf, greife nach meiner Hose, die neben meinem Schreibtisch auf dem Boden liegt.

Ich bin gar nicht bereit dazu, da jetzt hinzugehen. Ich will nicht heut schon... Ich will gar nicht! Kann ich die Uni nicht einfach sausen lassen? Ist doch eh alles egal, was ich tue, es bringt dich auch nicht zurück...

Fertig angezogen sinke ich auf mein Bett zurück, den Rucksack vor mir.

Nicht ein Mal hab ich ihn geöffnet in den vergangenen Wochen, nicht ein Mal auch nur irgendwas gelernt, selbst wenn ich es meiner Mutter gesagt habe. Ich konnte ihn einfach nicht öffnen, es ging nicht...

Zögernd ziehe ich nun zwei Bücher hinaus und mein Etui mit den Stiften... den Block hinterher, den ich danach einige Sekunden lang einfach auf meinen Beinen ruhen lasse, bevor ich wage, ein bisschen zu blättern. Und tatsächlich, zwei Seiten vorher entdecke ich Sakuyas Schrift... ein paar englische Vokabeln, nichts besonderes, nur ein paar Worte zum Thema Informatik... der Anfang davon, mich ein wenig mehr auf die Uni vorzubereiten, in der ich garantiert auf eine Fülle an englischen Begriffen treffen werde... Eine kleine Lernhilfe, Vorbereitung, du, der sich für mich Gedanken darüber macht, was mir wohl bevorsteht... Du, der...

Ich reiße das Blatt heraus, zerknülle es, schluchze trocken und presse es an meine Stirn, obwohl ich es durchs Zimmer pfeffern wollte.

Ein Tag bevor du gingst, wurde dies geschrieben... nur ein Tag... Verdammt, hätte ich gewusst, was danach passiert, wäre mir alles so scheiß egal gewesen! Denn wäre mir so viel mehr eingefallen, als so was zu lernen... so verdammt viel mehr!

Nun spüre ich doch, wie mir Tränen in die Augen steigen.

Verdammt, nicht schon wieder, nicht weinen!

Ich stehe auf, schütte den Rucksack auf meinem Bett aus und packe dann nur ein paar Sachen wieder hinein... das zerknüllte Blatt immer noch in meiner Hand, auch beim Mülleimer nicht fähig, es wegzuwerfen. Schließlich landet es auf meinem Schreibtisch.

Seufzend trotte ich ins Bad, führe eine Katzenwäsche durch und werfe nur einen kurzen Blick in den Spiegel, auf mein jämmerliches Erscheinungsbild.

Das ist auch egal! Was soll ich denn so tun, als ginge es mir gut?

„Ich geh!“, rufe ich zurück.

„Willst du nicht noch schnell was es-“

„Nein.“ Damit lasse ich die Haustür ins Schloss fallen.
 

Auch wenn ich mir mehr als nur ein bisschen Zeit lasse, die richtige Bahn zu erwischen und dann aufs Unigelände zu trotten, komme ich schließlich tatsächlich fünf Minuten vor Beginn an. Ein bisschen erleichtert bin ich schon, als ich Schilder entdecke, die mir den Weg weisen, denn den Zettel mit der richtigen Raumnummer habe ich nicht dabei, auch wenn der mir allein wohl nicht viel nützen würde.

Als ich schließlich den Raum betrete, schnürt es mir die Kehle zu. Zu viele, viel zu viele Leute! Schnell lasse ich meinen Blick herumwandern, erkenne, dass nur in der vordersten Reihe noch ein Platz frei ist, zwänge mich durch zu diesem und will dann am liebsten in meinem Stuhl versinken.

Es ist so laut hier...
 

Was uns erzählt wird, dauert knapp eineinhalb Stunden, in denen es mir wirklich schwer fällt, aufmerksam zuzuhören. Es werden rein informative Sachen gesagt, ein paar Erklärungen darüber abgegeben, was uns in diesem, unserem ersten Semester erwarten wird... Ein Plan mit den angebotenen Vorlesungen wird verteilt, einer mit einem beispielhaften Stundenplan, wie man wohl seine Woche am besten aufteilen könnte... Noch mehr Förmlichkeiten, ein paar Kontaktdaten und drei Professoren, die sich vorstellen.

Zu viel auf einmal, viel zu viele Informationen!

Als das Gelabere endlich dem Ende zugeht, werden fünf Gruppen gebildet die jeweils einem Studenten eines höheren Semesters zugeteilt werden. Dieser soll uns herumführen, uns noch ein bisschen was erklären und zeigen, wo unsere Vorlesungssäle und die anderen wichtigen Räume sind. Vielleicht das erste wirklich Sinnvolle an diesem Tag...

Doch das glaube ich nicht besonders lange, denn selbst wenn ich eigentlich schon immer einen recht guten Orientierungssinn hatte, so fällt es mir schwer, mir nach ein paar Minuten noch zu merken, wie ich zurück käme zu dem Raum, in dem wir zuvor waren. Als ich das erste Mal hier war, kam mir das Gebäude bei weitem nicht so kompliziert vor... na ja, da war ich ja auch nur im Untergeschoss.

Für zwei Kurse werden wir einen Raum im Elektrotechnikbereich brauchen, wofür wir nun über das gesamte Gelände geführt werden. Am Eingangsbereich vorbeikommend, habe ich das Bedürfnis, einfach zu verschwinden, doch gerade, als ich tatsächlich noch ein bisschen mehr gewillt bin, es zu tun, spricht mich irgendwer von der Seite an.

„Also ich weiß nicht, ich versteh diesen Plan nicht, du?“

Irritiert schaue ich mich um, mit dem Gedanken, dass er wahrscheinlich jemand anderen gemeint hat, doch sein Blick zeigt mir, dass tatsächlich ich der Angesprochene bin. Und dann, im nächsten Moment, als ich ihn noch etwas länger fixiere, fällt mir auf, dass ich den Typen tatsächlich kenne. Naja, was heißt kennen, aber ich hab mich am Kennlerntag eigentlich recht gut mit ihm unterhalten – damals hat mich ja auch noch interessiert, mit wem ich es in Zukunft so zu tun haben werde. Wie hieß er denn noch gleich? Irgendwas komisches war das...

„Eiji“, grinst er mich an. „Katatsumuri Eiji... Ja, tatsächlich mit den Zeichen für Schnecke... schrecklich, oder?“

Genau! Ein Licht geht mir auf, habe ich genau diesen Satz doch schon mal gehört.

„Du warst Kida, nicht wahr? Ich kann mir Namen ganz gut merken...“

„Ich nicht unbedingt...“, sage ich, nur um etwas gesagt zu haben.

„Nicht schlimm!“

Mir wird freundschaftlich auf die Schulter geklopft, was mich zusammenzucken lässt. Kann er aufhören, so zu tun, als seien wir die besten Freunde? So ewig haben wir uns jetzt auch wieder nicht unterhalten.

„Jetzt aber mal dazu zurück...“ Er hält mir den Plan vor die Nase. „Sag mir bitte, dass nicht nur ich das äußerst kompliziert finde...“

Ich erinnere mich, dass Tatsuya mir den Plan mit den Fächern, Zeiten, Raumnummern und anderen Informationen aufgedröselt hat, wusste er doch genau, wie irritierend das für einen Erstsemester sein kann. Doch auch wenn ich so zumindest ein wenig Ahnung habe, habe ich nun so gar keine Lust, ihm das zu erklären.

„Ich kenn mich da auch nicht so aus...“, sage ich deshalb und wende meine Aufmerksamkeit wieder dem uns herumführenden Studenten zu, mit dem wir gerade in einem Computerraum angekommen sind.

Kann ich nicht langsam nach Hause? Irgendwie wird mir das grad echt zu viel!

„Hast du das von heut Abend gehört?“

Seufzend sehe ich ihn nun doch wieder an. „Was denn?“

„Ein paar wollen direkt ausnutzen, dass wir das Wochenende vor uns haben und sich irgendwo treffen... Bisschen beschnuppern... Mal gucken was so an weiblichen Wesen dabei ist.“ Er zwinkert mir vielsagend zu.

„Aha.“ Ich wende meinen Blick desinteressiert wieder ab, starre auf einen der Computer vor uns.

„Du kommst doch auch, oder?“

„Nein.“ Wieso sollte ich auch, was soll es mir bringen? Neue Kontakte knüpfen?

„Nein? Ach, komm schon, nicht dein Ernst! Du-“

„Ich muss arbeiten“, fällt mir gerade noch rechtzeitig ein.

„Wie lang denn?“

„Lang genug.“

„Und das heißt?“

„Zehn.“

„Na dann kommst du halt danach!“

„Also ich-“

„Überleg’s dir! Sind bestimmt ein paar nette Leute da!“

Eine Antwort wird mir erspart, denn in dem Moment ist unsere Führung zuende und somit mein erster, nicht wirklicher Unitag... hätte ich ihn mir nicht sparen können? Naja, wichtig war das meiste schon, aber trotzdem...

Ich drehe mich um, versuche den Weg zum Ausgang zu rekonstruieren.

„Kida!“ Schon ist Eiji wieder neben mir, ich verdrehe die Augen. „Also was ist jetzt?“

„Ich denke nicht, dass-“

Sein tiefes Seufzen lässt mich verstummen, er sieht mich an, während er schnell neben mir her läuft.

„Wir treffen uns in der Bar da vorne ab acht Uhr.“ Er deutet aus dem Eingangstor, das wir nun erreicht haben, auf die gegenüberliegende Straße.

„Schön“, sage ich, keine Lust auf weitere Diskussionen ohne dem Finger großartig zu folgen. „Ich muss jetzt los!“

„In Ordnung! Ich warte noch auf jemanden... Also bis später!“ Damit dreht er sich um und lässt mich allein – Endlich!
 

Auf dem Rückweg betrachte ich die Zettel in meinen Händen noch ein bisschen genauer.

Das ist es nun also? Meine Zeit als Student beginnt?

Ich war drauf vorbereitet, aber irgendwie geht es jetzt doch so verdammt schnell. Der neue Lebensabschnitt, über den Sakuya und ich seit seinem Kennlerntag so oft geredet haben, nun ist er da... und damals noch habe ich es mir so ganz anders vorgestellt, da dachte ich noch, dass es mich begeistern würde und nicht nerven... da dachte ich noch, dass ich dir danach erzählen kann, was uns alles so erklärt wurde, und es dann vergleichen mit deinen eigenen Erlebnissen...

Und jetzt? Jetzt ist alles ganz anders...
 

Zuhause angekommen, verrät mir die Uhr, dass es in Boston jetzt schon wieder Nacht ist. Seufzend sitze ich minutenlang vor meinem natürlich schweigenden ICQ, bis ich mich dazu entschließe, Sakuya eine eMail zu schreiben... Das Fenster geöffnet, starre ich auf die weiße, leere Schreibfläche.

„War heute zum ersten Mal in der Uni...“, tippe ich ein, ziehe meine Hände wieder zurück.

Mein Herz verkrampft sich.

Und jetzt? Was und wie soll ich dir das denn jetzt berichten, in komischen, geschriebenen Worten? Überhaupt.. was gibt es schon groß zu berichten?

Hin und her überlegend schließe ich das Fenster wieder ohne die Nachricht zuende geschrieben oder abgeschickt zu haben.
 

Die Arbeit heut ist genauso Routine, wie die letzten Male auch. Ich spreche wenig, versuche einfach, meine Aufgaben zufriedenstellend zu erledigen, damit ich anschließend guten Gewissens wieder verschwinden kann.

Heute gibt es wenig zu tun. Obwohl Freitag ist, ist das Restaurant außergewöhnlich leer – wie mein Chef schon erwartet hat, immerhin ist irgendeine Automesse hier in der Gegend, bei der es auch kostensloses Essen gibt.

So also ist es nun weitaus weniger hektisch als sonst, eher bleibt einem Zeit, ein paar Gespräche auszutauschen – nicht gerade nach meinem Geschmack im Moment. Tatsächlich versucht Naoki mich in ein Gespräch zu verwickeln, doch wirklich dazu animieren lasse ich mich nicht. So erzählt er mir also die meiste Zeit irgendetwas.

„Hey, komm schon, Mann, mach doch mal den Mund auf!“, seufzt er schließlich, jongliert mit seinem Messer und einer Zwiebel herum.

„Ich hab nichts zu erzählen“, erkläre ich, wende mich wieder den Kräutern zu, die eigentlich schon dreimal klein genug gehackt sind.

„Kann ich mir ganz nicht vorstellen. Irgendwas musst du in den letzten vier Tagen doch gemacht haben!“

„Nein.“

„Gar nichts?“

„Nein.“ Und selbst wenn, was geht ihn das schon an?

„Wie öde!“

„Na und?!“, funkle ich ihn nun an.

„Ist ja schon gut!“ Er schüttelt den Kopf. „Dir scheint ja echt ne Laus über die Leber gelaufen zu sein...“

Ich verkneife es mir, irgendeinen Kommentar dazu abzugeben. Was weiß er denn schon? Nichts, rein gar nichts!
 

Es ist knapp zwei Stunden später, als mein Chef mir erklärt, dass es für mich okay wäre, jetzt nach Hause zu gehen. Und so betrete ich wenige Minuten danach die gerade eingefahrene Bahn.

Und jetzt?

Wenn ich nach Hause komme, ist es still und leer. Lynn schläft schon, meine Mutter ist nicht da... nur Takehito, dem ich eigentlich versuche, einfach nur aus dem Weg zu gehen.

Und du... du bist schon wieder so gut wie in der Schule...

Wieso leben wir bloß so aneinander vorbei? Wieso muss es so sein?
 

An meiner Haltstelle ausgestiegen, bleibe ich stehen.

„Du musst dich mal wieder auf was anderes konzentrieren...“ Gestern in einer Diskussion meinte meine Mutter, diesen Satz loslassen zu müssen.

Aber muss ich das wirklich? Natürlich sollte ich... aber wie bitte soll ich damit beginnen? Ich schaffe es nicht so einfach weiterzumachen... so leicht, wie alle denken, ist das nicht, nicht für mich!

Ich kann dich nicht loslassen und akzeptieren!

Ich kann damit einfach nicht umgehen...

Wieso begreift das denn keiner? Wieso wollen alle, das ich weiter mache? Wie denn weiter machen, wie, verdammt noch mal?

„Überleg’s dir! Sind bestimmt ein paar nette Leute da!“

Gerade als ich mich in Bewegung setze, fallen mir Eijis Worte wieder ein.

Würde es so gehen... wieder anzufangen? Indem ich dort nun hingehe?

Langsam nur tragen meine Füße mich zurück zum Gleis, von dem ich gekommen bin. Eine Minute bis die Bahn einfährt...

Will ich das wirklich?

Will ich wirklich in dieser verruchten Bar rumhängen und mich mit irgendwelchen wildfremden Leuten unterhalten, die gar keine Ahnung haben? Sollte ich dann nicht besser ins doubleX gehen? Dort kennt mich jemand, dort muss ich mich nicht erklären, dort... dort darf ich mir wieder nur irgendwelche guten Ratschläge anhören, nicht wahr?

Seufzend steige ich in die einfahrende Bahn, kurz danach mit den selben Gedanken an der ersten Haltestelle, an der ich umsteigen muss, wieder aus...

Wieso tue ich das gerade? Ich will da doch gar nicht hin... aber ich will auch nicht in mein stilles Zimmer, mit dem stillen PC, mit den mittlerweile eingerahmten Vergissmeinnicht auf meinem Tisch, mit den verstreuten Schulsachen, die ich heute Nachmittag versucht habe, nicht zu beachten... Ich will nicht dahin, wo ich allein bin, wo ich schon seit Tagen nur über eine Lösung nachdenke, ohne dass ich je eine finden werde.

Ich will nicht dahin zurück, ich-

Doch, ich will - Oder zumindest will ich nicht in die Bar!

Genau das wird mir urplötzlich bewusst, als die nächste Bahn, die ich nehmen müsste, einfährt.

Stocksteif bleibe ich stehen.
 

Dennoch ist es wenige Minuten später, als ich wieder in meiner Bahn zurück sitze, ein beklemmendes Gefühl, nun doch zurückzufahren. Ich starre nach draußen in die Schwärze des Tunnels, den wir durchrasen.

Schwarz... genau wie das Hier und Jetzt, genau wie meine Zukunft. Nicht mal ein kleiner Lichtblitz in der Ferne... Wo bist du bloß, Sakuya, warum bist du so weit weg, dass ich dich nicht sehen kann?

Ich stütze den Kopf in die Hände, aber nur eine Sekunde lang, denn da kommt die Bahn auch schon wieder zum Stehen.

Hinaus unter der Erde treffen als erstes Regentropfen mein Gesicht. Gerade hat es noch nicht geregnet, oder? Wann überhaupt zum letzten Mal? Da warst du noch hier, oder?

Ich ziehe die Jacke ein wenig enger um mich, setze meinen Weg fort. Erst als ich an einer bestimmten Kreuzung ankomme, halte ich inne.

Ob ich...
 

„Hey Kida, was für eine Überraschung!... Oh, du bist ja ganz nass...“

„Ich... ja...“

„Komm schon rein!“

„Danke...“ Gesenkten Kopfes gehe ich der Aufforderung nach.

„Natürlich! Sanae, Kida ist da!“

Ich streife mir zögernd die nasse Jacke von den Schultern, auch wenn ich mir plötzlich so uneingeladen vorkomme... naja, ich bin es ja auch.

Die Tür in meinem Blickfeld wird aufgerissen.

„Kida?“ Ein vollkommen verwirrter Blick trifft mich, ihre Mutter nimmt mir die Jacke ab und verschwindet damit im Bad. „Was machst du denn hier? Ist irgendwas passiert?“

„Ich... Sakuya ist weg...“, flüstere ich.

„Aber das...“ Ein mitleidiger, schwer ertragbarer Blick gefolgt von einem Seufzen, der deutlich macht, dass sie meine einsame Aussage versteht. Sie kommt auf mich zu. Ihre Hand berührt kurz meine, doch wissend wie schwer ich Berührungen im Moment ertragen kann, will sie ihre sofort wieder zurückziehen. Im selben Augenblick halte ich sie fest.

„Kann ich... heute hier bleiben?“

„Natürlich kannst du!“ Ein Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen. „Kyo ist im Moment noch da, aber-“

„Oh! Ich wollte nicht stören! Ich-“

„Aber!... Er wollte gleich eh gehen!“ Ihr Lächeln wird fester, der Griff ebenfalls. „Und du gehst nicht, verstanden? Du hast dich schon zu lange in deinem Zimmer verkrochen!“ Damit werde ich mit zur Tür gezogen.

„Hi!“, grüßt Kyo mich vom Bett aus.

„Hi...“, erwidere ich halbherzig mit dem nun vollkommenen Gefühl, hier falsch zu sein.

„Da, setz dich!“ Ich werde auf ihren Schreibtischstuhl hinuntergedrückt.

Danach herrscht Stille. Na toll, jetzt vermiese ich den beiden auch noch den Abend... ich hätte nicht her kommen sollen.

Sanae erklärt Kyo drucksend, dass es regnet, dass er einen Schirm bekommt... Aufbruchstimmung.

„Tschüss, bis bald!“, wendet er sich an mich und ich nicke nur. Einen Moment sieht er mich an, wirkt als wolle er etwas sagen, tut es dann aber nicht.

Als ich alleine bin, meine ich flüsternde Stimmen aus dem Flur zu vernehmen. Ruhige Stimmen...

Ich lasse meinen Blick über den Schreibtisch wandern, auf dem ein paar aufgeschlagene Bücher liegen. Physik. Mein Blick wandert darüber hinweg, trifft auf einen gelben Bilderrahmen... Mein Herz bleibt stehen.

„Was ist denn das? Du hast ein Bild von mir, wie süß!“

„Ich habe es ausgetauscht, als ich mit Kyo zusammenkam“, reißt mich Sanaes Stimme aus meinem Schreckenszustand heraus. Sie deutet auf das Bild in meine Händen, auf dem sie und Kyo zu sehen sind.

„Das...“ Meine Kehle ist trocken.

Ein Foto von dir... dass eines hier existiert... warum habe ich bisher nicht daran gedacht?

„Das Foto...“, bringe ich nun hervor. „Kann ich... kann ich es sehen?“

„Natürlich, warte kurz!“

Sie dreht sich um, beginnt wie wild in einer Schublade zu kramen, irgendwie hektisch. Dann, als sie es scheinbar gefunden hat, hält sie inne.

„Kida, das... ich weiß nicht, ob...“

Ich habe das Bedürfnis, ihr das Bild aus der Hand zu reißen, doch stattdessen strecke ich nur meine danach aus... diese zittert.

Sanae fährt sich durch die Haare, seufzt, reicht mir dann das Bild.

Das Gefühl, als ich es an mich nehme, umdrehe und dein strahlendes Gesicht sehe... Gott, wer weiß, wie man das beschreiben kann. Es ist unbeschreiblich, es ist schrecklich, es tut weh... Es ist, als würde mein Herz zerreißen.

Ein Schluchzen verlässt meine Kehle, während meine zitternden Hände ein Betrachten kaum möglich machen.

Eine Hand lässt mich zusammenfahren, dann schlage ich sie weg.

Schmerzen... höllische Schmerzen in meiner Brust und das Gefühl, in dieses Bild kriechen zu wollen.

Wieso kannst du jetzt nicht hier sein und genau so strahlen, wie auf dem Bild?

Wieso sind das alles nur Erinnerungen?

Wieso kann man die Zeit nicht zurückdrehen? Ich würde alles dafür geben, wirklich alles! Es muss noch nicht mal zu einem Moment sein, in dem du so fröhlich warst... Es kann ein Streit sein oder sonst eine unangenehme Situation... solange wir nur noch zusammen sind, solange du noch hier bist... dann wird schon alles wieder gut, dann kann ich dich zum Lachen bringen.
 

Verständlicherweise schlafe ich in dieser Nacht grauenhaft schlecht. Ob es wirklich nur an dem Bild liegt, weiß ich nicht... Ich fühle mich einfach unwohl hier, auf diesem Futon, in diesem Zimmer.

Wieso bin ich her gekommen?

Gesellschaft? Was ist heute los, dass ich denke, welche zu brauchen? Eigentlich will ich doch nur schon wieder allein sein...

Aber wenn ich nicht gekommen wäre, hätte ich das Foto nicht...

Ist strecke die Hand über den Rand des Futons hinweg, finde mit den Fingerspitzen das naheliegende Foto gebettet auf meinem Pullover. Zärtlich streiche ich darüber, das Gesicht darauf genau vor Augen.

Noch eine Erinnerung mehr habe ich nun an dich... noch etwas, dass ich sehen werde, das mir dich zeigt, und das dennoch nichts ist im Vergleich zu dem, was du wirklich bist. Was sind diese Erinnerungstücke schon wert, wenn du am anderen Ende der Welt bist? Nichts, rein gar nichts... und dennoch...

Wie so oft in letzter Zeit schenke ich dem silbrigen Armband meinem Handgelenk einen Kuss, spüre dabei das Plättchen an meinem Kinn.

Meine Welt...

Sie ist stehen geblieben ohne dich. Wie soll ich sie bloß je wieder zum Drehen bekommen? Wie wenn es so weiter geht?
 

~ * ~
 

Als ich am nächsten Tag relativ spät nach Hause komme, da Sanae mich vor dem Mittagessen einfach nicht weglassen wollte, erwartet mich ein Telefongespräch.

„Akito“, deutet meine Mutter mir und hält mir den Hörer hin. Widerwillig nehme ich ihn an.

„Hi“, sage ich zögernd.

„Hi!“ Vollkommene Fröhlichkeit am anderen Ende. „Passt ja, dass du grad zurück bist!“

„Ja...“

„Ich wollt fragen, ob du heut Abend da bist. Ich bin bis morgen noch in Tokyo...“

„Ich... na ja....“ Absagen, Ausreden, irgendwas!

„Ja?“

„Ja, bin ich...“, resignierend gebe ich ziemlich schnell nach. Es wird für einige Zeit wohl das letzte Mal sein, dass ich ihn sehen werde...

„Klasse! Um Sieben?“

„Okay...“

Als das Telefongespräch beendet ist, erkenne ich meine Mutter im Türrahmen der Küche.

„Akito kommt heute Abend“, informiere ich sie, klinge wohl nicht gerade erfreut.

„Das ist doch toll! Du hast im Moment sowieso zu wenig Kontakt, es wird dir-“

„Gut tun?“, beende ich ihren Satz. „Verdammt, warum denkt ihr eigentlich alle, dass ihr wisst, was mir gut tut?!“ Schnell drehe ich mich um und verschwinde in meinem Zimmer.

Wieso ist es so, dass, wenn es einem schlecht geht, jeder immer einen guten Rat auf Lager hat? Können sie ihre Meinungen nicht für sich behalten? Ich werde schon wissen, was am besten für mich ist, oder nicht?

Seufzend und mit dem Gefühl anfangender Kopfschmerzen lasse ich mich an meinem Schreibtisch nieder. Ich ziehe das Foto aus meiner Jackentasche.

Du verstehst mich als einziger... weil nur du weißt, wie es uns jetzt geht.

Ich fahre den PC hoch, nicht wirklich erwartend, dich im ICQ anzutreffen. Dafür erwartet mich eine kurze eMail von dir. Nichts besonderes, nur ein paar Beschreibungen deines Tags... das übliche halt... und dennoch macht es mich glücklich.

Ebenfalls ein paar Kleinigkeiten in die Tastatur eintippend, habe ich mal wieder das Gefühl, dass hier irgendwas falsch läuft. Egal wie oft ich mir sage, dass es für die nächste Zeit genau so ablaufen wird, kann ich es einfach nicht in meinen Kopf bekommen...

Ich schaffe einfach nicht, all das zu begreifen, es geht nicht, egal wie sehr ich es versuche.
 

„Halli Hallo!“ Ein fröhliches Gesicht trifft mich, als ich am Abend widerstrebend die Tür öffne... eine Fröhlichkeit, die mir heute deutlich gegen den Strich geht.

„Hi“, erwidere ich nur, bitte ihn hinein und verschwinde schnell mit ihm in meinem Zimmer, bevor noch irgendwer einen komischen Spruch ablassen kann.

„Morgen geht’s also los?“, frage ich dann auch sofort, als er sich auf meinem Schreibtischstuhl niedergelassen hat. Ich selbst lasse mich aufs Bett fallen.

„Jup... war ja eigentlich schon in Aomori, musste aber noch ein paar Sachen von hier holen... Morgen fahre ich wieder zurück und werd dann Tokyo wohl auch erst mal keinen Besuch mehr abstatten. Daher dachte ich, komm ich noch mal bei dir vorbei. Du hast ja in letzter Zeit nicht auf meine eMails geantwortet.“

„Sorry, das.... ich hatte den Kopf voll.“

„Schon klar.“ Ein Zwinkern, ein immer noch viel zu lustiges Gesicht. „Und? Wie läuft’s so? Wie ist die Uni?“

Ich zucke mit den Schultern. „Nichts besonderes.“ Zögernd erzähle ich das, was ich vorher noch in der Mail an Sakuya geschrieben habe... allerdings viel kürzer.

„Schon ein paar nette Leute kennengelernt?“

Ich zucke abermals mit den Schultern.

„Mein Gott, was ist denn mit dir los? Bist so kurz angebunden!“

Und wieder ein Schulternzucken meinerseits. „Willst du was trinken?“

„Klar, immer doch.“

Fast fluchtartig verlasse ich mein Zimmer. Oh mein Gott, ich fühle mich nicht bereit, heute eine große Unterhaltung mit ihm zu führen!

Kurz darauf wieder in meinem Zimmer, fallen mir beinahe die Gläser aus den Händen.

„Wer sind die denn?“, fragt Akito und hält das Foto hoch, welches ich neben die eingerahmten Vergissmeinnicht gelegt habe.

„Der eine ist mein Freund und der andere sein bester Freund aus Amerika“, erkläre ich und reiche ihm eine Glas.

Er nimmt es, stellt es ab... Sein skeptischer Blick trifft wieder das Foto. „Haben die auch Namen?“

„Sakuya und Kevin“, antworte ich zögernd, mich fragend, ob er meine Anspielung wirklich so gar nicht wahrgenommen hat.

„Seit wann kennst du zwei Ausländer? Und wieso hast du ein Bild von denen?“

„Ich kenne Sakuya aus der Schule...“ Auf die zweite Frage antworte ich nicht... aber zum Glück stellt er sie nicht erneut.

„Aha.“ Er legt das Bild zur Seite. „Wenn du schon eins von denen hast, hast du dann auch eins von deiner Freundin hier?“

„Das...“ Ich schlucke, spüre, wie mir irgendeine merkwürdige Kraft mit einem Mal die Luft zum Atmen raubt. „Das hattest du grade... in der Hand...“ Mit jedem Wort werde ich leiser.

„Hä?“ Er schnappt sich das Foto wieder, sieht stirnrunzelnd von Kevin zu Sakuya und wieder zurück.

„Ich bin... mit Sakuya zusammen.“

Das Foto segelt zu Boden. Herzklopfend sehe ich ihm dabei zu, lasse dann nur zögernd meinen Blick wieder hinaufwandern zu der in der Luft schwebenden Hand, die nicht mehr stark genug war, es zu halten.

„Wie bitte?“, kommt es ganz langsam und ich zwinge mich, ihn anzusehen.

Fast zucke ich zusammen bei dem Gesichtausdruck, der sich mir bietet. Ist das nun einfach nur Schreck oder wirklich Abscheu?

Ich spüre meine Finger sich um mein Handgelenk verkrampfen, wie als Hilfe... obwohl es so gar nicht hilft.

„Sag mir nicht, dass du schwul bist?!“

Ich nicke, weiß nicht, was ich sagen soll.

„Is nicht dein Ernst? Du bist wirklich ne Schwuchtel?“ Das letzte Wort spuckt er regelrecht aus, dass es mich zusammenzucken lässt.

„Ja“, spreche ich nun, wissend, dass es wichtig ist, jetzt damit nicht zu versagen. Als er schweigt, mich nur weiter aus großen Augen ansieht, fahre ich fort. „Ich... bin seit letzten Herbst mit ihm zusammen. Ich wollte dir das ständig sagen, aber dann hat Miyako gesagt, dass-“

„Hör auf sie da mit reinzuziehen!“, unterbricht er mich scharf. „Sie hat mit so was ja wohl gar nichts zu tun! Und außerdem interessiert mich nicht, seit wann da so was läuft... Es ist eher, dass... Oh Mann!“ Er springt auf, fasst sich in die Haare, läuft schnell ein paar Schritte im Zimmer herum. „Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet du... Du! Waren dir Mädchen nicht mehr genug? Da hättest du doch auch irgendwas anderes machen können, du musst doch nicht gleich-“

„Hey, stopp mal!“, bin ich es nun, der ihn energisch unterbricht. Ich stehe vom Bett auf. „Das war nicht mal eben so! Ich liebe Sakuya!“

„Oh Gott, dass wird ja immer schlimmer!“ Ein heftiges Kopfschütteln zu den fest ausgestoßenen Worten. „Liebe? Wie kann man denn bitte nen Kerl lieben?“

Sprachlos sehe ich ihn an.

Das ist doch jetzt alles nicht wahr! Das kann ich jetzt nicht gebrauchen! Wieso muss er so reagieren? Wieso ausgerechnet jetzt?

„Doch, natürlich geht das!“, versuche ich weiterhin fest zu klingen.

„Ich glaub’s nicht!“ Er wendet sich ab, läuft zur Wand, kommt wieder zurück, sieht mich durchdringend an. „Willst du mich verarschen? Das ist es doch, nicht wahr? Soll ich jetzt anfangen zu lachen?“

„Nein!“

„Nein? Das heißt, er wird gleich wirklich hier rein spazieren und ihr werdet euch ablecken und- Wah, ich will gar nicht darüber nachdenken!“

„Nein, er ist nicht mehr hier.“ Kurz stockt er, was ich nutze, um weiterzusprechen. „Sein Vater hat ihn nach Amerika gebraucht, weil er schwul ist.“ Warum sage ich ihm das? Will ich, dass ausgerechnet er mich bedauert? Er tut das ganz sicher nicht!

„Echt?“ Fast so was wie ein Grinsen auf dem Gesicht, das ich immer als freundlich empfunden habe. „Na, da ist ja wenigstens einer vernünf-“

„Jungs, was ist denn hier für ein Lärm?“

Meine fragend dreinschauende Mutter... Akito, der einen Schritt vor mir zurückweicht.

„Nichts“, versichere ich ihr, nachdem ich ihm einen forschenden Blick zugeworfen habe.

„Na gut.“ Ihr Blick geht zwischen uns hin und her, bis sie bei Akito hängen bleibt. „Willst du heute Abend hier essen?“

„Nein“, kommt es meiner Meinung nach zu schnell, viel zu schnell. „Ich wollte gleich gehen...“

Ein Nicken, dann verlässt meine Mutter uns wieder. Ich starre die nun geschlossene Tür an.

Was jetzt?

Stille tritt ein und ich habe das Bedürfnis, Akito entweder rauszuschmeißen oder vernünftig mit ihm zu reden. Beides ist wohl irgendwie nicht möglich, nicht wahr?

Ich sehe ihn an, er, der den Blick gesenkt hat und nachdenklich wirkt.

„Was ist jetzt?“, frage ich schließlich, selbst wenn ich nicht weiß, was ich mir als Antwort erhoffe. „Hast du ein Problem damit?“

„Ob ich ein Problem damit habe? Meinst du das im Ernst?“ Sein Blick hebt sich, zeigt mir pure Abwertung. „Du willst wirklich wissen, ob ich ein Problem damit habe, dass du ne komische Fernbeziehung mit irgendeiner amerikanischen Schwuchtel führst, was eh nicht lange halten wird? Ob ich ein Problem damit habe, dass du nen Kerl brauchst, dem du es besorgen kannst? Oh, weißt du was, ich glaub das hab ich wirklich... Und jetzt?“

Für einen kurzen Moment bin ich sprachlos durch seine heftigen Worte, durch den durchdringenden Blick und die kalte Stimme.

Was habe ich mir erhofft? Egal was es war, es ist nicht wahr geworden.

Maßlos enttäuscht schüttle ich den Kopf. Nein, das hätte ich nun wirklich nicht erwartet.

„Du wolltest jetzt gehen, oder?“, bringe ich schließlich hervor. „Ich glaub, das wird das beste sein.“

Ich gehe an ihm vorbei zur Tür, reiche ihm im Flur seine Jacke und fühle mich an der Haustür tatsächlich gewillt, noch etwas Versöhnliches zu sagen. Aber ist es jetzt nicht an ihm?

Er jedoch spricht kein Wort mehr, weicht meinen Blicken aus und zuckt nur die Schultern, als meine Mutter ihm ein „Bis bald und viel Glück an der Uni!“ aus der Küche hinterher ruft.

Auch ich bekomme keinen Abschiedgruß über die Lippen sondern kann ihm nur nachsehen bis er im Fahrstuhl verschwunden ist.

„Ist irgendwas?“, kommt es besorgt, als ich die Tür hinter mir ins Schloss knalle.

„Nein“, sage ich nur, gehe schnellen Schrittes weiter in mein Zimmer, mit dem plötzlichen Bedürfnis, irgendwas zu zerstören.

Warum? Warum jetzt auch das noch?

Warum muss mein langjähriger Freund mich dermaßen ablehnen? Warum kann es ihm nicht einfach egal sein, dass ich schwul bin? Warum scheint es ihn... anzuekeln?

Ich lasse mich aufs Bett fallen, nicht aber ohne zuvor das Bild endlich wieder vom Boden aufzuheben und gegen meine Brust zu pressen.

Und warum bist du jetzt nicht hier? Warum kann ich jetzt nicht meinen Ärger bei dir auslassen? Warum jetzt nicht deine Stimme hören, die mir sagt, dass alles wieder gut wird?

Warum nicht?
 

~ * ~
 

Ich erzähle Sakuya am Sonntag, als wir telefonieren, nichts von Akitos Besuch. Ich sollte es tun, aber das würde ihm Sorgen bereiten... und das will ich nicht.

Außerdem könnte ich niemals die Worte über die Lippen bringen, die Akito zu mir gesagt hat. Kaum eines davon, nicht, wenn es Sakuya gegenüber ist.

Ich will nicht, dass du weißt, dass ich wahrscheinlich einen Freund verloren habe. Du kanntest ihn ja noch nicht einmal.

Als wir allerdings schließlich auflegen, habe ich das Gefühl, dass ich es ihm doch hätte erzählen sollen. Einfach um es mir auch von der Seele zu reden. So aber liege ich alleine wach in dieser Nacht und denke darüber nach, was Akito gesagt hat...

Wieso beschäftigen ein paar seiner Worte mich bloß so sehr?
 

~ * ~
 

Der Montagvormittag wird für mich leider viel unerträglicher, als ich es mir vorgestellt habe. Der Vorlesungssaal, den ich heute für meinen allerersten Kurs – Grundlagen der Mathematik – besuchen muss, scheint überfüllt. Nur wenige Plätze sind frei und einer davon – zu meinem Nachteil – schräg hinter Eiji, der mir zuwinkt.

„Hi!“, grinst er mich an. „Du hast Freitag echt was verpasst, es war klasse!“

Das Mädchen neben ihm nickt und sofort wird sie mir vorgestellt.

„Das ist Sachiko“, grinst er mich an und sie streckt mir die Hand hin. Widerwillig greife ich danach, kurz darauf glücklich darüber, nicht noch mehr hören zu müssen, da der Professor den Raum betritt. Fast schlagartig wird es ruhig.

Die erste Viertelstunde, in der hauptsächlich organisatorisches geklärt wird, ist toll. Nur er da vorne redet und ansonsten ist es fast still... Beinahe kann man vergessen, dass so viele Leute da sind.

Als er dann aber mit dem eigentlichen Unterricht anfängt, sieht es schon anders aus. Schon bald stelle ich fest, dass das erste Thema „Wiederholung“ seinem Namen wirklich gerecht wird und ich eigentlich mit alle dem, was er da vorne macht, etwas anfangen kann. Leider scheint es hier nicht nur mir so zu gehen und schon nach kurzer Zeit beginnt Eiji, mir vom Freitagabend zu berichten – Als würde es mich interessieren!
 

Auch den restlichen ersten Tag lang schaffe ich es nicht, Eiji abzuwimmeln, der mir in der Pause auch noch ein paar andere unbekannte Gesichter vorstellt. Die meiste Zeit ist aber nur die stille Sachiko bei uns, die er am Freitag kennengelernt hat.

Schlimmerweise antworte ich auf die meisten Fragen, die mir gestellt werden, auch noch, was natürlich nicht unbedingt den Eindruck erweckt, als wäre ich genervt. Redet er darum immer munter weiter?

Seufzend beginne ich schließlich, mich für diesen Tag damit abzufinden und hänge während der meisten Zeit meinen eigenen Gedanken nach...

Denn diese drehen sich noch immer um den vergangenen Samstag, den ich Schlimmerweise einfach nicht aus meinem Kopf bekomme.
 

Kurz nachdem ich am Abend zu Hause bin, klingelt das Telefon und Tatsuya meldet sich am anderen Ende der Leitung. Wie es in der Uni war, will er wissen.

„Es ging“, antworte ich, lasse mich aufs Bett fallen, nicht wirklich gewillt, all zu viel zu erzählen – Ich habe heute schon genug geredet!

„Und das heißt?“, bohrt er nach.

„Es war ganz okay.“ Ich starre gegen die Decke. „Es wäre besser, wenn Sakuya jetzt da wäre.“

Ein tiefer Seufzer in der Leitung, der mehr sagt, als tausend Worte.

„Kida...“, kommt es dann nachdrücklich. „Ich weiß, dass du immer noch traurig bist, aber meinst du nicht, dass du dich langsam... na ja... daran gewöhnen solltest?“

„Und wie soll das gehen?“ Ich beginne mit dem Armband zu spielen, spüre schon wieder Wut in mir aufkeimen.

„Ich weiß nicht, es ist nur, dass-“

„Dann lass es!“, unterbreche ich ihn. „Jeder geht doch mit so was anders um, nicht wahr? Also lass deine guten Ratschläge, sie bringen überhaupt nichts! Denkst du nicht, dass ich versuche, es zu akzeptieren? Denkst du nicht, dass ich weiß, dass es besser wäre, nicht jede Sekunde an ihn zu denken? Natürlich wäre das gut, ich weiß ja selbst, wie scheiße das im Moment ist... Aber es geht nicht, ich kann es nicht akzeptieren, ich kann nicht aufhören darüber nachzudenken, was wäre, wenn er noch hier wäre... Ich kann einfach nicht so weiter machen, als wäre kaum was geschehen! Es geht nicht!“ Mit jedem Wort werde ich lauter und am Ende sitze ich aufrecht in meinem Bett, die Hand in die Bettdecke vergraben. „Eure guten Ratschläge bringen mir nichts! Keiner von euch weiß, wie ich mich fühle, keiner, also hört endlich auf, so zu tun!“

Ich lege auf und lasse den Hörer auf den Boden fallen, will aufspringen, lasse mich dann doch kraftlos zurückfallen.

Ich könnte kotzen! Ich könnte weinen, schreien, etwas demolieren... Aber langsam weiß ich, dass nichts davon etwas bringen wird. Ich kann tun was ich will, du kommst nicht zurück, du bleibst in Amerika, egal wie sehr ich es hasse, egal wie sehr du es hasst. Uns bleibt nichts anderes übrig als damit umzugehen, damit leben zu lernen, ab und zu zu telefonieren, Mails schreiben, voneinander träumen. Aber was, wenn mir das nicht reicht? Was, wenn mir das nie reichen wird?

Was soll ich dann tun? Kann mir das nicht einer sagen? Könnt ihr mir nicht sagen, was ich tun soll, wenn dieser Schmerz nie aufhört, wenn ich immer nur davon träume, dass du gestern noch bei mir warst, wenn ich noch immer dort fest hänge und einfach nicht weitergehen kann?

Was soll ich dann tun, verdammt noch mal?
 

~ * ~
 

Viel besser verlaufen auch die Folgetage nicht.

Zuhause spricht kaum jemand mit mir, auch Lynn nicht, die in den letzten vier Wochen deutlich gemerkt hat, dass im Moment einfach nichts mit mir anzufangen ist.

Takehito lässt mich ebenfalls fast vollkommen in Ruhe, fragt am Mittwoch sogar ehrlich interessiert, was wir in den ersten drei Tagen eigentlich in der Uni gemacht haben. Zu einer langen Antwort lasse ich mich dennoch nicht hinreißen.

Meine Mutter lässt gute Ratschläge bleiben, was mich schon ein bisschen friedlicher stimmen würde, wären da nicht ständig ihre sorgenvollen Blicke.
 

In der Uni scheinen Eiji und Sachiko diejenigen zu sein, mit denen ich nun erst mal was zu tun haben werde. Zwar gesellen sich auch oft andere zu unserem kleinen Grüppchen, doch die meiste Zeit sind es wir drei. Irgendwie stört mich Eijis ständiges Gelabere zwar immer noch, doch scheine ich recht schnell zu merken, wie man darüber hinweghören kann – was vielleicht nicht all zu gut ist, da ich so wiedereinmal nur meinen eigenen Gedanken nachhänge.
 

Auch bei der Arbeit werde ich größten Teils in Ruhe gelassen.
 

Und ansonsten? Ansonsten ziehe ich es in den nächsten Tagen wieder vor, alleine zu sein, meine Aufgaben für die Uni zu erledigen und immer wieder an Sakuya zu denken. Es gibt diesbezüglich Fragen in meinem Kopf, die immer lauter werden, sich ständig wiederholen und es schaffen, dass ich mich nur noch schlechter fühle. Meist ist dies der Fall, wenn ich das Foto betrachte, wenn ich das glückliche Lachen darauf sehe, dass ich so sehr liebe und über alles vermisse. Meist dann tauchen diese Gedanken in mir auf, die höllisch schmerzen und mich dazu bringen, das Foto wieder wegzulegen.

Überhaupt ist dein Lachen etwas, das mir oft vorschwebt in den nächsten Tagen, das ich oft vor mir sehe, wenn ich an dich denke... doch immer dann wird es getrübt, verzieht es sich ins traurige und deine Augen glitzern mich leer an. So sehr ich es auch versuche, schaffe ich es nicht, diese Gespenster zu vertreiben und nur daran zu denken, wie glücklich du warst, wenn wir zusammen waren. Wir sind es nicht mehr, deshalb bist du so traurig in meinen Gedanken...
 

~ * ~
 

Zusammen mit meinen Aufgaben für Grundlagen der Topologie gehe ich am Donnerstagabend ins Bett. Lange versuche ich tatsächlich, mich auf den Text zu konzentrieren, den ich durchlesen und verstehen sollte, doch da letztes einfach nicht klappen will, befördere ich ihn zusammen mit den Aufgaben dazu vom Bett. Das bringt doch nichts!

Lange starre ich danach hinunter auf die Blätter bis ich das Licht ausschalte, es vorziehe zu schlafen.

Doch das will nicht klappen, in dieser Nacht. Um kurz nach zwei Uhr ist es, dass ich wieder auf die Uhr schaue und feststelle, dass ich immer noch hellwach bin.

Es sind diese ganzen Fragen in meinem Kopf, die mich einfach nicht zur Ruhe kommen lassen...

Zögernd stehe ich auf, packe nachdenklich die Zettel in meinen Rucksack, greife als letztes nach dem Block auf meinem Schreibtisch. Ich halte inne, lasse mich nieder, starre auf das blanke Papier.

Mein Blick wandert wieder hinauf zu den Vergissmeinnicht... ein kleiner Stich in mein Herz. Vergessen... nie könnte ich dich vergessen!

Ich greife nach einem Stift, schreibe die ersten paar Zeichen nieder, bis mir bewusst wird, dass du so nie lesen könntest, was ich schreibe. Der Zettel wandert in den Müll und als ich den Stift erneut ansetze, zittert er auf dem Papier.

Lieber Sakuya schreibe ich und halte inne. Auf dem Zettel zuvor schon ein paar Worte geschrieben, schaffe ich es nun nicht, sie erneut zu schreiben.

Wie lange habe ich schon keinen Brief mehr geschrieben... aber fällt es mir wirklich nur deshalb so schwer?

Zögernd schreibe ich die nächsten Wort auf das Blatt Papier, merke schon jetzt, dass es mir kaum gelingt, den Kuli vollkommen ruhig zu halten... und dass sich in meinen Augen Tränen bilden. Ich halte wieder inne, starre auf den unwissenden ersten Satz.

Mein Kopf ist voll, er beginnt zu schmerzen... und gleichzeitig ist er vollkommen leer. Was nur soll ich schreiben?

Wenn ich all das aufschreibe, was ich spüre, wie ich denke... wirst du es verstehen?

Ich lasse den Stift los, streiche mit meinen Fingern mein Handgelenk entlang, über den Verschluss, die Ösen... Es ist die schönste und schlimmste Erinnerung, das grässlichste, was ich von dir habe...

Ich küsse es, bevor es meinen nun fließenden Tränen den Weg auf den Tisch folgt. Ich senke den Arm wieder und zwinge mich dazu, den Stift zu erheben und weiter zu schreiben...
 

Part 43 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Japanische Schrift

~ Topologie
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 44

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Sakuya (by littleblaze)
 

Die darauffolgende Woche brachte viel;

Die Erkenntnis, dass es sich bei dem Streit zwischen Malcolm und Kevin nicht nur um eine kleine Meinungsverschiedenheit handelte.

Wir fuhren nicht mehr den Umweg zu Malcolms Haus und sahen ihm nicht mehr dabei zu, wie er immer noch abwechselnd kauend an einem Sandwich und an einer Zigarette ziehend in den Wagen stieg. Ich fragte nicht, warum dies so war. Eigentlich wusste ich auch gar nichts über ihre Beziehung und nichts über das, was vorgefallen war, doch irgendwie hatte ich bis jetzt immer geglaubt, dass bald einfach alles wieder in Ordnung sein würde.

Oft ging mir eines dieser idiotischen Missverständnisse durch den Kopf, welche die Beziehung zwischen Kida und mir gepflastert hatten. Es waren einige und manche davon waren auch nicht gerade leicht zu bewältigen gewesen, doch hatten wir es trotzdem geschafft. Und gerade mussten wir beide lernen, mit der größten Herausforderung überhaupt zu leben; Trennung, Verlust, Einsamkeit, so vieles, was man vom Gefühl her nicht beschreiben kann.

Was war es bei Ihnen? Was konnte so schwer zu überwältigen sein? Was ließ sie nicht einmal mehr miteinander reden, es so aussehen, als wäre es für immer vorbei?
 

Auch in dieser Woche hatte es Miller immer noch auf mich abgesehen.

Irgendwie fand ich es schon beinahe belustigend, wie er immer wieder versuchte, mich auf die Palme zu bringen oder irgendetwas zu finden, was mich treffen könnte. In den wenigsten Fällen hatte er damit Erfolg und wenn, dann versuchte ich es mir einfach nicht anmerken zu lassen.

Positiv hierzu kam zweifelsfrei nicht, dass ich es nicht lassen konnte, ihm vor die Füße zu werfen, dass ich wirklich die Schwuchtel war, für die er mich wohl immer gehalten hatte. Schwulenwitze, Kränkungen und widerliche Zeichnungen waren die Folge. Mit nichts anderem hatte ich gerechnet und überrascht davon, wie wenig mir dies eigentlich ausmachte.

Der weitgrößere Knackpunkt zur Zeit war das angespannte Verhältnis, welches zwischen mir und Kevin zur Zeit bestand. Einerseits konnte ich verstehen, warum es ihm im Moment nicht gut ging, dass er wahrscheinlich auch, wie Carol-Ann es geschickt ausdrückte, vielleicht ein wenig damit überfordert war, dass ich nun wieder da wäre, dazu noch bei ihm wohne. Alles nachvollziehbar, doch wollte ich im Moment nichts mehr als den Kevin zurück, den ich von früher her kannte. Den Freund, der immer für mich da war, dem ich alles erzählen konnte. Denn auch wenn meine nach Außen hin wirkende Fassade relativ standfest geworden war, fraß mich so einiges von innen her auf und er war die Person, mit der ich eigentlich darüber reden wollte. Er sollte mir meine Ängste versuchen zu nehmen, er sollte mir beistehen, mit Kida konnte ich darüber nicht reden. Ihm wollte ich nicht noch mehr belasten, ihm wollte ich zeigen, dass ich es schaffen kann... so lange war es doch auch gar nicht. Ein Jahr, was ist schon ein Jahr, das geht doch schnell vorüber.
 

Ein vertrautes Gefühl kam zurück. Ich spielte wieder Baseball.

Dass Kevin mich nicht gefragt hatte, ob ich in die Mannschaft kommen wollte, störte mich noch immer. Stattdessen waren es nur irgendwelche Jungs gewesen.

Malcolm hatte die Mannschaft verlassen, mit Kevin war nichts anzufangen, wenn er denn überhaupt einmal in dieser Woche zum Training erschien, und was ich auch tat, wo ich auch war, immer war das Thema Kevin x Malcolm präsent, und wenn ich es nicht war, der es ansprach, dann waren es mir fremde Leute um mich herum.

Manchmal nur kurz abschalten und einfach nur Spielen, dann ging es mir für kurze Zeit super. Zwar lenkte mich auch hier die Erkenntnis ab, ohne die vertrauten, liebevollen Blicke von der Tribune spielen zu müssen, und ließ die Melancholie aufsteigen, doch unterdrückte ich dies schnell wieder. Hier gehörte keine Schwäche hin, schon gar keine Tränen. Ich tat etwas, in dem ich gut war, in dem ich mich beweisen konnte. Irgendwie war mir dies gerade ziemlich wichtig geworden. Ich wollte zeigen, dass ich jemand war, jemand werden kann, nicht nur so eine typische 08/15-Nummer sein.
 

Etwas ganz Neues brachte mich hinter das Lenkrad: Fahrschule. Meine erste Fahrstunde war schlichtweg ein Desaster. Mir alles viel einfacher vorgestellt, schaffte ich kaum etwas. Es war keine wirkliche Enttäuschung, aber als Junge denkt man wohl immer, dass man sich nur ins Auto setzen müsse und direkt die nächste Rallye gewinnen könnte. Bei mir war dies nicht der Fall. Es würde wohl eine ganze Zeit lang dauern, bis ich endlich meinen Führerschein in Händen halten konnte.
 

Aber was die ganze Woche auch gebracht haben mag, nichts war enttäuschender als Kida.

Ob Baseball, die erste Fahrstunde oder einfach nur über mich. Über nichts von alledem konnte ich ihm Bericht erstatten. Zeiten, in denen ich eigentlich brav in meinem Bett liegen sollte, opferte ich dafür, um mit ihm reden zu können, doch wurde ich, wenn überhaupt ein Kontakt zur Stande kam, meistens nur kurz angehört und dann abgeschoben. Ja, so kam ich mir mittlerweile vor.

Weder das ICQ war in den meisten Fällen besetzt, noch brachten zwei meiner Anrufe Erfolg. Ich verstand das alles nicht. Auch die Erklärung, dass er die nächsten Tage und Wochen wohl sehr viel zu tun hätte und kaum Zeit für Reden war, besänftigte mich keineswegs. Ich verlangte doch gar nicht so viel von ihm, nur ein bisschen Zeit.

Natürlich, da war jetzt die Uni und die Arbeit zugleich, aber trotzdem sollte es doch drin sein, mal für eine halbe Stunde am Tag Zeit zu finden. Oder war ich da zu einfältig? War es schon so normal für ihn geworden, dass ich nicht mehr da war, schon so einfach für ihn geworden, ohne mich zu leben? Für mich ging das Leben hier auch weiter, keine Frage, und man konnte sogar ab und zu das Gefühl bekommen, dass es mir mittlerweile wieder ganz gut ging, aber trotzdem dachte ich doch die meiste Zeit nur an ihn, stellte mir vor, was ich ihm alles erzählen wollte, wenn wir endlich wieder miteinander sprachen, und freute mich immer wieder darauf, ihm ein Stückchen näher sein zu können. War es bei ihm nicht mehr so?

Doch selbst das konnte ich ihn nicht fragen, denn er ließ mir keine Chance dazu.
 

~ * ~
 

Wieder einmal Montag in der Senior High, der Dritte mittlerweile.

„Du solltest dich da raus halten.“

Ich setze ein Engelsgesicht auf. „Was meinst du?“

„Die Sache zwischen Kevin und Malcolm... halt dich raus.“

„Wer sagt, dass ich mich einmischen wollte?“

„Niemand, aber du redest seit Tagen von nichts anderem.“

Ich widme mich wieder meinen Macaroni mit Käse, während das schon etwas nervige Geräusch neben mir wieder beginnt. Abermals schaue ich auf, beobachte, wie der grüne Apfel immer mehr seiner Schale verliert, indem sie rundherum abgeknabbert wird... Irgendwie sieht das ganze Schauspiel süß aus.

„Du kannst eh nichts machen“, wird abermals von der Frucht abgelassen, ihr Kopf weist in eine Richtung. „Sie kommen nicht mehr zusammen, nichts mehr zu machen.“

„Wie kommst du darauf?“ Nicht, dass ich mir das nicht schon selber irgendwie eingestanden hatte. Sie weist erneut in eine Richtung, diesmal ist es Malcolm, den ich erblicke, wie er bei einigen anderen Jungs am Tisch sitzt.

„Das heißt doch gar nichts...“

„Wenn du meinst.“

Ich erwidere nichts darauf, was auch? Dass ich eigentlich der Ansicht bin, dass sie Recht hat? Doch irgendwie reicht mir diese Annahme nicht mehr.

„Wo willst du hin?“, lasse ich mich kurz aufhalten.

„Was denkst du?“

„Ich dachte, du wolltest dich nicht einmischen?“

„Gelogen.“

Doch was soll meine erste Frage sein, wenn ich bei ihm am Tisch angekommen bin? Will er überhaupt darüber reden... mit mir? Und warum treibt mich die Neugierde ausgerechnet jetzt und hier zu einem Gespräch, warum nicht die vielen Male zu Hause? Vielleicht ein wenig Schutz, gerade weil wir hier nicht alleine sind?

In der Mitte des Weges schaut er plötzlich auf, mich an, und schlagartig habe ich das Gefühl, dass das, was ich vorhabe zu tun, doch nicht das Richtige ist. Ich sollte mich raushalten, umdrehen…Was kann ich schon tun? Ihm helfen? Ganz bestimmt nicht, ich kann mir ja selber nicht mal helfen. Doch langsam habe ich dieses Schweigen zwischen uns satt, Stille seit Tagen... ich will das nicht mehr! Ich will endlich wieder ganz normal mit ihm reden können. Warum lässt er sich denn auch verdammt noch mal so hängen, warum unternimmt er nicht irgendwas, wenn ihm die Situation anscheinend so sehr stinkt? Sonst konnte ihn auch nichts aufhalten, das zu bekommen, was er wollte.

Zweidrittel des Weges und ich bleibe stehen. Einige Jungs sind an seinen Tisch herangetreten, lächeln und reden auf Kevin ein. Leider kann ich nicht raushören, was sie sagen, doch er gibt ihnen das Zeichen, sich zu ihm zu setzten, während sein Blick noch einmal auf mir liegt. Sie kamen dir wunderbar gelegen, nicht wahr? Du wolltest nicht mit mir reden, stimmt’s? Das willst du schon seit Tagen nicht. Was hat dich nur so verändert?

„Na komm...“ Ihr Kopf legt sich auf meine Schulter ab. „Du wolltest mir doch noch beim Austeilen der Flugblätter helfen.“
 

Früher dachte ich immer, dass eine Familie aus einem Vater, einer Mutter und einem oder mehreren Kindern bestehen würde. Alle würden in einem schönen Haus leben, glücklich sein und sich lieb haben, doch hat mir besonders meine jetzige Situation und mein neues Umfeld gezeigt, dass diese glückliche Familien-Vorstellung nichts als eine große Lüge war; Ich selber lebe bei der Familie meines besten Freundes, nachdem mich mein Vater nicht so anerkennen konnte, wie ich nun einmal bin. Carol-Anns Mom war ein drogensüchtiger Junkie gewesen, der sie im zarten Alter von vier Jahren zur Adoption freigeben hat, und Malcom lebt bei Tante und Onkel, da seine Eltern nicht mit seiner Art zurecht kommen. Woran liegt es nur, dass eine ganz simple Vorstellung einfach nicht funktioniert?

Mein Finger berührt sacht die Türklingel, auf welcher abgesehen vom Namen Pierce noch zwei andere prangen. Ich bin noch nie zuvor hier gewesen und fühle mich dementsprechend unwohl, besonders wenn ich bedenke, was ich eigentlich hier möchte. Carol-Ann habe ich von meinem Vorhaben erst gar nicht erzählt, ich weiß auch so, was ich darauf zu hören gekriegt hätte. Doch was bleibt mir anderes über... ich will es doch nur verstehen! Ich will wenigstens einige der vielen Fragen in meinem Kopf endlich beantwortet wissen.

Die Tür wird geöffnet.

„Ja?“, folgt ein fragender Blick.

„Hallo! Ist Malcolm vielleicht da?“

„Ähm, ich denke schon... MALCOLM!“

Sekunden später eine kurze Antwort, ein erneutes Rufen.

„KOMM HOCH, DU HAST BESUCH!“ Die Frau, welche wahrscheinlich Malcolms Tante ist und nicht viel älter als 30 sein kann, grinst mich breit an. Ob sie weiß, dass Malcolm schwul ist?

„Und wer bist du?“

„Sakuya. Sakuya Michael Ryan.“

„Sakuya? Ein wirklich außergewöhnlicher Name, kann mich nicht erinnern, ihn jemals gehört zu haben.“

„Ich stamme zur Hälfte aus Japan.“

„Wirklich? Ich wollte schon immer mal nach Asien!“ Sie grinst noch breiter. Schritte sind zu hören, ein abruptes Stehenbleiben, ein fragender Blick.

„Danke Nelly.“ Malcolm wechselt mit der jungen Frau den Platz an der Tür.

„Bye Sakuya.“

„Bye.“

„Was willst du denn hier?“, werde ich regelrecht durchbohrt nachdem Nelly außer Hörweite ist.

„Ich wollte mit dir reden, ist das verboten?“

„Nein... nein, natürlich nicht. Komm rein.“

Auf den Weg hinunter setzen sich zwei Bilder in meinen Kopf ab; eine pechschwarze Gothichölle und eine verruchte, mit sämtlichen Folterinstrumenten ausgestattete SM-Höhle. Dass keines von beiden zutrifft, als ich die letzte Stufe hinter mir lasse, ist schon irgendwie beruhigend.

„Setz dich“, weißt er auf einen ganz normalen Sessel in einem hellen Braunton.

„Danke.“

„Möchtest du etwas trinken?“

„Ein Wasser wäre toll.“

Ein blauer Kühlschrank an der Wand ist sein Ziel. Dankend nehme ich kurz darauf mein Wasser entgegen.

Er setzt sich ebenfalls hin, versucht kurz meinem Blick auszuweichen. Natürlich weiß er warum ich hier bin. Also warum sagt er mir nicht einfach was ich wissen will?

„Erzählst du mir, was zwischen euch los ist?“

Kurz werde ich angeschaut, dann wendet er seinen Blick wieder ab.

„Ich habe gehofft, dass du wegen was Anderem gekommen bist.“

Er beugt sich vor, zieht den Aschenbecher zu sich heran. Der ausgestoßene Qualm lenkt mich kurz ab.

„Und wegen was soll ich sonst hier sein?“

„Vielleicht bist du einsam?“ Ein Schulterzucken.

„Ja klar, sonst noch Wünsche?... Also, erzählst du es mir?“

„Nein.“

„Nein?“

„Yep, ein einfaches Nein... wenn du etwas wissen willst, frag ihn.“

„Das kann ich nicht.“ Ich setze mich ein wenig auf, wohl mit der Hoffnung, dem Gesagten eine größere Wirkung zu verleihen. Irgendwie schwachsinnig, wenn man mal drüber nachdenkt.

Ein kleines Lächeln, das schnell wieder verschwindet. Was hat ihn wohl dazu veranlasst?

„Wie geht es ihm?“

„Ich weiß nicht“, lasse ich mich wieder ein wenig zurückfallen. „Er geht mir aus dem Weg... oder? Ich hatte schon vorher das Gefühl, schon seit ich wieder da bin, ist es so.“

„Wie gesagt, ist nicht mein Ding. Frag ihn.“

„Du würdest dir keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn du es mir erzählen würdest.“

„Und noch mal: Es ist nicht mein Ding!“

„Glaubst du denn, er würde mir irgendwas sagen, wenn ich ihn fragen würde?“

Ein Schulterzucken. „Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass er gar nicht will, dass du ihn irgendwas fragst, ihn erst recht nicht so siehst. Denk doch mal zurück wie eure Rollenverteilung in eurer Kindheit ausgesehen hat... denkst du nicht, er fühlt sich gerade vor dir damit schlecht-“

„Was weiß du schon?“, fühle ich mich plötzlich angegriffen.

„Mehr als du denkst... Er macht nun einmal eine Menge durch... im Augenblick.“

„Das ist mir auch bewusst!“ Ich stürze wieder nach vorne. „Und du sollst mir sagen, wie ich ihm dabei helfen kann, scheiß auf frühere Rollenverteilungen oder zu großen Stolz.“

„Du bist ja drollig.“ Er lacht leicht auf. „Denkst du, du bist das Patentrezept für alles? Du brauchst nur hier aufzutauchen und schwups ist alles wieder okay?“ Die Zigarette wird energisch auf den Grund des Aschenbechers zerquetscht.

„Nein, aber ich bin sein bester Freund, falls du das vergessen hast und da ist es meine Pflicht-“

„Pah, Pflicht?“ Sein Blick, welcher mir mehr Missachtung gar nicht zeigen könnte, schweift ab. „Ich möchte, dass du jetzt gehst.“

Kurz scheint mein Körper starr zu sein. Soll es das jetzt gewesen sein, keine Antworten, nicht einmal ein kleiner Wink in die richtige Richtung? Die plötzliche Bewegung aus dem Sessel hinaus lässt ihn leicht zucken.

„Warum sagst du mir nicht einfach was los ist?“

„Weil dich das VERDAMMT NOCHMAL... nichts angeht!“

„Weißt du, langsam kann ich sogar verstehen, warum er dich verlassen hat.“

„Wer sagt, dass ER mich verlassen hat?“ Er grinst ein wenig zu siegessicher.

„Wichser.“

Mit schnellen Schritten bin ich draußen. Ein unberechenbares Gefühl von Zorn und Enttäuschung durchläuft mich. Wie schön wäre es, Miller über den Weg zu laufen.
 

Zu Hause angekommen bleibe ich einmal mehr zwischen zwei Türen stehen. Natürlich könnte ich nach links gehen, irgendetwas bescheuertes, was ihm kein bisschen weiterhilft, von mir geben, doch bin ich mir mittlerweile sicher, dass er dies garantiert nicht will.

Ich ziehe mich um und gehe in die Küche hinunter, dort treffe ich auf Kevins Mom.

„Hunger?“

„Nicht wirklich.“

„Ich mach dir ein Sandwich.“

Da Widerstand zwecklos ist, setzte ich mich an den Tisch und ziehe die Tageszeitung zu mir heran.

„Deine Mom hat vorhin angerufen, sie ist in der Stadt.“ Zum Glück habe ich nur eine Zeitung in der Hand.

„Sie besucht eine Freundin. Willst du nicht-“

„Nein, will ich nicht.“ Ein Teller wird vor mich gestellt.

„Sie ist deine Mom.“

„Kann ich nach oben gehen?“

„Natürlich.“

Ich schnappe mir mein Sandwich und einen Saft vom Tresen und gehe die Treppe wieder hinauf. Eigentlich war es nicht mein Ziel so schnell wieder in die Einsamkeit zurückzufinden, aber über meine Mom zu reden, ist bestimmt das allerletzte, was ich jetzt gerade gebrauchen kann.

Vielleicht sollte ich doch? Ich klopfe an.

„Ja?“

„Kann ich rein kommen?“

„Ja.“

Ich schaue kurz zwischen liegender Person und dem lauten Rennspiel, welches über den Bildschirm rast, hin und her. Ich starre ebenso lustlos, wie ich mich meinem Sandwich widme. Frag ihn doch irgendwas. Frag, wie es ihm geht?, Warum sich Malcolm von ihm getrennt hat? oder ob es irgendetwas gibt, was ich für ihn tun kann? Frag doch einfach irgendwas.

„Kann ich mal an deinen PC?“

„Klar.“

Toll gemacht.

Der Schalter, das kurze Aufflackern des Bildschirmes, warten bis alle Programme bereit sind. Wieder ist er nicht online, irgendwie habe ich auch nichts anderes erwartet. Ich brauche einige Sekunden, um die Tränen erfolgreich zu unterdrücken. Kann mir jetzt nicht einfach schon wieder den Fragen stellen, warum er einfach keine Zeit mehr für mich zu finden scheint, warum nicht einmal eine kleine Nachricht für mich hinterlassen wurde, warum nicht- Gott, als ob mich das irgendwie weiter bringen würde, mir irgendwie helfen könnte!

Ich schallte den Computer wieder aus, schaffe es ohne große Probleme, zum Bett hinüber zu gehen. Es ist schon so lange her. Ich ziehe mich aus, lege mich hin.

Die Seite ist kalt, obwohl die Decke schützend über mir liegt. Nur eine weitere Bewegung und ich hole mir einfach ein wenig der vorhandenen Wärme. Die leichten zuckenden Bewegungen, welche auf das Pad übertragen werden, hören für keine Sekunde auf. Ein klein wenig Wärme, es fehlt mir so sehr. Ein wenig von dir, ein bisschen Zeit, warum schaffst du es nicht mehr bei mir zu sein? Warum bist du so kalt, Kida?
 

~ * ~
 

Der Mittwoch fing schon chaotisch an, nichts lief wie es sein sollte. Wir kamen zu spät zum Unterricht, irgendwie schaffte ich es nicht, auch nur halb so gut zu kontern, wie es sonst der Fall ist, und bei der Essensausgabe bekam ich nicht mehr mein Wunschgericht. Wie gesagt, irgendwie alles chaotisch, doch was mich zu Hause erwartet, lässt mich im ersten Moment einen Freudensprung machen und im Zweiten ungewiss zusammenbrechen.

Ich lasse den Briefumschlag ungeöffnet zu Boden gleiten. Der Teppichboden verhindert ein lautes Geräusch des Auffallens, doch nimmt mein Körper das leise Plopp wie ein Erdbeben Stärke 9 war.

Alles spricht dafür... die letzten Tage, das Schweigen, Alles.

Aber vielleicht irre ich mich auch, vielleicht ist etwas ganz anderes, etwas ganz normales, einfaches, logisches der Grund für sein Schweigen und das Ding im Inneren dieses Umschlages nur ebenfalls etwas ganz anderes.

Eine kurze Bewegung und der Briefumschlag liegt wieder in meiner Hand, im selben Moment öffnet sich die Tür. Ein komisches Ding, dass immer in wichtigen Momenten jemand in der Türe steht.

„Mom sagt, du sollst zum Essen kommen... oh Post?“

Ich schwenke den Briefumschlag leicht hin und her. „Er rasselt.“

„Er rasselt?“

„Ja.“

„Was ist drin?“ Aaron ist die Neugierde ins Gesicht geschrieben.

„Ein Armband.“ Es kommt so überzeugend, dass ich kurz erschrecke.

„Ok... ich sag Mom, dass du gleich kommst.“

Der Briefumschlag gleitet mit der sich schließenden Tür wieder zu Boden, er brennt wie Feuer in meiner Hand. Ich drehe mich um, setze mich an den Schreibtisch und fange an, meinen Rucksack für morgen umzupacken. Den Aufsatz muss ich unbedingt auch noch bis morgen fertig schreiben. Ach ja, Essen. Ich soll ja zum Essen runterkommen. Schnell verlasse ich das Zimmer, um die anderen nicht warten zu lassen.

Mein Teller steht schon reichlich gefüllt an meinem Platz. Ich wünsche alle einen Guten Appetit und widme mich als erstes den Erbsen auf meinem Teller. Ich liebe Erbsen und ich liebe es, sie immer einzeln auf die Gabel aufzuspießen. Das habe ich schon als Kind so gemacht, doch irgendwie will es mir heute nicht gelingen. Meine Hand zittert, dass ich meine zweite als Verstärkung nehme, um sie ruhig zu halten. Nur eine kleine Erbse, dass kann doch nicht so schwer sein…

„Hey?“

„Sakuya?“

Ich schaue nicht auf, versuche auch nicht, die Tränen wegzuwischen, weshalb es mir immer schwerer fällt, die Erbsen überhaupt sehen zu können. Alles was ich möchte, ist eine kleine Erbse. Eine Hand schließt sich um meine, kurz kämpfe ich dagegen an, weitere Wortfetzen erreichen mein Ohr. Die Gabel wird mir schon beinahe gewaltsam entrissen und als nächstes sehe ich mir nur noch dabei zu, wie ich aus dem Haus renne.
 

Zuerst will ich nur alleine sein, nachdenken, mich abreagieren. Aber über was nachdenken? Über die letzten Wochen, über das, was ich vermute, das in den Brief steht, oder über was? Dann verspüre ich einen riesigen Drang nach Gesellschaft, richtig beänstigend und schnell muss ich mir selber eingestehen, dass mein Leben gar nicht mehr mein Leben zu sein scheint.

Was stimmt hier nicht? Bin das wirklich ich?

Wo sind die vielen Leute, Freunde, Familie... alles was mein Umfeld bis jetzt ausmachte. Warum ist mir alles genommen worden, wie konnte das nur passieren?
 

Nicht alleine sein zu wollen, trägt mich an den einzigen Ort, wo ich Zuflucht finde.

Ich bleibe stumm, sage kein Wort. Sie versucht einige Mal, etwas von mir zu erfahren, gibt es dann aber irgendwann auf und duldet mich einfach weiterhin auf ihrem Bett liegend.

Viel später, als sie ins Bett geht, schickt sie mich nicht Heim, sondern legt sich einfach neben mich. Ich bin ihr gerade so dankbar dafür, dass ich einfach nur hier liegen kann, ihr dabei zuschauen darf, was sie den ganzen Tag so macht.

Reden will ich nicht. Was würde schon dabei herauskommen? Dutzende Diskussionen darüber, dass ich doch gar nicht mit Gewissheit sagen kann, was in dem Brief steht, und dass ich nur übertreibe. Doch ich bin mich sicher. Es ist aus, alles ist zu Ende. Er hat es einfach so beendet, ohne dass ich eine Chance habe, irgendwie dafür zu kämpfen, dass es nicht passiert. Einfach gemacht hat er es sich oder hat er vielleicht schon jemanden Neues kennengelernt? Die Schnauze voll von mir? Warum schafft er es nicht, durchzuhalten, für uns, für die Liebe, die ihm, wie er immer sagte, so viel bedeutete. Was wäre es gewesen, ein knappes Jahr. Bin ich ihm nicht einmal so viel wert?

Warum hast du es getan?

Warum?

Ich verstehe es nicht.

Liebst du mich nicht mehr?

Wieso kannst du das so einfach tun?

Wann hast du mir zum letzten Mal gesagt, dass du mich liebst? Vor acht, nein vor neun Tagen. War es da schon gelogen, war es die ganze Zeit über gelogen?

Warum?

Ich muss es wissen, ich muss…

Ohne jegliche Vorsicht springe ich aus dem Bett.

„Was ist?“

„Ich gehe Heim.“

„Reden wir Morgen?“

„Mmhh.“
 

Schnell bin ich draußen und mache mich zu Fuß auf den Heimweg. Erst jetzt fällt mir auf, dass einer meiner Schuhe gar nicht der Meine ist. Gott, was wird man zu Hause bloß wieder von mir denken? Wieder so ein bescheuerter, unkontrollierter Ausraster. Wie können sie mich eigentlich noch für normal halten, tun sie das eigentlich noch?

„Wo verfickte Scheiße noch mal warst du?“ Herumgerissen falle ich fast hin.

„Ich-“

„Wir sind alle verrückt vor Sorgen, hast du mal auf die Uhr geschaut?“

„Ich... habe gar keine an“, stelle ich verwundert fest.

In der folgenden Sekunde wird mir die Luft aus dem Brustkorb gepresst.

„Wie kannst du nur erst so einen Scheiß veranstalten und dann einfach abhauen? Alle suchen dich wie verrückt und-“

„Es tut mir leid“, erwidere ich nun den Druck. „Total irre, würde ich sagen, liefere mich am besten gleich in die Klapse ein.“

„Bring mich nicht auf blöde Gedanken.“ Er trennt sich wieder von mir, eigentlich bin ich noch gar nicht bereit dazu. „Ist es wegen dem Brief?“

„Was?“ Unsicher entferne ich mich ein Stückchen. „Was weißt du davon?“

„Aaron meinte, dass du irgendwie äh, irre warst wegen dem Brief und als du, als du... na ja, ich habe ihn geöffnet und gelesen.“

„DU HAST WAS?“ Einen weiteren Schritt bringe ich zwischen uns. Er weiß es, er weiß, was in dem Brief geschrieben steht, was in seinem Inneren verborgen lag.

„Ich dachte halt, dass er irgendwas mit deinem Verschwinden zu tun hätte, und als wir dich nach Stunden nirgends finden konnten, habe ich ihn gelesen, in der Hoffnung alles irgendwie zu verstehen, dich zu finden, ach, ich weiß auch nicht... Es tut mir leid.“

„Was steht drin?“

„Ähm-“

„SAG SCHON... was steht drin?“ Ich denke nicht, dass jemals ein auffordernderer Blick in meinem Gesicht lag als in diesen Moment.

„Er macht Schluss.“
 

~ * ~
 

22 Stunden saß ich vor dem ICQ, wartend. Rief bei ihm zu Hause an, sieben Mal, ohne dass ich überhaupt erst nach ihm fragen musste. Nur meinen Namen musste ich nennen, schon kam das übliche: „Tut mir leid Sakuya, er ist nicht zu Hause.“

Zwei Stunden später, schaffte ich es dann endlich den Brief an mich zu nehmen. Was im großen drin stand, war mir bereits bewusst, doch nun war es endlich an der Zeit, ihn persönlich zu lesen. Das Armband rutschte als erstes hinaus, mit voller Wucht landete es irgendwo hinter dem Schrank. Ich verachtete ihn dafür, dass er es schaffte, meine Hände zum zittern zu bringen, während ich das Papier auffaltete. Eine Wut in mir, die nicht erlaubte, dass er so viel Macht über mich haben durfte, nicht mehr, nicht nachdem er mir das jetzt antat.
 

(Anmerkung: Der folgende Brief wurde von Stiffy geschrieben und nur aus organisatorischen Gründen in diesen Part eingearbeitet.)
 

Lieber Sakuya,
 

was soll ich nun schreiben, da ich weiß, dass du diesen Brief in der Hand halten wirst... diesen Brief und das Schmuckstück, das dir mehr sagt, als tausend Worte?

Und dennoch muss ich etwas schreiben, muss ich dir erklären, was los ist, was ich denke und fühle.

Aber wie?
 

Im Moment ist es Nacht hier in Tokyo... ich habe lange wach gelegen und viel nachgedacht, überlegt, wie ich schreiben soll, ob ich schreiben soll. Jetzt glaube ich, dass es sein muss.

Ja, ich weiß, dass du das nicht verstehst und glaub mir, eigentlich verstehe ich mich selbst nicht.

Dennoch habe ich diesen Entschluss gefasst.
 

All das, worauf ich hinaus will, ist nur ein Satz, doch ich weiß, dass ich dir damit mehr Schmerzen zufügen werde als jemals zuvor... aber rauszögern bringt wohl nicht viel, nicht wahr? Du wirst es ohnehin lesen und wahrscheinlich weißt du schon jetzt, was ich meine.

Aber auch ein anderer Satz, den ich dir zuvor noch sagen will, liegt mir sehr am Herzen.

Ich liebe dich, Sakuya – bitte glaube mir, es ist wahr.

Die letzten Wochen waren ein einziger Albtraum. Ich zwicke mich ab und zu, nur um festzustellen, dass ich wirklich nicht aufwachen kann, dass ich dich tatsächlich verloren habe. Ich fühle mich gefangen in diesem Traum, der keiner ist, und langsam beginnen die Grenzen zu verschwimmen. Ich beginne zu begreifen, dass es wirklich so ist, dass es nie wieder wie vorher sein kann, dass ich niemals erwachen werde und du tatsächlich nicht mehr bei mir bist..

Ich muss ständig an dich denken, an dich, deine Küsse, deine Berührungen, deine Stimme und deine wunderschönen Augen... an alles von dir, nichts kann ich vergessen, keine noch so winzige Kleinigkeit. Ich wünsche mir jeden Tag, jede Stunde und Minute, dass ich die Zeit zurückdrehen kann, dass ich dich wieder in meinen Armen halten kann...

Ich liebe dich wirklich, Sakuya, du bist mir wichtiger als alles andere auf der Welt.

Und genau das ist der Grund, weshalb ich dir diesen Brief schreibe, weshalb ich es schaffen muss, den anderen Satz zu Papier zu bringen... weil du mir wichtiger bist, als alles andere, weil ich nicht will, dass du weiterhin genauso leidest wie ich, weil ich will, dass du es bald schaffst, wieder fröhlicher zu werden, weil ich lernen muss, loszulassen.

Deshalb, Sakuya, deshalb denke ich, dass es besser ist, wenn wir Schluss machen.

Besser für dich... und natürlich auch für mich.

Denn ich ertrage das nicht mehr, diese Entfernung, die Zeit ohne dich. Es vergeht keine Minute, in der ich nicht an dich denke und es mir nicht weh tut. Ich bin stehen geblieben, irgendwo im März, als wir noch glücklich waren. Es fällt mir schwer, weiter zu leben, weiter zu denken. Es fällt mir schwer, dich auch nur für ein paar Sekunden loszulassen, um etwas anderes zu tun, um mal kurz nicht an dich zu denken... ich habe einfach Angst davor, dich loszulassen, habe Angst davor, dein Bild, das vor meinen Augen immer weiter verschwimmt, dann ganz zu verlieren.

Es tut weh, und ich ertrage es nicht mehr. Ich dachte, es muss einen Punkt geben, an dem es aufhört, weh zu tun, an dem man beginnt, es zu akzeptieren, doch ich finde ihn nicht. Ob ich irgendwann an den Punkt gelange, nachdem ich diesen Brief geschrieben habe? Nachdem ich weiß, dass du mich hasst und wir nicht mehr beide diese unmögliche Liebe teilen?

Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es, denn ich kann nicht mehr, ich schaffe es nicht.
 

Ich habe immer versucht stark zu sein, für dich und für mich, doch ich bin es nicht. Ich bin es nie gewesen. Stärke ist etwas anderes, Stärke heißt zu kämpfen. Doch ich bin nicht stark, denn ich gebe das auf, was mir am wichtigsten ist. Ich bin zu schwach, um das Ganze noch länger zu ertragen, um das festzuhalten, was ich nie wieder loslassen wollte, um bei dir zu bleiben.
 

Ich weiß nicht, ob es überhaupt irgendetwas gibt, was dich auch nur ansatzweise verstehen lassen würde, wieso ich dies nun schreibe, wieso ich mich für diesen Weg entschieden habe... ich weiß nicht, ob es dir gelingt, mir irgendwann vielleicht zu verzeihen – Ich könnte verstehen, wenn du es nie tun wirst. Dennoch, auch wenn es unerträglich ist, zu wissen, dass du mich nun verachten wirst, muss ich es doch zu Ende bringen... noch einmal Stärke zeigen für eine Zukunft, die uns beide hoffentlich wieder glücklich macht – auch wenn ich im Moment noch nicht weiß, wie das gehen soll...
 

Du warst immer so ein fröhlicher Mensch, Sakuya, und das liebe ich an dir. Ich ertrage die Gedanken nicht, die mir sagen, wie schlecht es dir nun seit Wochen geht, dass du leidest und vielleicht ab und zu weinst. Ich will dich lachen sehen in meinen Erinnerungen, will an dein glückliches Gesicht denken und mir nicht vorstellen müssen, wie traurig du wohl gerade aussiehst. Ich will, dass du dich wieder besser fühlst, natürlich nicht jetzt, aber irgendwann... und ich will, dass du schnell versuchst, mich zu vergessen und es schaffst, wieder glücklich zu werden... irgendwann.

Und doch hoffe ich, dass du irgendwann, und wenn es in ein paar Jahren ist, vielleicht doch mal wieder an mich denkst. Ich wünsche mir, dass du dann daran zurückdenkst, wie glücklich wir zusammen waren... Ja, ich hoffe, dass ich mit dieser Tat nicht alle Erinnerungen an mich ausgelöscht habe, denn selbst wenn du mich für immer hassen wirst... so lange du auch nur ganz selten an mich denkst und ich nicht für immer aus deinen Gedanken verschwinde, ist es mir genug.

Und vielleicht besitzt du dann ja immer noch dieses Armband, dieses wundervolle Schmuckstück, auf das ich kein Recht mehr habe. Ich bin es nicht mehr wert, „deine Welt“ zu sein. Ich kann es nicht länger tragen, egal wie schwer es mir fällt, mich davon zu trennen, habe ich mich dadurch doch ein wenig mehr mit dir verbunden gefühlt...
 

Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst, doch glaube mir, derjenige, der am meisten von mir enttäuscht ist, bin ich selbst. Und dennoch weiß ich, dass es richtig ist, und dass auch du irgendwann verstehen wirst, wieso es kein Zurück mehr gibt.
 

Ich liebe dich, Sakuya!
 

Goodbye
 

~ * ~
 

Das ICQ bleibt aus, der Hörer auf seiner Station. Es ist vorbei, ich bin fertig. Fertig mit ihm. Wie kann er nur von Liebe sprechen und mich im gleichen Atemzug verlassen, wie passt das zusammen?

Ich habe die Schnauze voll, es ist mir egal, ich will nichts mehr wissen. Sollen sie doch alle an ihren eigenen Problemen zu Grunde gehen, mir doch schnuppe. Soll er doch mit der Vorstellung leben, dass er mir mit seiner Flucht einen Gefallen getan hat. Wie armselig, heuchlerisch und verlogen!

Keine Fragen mehr, keine Antworten mehr suchen müssen. Vorbei, gegessen und erledigt. Leben, dass ist es was zählt, einfach nur einen Sinn finden, um nicht aufzugeben, nicht wahr?

Etwas beschäftigt mich allerdings doch und wenigstens einmal will ich diese Frage stellen, auch wenn ich eher mit keiner oder einer wirklich unzufriedenen Antwort rechnen müsste:

„Was stimmt nur nicht mit mir?“
 

Part 44 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 45

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Kida (by Stiffy)
 

Falsch oder Richtig?

Richtig oder Falsch...?

Wie oft ist es, dass man sich vorher diese Fragen stellt? Wie oft fragt man sich, ob man wirklich so handeln soll oder ob man besser anders denken sollte? Wie oft weiß man nicht, ob man die Richtige Entscheidung treffen wird?

Doch egal wie oft, fast nie weiß man hinterher wirklich, ob es nun richtig oder falsch war... Ob man jetzt alles zerstört hat oder etwas Neues begonnen... ob man tatsächlich noch mal so wählen würde.

Erst mit der Zeit lernt man und irgendwann bekommt man eine Antwort... Zumindest sollte es so sein.

Doch wie lange muss ich warten? Wie lange, bis ich die Antwort kenne, wie lange, bis ich endlich aufhöre mich zu fragen, ob es nun richtig war, was ich getan habe oder vollkommen falsch… und das, obwohl ich doch schon vorher so viel darüber nachgedacht habe.

Und dabei will ich glauben, dass es richtig war, was ich getan habe. Ich will wirklich sicher sein, dass es genau so sein musste... Doch irgendwie schaffe ich es nicht, das Ausrufezeichen zu setzen.

Richtig oder falsch... ich weiß es nicht, und es gibt niemanden mehr, der es mir sagen könnte...

Bin ich zu ungeduldig, warte ich auf das Unmögliche, darauf, dass meine Tränen schon jetzt trocknen, jetzt, da er den Brief noch nicht mal in den Händen hält... jetzt, da ich ständig vor dem ICQ sitze, das ich auf offline gestellt habe, jetzt da ich nicht weiß, wie ich ihm noch entgegentreten soll, da er noch keine Ahnung hat, noch nicht weiß, was ich getan habe... noch nicht weiß, auf welche grässliche Weise ich ihm wehtun werde?

Aber ich will es wissen, will es wissen seit der Brief von der Tiefe des Briefkastens verschluckt wurde, seit es kein Zurück mehr gibt und ich damit leben muss, dass es nun so sein wird. Ich will wissen, dass es wirklich richtig war!
 

„Kida, essen ist fertig!“

„Ich komme...“

Langsam erhebe ich mich von meinem Schreibtisch, strecke die Hand aus und schalte den Bildschirm ab, in dem nun die rote Blume des ICQ versinkt.

Nur kurz darauf lasse ich mich den Lila Blumen gegenüber am Küchentisch nieder. Lynn sieht mich an aus ihren großen, schwarzen Augen und strahlt, als ich ihr kurz durch die Haare streiche.

„Das reicht“, nicke ich meiner Mutter zu, die gerade meine Schüssel mit Reis füllt, „Ich habe nicht viel Hunger...“

„Wie schon seit Wochen nicht. Du wirst noch-“

Mein Blick lässt sie schweigen, sich dann Takehitos Schüssel widmen. Wann begreift sie es endlich?

Ich richte meine Augen hinab, während mein Magen mir einerseits meldet, dass er doch eine Menge Hunger hat, sich aber andererseits irgendwie gegen eine Linderung sträubt. Ohne nach den Stäbchen zu greifen, betrachte ich die kleinen Körner. Weiße... und ein paar schwarze... wild in der Schüssel verstreut und doch winzige Formen bildend... zittrige Zeichen, wenn man eine Menge Fantasie hat oder es sich einbilden will... zittrig wie meine waren... Meine Zeichen, Worte, die mir zum Teil noch immer genau vor Augen stehen...

Habe ich wirklich das richtige getan?

Ein leises Kratzen als ich die Schüssel näher an mich schiebe. Mir ist schlecht...

Ich greife nach meinen Stäbchen, stecke sie energisch in den Reis, zerstöre Zeichen, die eigentlich nie da waren. Reiskorn nach Reiskorn findet meinen Mund und nach kurzem knallt die leere Schüssel auf den Tisch zurück. Ganz weiß nun, ohne störende Zeichen.

Mir ist immer noch schlecht...

„Ich mag nichts mehr“, lehne ich ab, als meine Mutter nach der Schüssel greifen will, „Ich...“ Doch ich schüttle nur den Kopf statt zu ende zu sprechen, schiebe dann den Stuhl zurück. „Kann ich aufstehen?“, frage ich, während ich mich schon erhebe, nur auf das Vorzeichen eines Nickens warte, um dann die Küche zu verlassen.
 

Ich weiß doch, dass ich recht hatte mit dem, was ich geschrieben habe... Ich weiß doch, dass es genau so sein muss... Ich weiß es wirklich!

Und doch... Ist es immer richtig, recht zu haben?
 

Meine Zimmertür fällt hinter mir ins Schloss und ich spüre den Telefonhörer in meiner Hand.

Reden, mit irgendjemandem... am liebsten mit jemandem, der keine Ahnung von all dem hat, der nichts, überhaupt nichts von den letzten Wochen weiß, mit dem ich über was ganz normale Dinge reden kann.

Aber gibt es da wirklich jemanden?

Ich sinke aufs Bett hinab und starre die Zahlen an.

Tatsuya, Sanae… nie könnte ich mit ihnen üner Alltäglichkeiten sprechen, sie würden nur wieder viel zu viele Fragen stellen und das halte ich jetzt nicht aus!

Ich lasse den Hörer wieder sinken, krabble zum Nachtisch und hole mein Handy. Nummer für Nummer nun, doch keine einzige, die mir einen geeigneten Gesprächspartner gibt... manche lösche ich einfach und bei Sakuyas halte ich inne. Mit fast zittrigen Fingern gehe ich ins Menu, wähle den Menüpunkt löschen.

Eintrag unwiderruflich löschen?

Ja...

Nein!

Schnell zurück, schnell weiter, bloß nicht dran denken, ans Ende der Liste, zurück zum Anfang.

Irgendjemand!

Ich halte bei einer Nummer an, die ich in dem Moment, als ich sie bekam, eigentlich gar nicht wirklich haben wollte – besser gesagt, ich hätte nie gedacht, dass ich schon so bald gewillt sein würde, sie zu wählen. Gewillt oder verzweifelt?

Ich tippe sie in den Hörer, drücke die grüne Taste.

Aber über was soll ich bloß mit ihm reden?

Ehe ich wirklich etwas weiß, meldet sich schon jemand am anderen Ende – eine weibliche Stimme, die mir bekannt vorkommt.

„Bei Katatsumuri, hallo?“

„Ich- Hier ist Takahama Kida... Ähm, ist Eiji da?“

„Hey Kida! Ja, einen Moment, ich hol ihn kurz!“

Ein Rascheln macht deutlich, dass sie die Hand vor die Muschel gelegt hat, die dumpfen Stimmen ein wenig später verstärken die Vermutung. Er wundert sich zu Recht, dass ich anrufe...

„Hi!“, meldet er sich im nächsten Moment. „Das gibt’s ja nicht! Wie geht es dir?“

„Störe ich?“, beantworte ich seine Frage nicht und die Sekunde der Stille lässt mich sofort weiterreden. „Ja, tu ich... ich leg wieder auf, bis da-“

„Warte doch mal!“ Nun hektisch. „Nein, du störst nicht! Nur eine Sekunde!“

Wieder das Rascheln, diesmal aber keine Worte, die ich aus den dumpfen Stimmen hören kann... Und irgendwie dauert mir die Sekunde fast zu lange.

Vielleicht hätte ich versuchen sollen, Akito anzurufen, kommt es mir plötzlich in den Sinn... Streit und Beschimpfungen wären doch sicher eine prima Ablenkung gewesen!

„So! Bin wieder da! Was verschafft mir die Ehre?“

„Nichts Besonderes...“... und eigentlich habe ich schon jetzt Lust, wieder aufzuhängen.

„Wow, ich wundere mich immer mehr.“ Sein Grinsen ist deutlich zu hören.

„Hast du schon die Aufgaben für Grundlagen der Mathematik gemacht?“, fällt mir dann doch sofort eine rettende Frage ein, als ich das Buch auf meinem Rucksack entdecke.

„Nein... Ehrlich gesagt noch nicht, wollte die nachher machen... Ich hatte dies Wochenende irgendwie gar keine Zeit... Party und so, weißt du. Ein Freund von mir hat gestern gefeiert...“

Und schon beginnt er, zu erzählen, so wie er es die gesamte letzte Woche fast ununterbrochen getan hat. Sollte es ihn interessieren, dass ich keinen einzigen von seinen Freunden kenne, über die er spricht? Nein, sicher nicht, ist doch nicht so wichtig!

Neben seinem Gerede höre ich eine Tür ins Schloss fallen. Ich lehne mich an die Wand zurück und schließe die Augen.

Was hat er soeben gesagt? Ich weiß es nicht mehr...

Auch von dieser Frage schweifen meine Gedanken langsam oder viel zu schnell ab. Ich sehe wieder die Reiskörner vor mir, sehe die Zeichen daraus entstehen, ein paar weniger meiner Worte.

Was ist richtig oder falsch auf dieser Welt? Gott, sag es mir doch jemand...Sag mir doch jemand, wie ich nun weitermachen soll? Es tut so weh…

„Kida? Bist du noch da?“

Erschrocken fahre ich zusammen, reiße die Augen wieder auf. Hat er eine Frage gestellt? Und was hat er erzählt? Mein Kopf ist leer... Verdammt!

„J-ja...“, stottere ich in den Hörer.

„Hast du mir überhaupt zugehört?“

„Ja!... Ich... nein...“, gebe ich kleinlaut zu.

Ein kurzes Auflachen.

„Na, wenigstens bist du ehrlich. Dich interessiert nicht, was ich erzähle, oder?“

Nein, das tut es nicht...

„Das ist es nicht... sorry... es ist nur...“ Ich zucke mit den Schultern, lasse den Hörer ein wenig von meinem Ohr gleiten. „Ich... ich muss jetzt Schluss machen, danke, dass du mit mir geredet hast.“

„Hä? Wie meinst du das denn jetzt? Irgendwie bist du komisch!“

„Ja. Wir sehen uns morgen, bis dann!“

Ich lege auf mit dem Gefühl, dass ich bei einem weiteren Wort von ihm ausgeflippt wäre, obwohl ich doch der war, der ihn an einem Sonntagnachmittag mit einem Anruf belästigt, obwohl er doch, wie ich es wollte, über vollkommen andere Sachen geredet hat...

Ich lasse meine Hand mit dem Hörer sinken, sehe ihn noch kurz an, bevor ich ihn auf die Denke niederlasse.

Wie lang soll das bloß so weiter gehen?
 

Genau das ist der Punkt, über den ich in den vergangenen Tagen sehr lange nachgedacht habe.

Wie soll es nun weitergehen? Wie stelle ich mir vor, dass ich nun weiterleben kann?

Wie war es denn bevor ich Sakuya kennengelernt habe, wie war es, bevor ich mich verliebt habe? Umso länger ich darüber nachdachte, desto bewusster wurde mir, dass es wirklich überhaupt gar keinen Weg mehr dorthin zurück gibt. Zu viele Dinge haben sich verändert seitdem...

Natürlich ist da zum einen die Tatsache, dass ich erkannt habe, dass ich auf Jungen stehe, die Tatsache, dass ich mich in einen verliebt habe, ihn immer noch liebe... Zurück von hier geht es nicht mehr. Ich kann nicht mehr der Junge von früher sein, der sich nie wirklich Gedanken über die Liebe gemacht hat, der nie wirklich darüber nachdachte, ob er seinen Verabredungen vielleicht auch zärtliche Gefühle entgegenbringen könnte. Damals habe ich nicht von Liebe geträumt, davon, in den Armen einer ganz bestimmten Person aufzuwachen. So etwas war mir einfach egal.

Aber war ich denn wirklich einmal so ein Mensch? Fast ist es mir unbegreiflich, selbst wenn es gerade mal ein dreiviertel Jahr her ist, dass diese Veränderungen begannen – War es tatsächlich nur eine so kurze Zeit, die mich jetzt so anders denken lässt, die mich so verweichlicht hat?
 

Doch nicht nur mit mir fanden allerhand Änderungen oder Weiterentwicklungen statt, sondern auch um mich herum.

Meine beste Freundin verbringt jetzt – verständlicherweise – ihre meiste Zeit mit ihrem Freund, dessen bester Freund mein Fr- Sakuya ist. Mein gesamtes Umfeld hat sich verändert, besteht jetzt zum größten Teil aus Uni und Arbeit. Sachen, die dieses Jahr vom letzten gravierend unterscheiden… und so viele neue Leute, die es eigentlich gilt, kennenzulernen... so viel Neues.

Und selbst zuhause ist es nicht mehr so, wie es mal war. Takehito ist zwar immer noch nicht gerade gut auf mich zu sprechen, doch mittlerweile verhält sich das auf eine andere, fast nicht ganz so gemeine und ignorierende Art. Meine Mutter macht sich schon Sorgen, wenn ich nur einen Atemzug zu viel aussetze... und Lynn scheint vollkommen verwirrt von all den letzten Wochen, weshalb sie fast ein wenig schüchtern auf mich reagiert.
 

Wie also? Wie soll ich nach all dem zurück gehen und wieder da anfangen, wo ich vor diesem verhängnisvollen Abend im Vanilla aufgehört habe?

Wie soll ich es schaffen, nicht ständig an Sakuya zu denken, an meinen Brief... an die Tatsache, dass ich etwas beendet habe, was nie hätte enden sollen?
 

~ * ~
 

Montag, nach einer mal wieder fast schlaflosen Nacht, schaffe ich es recht gut, aus Bett und Wohnung zu kommen... Wahrscheinlich gewöhnt mein Körper sich langsam an den wenigen Schlaf...

Der Weg zur Uni fällt trotzdem schwer, der Gang vorbei an dem Briefkasten bei meiner Endstation nur noch viel schwerer. Als ich den roten Kasten schon passiert habe, bleibe ich doch stehen, starre ihn an, wie er kalt und stur dasteht.

Vier Tage werden es nun, da der Brief seinen Weg antrat... Wann wohl wirst du ihn erhalten?

Ich zwinge mich, meine Hände nicht zu Fäusten zu ballen.

Noch nie zuvor ist es mir so schwer gefallen, einen Brief durch den Schlitz zu stecken. Wieder und wieder bin ich ein paar Zeilen im Kopf durchgegangen, hielt den Umschlag dabei so ruhig wie möglich, nur um keine leise Bewegung im Inneren auszulösen. Ich spielte mit dem Gedanken, den Brief zu zerreißen... ich spielte mehr als nur ein paar Minuten damit... nein, eigentlich wollte ich es schon tun, seit ich ihn vollendet hatte... Doch ließ irgendwas am Ende es mich nicht tun, mein Verstand vielleicht. Irgendwas brachte mich dazu, die Hand schließlich auszustrecken und dem roten Kasten etwas anzuvertrauen, während ein paar Leute, die an mir vorbeigingen, mir merkwürdige Blicke zuwarfen, weil ich mir nicht die Mühe machte, die Tränen zu verbergen.

Nun sieht es anders aus, nun zwinge ich mich dazu, mich wegzudrehen und das Kribbeln in meiner Kehle zu ignorieren.

Seit Freitagabend habe ich nicht mehr geweint, habe ich mich dazu gezwungen, es nicht zu tun. Es kann doch nicht so weiter gehen, dass ich ständig in Tränen ausbreche – Das ist doch erbärmlich!

Außerdem weiß ich doch, dass ich richtig gehandelt habe, also darf ich nicht zulassen, dass gegensätzliche, bereuende Gefühle von mir Besitz ergreifen. Das darf nicht sein!

Ich setze mich in Bewegung, weg von dem roten Kasten, mit schnellen Schritten raus aus auf die Straße. Wenn ich mich nicht beeile komme ich noch zu spät zur Vorlesung...
 

Der Vorlesungssaal ist wieder sehr gut besucht, als ich ihn betrete, diesmal sofort Ausschau nach Eiji halte. Während ich letzte Woche versucht habe, es zu vermeiden, würde ich nun gerne einen Platz in seiner Nähe bekommen. Ich entdecke ihn zusammen mit Sachiko und zwei anderen Typen in einer der letzten Reihen. Leider sind dort auch so gut wie alle Plätze besetzt, weshalb ich mich wohl oder übel drei Reihen vor ihnen niederlassen muss. Kurz nur nicke ich Eiji zu, der mich entdeckt, lasse mich dann auf meinen Platz fallen.

Hoffentlich macht der Prof – im Gegensatz zu den zwei Vorlesungen letzte Woche - heut etwas, das ich nicht schon kenne... Hoffentlich hört er heute endlich mit dem Wiederholen auf und fängt mit dem eigentlichen Stoff an. Ich brauche irgendwas zu tun!

Ich hole meinen Block heraus, der kaum noch Blätter hat, da ich nach drei herausgerissenen immer noch glaubte, den Durchdruck meines Briefes zu sehen... Was ein Schwachsinn.

Ich lege den Kuli auf den Block und sehe mich um. In den Reihen vor mir erkenne ich tatsächlich ein paar bekannte Gesicht – was heißt bekannt, ich habe ihnen in der vergangenen Woche halt mal gegenüber gestanden.
 

Gestern Nacht war es wohl, dass mir langsam klar wurde, wie es nun weitergehen muss... Ich darf nicht versuchen, dort anzuknüpfen, wo ich vor einem dreiviertel Jahr war, sondern ich muss hier weitermachen, muss von hier anfangen, etwas Neues zu beginnen... Ich muss beginnen, mir wieder ein neues Leben aufzubauen, ein neues Umfeld, genügend Gelegenheit habe ich ja dazu. Ich sollte eigentlich froh sein, dass kaum noch etwas meiner Vergangenheit ähnelt, bin ich doch einfach nicht mehr der Mensch, der da noch hineinpasst. Ich muss neue Kontakte knüpfen, muss neue Leute kennenlernen, etwas mit ihnen machen – Ja, ich darf nicht weitermachen, ich muss neu beginnen...

Aber ist das nicht noch viel schwieriger?

Denn ich habe doch gar kein Interesse daran. Ich will doch nur dorthin zurück, wo ich… noch glücklich war. Mich interessieren diese neuen Leute nicht.
 

Nach der Vorlesung geselle ich mich zu Eiji, Sachiko und Hinosuke, wie er mir vorgestellt wird. Dieser trennt sich aber auch schon an der nächsten Ecke wieder von uns, da er sich noch für irgendwas am schwarzen Brett eintragen wollte.

„Und? Wieder normal?“, grinst Eiji nun mich an, während er irgendwas in seiner Tasche herumkramt.

„Ich denke schon“, meine ich nur, fast ein wenig peinlich berührt nun, dass ich ihn gestern angerufen habe.

„Was war denn los?“

„Nichts besonderes, mir war nur langweilig...“, lüge ich und betrete vor den anderen beiden den nächsten Vorlesungssaal.

„Mann, ich hab ja so was von gar keine Lust!“, stöhnt Eiji und lässt sich neben mir nieder.

„Er hat sich gestern schon die ganze Zeit beschwert, dass das Wochenende schon wieder rum ist...“, zwinkert Sachiko mir zu und nun wird mir auch klar, wen ich da gestern am Telefon hatte.

„Is doch auch so... Zwei Tage sind einfach zu kurz! Und wenn ich mir vorstelle, dass ich ab nächstes Wochenende auch noch arbeiten gehe...“

„Armer, armer Junge!“ Lachend tätschelt Sachiko seinen Kopf, woraufhin er mir zuzwinkert.

Ich wende mich ab, hole meine Sachen hervor, während das potentielle Pärchen in irgendwelche Albereien verfällt. Ich sollte sie nicht beneiden, ich sollte mich für sie freuen... Aber so einfach geht das nicht.

Was habe ich denn auch gedacht? Dass mit dem Brief alle Trauer von mir abfallen würde? Habe ich das wirklich geglaubt?
 

Irgendwann in dieser Vorlesung ist es, dass ich unbewusst nach dem Armband an meinem linken Handgelenk greifen will. Nur eine Sekunde später ziehe ich meine Hand sofort wieder zurück mit einem drückenden Gefühl im Magen.

Es ist wohl vollkommene Einbildung, dass es mir jetzt schon so fehlt. So lange habe ich es doch eigentlich gar nicht getragen. Aber der Mensch ist nun mal ein schreckliches Gewohnheitstier, sich schon so schnell an Sachen zu binden. Trotzdem ist es krank, oder nicht? Ständig an mein Handgelenk zu fassen und zu hoffen, etwas zu finden, was nicht mehr da ist.

Aber es ist wohl gut so, dass es weg ist. Wenn es noch da wäre, wäre das alles noch viel schlimmer, würde es noch viel mehr wehtun. Ich habe so noch viel zu viel von ihm... Der Ohrring, die Blumen, das Foto... So viele kleine, schreckliche Erinnerungen, die mich ständig an ihn denken lassen, die ständig meinen Blick auf sich ziehen...
 

Als ich an diesem Abend nach Hause komme, bin ich ein wenig froh über die Nachricht, die ich auf meinem Schreibtisch vorfinde: Dein Chef hat angerufen und gefragt, ob du gegen sechs vorbei kommen kannst. Ich habe ja gesagt.

Zwar heißt es nun, schnell wieder los, da es schon halb sechs ist, aber das ist egal. Besser als den ganzen Abend wieder nur in meinem Zimmer allein sein. Das kann ohnehin nicht mehr so weiter gehen!

Schnell sage ich Takehito, der im Wohnzimmer mit seiner Tochter Go spielt, bescheid, dass ich weg gehe und verlasse dann die Wohnung wieder.

Vielleicht sollte ich fragen, ob sie mich bei der Arbeit in Zukunft öfter gebrauchen können... aber das wäre vielleicht doch ein bisschen zu dreist.
 

Vielleicht aufgrund der vielen Arbeit, die mich im Chowa Don heute erwartete, fällt es mir in dieser Nacht relativ leicht, einzuschlafen. Dennoch hält es ich nicht davon ab, vorher, als ich Zuhause ankomme, noch mal schnell den Rechner anzumachen und meine eMails abzurufen.

Bis auf Spam ist mein Posteingang ist leer... Mit was habe ich auch gerechnet? Und habe ich wirklich gehofft, dass er mir schreibt? Mit was für einem Inhalt denn bitte? Dem, dass er mich fragt, wieso ich nicht mehr online bin?
 

~ * ~
 

Die nächsten Tage schleichen langsam dahin. Zu langsam für meinen Geschmack... Immer öfter beginne ich mich zu fragen, wann du meinen Brief wohl bekommst... Dein Gesicht taucht vor meinen Augen auf, ein Blick, den ich nicht sehen will, Wut, Verzweiflung... Hass. Du wirst es nicht verstehen, das weiß ich, du wirst es ganz sicher nicht begreifen und mich stattdessen zum Mond schicken wollen.

Zu diesen Gedanken kommt, dass mein Verlangen, mit Sakuya zu sprechen, stetig wächst. Ich versuche immer öfter, mir seine Stimme ins Gedächtnis zu rufen, doch irgendwie ist es, als würde ihr Klang schon jetzt verschwinden... Und dabei vermisse ich ihn so sehr.

Ohnehin wächst das Gefühl des Verlustes langsam bis ins Unerträgliche. Ich weiß nicht wieso, aber erst mit jedem weiteren Tag, der vergeht, beginne ich wirklich zu begreifen, was es bedeutet, dass nun Schluss mit unserer Beziehung ist. Nie wieder werde ich seine Stimme hören, nie wieder etwas über ihn erfahren und ihn auch ganz bestimmt nicht wieder sehen. Erinnerungen sind alles, die ich behalten kann... und sie bleiben immer gleich, nie kommen neue dazu.
 

Hätte man mich vor zwei Monaten gefragt, hätte ich darauf geschworen, dass diese Zeit, die nun anbricht, nie kommen wird, oder wenn, dass sie noch ewig weit hin ist... Nun aber ist es viel zu schnell soweit und das nur, weil ich das Gefühle habe, es nicht ertragen zu können, getrennt von dir zu sein.

Aber ist es so nicht noch viel schlimmer? Ist es so nicht erst recht unerträglich, dieses Gefühl, dass nun alles Vergangenheit ist und nichts neues mehr dazu kommt?

Ich weiß es nicht, noch nicht... Ich weiß nur, dass es schrecklich war, zu wissen, dass du so weit entfernt von mir leidest, dass du dich nach mir sehnst, ich mich nach dir, und dass wir uns nicht mehr in den Armen liegen können... Es ist schrecklich, zu wissen, dass wir beide weiter leben, es aber nicht wirklich erleben, sondern uns nur davon erzählen können. Ich weiß nicht, wie ich es weiter ertragen hätte.
 

Am Mittwochabend telefoniere ich mit Sanae. Lange versuche ich, sie mit belanglosen Sachen am Hörer zu halten, irgendwie – ohne darauf zu sprechen zu kommen – zu erfahren, ob Kyo etwas Neues weiß.

Doch das Gespräch bringt nichts und auf ihre wiederholte Frage, wie es mir geht, antworte ich nicht.

Ich sollte ihr vielleicht erzählen, was ich getan habe, doch das tue ich nicht, das kann ich nicht. Ich kann es nicht in Worte fassen, nicht jemand anderen erzählen und erst recht nicht ertragen, wie dann darüber geurteilt wird.

Ich will diese Phase einfach nur überstehen.
 

Am Donnerstagabend ist es dann, dass ich mir irgendwie sicher bin, dass Sakuya den Brief nun erhalten hat. Als ich von der Uni nach Hause komme, meint Takehito, dass mein Freund angerufen und ziemlich dringlich nach mir gefragt habe.

„Wenn er noch mal anruft, ich bin nicht da!“, höre ich mich selbst sagen, während sich langsam alles in mir verkrampft.

Du weißt es nun also, nicht wahr? Und selbst wenn nicht…

Ich verschwinde in meinem Zimmer. Dort verkrieche ich mich auf meinem Bett und bleibe dort, den ganzen Abend, egal wie oft das Telefon klingelt und auch wenn mir mein Verstand sagt, dass ich vielleicht doch mit ihm reden sollte.

Und dann? Was soll dann passieren? Dann wird er mir sagen, wie sehr er mich nun hasst, dass er es nicht versteht...

Bitte Sakuya, irgendwann wirst du wissen, dass es richtig war.
 

Als ich am Freitag von der Uni komme, erfahre ich, dass Sakuya gegen zwei Uhr das letzte Mal versucht hat, anzurufen... und den ganzen Abend über bleibt das Telefon still, egal wie sehr ich auf sein Klingeln zu lauschen versuche.

Auch am Samstagmittag kommt kein weiterer Anruf von ihm… und am Abend, nachdem ich die letzten Stunden mal wieder mit ewigem Nachdenken verbracht habe, stehe ich mit den eingerahmten Blumen und dem Foto vor meinem Schrank.

Es ist vorbei.

Keine Verbindung gibt es nun noch zwischen uns, keine Liebe mehr, die selbst die Entfernung überdauert, egal wie sehr ich dich liebe, egal wie sicher ich mir bin, dass auch du mich noch liebst...

Aber diese Vergissmeinnicht, sie haben so lange von etwas anderem gesprochen... Ganz am Anfang waren wir, als du sie mir gabst, ganz am Anfang einer Sache, die wir für länger gesehen haben. Damals standest du unsicher vor mir, zeigtest mir, dass auch ich dir so viel bedeute.

Wieso müssen dies nun traurige Erinnerungen bleiben? Egal wie schön der Moment damals war, so kann ich nicht so an ihn zurückdenken, so bin ich immer nur traurig, wenn ich diese Blumen sehe und mich fragen, wieso alles so gekommen ist…

Ich ziehe eine kleine Kiste hervor in der alte Fotos liegen... ein paar der Grundschule, ein paar von meinem Vater... meine Vergangenheit, zu der auch du nun gehörst. Zögernd öffne ich den blauen Karton und lege die beiden Rahmen hinein. Das Lächeln auf dem Foto strahlt mich noch immer an, auch wenn ich mir sicher bin, dass es im Moment verblasst ist.

Ob du irgendwann wieder so lächeln wirst?

Ich hoffe und ich denke es... und doch werde ich es nicht mehr sehen.

Vergissmeinnicht...

Nein, ich will dich nicht vergessen und ich werde es nie tun... aber ich werde nun versuchen, wirklich wieder zu leben, auch wenn ich jetzt noch nicht weiß, wie das gehen soll, denn jetzt, in diesem Moment, weine ich schon wieder.

Ich vermisse dich einfach zu sehr.

Den Karton noch nicht wieder geschlossen, lasse ich meine Hände zu meinem Ohr wandern, öffne den Verschluss des Steckers.

„Darfst schauen... Nein, nein... mach dir keine Sorgen, es ist kein Ring!“

„Das würde mir keine Angst machen.“

...

„Habe ich dir heute eigentlich schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?“
 

Part 45 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 46

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Sakuya (by littleblaze)
 

Ich wollte die Frage, wie es mir ging, nicht hören. Ich wollte auch nicht ihre Gesichter sehen, die mir jedes Anzeichen von Sorge präsentierten, und vor allem wollte ich nicht den Ratschlag erhalten, zu Hause zu bleiben und zu schlafen, denn nichts anderes hatte ich die letzten sechs Stunden versucht.

Wie befürchtet löste in der vergangenen Nacht eine Frage die nächste ab. Gefühle, die ganze Palette durchflutete mich, während ich mich von einer Seite auf die andere wälzte und nur versuchte zu vergessen.

Alles, was ich wollte war vergessen.

Ich wollte nicht mehr an ihn erinnert werden, ich wollte mich nicht fragen, warum es so gekommen war und ich wollte nicht mehr wissen, wie es sich anfühlte, ihm nahe zu sein. Nur vergessen war mein Wunsch, doch von Erfüllung weit entfernt. Ich fragte mich, ob ich irgendwas falsch gemacht hatte, doch diese Ungewissheit währte nur Minuten. Für mich stand eindeutig fest, dass es nicht meine Schuld war, dass es so kam. Überhaupt war gar nichts meine Schuld gewesen. Er hatte mich doch dazu gebracht, mich in ihn zu verlieben! Weshalb hatte er das alles zugelassen, mich zu dem gemacht, was ich mit ihm war? Und das alles nur, um mich nach ein paar ungesehenen Wochen wegzuschmeißen.

Immer mehr und immer größere Zweifel keimten in der letzten Nacht in mir auf und immer öfter redete ich mir ein, dass seine Liebe nicht die sein konnte, für welche er sie immer ausgegeben hatte. Denn warum sollte er sich von mir trennen, wenn seine Liebe wirklich das war, was er mir all die Zeit über verkaufen wollte? Auch wenn er im Moment traurig war, nicht wirklich wissen sollte, wie alles einmal weiter gehen würde, so wie er es in seinem Brief beschrieb, war eine Trennung doch das, was am idiotischsten wäre, oder nicht? Immerhin würde man ja so genau das haben, was man eigentlich nicht wollte: Den Menschen, welchen man liebt verlieren.

Doch er hatte unser Schicksal besiegelt, eine Entscheidung für uns beide gefällt und mich verlassen. Mitleid konnte ich nicht einmal für mich selber aufbringen, zu unwirklich war das ganze bis jetzt. Ich konnte die Trennung nicht sehen; kein letzter Kuss, kein Bitten der Verzweiflung... Nichts, was auf eine Trennung schließt, nur ein Brief, der mir sagt, dass alles vorbei ist. Und das plötzliche Realisieren, dass er mich anscheinend nicht so geliebt hat, wie ich immer angenommen hatte, reifte immer mehr Zorn statt Trauer oder Verzweiflung in mir. Was war ich für ihn gewesen? Nur ein Zeitvertreib, ein Spielzeug, vielleicht sogar ein plumpes Experiment, das man nach Belieben wieder loswerden kann? Hat er mich vielleicht nicht verlassen, sondern nur ausgetauscht? Ließ er es sich jetzt mal so richtig von Tatsuya besorgen? Ich schäumte vor Wut bei diesem Gedanken... abschütteln konnte ich ihn aber nicht. Es war ein immer wiederkehrendes Bild sobald ich meine Augen schloss.
 

Ich steige ohne Zögern ins Auto. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigt mir, dass es mit meinem Gesicht wirklich nicht zum Besten steht; Ob die geschwollenen Augen oder die dunklen Ringe darunter für mehr Hingucker sorgen werden, ist noch die Frage. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch habe ich das letzte Mal geschlafen, heute ist Freitag.

Von Müdigkeit spüre ich nichts, irgendwie überkommt mich sogar ein beunruhigendes Gefühl, wenn ich nur an Schlaf denke. Die Schule ist natürlich auch nicht der perfekte Ort, doch immer noch besser als im dunklen Zimmer zu liegen und sich Gedanken über etwas zu machen, was man vergessen will.

Angekommen sitze ich zu allererst Carol-Ann in der Jungentoilette gegenüber, die mich anweißt, die Augen doch besser zu schließen. Ich tue wie befohlen und spüre ihr Tun auf meiner Haut.

„So, schon viel besser.“

Wir verlassen die Kabine. Ein kurzer Blick zeigt mir mein neues Ich, Trauer und der Schlafmangel sind weitgehend retuschiert.

In den ersten zwei Stunden erwartet uns ein Überraschungstest. Freude-jubelnd-jauchzend stare ich auf das noch verdeckte Blatt vor mir.

„Und los!“, kommt es knapp vom Lehrerpult, woraufhin ein wirres Blätterdurcheinander entsteht. Langsam drehe auch ich mein Blatt herum.

Die Überschrift vermag ich gerade noch zu lesen, doch die darauf folgenden, kleinen Buchstaben wollen sich einfach nicht entziffern lassen. Ich schließe die Augen, lehne mich im Stuhl zurück. Ein Blick, eine unausgesprochene Frage von der Seite. Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass kein Ton über ihre Lippen kommt, zwei Stunden Ruhe... Zwei...

Doch viel zu schnell holt mich das Kratzen der Stifte, leises Gemurmel oder ein nervendes Tippen wieder zurück zu dem eigentlichen Ablauf. Erneut versuche ich, den Text zu entziffern... in welchem Fach stecke ich eigentlich gerade?

Geschichte. Nur das Thema, welches wir in den letzten Wochen durchgegangen sind, alles Dinge, die ich wissen müsste. Konzentrier dich, das schaffst du... und tatsächlich wird das verschmierte Gewisch immer mehr zu lesbaren Wörtern.
 

„Also, was ist los? Wo warst du Gestern?“

„Zu Hause.“

„Mmhh, geht’s auch noch Ausführlicher?“

„Ich-“

Am Tisch wird Platz genommen.

„Oh, womit haben wir dich denn verdient?“

Ich reibe mir kräftig übers Gesicht, wende den Blick ab. Genau dieselbe Frage hätte ich auch nur zu gerne gestellt, doch stelle ich mir stattdessen einfach vor, dass ich mich irgendwie, auf mysteriöse Weise vom Tisch wegbeame, umso schneller ich über mein Gesicht streife...

„Ihr seid heute wohl nicht wirklich gesprächig.“

„Hast du keine eigenen Probleme, denen du dich widmen könntest?“, kommt es von der männlichen Seite.

„Oh ja, jetzt wo du es sagst, vielleicht sollte ich daran arbeiten meine traurige Kindheit zu verdauen.“ Sarkasmus lässt grüßen und kurz bevor etwas erwidert werden kann, mische ich mich ein.

„Sie hat doch recht, sonst hängst du auch lieber bei deinen Leuten rum.“ Ich vermeide es, nach meinem Milchkarton zu greifen, er repräsentiert den Staatsfeind Nr. 1. Meine Hand würde zittern und er würde es bemerken.

Ohne weiteres Gezicke verschwinden Person und Tablett vom Tisch. Mit ein wenig zuviel Schwung wird Zweiteres in die Ablage gepfeffert und der große Raum verlassen

„Was bitteschön, war das jetzt?“

Nur mit den Schultern zuckend, schiebe ich mein eigenes Tablett noch ein wenig mehr von mir. Mein Kopf landet auf der kühlen Tischplatte, ein angenehmes Gefühl, obgleich dieses auch nur einer Illusion gleicht. Was ist nur los? Nicht nur mit mir, auch mit Kevin... oder bin nur ich es, der alles anders sieht, versetze ich all sein Tun und Gesagtes mit einer Prise meiner eigenen Stimmung? Benimmt er sich gar nicht anders, sondern bin ich es, der ihn anders aufnimmt? Ich will nach Hause.
 

Kurz vor Ende der Pause seile ich mich ab und trete den Weg zur Toilette an, doch stellt sich mir hier ein schon bekanntes Problem in den Weg: Miller.

„Wohl ne anstrengende Nacht gehabt.“ Er und seine Kumpels fangen an zu kichern.

„Ja, war echt tierisch geil“, kontere ich und versuche mich an ihnen vorbei zu drängen.

„Hier ist heute geschlossen... Desinfizierung von Schwuchtelbazillen.“ Ein irres Lachen.

„Schön, dann behalt deinen heimlichen Thronsaal“, drehe ich mich um, immerhin ist dies nicht das einzige Klo in der Schule. Eine kräftige Berührung am Arm.

„Du verstehst wohl nicht... ALLE Toiletten werden heute desinfiziert.“ Der Griff an meinem Arm verschwindet. „Aber keine Sorge, alle anderen Orte stehen dir frei.“

„Ok, danke für die Information.“ Und wirklich, keine Ahnung was mich in den folgenden Sekunden reitet, doch bewege ich mich wie in Trance, nein, eigentlich mehr, als wäre es das normalste von der Welt, mich vor bestimmt einem dutzend Schülern zu entblößen und einem Typen ans Bein zu pinkeln.
 

Natürlich bleibt diese Tat nicht ohne Folgen. Während der Direktor auf das Eintreffen von Kevins Mom wartet, bin ich dazu verdonnert, den Flur zu wischen. Im darauf folgenden Gespräch zwischen dem Direktor und meiner momentan elterlichen Bezugsperson wird ohne Umschweife auf meiner instabilen psychischen Verfassung rumgestrampelt. Mich selber lässt man nur zu Wort kommen, als es an der Zeit ist, mich bei Miller zu entschuldigen. Dass ich dies nicht wirklich ernst meine, ist wohl allen Beteiligten klar. Abgesehen von Flur putzen, eine erzwungene Entschuldigung und der Erstattung von Millers Hose, werde ich zu einem zweiwöchigem Zwangsurlaub verdonnert.

Auf dem Heimweg bin ich fast schon gewillt, mich bei Kevin für meine Aussage zu entschuldigen, doch vergeht die Fahrt so schnell, dass ich irgendwie keinen geeigneten Zeitpunkt dafür finden kann. Auf die Sache mit Miller geht er mit keinem Ton ein, eigentlich sprechen wir überhaupt nicht.

Zu Hause dann eine kleine Moralpredigt; Dass es so nicht weitergehen könne, ich mich ein wenig zusammenreißen müsse, und dass ich mir trotz allem ihrer Unterstützung immer versichert sein kann. Tränen benetzen meine Haut, als ich ihr gegenüber stehe und zum ersten Mal verstehe, wie auch sie wohl unter meinem Zustand leidet. Klar, sie ist eine Mutter, aber eben nicht meine... nie hätte ich gedacht, dass meine Situation sie so treffen könnte.

Das Gespräch endet in einer langen Umarmung und mit noch mehr schlechten Gefühlen steige ich daraufhin zu meinem Zimmer hoch, doch der schrecklichste aller Hinweise holt mich ein: Meine Eltern, beide, Vater und Mutter, werden am nächsten Dienstag vorbei kommen.

Auf meinem Bett finde ich einen Haufen frisch gewaschener Wäsche vor, oben drauf eine kleine Karte. Auch hier brauche ich wieder ein gewisses Maß an Kraft, um diese entziffern zu können. Müdigkeit und Trauer lassen die Ziffern wie ein Meer aus Tinte scheinen.

Ich krame nach meinem Handy und wähle die Nummer.

„Ja?“

„Hi... ich bin’s... Sakuya.“

„Ja, ich weiß, ich kenne schließlich deine Stimme.“

„Sag mal, die Sache mit dem Ausbrechen... gilt die noch?“

„Klar! Soll ich dich später abholen?“

„Nein, nein... nicht heute, ich brauche dringend ein wenig Schlaf. Aber, wie wäre es morgen?“

„Ja, ja ok... ich komm dann Morgen... sagen wir so gegen neun bei dir vorbei, okay?“

„Ja, das ist prima.“

„Ok... ich freu mich, Sakuya. Bis morgen.“

„Ja, bis morgen.“

Ich kappe die Leitung. Ausbrechen ist jetzt genau das, was ich brauche.

Den Stapel Wäsche lege ich auf den Boden, schlüpfe komplett angezogen unter die Decke. Mir ist schrecklich kalt, wahrscheinlich ein Effekt der Übermüdung. Die Beine angewinkelt, versuche ich mir irgendwie Wärme zu spenden.

Ich hasse dich. Wie sehr ich dich hasse, du kannst es dir gar nicht vorstellen. Du hast mein ganzes Leben zerstört, meinen Alltag umgekrempelt. Deine Schuld ist es, dass ich zum zweiten Mal mein Leben komplett ändern muss, dass ich abermals alles aufgeben muss, und wofür? Dafür, dass du mich jetzt hängen lässt? Ich habe mich damals für dich entschieden, als ich mein Leben wiederhaben konnte, aber ich bin geblieben, bei dir, in Tokyo und das hier ist jetzt der Dank dafür... dass du mich verlässt... mich nicht lieben willst...
 

~ * ~
 

Ziemlich spät am darauf folgenden Samstag öffne ich wieder die Augen. Als erstes überkommt mich das Gefühl, einfach nur einen schlechten Traum durchlebt zu haben, doch die Realität sieht beschissener Weise anders aus und so schaffe ich es wieder einmal nicht, die Tränen zu verbannen.

Gegen 18.00 Uhr stehe ich endlich auf, ein ungutes Gefühl in der Magengegend, wahrscheinlich Hunger. Unten erwartet mich ein schnell gekritzelt Zettel, auf dem jeder Aufenthaltsort der einzelnen Familienmitglieder gelistet ist, außerdem die Information, dass man mich nicht wecken wollte. Das Haus ist ruhig, viel zu ruhig für meinen Geschmack.

Ich fische mir ein kaltes Hünchen aus dem Kühlschrank und pule eine Zeitlang darin herum, ohne wirklich etwas davon zu essen. Ein Sandwich ist mir dann doch ein angenehmerer Partner gegen den Kampf des Verhungerns.

Auf den Weg zurück in mein Zimmer, betrete ich das von Kevin. Die Vorhänge wehen leicht in dem hineinströmenden Wind, der PC ist ein magischer Anziehungspunkt. Unschlüssig stehe ich mitten im Raum, fast schon krampfhaft donnert es in meinem Kopf, dass es eh keinen Sinn hat. Die weiche Matratze fängt mich auf, ein angenehmer Geruch umweht mich. Frisches Bettzeug, fast lässt mich dieser Geruch wieder in meiner immer noch vorhandenen Müdigkeit eintauchen. Wieder ein kurzer Blick zum PC. Ich sollte mich bei Ryouta und Kyo melden, das habe ich seit Tagen nicht mehr. Ob sie es schon wissen?

Ich rapple mich wieder auf, duschen und umziehen sind jetzt angesagt, ich habe schließlich heute noch etwas vor. Ausbrechen, nicht wahr? Alles auf Anfang stellen und wieder von vorne anfangen, anfangen zu leben und nicht kaputt zu gehen.
 

Früher als erwartet, steht sie dann auch schon vor meiner Tür, zum Glück habe ich mir nicht allzu viel Zeit gelassen und kann sie fertig angezogen begrüßen. Ich erkläre mich kurz dem wieder anwesenden Teil der Familie und schiebe Sam vor mich aus der Tür hinaus. Irgendwie bin ich erleichtert, dass Kevin nicht da ist.

„Wir fahren mit der Metro und zurück mit dem Taxi, ok?“

„Schon recht.“

Ich bleibe stehen, da sie mir den Weg versperrt. Tief scheint sie in mich hineinzublicken, lächelt und greift nach meinen Händen.

„Ich freu mich wirklich, dass du angerufen hast.“ Ihr Gesicht wirkt richtig kindlich.

„Es freut mich, dass du dich freust“, und mir entfleucht ebenfalls ein zufriedener Gesichtsausdruck.

Fest in ihrer Hand gehen wir den Weg weiter, wohin weiß ich nicht einmal. Eine kurze Fahrt, ein weiterer Fußmarsch und wieder ein abruptes Halten.

„Warte kurz“, zieht sie ein kleines Döschen in die Höhe. Geöffnet kommen mehrere farbige Pillen zum Vorschein, ich trete wie automatisch ein Stück zurück.

„Sorry, aber davon halte ich rein gar nichts.“

„Hey, ich dachte, du wolltest mal so richtig ausbrechen?“ Ihr sanftes Lächeln hat einen fiesen, hinterhältigen Touch angenommen. „Glaub mir, damit geht es ganz einfach.“

„Das ist nicht mein Ding.“

„Und was ist dein Ding?“

„Das auf jeden Fall nicht!“

„Komm schon, was hast du denn zu verlieren? Wenn es dir nicht gefällt, brauchst du es ja nicht wieder zu nehmen, nur mal ausprobieren... das tut doch jeder Mal, oder etwa nicht? Einfach nur Spaß, nicht an irgendeinen Scheiß denken müssen... bist du nicht genau deswegen hier? Um abzuschalten, um mal richtig raus zu kommen?“

Es ist nicht einmal ihre aufdringliche Art oder dieser klitzekleine Gegenstand, den sie mir hinhält, viel mehr Angst mache ich mir selber, da ich schon nach so kurzer Zeit bereit bin, all meine Gegenwehr aufzugeben und die Pille an mich zu nehmen.

„Einfach runter damit“, spornt sie mich noch einmal an und schon ist es geschehen. Und während ich mich noch kurz frage, was ich da überhaupt geschluckt habe, tut sie es mir gleich und wirft sich ebenfalls eine der bunten Pillen ein. Sie grinst, wir gehen weiter.

Den restlichen Weg, warte ich erpicht darauf, dass nun irgendetwas passiert, doch außer, dass mir stetig wärmer zu werden scheint, spüre ich nichts. An einem einigermaßen normal aussehenden Club angekommen, sehe ich den Abend in Form eines Berges von einem Türsteher schon als beendet, doch scheint mich hier die weibliche Überzeugungskraft eines Besseren zu belehren. Ja, Frau müsste man sein.

Drinnen die übliche Atmosphäre: laut, stickig und meiner Meinung nach viel zu warm.

Wir geben unsere Jacken ab. Der Weg in Richtung Bar ist noch gut passierbar, wohl ein Effekt des frühen Hier seins. Knapp vor dem Tresen wird mir irgendetwas ins Ohr geschrieen und ich stehe alleine da. Anfangs schaue ich ihr noch nach, drehe mich dann aber zu dem schon wartenden Typen hinter der Bar, um ihm meinen Colawunsch um die Ohren zu brüllen. Ich setze mich auf einen Hocker, bekomme mein Getränk, nippe daran.

„Mann, ist das heiß hier“, stoße ich fluchend hervor und außer dem Mädchen, welches gerade dabei ist, ihre Bestellung abzugeben, hat mich wohl keiner gehört. Ich spiele mit dem Gedanken ihr die Zunge herauszustrecken oder ihr zu sagen, dass sie sich doch um ihren eigenen Mist kümmern soll, doch bleibt es nur bei einem mürrischen Gesichtsausdruck.

„Irgendwas habe ich vergessen!“, durchstreift es mich plötzlich. „Nur was?“

Mir minutenlang das Hirn zermarternd, während das Glas leicht gegen meine Stirn tippt, nimmt die Hitze immer mehr zu. Ich stürze die restliche Cola hinunter und schreie über den Tresen, dass ich noch eine haben möchte.

„Was, was, was...?“ Warum verdammt noch mal fällt es mir einfach nicht ein? Kurz gebannt, schaue ich meiner Hand zu, die das neue Glas bedrohlich zum Schwingen bringt. „Warum bin ich eigentlich hier? Wo... bin ich hier überhaupt?“

Ich drehe mich auf dem Hocker, überblicke die vielen Bewegungen vor mir. Grelle Lichter, Hitze und das verwirrende Gefühl, die umher fliegenden Töne könnten nicht wirklich mein Ohr erreichen. Ich presse mir die Handflächen aufs Gesicht, schiele zwischen den Fingern hindurch. Was habe ich nur verges….

Durch das schnelle Aufstehen schwanke ich bedrohlich und gleichzeitig durchbohrt mich eine Empfindung als würde ich ersticken und gleichzeitig als hätte ich mehr Sauerstoff als ich verarbeiten kann. Es kann nicht sein, das ist nicht möglich, was tut er hier? Wie ist das möglich? Habe ich ihn vergessen? Ihn? Oder ist das alles nur Einbildung, ein Wirrwarr der Drogen... ein...

Direkt vor ihm bleibe ich stehen, auch er hat in seinem herumhüpfenden Etwas gestoppt. Nicht nur die Geräusche um mich herum, auch meine eigene Stimme bleibt mir verwehrt, obwohl ich der festen Überzeugung bin zu sprechen. Sein Blick verändert sich, er lächelt, geht aber gleichzeitig einen kleinen Schritt zurück.

Was tust du, lass mich nicht schon wieder alleine... Ängstlich schließe ich wieder auf... es ist so verdammt heiß... ich will nicht... dass du wieder... gehst... bleib bei mir... Ki... da...
 

Nicht einmal Zeit die Augen zu öffnen, überkommt mich der Würgreflex. Einen festen Druck im Nacken spürend, wird mein Kopf hinunter gepresst. Ich übergebe mich in irgendein größeres Gefäß.

„Ich tippe ja auf Laripex, davon wird den meisten schlecht.“

Eine fremde Stimme, zu der Person gehörend, welche nun von meinem Nacken ablässt und sich mit meinem Gebrochenen entfernt. Ich versuche ihn zu erkennen, doch wo bin ich hier eigentlich? Musik, nicht besonders laut... ein eher dunkler Raum, der immer mal wieder von grellen, bunten Scheinwerfern getroffen wird, welche mir in die Augen stechen. Schritte... scheiße, ich war zu unvorsichtig...

„Und? Habe ich Recht?“ Das angebotene Glas schaffe ich nur schwer entgegen zu nehmen.

„Recht?“ Wasser, nur Wasser.

„Mit Laripex?“

„Was soll-“ Das Glas zerspringt mit einem lauten Scheppern.

„Ach Scheiße, denkst du ich bin deine private Putzfrau?“ Er bückt sich, fängt an, die Scherben mit der Hand aufzulesen, und ich kann nicht anders als ihn dabei anzustarren... wie kann das sein, warum begegne ich ausgerechnet... IHM?

„HALLO?“

„Ähm, was?“

„Du bist echt ne Numm-“

„Ich... ich muss gehen“, springe ich auf, sitze aber sofort wieder. Ein starker Schmerz, den ich erst jetzt bemerke. Ich taste danach.

„Oh, das ist meine Schuld. Ich mag es einfach nicht, wenn man mir zu nahe kommt... na ja, eigentlich schon, aber halt keine Fremden und schon gar nicht Männer, verstehst du?“

Ich nicke leicht. Was verdammt noch mal ist eigentlich los? Abermals spüre ich Übelkeit.

„Hätte ich gewusst, dass du von so einem kleinen Schupser direkt umfällst, hätte ich mich zusammengerissen“, lächelt er nur wenige Zentimeter von mir entfernt.

„Wo bin ich?“, frage ich laut und stelle mir innerlich die Frage, ob sein Erscheinungsbild vielleicht nur ein Produkt der eingenommenen Drogen ist? Ja, so muss es sein.

„Immer noch im Club. Dies ist das Privatbüro, meinem älteren Bruder gehört der Schuppen. Soll ich noch mal den Eimer holen?“

„Nein, es geht schon“, weiche ich seinem Blick aus. Er irritiert mich. Das Gesicht ähnelt so dem seinen, obwohl Augen und Haare nicht verschiedener sein könnten. Wie kann das nur sein, als wäre er für mich bereitgelegt worden. Nein, es sind nur die Drogen, nur die Drogen. Ich will hier weg! „Ich bin mit einer Freundin da.“ Eine Aussage, welche mir sofort wieder peinlich zu sein scheint. Warum bloß, er ist nicht er.

„Soll ich sie vom DJ ausrufen lassen?“

„Ja... äh, nein... nein, doch lieber nicht.“ Mit Sam jetzt alleine zu sein, ist der idiotischste von allen Auswegen. „Ich will nur nach Hause.“

„Wohnst du noch bei deinen Eltern?“

„So könnte man es nennen“, scheint mit meiner Stimme immer noch nicht alles wieder okay zu sein.

„Und du willst wirklich in deinem Zustand nach Hause? Die Übelkeit bleibt sicher die ganze Nacht, hast wohl mehr als ne halbe Tablette genommen?“

„Eine Ganze, denke ich.“

„Selbst Schuld, sag ich da nur. Was machst du auch für einen Mist. Drogen sind echt keine Lösung.“

„Ich wusste-“ Doch wäre es total überflüssig mich rausreden zu wollen. Ich kenne ihn nicht einmal.

Eine Durchsage des DJ mit einem Programmhinweis auf die nächste Woche folgt.

„Du kannst mit zu mir kommen, wenn du deine Finger bei dir lässt.“

„Nein, wirklich, das ist nicht nötig“, grinse ich. Abermals versuche ich aufzustehen, nicht wissend, ob ich dem dröhnenden Kopf oder der Übelkeit mehr Beachtung schenken sollte, und seine plötzliche Berührung scheint alles nur noch zu verstärken.

„Wir können hinten raus.“ Seine Hand liegt um meinen Arm geschlungen und ein wenig stützend werde ich zur Tür befördert. Durch sie hindurch bleiben wir noch einmal stehen.

„Sag Michael, dass ich nach Hause gegangen bin.“

„Mach ich, Boss.“

Ich werde an dem Mann vorbei gezogen, die Treppe hinunter und zur Hintertür hinaus, wo sich noch einmal mit einem weiteren Mitarbeiter unterhalten wird. Schnell reiße ich mich los und dränge mich an die nächstbeste Wand, als ich mich ein weiteres Mal übergeben muss.

„Geht’s?“ Eine Berührung, ich friere.

Ich nehme auf dem Beifahrersitz eines Autos platz, dessen Farbe ich nicht einmal registriert habe. Was tue ich hier eigentlich? Einfach mit einem wildfremden Typen mitgehen? Bin ich vollkommen Irre geworden?

„Ach, übrigens... mein Name ist Daryl, Daryl Bradley.“

„Sakuya.“ Ich greife nach seiner Hand, er hat unheimlich warme Hände.
 

Zu meiner Überraschung parken wir vor einem Haus. Folgend den schmalen Weg bis zur Eingangstür, schweift mein Blick nach oben, bestaunt die Verzierrungen um die Fensterläden herum.

„Keine Sorge, es ist das Haus meines Bruders und der kommt nicht vor fünf Uhr morgens. Pass auf, da sind Tierfiguren aus Stahl. Nachts sieht man sie kaum.“

Ich folge Daryl schrittgenau ins Haus.

„Machs dir bequem, ich komme gleich wieder.“ Er verschwindet und ich betrete den nächstbesten Raum. Eine Dartscheibe, ein Billardtisch, eine kleine Bar und das alles, wie es scheint, im Wohnzimmer. Darüber hinaus ist der Raum auch so ziemlich jung eingerichtet und trotzdem von einer Sauberkeit, die jene in meinem Zimmer weit überschreitet. Ich nutze die Zeit, um Kevin eine SMS zu schreiben. „Ich komme heute nicht heim“, schreibe ich nur knapp und schalte das Gerät danach aus. Sicher ist sicher, selbst wenn ich irgendwann die Nacht nach Hause kommen würde, war es so am besten.

Daryl kommt zurück. Einen Eimer stellt er neben die Couch, den Eisbeutel drückt er mir in die Hand.

„Setz dich.“ Die Bar ist sein nächstes Ziel, ich setze mich.

„Und nun noch etwas gegen die Übelkeit.“

„Ich denke nicht, dass dies eine gute Id-“

„Vertrau mir, ich kenne mich da aus und dies hier ist auch zweifelsfrei nicht einfach Alkohol.“ Er schwenkt die Flasche hin und her. Den Namen versuche ich erst gar nicht auszusprechen, immerhin verrät mir schon das Datum, dass es sich nicht gerade um eine billige Flasche Was-auch-immer handeln mag.

Alles rät mir weiteren Einwand zu erheben, aber was bringt das schon? Das Gefühl ihm keinen Wunsch abschlagen zu können, Daryl füllt zwei Gläser.

„Siehst du das?“

„Was?“, frage ich neugierig.

„Den eingeschliffenen Moussierpunkt, an dem sich die Perlen schön und lange entwickeln können. Es sind die optimalsten Gläser um Champagner zu servieren, leider wissen dass die wenigstens. Sie reichen ihn in Coupes, in denen das Prickeln viel zu schnell verloren geht.“

Daryl dreht sein Glas gegen das Licht der Lampe. Er scheint Gedankenversunken. Wie gebannt schaue ich auf seine Lippen, die sich leicht bewegen. Meine Hand verkrampft sich... ein starkes Kribbeln geht durch meinen Körper, mein Magen macht sich wieder bemerkbar. Diese Ähnlichkeit ist wirklich verrückt.

„Du musst mich echt für irre halten“, lacht er leise.

„Nein, eigentlich nicht.“ Ich hielt mich gerade für viel verrückter.

„Ich bin ein kleiner Perfektionist, musst du wissen. Nicht bei allem, aber bei den Sachen, die mir wichtig sind.“

„Und Champagner gehört dazu?“, gebe ich ein wenig erstaunt von mir.

„Es ist nicht der Champagner, der zählt, sondern die Art, wie er dargeboten wird. Du kannst den billigsten Apfelsaft mit der richtigen Präsentation edel und teuer erscheinen lassen. Es kommt immer nur auf das Auge an, nicht auf den Inhalt. Bei Menschen ist es genau umgekehrt, nicht wahr?“

Überrumpelt von so einer, wie mir scheint, schwierigen Frage, zucke ich nur leicht mit den Schultern.

„Und jetzt trink ihn, warm schmeckt er scheußlich.“

Es ist still in den nächsten Minuten. Was würde ich jetzt alles für ein wenig Musik geben oder irgendeine andere Ablenkung. Immer wieder kommt der Wunsch auf, ihn zu berühren, nur einmal kurz, ganz sacht sein Gesicht, um festzustellen, ob er sich genauso anfühlt.

„Also? Warum nimmst du Drogen?“

„Ich nehme keine Drogen!“

„Ach nein?“

„Nein! Es war heute das erste Mal“, rechtfertige ich mich.

„Und warum, war es heute das erste Mal? Wolltest du cool sein, sein wie die Anderen oder warum?“

„Weiß du, ich habe echt besseres zu tun, als hier zu sitzen, Champagner zu schlürfen und nem wildfremden Typen meine Lebensgeschichte zu erzählen!“ Plötzlich fühle ich mich von ihm angegriffen, als Idiot hingestellt.

„Wirklich?“, kommt es grinsend. „Da bist du aber die goldene Ausnahme. Das heißt jetzt nicht, dass ich alle Süchtigen dies-“

„Ich bin nicht süchtig!“

„...ser Welt auf meine Couch bitte und ihnen Champagner servieren“, fährt er einfach fort. „Aber was den Punkt Lebensgeschichte betrifft, so wollen sie sie doch früher oder später alle loswerden.“

„Und was ist mit dir?“

„Mit mir?“

„Wenn du so scharf auf Lebensgeschichten bist, dann erzähl mal.“

„So viel gibt es da gar nicht zu erzählen“, setzt er sein Glas ab. „Mein älterer Bruder hat meinen Dad enttäuscht, da er einen anderen Weg eingeschlagen hat. Sein Unigeld brachte er an die Börse und nicht zur Univerwaltung. Michael, mein Bruder, machte kein Vermögen oder so. Doch er zog zu Hause aus, investierte einige Jahre sein Geld, ging normal arbeiten, um sich in der Gastronomie zurechtzufinden, und irgendwann reichte es dann um den Club zu übernehmen und ihn soweit zu kriegen, dass was Ordentliches draus wurde. Michael wollte immer nur seinen eigenen Träumen nachgeben, er hasste es, wie Dad versuchte, ihn zu manipulieren... und du fragst dich jetzt sicher, was das ganze mit mir zu tun hat?“

„Ein wenig.“

„Na, da Michael all die Träume unseres Dads zerstört hatte, versuchte ich natürlich einiges wieder gut zu machen; brauchte super Noten nach Hause, benahm mich vorzeigbar, war eben ein Musterkind. Das Problem dabei war nur, egal was ich tat, wie ich mich auch anstrengte... er hat mich... nie gesehen.“

Er greift nach seinem Glas, leert es.

„Egal was ich tat, sagte oder vorzuzeigen hatte, immer fiel nur Michaels Namen, immer wieder kam es zum Gespräch, wie sehr dieser ihn doch enttäuscht hatte. Ich konnte es irgendwann einfach nicht mehr hören, nicht mehr ertragen, für meine guten Leistungen nicht die entsprechende Belobigung zu bekommen, also revoltierte ich. Ich schiss auf die Schule, blieb sogar in der Klasse hängen und tat eigentlich alles, um meinen Dad so richtig auf die Palme zu bringen. Aber Fehlanzeige, auch hier reagierte er mit Ignoranz. Heute bin ich mehr bei meinem Bruder als bei meinen Eltern und wenn ich mal zu Hause bin, scheint mein Dad es kaum wahrzunehmen.“

„Ich wünschte, mein Dad hätte mich nicht wahrgenommen“, schießt es mit gehässigem Ton aus mir heraus.

„Da scheinen wir wohl beide nicht das bekommen zu haben, was wir uns wünschen.“

„Scheint so... wie alt bist du eigentlich?“

„18, letztes Jahr bin ich von der Schule geflogen, weil ich das Lehrerzimmer in Brand gesteckt habe.“

„Und dein Bruder?“

„32.“

„Nimmst du Drogen?“

„Irre? Außer die“, er wirft eine Zigarettenschachtel auf den Tisch. „Und die kleinen Portionen Alkoholika, die verbotener Weise in meinen Drinks stecken, bin ich clean. Wie kommst auf den Gedanken?“

„Du scheinst dich gut auszukennen.“

„Wenn du mehr in einem Club als zu Hause bist, bleibt so einiges hängen. Apropos, ist dir noch schlecht?“

„Nein“, horche ich in mich. „Es scheint wieder zu gehen.“

„Willst du nach Hause?“

„Nein“, antworte ich mir ziemlich sicher.

„Oder nun doch deine Story vom Stapel lassen?“

„Nein.“

„Dann lass uns schlafen gehen, ok? Ich habe die letzten Nächte nicht viel davon bekommen.“

Ein Nicken

Was hält mich? Dass er mich nicht wirklich kenne oder dass er meine Geschichte noch nicht kennt? Oder ist es diese Ähnlichkeit, die mir ein Gefühl von Geborgenheit gibt, ein Gefühl, das mich in seiner Nähe nicht trauern lässt. Ja, es ist verrückt, in der letzten Stunde habe ich gar nicht an Kida gedacht, obwohl er eigentlich permanent anwesend war.

Ich werde auf der Couch in seinem Zimmer einquartiert. Bevor er das Licht löscht, erkundigt er sich noch mal, ob es mir an nichts fehlt. Das tut es nicht, ich fühle mich sogar richtig wohl, obwohl ich mich wiederum einsamer fühle als die ganzen letzten Wochen. Alleine, nicht wahr? Das bin ich jetzt. Verlassen... aufgegeben...
 

Part 46 - Ende
 

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~ Laripex
 

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Part 47

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Kida (by Stiffy)
 

„So, das war’s für heute, mit Kapitel 4 beginnen wir morgen!“

Ein erleichtertes Raunen geht durch den Saal, an welchem man sich ganz selbstverständlich anschließt... folgend das Räumen wenn Sachen verstaut werden, aufkommende Gespräche...

„Also die letzten zwanzig Minuten ist meine Konzentration echt flöten gegangen“, stöhnt Sachiko neben mir und erhebt sich.

„Ja, bei mir auch...“

„Sagt mal, was gibt es heute zu essen?“, mischt sich Eiji ein.

Sachiko zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, hab noch nicht nachgesehen...“

„Man, ich hab echt Kohldampf!“

„Nicht nur du.“

Hinosuke schließt sich uns an als wir den Saal verlassen. „Also ich fand’s echt interessant heute...“

Entgeistert richtet sich nicht nur mein Blick auf ihn.

„Ist mein Ernst! Ich fand’s toll!“

„Wenn du meinst...“ Eiji schüttelt den Kopf, legt im nächsten Moment den Arm um Sachikos Taille. „Was habt ihr eigentlich am Wochenende so vor?“

„Heute Abend muss ich arbeiten, Sonntag auch, aber Samstagabend hab ich frei...“, gebe ich als erstes preis.

„Ich hab nichts vor“, erklärt Sachiko, während sie ihr Kleingeld zählt.

„Ebenso!“ Hinosuke grinst und kurz frage ich mich, wie es eigentlich kommt, dass er in letzter Zeit immer mit uns rumhängt – nicht, dass es mich stört!

„Na klasse! Dann lasst uns morgen was machen!“

„Und was?“

„Keine Ahnung, irgendwas! Karaoke, Disco, Spieleabend...“

„Klingt gut, dieser unfertige Plan...“ Sachiko packt ihr Portmonee zurück in ihre Tasche.

„Klasse! Also?“, werde nun ich direkt angesehen.

„Ähm.. ja, wieso nicht...“
 

Dieser Verabredung zugestimmt, ist es an diesem Tag jedoch nicht die letzte, nach der ich gefragt werde, denn als ich mich am Abend bei der Arbeit wieder finde, ist es Arisu, die mich auf meine Wochenendpläne anspricht.

„Joji, Naoki und ich wollten am Samstag mit ein paar Leuten was machen... hast du Lust?“

„Ähm, ich...“, überraschte fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden.

Sie haben mich noch nie gefragt, ob ich was mit ihnen machen will, selbst wenn ich weiß, dass sie öfter gemeinsam weggehen... Naja, nicht dass ich in letzter Zeit Lust gehabt hätte, dabei zu sein.

„Ich hab leider schon was vor...“, sage ich schließlich und fast wirkt ihr Blick ein wenig enttäuscht.

„Schade... Wir dachten, da du endlich ein wenig gesprächiger geworden bist in den letzten Tagen, wäre es doch toll, sich mal ein bisschen besser kennenzulernen...“

„Vielleicht ein anderes Mal?“, habe ich schon fast ein schlechtes Gewissen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich wirklich Lust habe, mit ihnen etwas zu machen. So wirklich kenne ich sie doch eigentlich gar nicht.

„Klar!“ Lächelnd dreht sie sich um und geht zu Naoki, der ein paar Meter von uns entfernt steht, fragt ihn, was seine Freundin gesagt hat, ob sie mitkommen will. Hier erhält sie eine positive Antwort und verschwindet dann kurz darauf, um sich endlich für die Arbeit umzuziehen.

„Was machst du denn am Wochenende?“, fragt Naoki wenig später, als er mir meine erste Aufgabe für diesen Tag zugewiesen hat. „Natürlich nur, wenn ich fragen darf...“

„Du darfst...“ Ich beginne damit, den Fisch zu säubern... etwas, das mir nun seit zwei Malen zugetraut wurde. „Ich mache was mit ein paar Leuten von der Uni... Wir wissen nur noch nicht so recht, was...“

„Wir werden wahrscheinlich erstmal ein bisschen zum Karaoke gehe, danach mal weiter sehen...“, erklärt Naoki.

„Ich hab das schon lange nicht mehr gemacht...“

„Karaoke?“

„Jup... Das letzte Mal müsste letztes Jahr irgendwann gewesen sein...“ ... und noch mit Sakuya.

„Ich hasse Karaoke“, zwinkert Naoki mir zu, nimmt mir dann die Fischstreifen ab, um sie in den Topf zu geben. „Aber ich wurde leider überstimmt...“

„Mein Fall ist es auch nicht so ganz...“

„Na, vielleicht schaffen wir es dann nächstes Mal, die anderen umzustimmen! Du kommst doch mal mit, oder?

„Gerne.“
 

An diesem Abend in der Bahn, fällt es mir schwer, mich wach zu halten und einzuschlafen wage ich gerade wirklich nicht, da ich so todmüde bin, dass ich wahrscheinlich erst bei der Endstation aufwachen würde – nicht sehr praktisch! So also starre ich vor mich hin und freue mich auf mein Bett.

Irgendwie ist es unglaublich nervig, den ganzen Weg nach Hause fahren zu müssen, kann nicht endlich das Beamen erfunden werden?
 

~ * ~
 

Samstagabend, als ich mich mit den anderen dreien treffe, entscheiden wir uns dazu, erst tatsächlich ein bisschen zum Karaoke zu gehen, was mit vier Personen aber irgendwie schnell langweilig wird, weshalb wir danach in die ein oder andere Bar oder Disco gehen.

In der dritten Disco angekommen, die nun auch erstmal die letzte sein soll, merke ich langsam, wie der Alkohol mir in den Kopf steigt – und dabei habe ich heute extra fast gar nichts getrunken...

„Hey, was suchst du so in der Gegend rum?“ Eiji lehnt sich zu mir und reicht mir ein neues Glas. „Suchst du wen?“

„Nö, nich wirklich...“ Ich nippe an dem rötlichen Getränk, lasse meinen Blick wieder zur Tanzfläche gleiten. Bunte Haare hier und da zwischen den schwarzen... doch irgendwie keine blonden.

„Wollte deine Freundin eigentlich nicht mitkommen?“

Kurz zucke ich zusammen, starre auf tanzende, hellbraune Haare...

„Ich hab keine...“

„Echt nicht? Du sagtest am Anfang doch mal, dass du-“

„Das ist vorbei!“ Hilfesuchend gehe ich alle möglichen Themenwechsel durch, bleibe dann mit meinem Blick an Sachiko und Hinosuke hängen. „Und was ist mit dir?“, frage ich und deute in ihre Richtung. „Seid ihr schon ein Paar?“

„Sieht es so aus?“

„Ein bisschen...“ Ich sehe ihn an, fast verlegen wirkt er.

„Ich mag sie sehr, keine Ahnung, was sie über mich denkt...“

„Bestimmt das Selbe“, grinse ich ihn an, stelle dann mein Glas ab. „Ich geh tanzen!“
 

Tatsächlich erwische ich mich im Verlaufe des Abends noch einige Male dabei, an Sakuya zu denken... wie soll es in einer Disco auch anders sein, hier hat schließlich alles begonnen.

Welches Lied war es damals bloß... Ich kann mich nicht erinnern. Es war irgendwas schnelleres, aber genau, nein, ich weiß es nicht. Ob ich es erkennen würde, wenn sie es nun spielten? Wohl eher nicht, ich hatte damals ganz andere Sachen im Sinn als auf das Lied zu hören...

Leider schaffe ich es auf dem kompletten Nachhauseweg nicht mehr, diese Gedanken vollkommen loszuwerden... Nächstes Mal bloß keine Disco, das weckt nur Erinnerungen!
 

~ * ~
 

Ein fürchterliches Klingeln reißt mich am Sonntagmorgen aus meinem Schlaf. Gewillt, es zunächst zu überhören, vergrabe ich mich etwas tiefer, doch als mein Handy auch nach sechs Mal nicht die Lust verliert, krieche ich widerwillig unter meiner Bettdecke hervor.

Tatsuya, verrät mir das Display, was sofort ein komisches, gemischtes Gefühl in mir hochkommen lässt, bevor ich das Gespräch annehme.

„Hab ich dich geweckt?“, versteht er meine kurze, gähnende Begrüßung sofort richtig.

„Mhm...“

„Oh, das tut mir leid... Soll ich später noch mal-“

„Ne, lass mal...“ Ich kämpfe mich hoch, lehne mich mit dem Rücken gegen meine Wand und zucke kurz vor ihrer Kälte zusammen. „Gib mir nur ein paar Sekunden, ich ruf dich dann zurück...“, gehen meine letzten Silben im Gähnen unter.

„Okay...“

Ich lege auf, lasse das Handy fallen und reibe mir die Augen. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass es schon Mittag ist... Wieso hat mich noch keiner geweckt?

Versuchend, meine Gedanken zu ordnen, stehe ich auf, verlasse mein Zimmer, und stelle fest, dass ich allein zu Hause bin. Haben sie irgendwas davon gesagt, dass sie weggehen wollten?

Der Toilette einen dringenden Besuch abgestattet, bin ich noch immer nicht drauf gekommen, und gebe dann auch auf, darüber nachzudenken. Wieso auch, ich erfahre eh früher oder später, wo sie hin sind.

Mit dem Telefon in der Hand krieche ich zurück in mein Bett und wähle Tatsuyas Nummer. Wie lange ist es eigentlich her, dass ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe?

„Okay, jetzt bin ich einigermaßen fit... Ist ganz gut, dass du mich geweckt hast, sonst hätt’ ich wohl noch den ganzen Tag verschlafen!“

Ein kurzes Lachen in der Leitung aber keine Antwort.

„Rufst du aus einem bestimmten Grund an?“

„Muss ich einen haben?“

„Nein... Ich dachte nur.“

Ein Seufzen. „Eigentlich wollte ich schon früher mal anrufen, aber ich hab gehofft, dass du dich von alleine bei mir melden würdest... doch das hast du irgendwie nicht getan...“

„Das liegt nicht an dir!“

„Nein?“

„Nein... bei mir ist nur... im Moment...“ Ich fahre mir durch die Haare, und spüre, wie ein wenig schlechtes Gewissen in mir hochkommt. „Ich brauchte ein wenig Zeit für mich, wegen der Sache mit... Sakuya...“

Es ist so schwer, diesen Name auszusprechen... vor allem, weil ich weiß, dass ich Tatsuya irgendwann sagen muss, was ich getan habe... dass ich es auch Sanae sagen muss, wenn sie es nicht schon durch Kyo-

„Geht es dir jetzt wieder besser?“

„Ich denke schon...“

„Das freut mich.“

Ein kurzer Moment der Pause entsteht und ich frage mich, was er wohl dazu sagen wird, wenn er es erfährt... Ob er mich versteht? Muss er doch, oder? Ich weiß ja, dass es so sein musste...

„Hast du... heute... beziehungsweise jetzt was vor?“, frage ich zögernd.

„Nö, eigentlich nicht, nur Arbeit heute Abend...“

„Kann ich vorbeikommen?“

„Natürlich!“

„Danke! Bis gleich.“
 

Als ich ungefähr vierzig Minuten später vor Tatsuyas Tür stehe, frage ich mich schon ein wenig, was ich jetzt hier mache. Bin ich tatsächlich bereit, darüber zu reden? So lange hat sich alles in mir dagegen gesträubt... Zwar könnte ich auch jetzt versuchen, das Thema zu umgehen, aber wie lang soll das denn so weiter gehen?

Zögernd betätige ich die Klingel, spüre ein kleinwenig Unsicherheit in mir aufkommen. Irgendwann muss ich doch darüber reden...

„Hi!“, werde ich mit einem fröhlichen Lächeln begrüßt.

„Ich habe mich von Sakuya getrennt.“

Mehr als nur vollkommen verdattert werde ich angestarrt.

„Ähm... der 1. April ist schon seit knapp drei Wochen vorbei, also... wenn das witzig sein soll, ich weiß ja nicht...“

„Es ist kein Scherz.“ Ich balle meine Hände zu Fäusten, mehr um mich selbst zu beruhigen als aus einem anderen Grund.

„Im Ernst?“

„Ja.“

„O... kay... jetzt komm aber erstmal rein!“ Tatsuya deutet ins Innere der Wohnung und ich folge der Aufforderung, schlüpfe aus Schuhen und Jacke und lasse mich kurz darauf auf dem Sofa nieder. Tatsuya setzt sich mit einem nachdenklichen Blick zu mir. „Nun aber noch mal zum Mitschreiben... Du hast dich von Sakuya getrennt?“

Ich nicke und spüre meine Kehle rau werden. Entscheidung getroffen, Kida, jetzt musst du auch darüber reden!

„Und wieso?“

Ich ziehe die Beine aufs Sofa, da ich gerade irgendwie das Bedürfnis habe, mich hinter ihnen zu verstecken – was natürlich nicht funktionieren kann... Stattdessen versuche ich Tatsuyas fragendem Blick standzuhalten, dem man noch keine weitere Reaktion entnehmen kann.

„Weil ich... es nicht ausgehalten habe. Ich konnte nicht mehr, es ging nicht... ich hab nur noch an ihn gedacht... ich-“

„Das ist nicht dein Ernst?!“

Überrasche halte ich inne, aufgrund seiner viel, viel zu schockierten Stimme. Mein Herz rast, aus welchem Grund auch immer... und nur ein zaghaftes Nicken schaffe ich.

„Du hast tatsächlich deshalb Schluss gemacht?“

Nochmals nicke ich. Wieso ist er so überrascht?

„Aber du liebst ihn noch?“

„Natürlich tue ich das, aber-!“

„Kein Aber! Wenn du ihn liebst, wieso wartest du dann nicht? So lange wäre das doch jetzt auch nicht gewesen! Du hättest das schon irgendwie geschafft, wir hätten dir alle geholfen, es zu schaffen! Du kannst doch nicht einfach Schluss machen, nur weil es kurz schwierig geworden ist!“

„Aber...“ Ich spüre eine Mischung aus Wut und unglaublicher Trauer. Wieso verstehst du mich nicht? Wieso sagst du mir, dass es falsch war? Wieso?

Ein heftiges Kopfschütteln, Tatsuya steht vom Sofa auf.

„Ich hätte echt nicht gedacht, dass du so schnell aufgibst... Was ist bloß los mit dir?“

„Es tat weh, Tatsuya! Jede Minute, jede Sekunde tat es mehr weh, nicht bei ihm sein zu können, ihn nicht küssen zu dürfen, ihn-“

„Und jetzt tut es nicht mehr weh?“

„Jetzt?“ Zögernd senke ich meinen Blick, versuche meine Stimme ruhig zu halten. „Natürlich tut es weh, was denkst du denn? Immer wenn ich an ihn denke, frage ich mich, ob das richtige getan habe... aber es war richtig, das weiß ich!“ Ich hebe den Blick wieder, sehe fest in Tatsuyas Augen. „Jetzt werde ich versuchen, ihn zu vergessen, jetzt darf ich ihn vergessen, jetzt-“

„Du darfst? Was ist denn das für ein Quatsch? Du darfst ihn nicht vergessen!“

„Wieso nicht? Wenn ich ständig an ihn denke, schaffe ich es doch nie, weiter zu machen...“

„Kida, vergessen und nicht ständig an ihn denken, sind doch zwei ganz unterschiedliche Sachen!“ Mit einem Mal ist seine Stimme wieder ruhig. Er setzt sich wieder mir gegenüber, sieht mich fast mitleidig an. „Wenn du nicht immer an ihn denkst, heißt das doch nicht, dass du beginnst, ihn zu vergessen... War es das, wovor du Angst hattest? Hast du befürchtet, du denkst irgendwann nicht mehr genug an ihn?“

„Nein! Ich... ich...“

„Wirklich nicht?“ Ein Lächeln streift seine Züge. „Du hättest nicht ständig an ihn denken müssen, Kida, er wäre auch so in deinem Herzen gewesen... Du hättest weiterleben können, und ab und zu an ihn denken, dich auf eure Zeit freuen, die irgendwann wiederkommt... Es ist nichts Falsches daran, auch an andere Dinge zu denken...“

„Aber...“ Mit einem Mal spüre ich Tränen aufsteigen.

„Bereust du es denn gar nicht?“

„Das ist egal! Darum geht es nicht, es ist nicht mehr zu ändern und das ist auch gut so... es ist gut so!“

„Wirklich?“

„Ich... ich weiß es nicht...“ Ich lasse mich von Tatsuya in die Arme nehmen, versuche aber dennoch die Tränen zu unterdrücken. Es bringt nichts, jetzt zu weinen, rein gar nichts! „Wieso kann ich ihn nicht einfach vergessen?“

„Weil das noch gemeiner wäre, als das, was du schon getan hast. Ihr hattet doch eine schöne Zeit, oder?“

„Ja...“

„Na siehst du! Und außerdem...“ Ich spüre seine Finger an meinem Kinn, sehe ihn an, während er kurz darauf mein Ohr berührt. „Du hast das Armband nicht mehr, hab ich gesehen... aber den trägst du noch, also willst du gar nicht alles vergessen.“

„Ich... konnte ihn nicht abmachen.“

„Das ist gut so... denn sonst wäre ich echt enttäuscht von dir gewesen.“

Zögernd nicke ich.

„Und jetzt?“

„Was und jetzt?“

„Wie willst du jetzt weiter machen?“

„Keine Ahnung...“

Tatsuya stößt ein tiefes Seufzen aus. „Oh Mann, das wirkt alles nicht gerade durchdacht... Was hast du’s denn gemacht?“

„Er... der Brief müsste vor etwas mehr als einer Woch-“

„Warte mal! Sag mir nicht, du hast in nem Brief Schluss gemacht?!“

„Ich... Doch.“

Große Augen, die mich anstarren, ein Kopfschütteln und im selben Moment etwas, das uns aufschrecken lässt. Diesmal ist es nicht mein Handy.

Nach einem kurzen Schreckmoment steht Tatsuya auf und wühlt in seiner Jackentasche herum, während ich mich nun ganz aufs Sofa fallen lasse. Irgendwie habe ich das Bedürfnis, mich zu verkriechen.

Danke, wer auch immer du bist am anderen Ende der Leitung! Mehr Vorwürfe hätte ich jetzt nicht ertragen!

Ich sehe Tatsuya dabei zu, wie er das Gespräch mit einem Lächeln entgegen nimmt, dann im Schlafzimmer verschwindet.

„Hi!... Naja, ein bisschen... Kida ist da... wir werden wohl gleich erstmal was kochen, und du?... Ach so... Keine Ahnung, heute Abend muss ich arbeiten... nein... erzähl ich dir später... ja, mach ich... okay, bis dann... ich ruf dich an... bye...“

Nun auch die Augen geschlossen, bekomme ich nur noch den liebevollen Unterton in seiner Stimme mit. Mit wem er wohl telefoniert...

Kurz habe ich das Gefühl, einfach nach meinem Handy greifen zu wollen, und eine bestimmte Nummer zu wählen, die ich noch immer nicht löschen konnte...

Ob ich es bereue, hat er mich gefragt... Ich weiß es wirklich nicht, ich weiß nur, dass ein riesiger Teil von mir fehlt...

„Hey, hilfst du mir beim Kochen?“, reißt Tatsuya mich in die Wirklichkeit zurück.

„Äh... Klar“, öffne ich die Augen wieder und setze mich auf, verdränge jegliche Gedanken sofort.

„Ich soll dich von Sai grüßen...“

„Danke! War er das am Telefon?“

„Ja...“ Ein kurzes, schimmerndes Lächeln, bevor er sich umdreht und zur Küchenzeile geht. „Also? Worauf hast du Hunger? Oder hast du schon irgendwas tolles bei der Arbeit gelernt?“
 

Ich bin froh, dass die gesamten drei Stunden, die ich bei ihm verbringe, das Thema Sakuya nicht noch einmal zur Sprache kommt, auch wenn ich fest damit gerechnet hätte, dass er noch mal auf das zurückkommt, wobei wir unterbrochen wurden...

Wieso bloß sieht Tatsuya das ganze tatsächlich so ganz anders sieht wie ich... wieso musste ich mir anhören, einen Fehler gemacht zu haben – gerade das wollte ich doch nicht hören!
 

Als ich mich am Abend von Tatsuya aus auf den Weg zur Arbeit mache, die von hier nur eine kurze Station entfernt liegt, verspreche ich ihm, ihn die Tage mal anzurufen oder im doubleX vorbei zu kommen.

Selbst wenn meine Gedanken zum Teil noch dem abgebrochenen Gespräch galten, so war es doch ein schönre Nachmittag. Ich hatte gar nicht mehr in Erinnerung, dass es mir so gut tut, mit Tatsuya zusammen zu sein und einfach über allen möglichen Scheiß zu reden.
 

~ * ~
 

Nicht zuletzt deshalb habe ich bereits am Dienstagnachmittag das Bedürfnis, meinem Versprechen nachzugehen, doch als ich nach der Uni im doubleX vorbeikomme, ist Tatsuya nicht da und ich erfahre, dass er heute keine Schicht hat. Ob ich zu ihm nach Hause gehen soll? Ach nein, muss nicht sein, eigentlich weiß ich eh schon nicht mehr, was ich mit ihm reden wollte...

Doch auch die Lust darauf, nach Hause zu gehen, lässt auf sich warten. Ich hab eigentlich so viel Sachen für die Uni zu machen, doch darauf hab ich gerade echt so was von gar keine Lust!

So spaziere ich vom doubleX aus einfach ein wenig so durch die Straßen, besuche den ein oder anderen kleinen Laden, ohne aber etwas zu kaufen, und merke irgendwie immer deutlicher, wie das alles mich in eine ganz bestimmte Richtung führt....

Wieso meine Füße mich ausgerechnet hier her tragen? Ich kann es nicht sagen, wollte ich doch eigentlich nie wieder herkommen... wieso bin ich es dann doch?

Aus dem Grund, aus dem ich auch immer noch den Ohrring trage?

Langsamer werden meine Schritte, je näher ich dem Haus komme, und ich schaffe es nicht, meinen Blick von den überaus interessanten Bodenplatten zu heben. Ja, was mache ich bloß hier?

Ich bleibe stehen, wissend, dass ich es jetzt genau vor mir habe... und als ich dann doch langsam den Blick hebe, steht es tatsächlich noch immer da, groß, prächtig, wie eh und je... Das alles war kein Traum... und doch scheint es, als könnte man ihn einfach weiterträumen, denn nichts hat sich verändert... Selbst die Gardinen sind noch immer die Selben...

Ich trete einen Schritt näher, wage jedoch nicht, einen Fuß auf den Hof zu setzen.

Wieso bin ich hergekommen?

Ich verspüre das Verlangen, weiter zu gehen, durch die Tür zu treten, hinauf in seinem Zimmer zu verschwinden und mich in dem Bett verkriechen, das ich so gerne mit dir geteilt habe. Aber selbst wenn ich bis hinauf käme, dein Bett ist ganz sicher nicht mehr da, nicht wahr? Alles wird weg sein, der Ort, den ich als mein zweites Zuhause gesehen habe, wird nicht mehr hier sein, ebenso wie du nicht mehr hier bist...

Wieso sieht dann alles von hier draußen noch so gleich aus?

Ich strecke meine Finger aus, um den Zaunpfosten zu berühren, doch mitten in der Bewegung halte ich inne, als mit einem Mal die Haustür geöffnet wird – Verdammt!

Schnelle Schritte zurück, schnell hinter die nächste Ecke... bloß jetzt niemandem hier begegnen, nicht seinem Vater!

Doch er ist es nicht, der aus dem Haus tritt, denn die Person, die ich sehe, ist mir fremd... und irgendwie versetzt mir das noch einen viel größeren Stich.

Meine Finger verkrampfen sich in meiner Jacke, während ich den beiden etwas älteren, schwarzhaarigen Personen dabei zusehe, wie sie noch ein paar Worte wechseln.

Ob das die neuen Eigentümer sind? So schnell schon?

„Hey du!“ Ein Tippen auf meiner Schulter lässt mich herumfahren. Fast hätte ich aufgeschrieen.

Vor mir steht ein Mädchen und grinst mich breit an. Was um Himmels Willen?

„Sorry, wollte dich nicht erschrecken.“ Sie sieht an mir vorbei. „Spielst du Stalker oder so?“

„Ähm, nein... das...“ Ich sehe über meine Schulter zurück, niemand mehr ist zu sehen. „Es ist nur...“

„Ahhhh ja, verstehe...“, feixt sie, während mir die gesamte Situation mit einem Mal unglaublich peinlich wird. „Weißt du, eigentlich wäre es mir auch egal, aber da du dich auf unserem Grundstück befindest...“ Sie deutet einmal im Kreis herum. „...dachte ich, ich seh’ einfach mal, was du hier tust.“ Ein Zwinkern, während ich erschrocken feststelle, dass sie vollkommen Recht hat, und ich mich nicht mehr auf einem öffentlichen Fleck Erde befinde.

„Oh, das hab ich nicht bemerkt... tut mir leid!“

„Ist kein Problem... ich kenn dich ja.“

„Äh... was?“

„Ja, ich hab dich ab und an gesehen... Du bist ein Freund von Sakuya, richtig?“ Sie deutet mit dem Kopf zum Nachbarhaus, während es mir die Kehle zu schnürt.

„Nicht mehr...“, spreche ich und trete einen Schritt zur Seite. Okay, wenn das Gespräch jetzt auf Sakuya kommen sollte, muss ich eindeutig weg hier!

„Meinst du, weil er weggezogen ist?“ Sie folgt mir auf den Bürgersteig.

„Ja...“ Hilflos sehe ich mich um. Was geht sie das eigentlich an?

„Er ist doch trotzdem noch dein Freund, oder?“

„Nei- warte mal, Stopp! Bist du nicht ein wenig zu neugierig?“

Ihr Grinsen verschwindet für einen Augenblick. „Wirklich? Sorry, das wollt ich nicht, ich merke einfach nie, wann ich zu viel sage.“

„Jetzt weißt du’s ja!“, will ich mich umdrehen und gehen, bleibe dann aber doch stehen.

Was mache ich hier? Wieso gifte ich sie jetzt plötzlich so an? Sie hat mir doch eigentlich gar nichts getan... Wie soll es denn bitte weiter gehen, wenn ich jedes Mal so gereizt reagiere, wenn sein Name fällt? Ich drehe mich wieder zurück zu ihr, die mich nun abwartend ansieht.

„Es tut mir leid... Mir geht es nur im Moment nicht so gut, das hat nichts mit dir zu tun.“

„In Ordnung!“ Ihr Lächeln strahlt mich an. „Wie wäre es, wenn wir dann einfach noch mal von vorne anfangen?“ Mir wird die Hand entgegengestreckt, verdattert sehe ich sie an. „Also, mein Name ist Ami Kabayashi. Ich bin noch eine Woche siebzehn Jahre alt, studiere seit einem Jahr Philosophie und wohne hier... Und wer bist du?“

Es ist wie eine Art Déjà-vu, und für einen Moment scheint es, als würde ein Kurzfilm vor meinen Augen ablaufen.

Wie lange ist das bloß schon her... es erscheint, wie eine Ewigkeit...

„Hey, was ist los? Hast du nen Geist gesehen?“ Ich schrecke auf, starre sie an, spüre, wie mir heiß und kalt wird. „Du bist ganz blass...“ Ihre Hand in meiner, ich vernehme den leichten Zug und gebe ihm nach. „Komm kurz mit rein, du solltest dich setzen und was trinken!“

Während ich mitgezogen werde und das hell verputzte Haus betrete, versuche ich, Gedanken zu verscheuchen, das drückende Gefühl zu unterbinden.

Es ist zu spät, Kida... es ist einfach zu spät.

„Wasser oder Saft?“

„Saft...“

Ich sehe mich um, sehe dann sie an. Mir ist schlecht...

Ami setzt sich mir gegenüber, schiebt das Glas mit der gelben Flüssigkeit zu mir heran.

„Geht es dir wieder besser?“

Ich nicke, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es wirklich so ist.

„Was hattest du eben?“

„Nichts.“ Ich trinke einen Schluck, frage mich, was ich eigentlich hier tue. Ich sollte wirklich langsam nach Hause gehen und meine Aufgaben erledigen.

„Sagst du mir jetzt wie du heißt? Das weiß ich nämlich nicht.“

„Takahama, Kida...“

„Gut Kida...“ Sie lehnt sich etwas vor, fixiert mich mit ihrem Blick. „Ich wollte schon immer mal mit dir reden... oder mit ihm, aber er ist jetzt ja weg...“

Wieso ist ihr Blick bloß so durchdringend?

„Ähm... und worüber?“

„Über nichts Besonderes.“ Sie grinst mich breit an. „Es ist nur... ich weiß über euch bescheid!“

„Hä?“

Ihr Grinsen wird breiter. „Ich hab euch im Herbst mal im Garten zusammen gesehen.“

„Was... meinst du?“, versuche ich wohl erfolglos so zu tun, als wisse ich nicht, wovon sie spricht.

„Ich war schon ein bissl überrascht“, zwinkert sie, ohne auf mich einzugehen. „So was sieht man sonst nur in Mangas und dann plötzlich... Naja, jedenfalls wollte ich danach unbedingt mal mit einem von euch sprechen...“

„Wieso?“

„Einfach so! Ich fand euch so süß und-“

„Stopp!“

„Ja?“

„Könntest du aufhören, darüber zu sprechen? Es ist Vergangenheit und außerdem muss ich jetzt los!“ Ich stehe auf und drehe mich zum Gehen.

„Hey, warte doch mal!“ Schon ist sie wieder neben mir. „War ich unhöflich? Das tut mir leid, ich merke so was einfach nicht...“

„Schon okay...“, versuche ich eher mich selbst zu beschwichtigen.

„Darf ich fragen... wo er jetzt wohnt?“

„In Boston.“

„Oh!“ Sie folgt mir weiter auf meinem Weg zur Tür. „Deshalb willst du nicht darüber reden, oder?“

„Genau.“

„Okay, dann hake ich das Thema ab! Magst du nicht trotzdem ein wenig bleiben? Ich hab grad Langeweile und könnte Gesellschaft vertragen... aber wenn du natürlich noch was vor hast...“

Ich sehe sie an, schon bereit abzulehnen... und doch zögere ich. Wenn ich etwas vor habe? Naja, das hab ich nun ja doch nicht wirklich... Aber was würde es mir schon bringen hier zu bleiben?

„Na komm schon!“, bemerkt sie mein Zögern, sieht mich mit großen Augen an... Und tatsächlich schaffe ich es nicht, diesem Blick zu widerstehen – wieso auch immer!
 

Part 47 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 48

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Sakuya (by littleblaze)
 

Beim ersten Mal muss noch der Eimer neben der Couch herhalten, die darauf folgenden Male erreiche ich noch rechtzeitig die Toilette. Der Geruch nach Erbrochenem im Zimmer nimmt ab nachdem wir das Fenster weit geöffnet haben.

Ich hänge würgend über der Kloschüssel, beobachtet von einer mir eigentlich fremden Person, wobei mich ein riesiges Gefühl von Schwäche durchflutet. Ich schäme mich, fühle mich entblößt, auf komische Weise. Ich will nicht, dass mich irgendjemand so sieht, doch er geht nicht, als ich ihn darum bitte.

Irgendwann gebe ich dann doch einen Teil meiner Lebensgeschichte preis. Wir sitzen auf den weichen Teppichen vor der Badewanne und ich fange ohne Vorwarnung an zu erzählen, nicht alles... nur einen Teil, den, der Japan betrifft.

Er hört aufmerksam zu, bis ich schließlich geendet habe. Ein Stirnrunzeln, ein Lächeln und die kleine Aussage „That’s Life!“ sind die ersten Reaktionen, welche ich bekomme. Was ich erwartet habe? Doch, irgendwie ist es komisch, einmal nicht bemitleidet zu werden.

„Du wirst noch viele Beziehungen haben. Find dich schon vorher damit ab, dass du das eine oder andere Mal enttäuscht wirst und dich kann es beim nächsten Mal nicht mehr so hart treffen. Außerdem, was hast du erwartet, dass du schon mit 16 die Liebe deines Lebens findest? Mach dir da doch nicht so viel Stress, er wird nur einer von vielen sein.“ Ein weiteres Lächeln, woraufhin ich zum ersten Mal ins Wanken gerate.

Wieder auf der Couch stellt sich kein Gefühl von Müdigkeit mehr ein. Ich friere, obwohl das Fenster längst wieder geschlossen und es eigentlich ziemlich warm im Raum ist.
 

~ * ~
 

Gegen Mittag sitze ich Michael und zwei seiner Freunde gegenüber. Ich werde geduldet, in Gespräche mit einbezogen und behandelt als wäre ich schon immer ein Teil davon. Der Hunger treibt Eier, Speck, Bagel und Cornflakes hinein. Ich fühle mich als hätte ich Wochen nichts gegessen.

Nach dem Essen fährt mich Daryl nach Hause. Ich entschuldige mich noch ein paar Mal bei ihm für die vielen Umstände, die er durch mich hatte, woraufhin er nur antwortet, dass er schon Schlimmeres erlebt habe.

Wir verabschieden uns kurz und ich kann es nicht verhindern, dem wegfahrenden Wagen noch eine Weile hinterher zu schauen. Wir haben weder Telefonnummern ausgetauscht, noch irgendein Wort darüber verloren, ob wir uns wiedersehen werden.
 

In der Küche treffe ich auf Kevins Eltern.

„Du kommst aber spät!“

„Entschuldigung, ich habe lange geschlafen.“

„Das nächste Mal aber ein ordentlicher Anruf, verstanden? So eine SMS kann schließlich jeder für dich schreiben“, wedelt sie leicht mit dem Schneebesen.

„Ja, versprochen“, bin ich schon dabei, mich umzudrehen, hinauf in meine Zimmer zu gehen, als mich ein schon etwas nervendes Geräusch stoppen lässt. Durch das Fenster der Hintertür, sehe ich den Auslöser dafür.

„Was macht er da?“

„Nach was sieht es denn aus?“

Eine alte Matratze eines Kinderbettes ist gegen den Zaun gelehnt und mit einem Baseball wird immer wieder auf sie eingeschlagen.

„Sakuya?“

„Mmhh..?“

„Wegen Dienstag... weißt du schon, was du tun willst?“

„Nein.“

Ich betrete den Garten. Ich will jetzt nicht darüber nachdenken müssen und stelle mich ein bisschen abseits, um Kevin nicht zu stören. Wie schnell mag er mittlerweile wohl werfen?

„Sam hat angerufen.“ Der Ball knallt erneut auf den Stoff. „Sie war ganz schön aufgebracht. Du hättest sie einfach sitzen lassen, du wärst ein Miststück, Penner und noch ein paar weitere schmeichelnde Worte.“

„Sie hat mich doch wie blöde da stehen lassen.“ Erst jetzt trommelt mir der gestrige Abend wieder gegen die Stirn. Wie konnte ich nur so verrückt sein und Drogen nehmen? Nicht einmal großen Widerstand habe ich geleistet.

„Es juckt mich nicht, wer wen stehen gelassen hat.“ Seine Stimme schwankt ein wenig oder kommt das nur vom Bücken nach dem Ball? „Wo warst du?“

Wo ich war? Bei einem Typen, den ich nicht kannte, der sein halbes Leben in einem Club verbringt, sich super mit Drogen auskennt und mir Champagner serviert hat…

„Bei einem Freund.“

„Einem Freund?“

„Ja“, klinge ich wohl nicht sehr überzeugend.

„Und warum hast du dein Handy ausgeschaltet? Ich wollte dich anrufen, nachdem sich Sam gemeldet hat.“

„Der Akku war leer“, lüge ich und ich erhebe nicht den geringsten Zweifel daran, dass er das weiß. „Ich… darf ich an den PC?“ Nur weg hier bevor noch mehr Fragen kommen.

„Klar.“
 

Dem PC beim Hochfahren zuschauend, schalte ich mein Handy ein; zwei Nachrichten von Sam, eine von Carol-Ann und eine von Kevin. Das aufgegangene ICQ schließe ich sofort wieder, natürlich nicht, ohne vorher einen kleinen Blick auf die Anwesenheitsliste zu werfen. Was hätte ich ihm denn geschrieben, wenn er on wäre? Hätte ich ihm überhaupt geschrieben?

In meinem Maileingang erwarten mich zwei neue Eingänge von früheren Schulfreunden. Sie wissen wahrscheinlich nicht einmal, dass ich nicht mehr in Tokyo bin. Ich lösche sie, ohne auch nur einen Blick hineingeworfen zu haben.

Zwei alte Mails bin ich aber gewillt, endlich zu beantworten. Ich schreibe Ryouta und Kyo, dass es mir eigentlich ganz gut geht und dass sie wohl mittlerweile erfahren haben, was zwischen Kida und mir geworden ist. Ich schreibe, dass ich eigentlich ganz gut damit klar komme, darüber aber ansonsten nicht reden mag. Im Großen und Ganzen fasse ich mich ziemlich kurz und verabschiede mich schnell wieder. Es ist ein komisches Gefühl, dass sie im Gegensatz zu mir immer noch mit ihm Kontakt haben.

Fast sekundengenau mit Verschicken der letzten Mail klingelt mein Handy und Carol-Ann scheint ein wenig verstimmt darüber zu sein, dass ich mich das ganze Wochenende noch nicht gemeldet habe. Ich erzähle kurz, was ich Freitag und Gestern getrieben habe… na ja, fast, das mit den Drogen lasse ich aus und schiebe meinen Blackout der Trennung mit Kida zu, von der ich ihr jetzt auch endlich einmal berichte. Ihr aufkommendes Mitleid schiebe ich direkt wieder von mir und sage auch ihr, dass ich darüber nicht sprechen möchte.

Im laufenden Gespräch betritt Kevin das Zimmer, schnappt sich ein Buch vom Regal und legt sich aufs Bett.

„Ok, dann bis morgen, Sakuya. Ich muss jetzt beim Backen helfen.“

„Morgen? Ich hab dir doch gerade erzählt, dass ich zwei Wochen Urlaub kassiert habe.“

„Und? Hausaufgaben werden trotzdem gemacht, oder willst du ihnen noch die Genugtuung geben, dich fertig machen zu können, weil du vom laufendem Stoff nichts mitbekommen hast?“

„Ganz sicher nicht.“

„Dann wäre das ja geklärt. Ich komme dann nach der Schule bei dir vorbei, sei ja zu Hause!“

„Ich werde da sein.“

„Dann bis morgen, bye.“

„Bye.“

Ich lege auf, schalte den Computer aus und stehe daraufhin einfach nur kurz im Raum. Doch ist es wohl länger als ich annehme, denn ein fragender Blick vom Bett trifft mich.

„Sollen wir nicht irgendwas zusammen machen?“, frage ich, obwohl ich nicht einmal sagen könnte, ob dieser Gedanke wirklich in meinem Kopf herumgeschwirrt ist.

Kevin setzt sich auf, legt das Buch beiseite.

„An was dachtest du?“

„Keine Ahnung“, gehe ich aufs Bett zu. „Zocken, Schwimmen, Kino, -“

„Kino“, werde ich unterbrochen. „Ich wollte da schon lange einen Film schauen, kam aber noch nicht dazu.“

„Also Kino.“ Mir entweicht ein Lächeln mit der Feststellung, dass es sich gut anfühlt… dieses Lächeln.

„Ist was?“

„Nein“, schüttle ich den Kopf. „Ich habe mich nur gerade gefragt, wann ich eigentlich das letzte Mal wirklich gelacht habe.“
 

~ * ~
 

Am Nachmittag des folgenden Montags steht Carol-Ann mit einem breiten Grinsen vor der Tür. Sie boxt mich in die Seite und verlangt von mir eine genaue Schilderung von Millers Gesichtsausdruck als ich ihm ans Bein pinkelte.

Den Vormittag hatte ich mit allen möglichen Hausarbeiten zu gebracht. Nie hätte ich angenommen, dass ein Tag alleine in diesem Haus so langweilig sein kann. Wenigstens wird man sich darüber freuen, wenn die Küche und die Wäsche erledigt sind.

Ich werde mit dem neusten Klatsch der Schule gefüttert, während ich mir eigentlich ihre Notizen durchlesen sollte. Nicht gerade vorteilhaft, aber interessanter als das langweilige Thema, welches gerade durchgenommen wird.

Nicht viel später kommt eine weitere Ablenkung hinzu, als Daryl von Kevin in mein Zimmer geführt wird. Zuerst bin ich einfach nur baff und kann nur irritiert zu ihm hoch schauen. Nie hätte ich damit gerechnet, dass er einfach so vorbei kommt, doch da ist er, grinst breit und setzt sich neben Carol-Ann auf den Boden.

„Na, schönes Kind?“

„Was na? Eine plumpere Anmache kennst du wohl auch nicht?!“

„Entschuldigung, aber deine Schönheit hat mich glatt alles vergessen lassen, was ich jemals an Anstand und gutem Benehmen erlernt habe. Zügle mich.“ Daryl legt seinen Kopf ein wenig schief und fängt an zu schnurren. Ich lache auf.

„Ich bin allergisch auf Katzen“, drückt sie seinem Näher kommen entgegen.

„Wuff.“

Ich wende mich der Tür zu, wo Kevin galant gegen den Rahmen gelehnt ist und sich die Szenerie anschaut.

„Sag mal, was willst du eigentlich hier?“, kommt es zickig, irgendwie, als könne sie nicht wirklich mit der dargebotenen Situation umgehen.

„Deinen zauberhaften Duft konnte ich schon von draußen wittern... Aber mal ehrlich… kennen wir uns nicht von irgendwo her? Du kommst mir so bekannt vor.“

„Dumm und auch noch vergesslich.“

„Also doch? Na komm, verrat es mir!“

Mir gefällt es bei diesem kleinen Gezanke einfach nur Zaumgast zu sein.

„Ich wollte dich damals für die Schulzeitung interviewen, wegen dem Brand… aber dich hat außer der Farbe meines Höschens nichts interessiert.“

„Ah… ja, jetzt weiß ich es wieder… und?“

„Was und?“

„Welche Farbe hatte dein Höschen?“

„Idiot.“ Carol-Ann zieht energisch ihr Heft unter seinem Arm weg.

„Du warst also auf der Schule, wo ich jetzt bin“, bringe ich mich ein.

„Wenn du mit der zukünftigen Mutter meiner Kinder auf die selbe Schule gehst, dann ja!“

„Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich dich noch nie leiden konnte?“, entgegnet sie darauf.

„Ach, das sagst du doch nur so…“ Er macht eine witzige Gestik und ich bereite mich schon auf eine weitere Runde vor, doch wird sich ganz plötzlich mir zugewandt.

„Und, wie geht es dir?“

„Gut… danke noch m-“

„No problem! Ich wollte auch nur kurz schauen, wie es dir geht.“ Völlig unerwartet steht er auf. „Ich muss noch einige Besorgungen für den Club machen, Strohhalme und so ein Zeug.“ Er wendet sich noch einmal Carol-Ann zu. „Also, bleib so schön, bis wir uns wiedersehen.“ Er zwinkert und sie täuscht einen Würgreflex vor.

„Hier Sakuya, meine Telefonnummer. Ruf mich an, wann immer du magst.“ Er streckt mir einen Zettel hin und wendet sich dann der Tür zu. „Ok Türsteher, bring mich hinaus.“

Kevin tritt beiseite und lässt Daryl an sich vorbeigehen. Er folgt ihm und schließt die Tür hinter sich.

„Gott, was für ein Spinner“, kommt es genervt.

„Ich mag ihn.“

„Ja, das kann ich mir gut vorstellen.“

„Ach komm, ich hab’s dir doch angesehen… dir hat gefallen, was er gesagt hat.“

„Hat es nicht!“ Ihre Wangen ziert ein leichtes Rot.
 

Ursprünglich hatte ich mich auf einen ganz normalen Abend gefreut: ein wenig mit Kevin vor dem Fernseher abhängen oder mal wieder die Playstation bearbeiten, stattdessen sitze ich im Wohnzimmer Kevins Eltern gegenüber. Es wurde um ein Gespräch gebeten, ein Gespräch, dass dem morgigen Treffen mit meinen eigenen Eltern voraus gehen soll.

Dass es doch immer noch meine Eltern sind, dass mein Dad, auch wenn er falsch gehandelt hat, eigentlich nur das Beste für mich will und mich beschützen wollte, und dass mich meine Eltern immer mehr lieben werden, als irgendwas sonst auf dieser Welt. Aussagen, welche ich nicht hören mag… es tut weh…

Oben im meinem Zimmer weine ich. Alles strömt wieder auf mich ein; schöne Zeiten, die Flucht aus Japan… meine Mom…

Und mein Dad? Hat er vielleicht mit allem Recht gehabt? Immerhin… wo stehe ich jetzt? Verlassen von einer Liebe, für die ich kämpfen wollte, für die ich meiner Familie den Rücken kehrte, mein Leben aufgegeben hatte, für die ich soviel Leid durchmache… und er, Kida? Er kann alles behalten, er kann sein Leben einfach weiterleben und er, ER hat sich gewagt, es zu beenden? Ist es diese Liebe von Anfang an gar nicht wert gewesen, alles nur ein reines Trugschloss?

„Außerdem, was hast du erwartet, dass du schon mit 16 die Liebe deines Lebens findest? Mach dir da doch nicht so viel Stress, er wird nur einer von vielen sein“

Ja genau, ich bin noch jung. Ich weiß nichts von Liebe, ich sollte anderes tun, als damit meine Zeit zu verschwenden. Ich sollte einfach leben, Spaß haben, unbekümmert sein… all solche Sachen, die eine schöne Jugend ausmachen. Doch warum tut es dann immer noch so weh, wenn ich an ihn denke, weshalb kann ich nicht einfach jetzt und sofort alles vergessen, was war? Warum sehne ich mich danach, berührt zu werden, seinen Geruch aufzunehmen und seine Stimme zu hören? Ich will bei ihm sein, ich will-

Energisch schiebe ich den Schrank ein Stückchen vor, krame solange dahinter herum, bis ich es endlich in Händen halte.

Ein wenig Staub wegstreifend, führe ich es danach leicht an meine Lippen. Nur flüsternd kommt die folgende Frage darüber: „Warum hast du das getan? Ich kann es immer noch nicht verstehen.“

Von einer Heulattacke gebeutelt, verkrampfen sich meine Finger um den Gegenstand. Den Schmerz, der dabei ausgelöst wird, lasse ich nur zu gerne zu. Warum immer wieder…. hat das denn niemals ein Ende…?
 

~ * ~
 

Der nächste Tag wird einfach nur schrecklich. Mein Dad schreit, Kevins Mom schreit zurück, meine Mom weint und ich weine ebenfalls. Die letzte Nacht musste ich mir unweigerlich Gedanken darüber machen, was ich denn jetzt eigentlich will und wie ich mein Leben in Zukunft weiter gestalten möchte.

Auf der einen Seite vermisse ich die Nähe zu meiner Mom, doch direkt daneben kann ich mir kein friedliches Zusammensein mit dem Mann an ihrer Seite vorstellen. Dann gibt es da noch einen sehr wichtigen Punkt, über den ich mir noch immer nicht ganz im Klaren bin: Wie soll es in der Liebe weitergehen?

Bin ich jetzt wirklich schwul? Oder kann… oder will ich wieder zurück? Ist es jetzt eigentlich schon meine Pflicht so weiter zu machen, nur damit mein Dad nicht doch Recht bekommt, dass dies nur eine pubertäre Phase ist, oder dürfte ich jetzt gar nicht mehr schwul sein, wenn ich wieder mit meiner Familie leben würde?

Kann ich auf meine Mom verzichten, um frei zu sein? Will ich mich einsperren lassen, um bei meiner Mom sein zu können?

Ich sehe keinen Ausweg, keine Antworten. Ich will mit Kida zusammen sein, aber will ich das auch mit einem anderen Jungen? Und wenn ich mich doch irgendwann dagegen entscheiden würde, mich dann doch in ein Mädchen verlieben könnte, würde ich meinem Dad verzeihen können?

Kein Weg dazwischen öffnet sich mehr, keine wirkliche Möglichkeit, in das Haus meiner Kindheit zurückzugehen, und doch will ich nichts sehnlicher, als mich meine Mom weinend in den Armen hält. Eine Entscheidung, muss ich sie wirklich jetzt fällen?

Hier geht es mir gut, mit jedem Tag besser. Bald werde ich endlich darüber hinweg kommen können, die Tränen trocknen lassen… .aber… zu Hause? Jeden Tag in das Gesicht meines Vaters schauen, jeden Tag erinnert werden, wie soll ich da vergessen?

„Ich hab dich so lieb… ich will doch nur, dass du glücklich bist“, streift es mein Ohr, und obwohl ich damit eigentlich das unausgesprochene Einverständnis bekommen habe, hier zu beleiben, fühle ich mich jetzt nur noch schlechter, wenn ich diesen Entschluss treffen würde. Ich kann ihr doch nicht so weh t-

„HÖRT ENDLICH AUF DAMIT!“ Ich höre Kevins Stimme, kann ihn wegen der Umarmung aber nicht sehen. „Habt ihr denn nicht schon genug Scheiße angerichtet? Sind Sie wirklich stolz auf sich, wie alles gekommen ist?“ Meine Mom lässt von mir ab, Kevin steht meinem Dad gegenüber.

„Was bildest du di-“

„Ich bilde mir gar nichts ein!“, wird mein Dad unterbrochen. „Ich sehe nur die Tatsachen und eine davon ist, dass er“, ein Finger zeigt in meine Richtung, „nirgendwo hin geht. Er bleibt hier, ist das jetzt klar?“

Einwände werden erst gar nicht erst zugelassen. Kevin tritt an mich heran und zieht mich aus dem Raum. Hinter uns fängt das Geschrei wieder an, wenigstens ist es kaum noch wahrzunehmen, als die Zimmertür hinter uns geschlossen ist.

Erst jetzt lässt er mich wieder los und sofort komme ich mir seltsam alleine vor. Ich greife nach ihm, drücke uns feste zusammen.

„Danke.“

Mir ist immer noch nach Heulen zu mute, dennoch bin ich glücklich. Froh darüber, hier sein zu können, erleichtert, dass er immer noch für mich da ist, wenn ich ihn brauche.
 

Auch noch viel später, manche würden dazu schon sagen, dass es mitten in der Nacht sei, schaffe ich es nicht, alleine zu bleiben, die Gedanken abzuschalten und mich zu fragen, ob es so wirklich richtig ist.

„Kannst du immer noch nicht schlafen?“

Nicht antwortend, schüttele ich nur leicht den Kopf gegen seinen Rücken. Kevin dreht sich um und ich tue dies ebenfalls. Ich lasse mich von hinten umarmen und in eine beschützende Lage versetzen. Seine Finger streicheln meine Haut und treffen irgendwann auf das Armband. Ein kleines Zucken durchfährt mich und auch er verweilt kurz.

„Warum trägst du es?“, streichelt er weiter.

„Ich weiß nicht genau.“

„Wie willst du vergessen, wenn du es immer bei dir hast?“ Unverständnis höre ich ganz deutlich heraus.

Ich hebe meinen Arm ein wenig an, lasse das Schmuckstück ein wenig in der Luft baumeln.

„Es ist komisch, aber wenn ich es trage, denke ich viel weniger daran als wenn es irgendwo anders ist.“

„Welcher Logik soll das entsprechen?“

„Ich hatte es hinter den Schrank geworfen und immer musste ich nur daran denken, dass es da lag. Es liegt hinter Schrank, es liegt dort, durchbohrte es immer meinen Kopf. Doch jetzt, wo ich es trage, mache ich mir keine Gedanken mehr darum, wo es ist, denn ich weiß ja, dass es hier ist.“

„Die reinste Idiotie. Lass uns endlich schlafen, einer von uns zwei muss morgen schließlich zur Schule.“
 

~ * ~
 

In der nächsten Woche besuche ich vormittags öfter meine Mom in unserem alten Haus und helfe ihr, die vielen Kisten auszupacken und Möbel an ihren zugewiesenen Platz zu rücken. Auch mein Zimmer wird wieder komplett eingerichtet.

Viele meiner Sachen belasse ich hier, es wäre sowieso schwachsinnig, sie alle mitzunehmen, ich bräuchte sie eh nicht. Richtig froh bin ich allerdings über meinen eigenen Computer, nun brauche ich nicht immer Kevin auf den Wecker damit zu gehen. Bei einer meiner Fahrstunden fahre ich ihn sogar selber nach Hause.

Es ist ein komisches Gefühl zu gehen. Zu wissen, dass mein Zuhause nicht mehr mein Zuhause ist. Ich habe mir in den letzten Jahren immer gewünscht, irgendwann wieder in diesem Haus zu wohnen, vielleicht sogar den Rest meines Lebens hier zu verbringen, und jetzt schaffe ich es nicht länger als ein paar Stunden, hier zu sein.

Wenn ich nicht gerade bei meiner Mom bin oder zu Hause irgendwelche Hausarbeiten erledige, hänge ich in der Zeit bis Carol-Ann zu mir kommt meistens unten am Wasser rum. Hier kann ich in Ruhe meinen Gedanken nachgeben, hier werde ich nicht immer wieder gefragt, ob es mir mittlerweile besser geht.

Alle erzählen mir, dass ich ruhig weinen kann, dass ich ruhig enttäuscht sein darf.

Aber was wissen sie alle schon? Ich will überhaupt nicht mehr weinen, kann das denn keiner verstehen? Besonders meine Mom fängt immer wieder mit diesem Thema an, weil sie sich dafür verantwortlich fühlt, aber ihr kann ich am wenigsten sagen, dass sie endlich aufhören soll, davon zu sprechen.

Alle versuchen mich zu trösten, wollen mich aufheitern.

Doch ich will das nicht, ich brauche das nicht. Ich schaffe es doch ganz gut, jeder Tag geht ein wenig besser und dann werde ich von sämtlichen Seiten wieder hinab gezogen. Ist es nicht die eine, dann ist es die andere.

Warum denken sie alle, dass sie wissen was ich fühle? Ich fühle mich einsam, so unglaublich einsam. Trotzdem geht es mir gut, wenn ich wie jetzt gerade alleine irgendwo sitzen kann.

Ich weine nicht einmal. Ich kann es einfach nicht mehr. Nicht weil ich nicht möchte, sondern weil ich keinen Sinn mehr darin sehe. Und dann ist da aber auch diese unglaubliche Suche nach Nähe, jede Ablenkung recht und ich nehme wieder in Kauf, dass mich jemand auf das leidige Thema anspricht.

An Kida versuche ich schnell jeden Gedanken wieder zu verdrängen doch aufkommen tun sie trotzdem immer und immer wieder. Würde gerne wissen, was der ausschlaggebende Punkt für seine Entscheidung war, aber ich traue mich nicht, ihm nochmals zu schreiben, ihn zu fragen. Ich versuche mich stattdessen von diesen Gedanken abzulenken, egal wie. Baseball, Unternehmungen mit Kevin und Verabredungen mit Carol-Ann und Daryl.
 

Ich vernehme ein leises Knacken, und kurz darauf hoppelt ein kleiner Hase an mir vorbei. Er bleibt erschrocken stehen, schaut mich nervös an. Ich bewege mich nicht, schaue ihn nur ebenfalls an. Er scheint zu spüren, dass ich keine Gefahr für ihn bin, denn er fängt an, friedlich sein Fell zu putzen. Ob Hasen auch so ein Gefühl wie Einsamkeit kennen?

Nachdem er seine Tätigkeit wohl zur Zufriedenheit ausgeführt hat, hoppelt er wieder weg. Mein Blick schweift wieder in Richtung Wasser, das ich von hier aus gut erkennen kann. Wie oft habe ich früher hier gesessen? Zu oft.

Meine erste und einzige Zigarette, mein erster Kuss, wenn ich mich von meinem Eltern ungerecht behandelt gefühlt habe, oder einfach nur um nachzudenken.

Das Wasser leuchtet in vielen Farben, wird von der Sonne reflektiert. Es ist wunderschön und friedlich, trotzdem lassen mich solche Momente am stärksten die Einsamkeit fühlen. Wieder ein Knacken hinter mir, dieses Mal ist es kein Hase.

Ich mache mir erst gar nicht die Mühe, mich umzuschauen, wozu auch? Einige Sekunden später erscheint ein strahlendes Lächeln vor meinem Gesicht.

„Ich wusste, dass ich dich hier finde.“

„Ist es schon so spät?“, schaue ich verwundert auf meine Uhr.

„Nein, die letzten zwei Stunden sind heute ausgefallen.“

Carol-Ann nimmt neben mir Platz und kramt ihre Kamera aus ihrem Rucksack.

„Langsam könnte es wirklich mal ein wenig wärmer werden, immerhin haben wir schon fast ende April… Ach, ich habe gehört das Kevin Geburtstag hatte?“

„Ja, aber keine Angst, du hast nichts verpasst. Er hatte keine Lust auf irgendeinen Zirkus und hat einfach nur die Geschenke eingesackt.“

Sie fummelt an ihrer Kamera rum, schießt ein paar Bilder von der Umgebung. Kevins Geburtstag hatte ich zu meiner Scham ganz vergessen und ehrlich gesagt war ich ziemlich froh, dass er keine Party haben wollte. Wahrscheinlich ging es ihm auch noch immer nicht wieder gut.

Natürlich könnte ich ihn jetzt fragen, warum er sich von Malcolm getrennt hat, doch denke ich mir, dass es ihm, genau wie mir selber lieber ist, wenn man ihn nicht mehr darauf anspricht.

„Was fotografierst du denn die ganze Zeit?“, frage ich genervt von dem ewigen Klicken.

„Das Wasser.“

„So viel Wasser wie du Bilder machst, gibt es hier doch gar nicht.“ Ich lächle.

„Du hast ja keine Ahnung. Weißt du, wenn du die Welt so wie sie ist nicht magst, schau sie dir doch einfach mal aus einen anderen Blickwinkel an.“

„Wo hast du denn diese Weisheit bis jetzt versteckt gehabt?“

„Komm schon“, zieht sie mich näher, geht hinter mir in Position und hält mir die Kamera vor die Augen. „Na, nimm schon.“

Ich greife nach dem silbernen Instrument und schaue hindurch. Während der Blickwinkel immer auf die gleiche Stelle gehalten wird, ändert Carol-Ann durch Betätigen einiger Knöpfe immer mal wieder das Bild. Mal ist es schwarzweiß, mal ein wenig verschwommen und mal kommen Farben hinzu, welche eigentlich gar nicht da sein dürften.

Am Ende sitzen wir wirklich zwei Stunden am Wasser und diskutieren über die schönsten Einstellungen.
 

~ * ~
 

Am Donnerstag werde ich, wieder mal am Wasser sitzend, von einem Platzregen überrascht. Es hat schon länger nach Regen ausgesehen aber wirklich damit gerechnet habe ich nicht.

Schon total durchgeweicht suche ich Schutz unter dem kleinen Vordach der Hütte, in der an Sommertagen immer ein dicker Mann sitzt und beim An- und Ablegen der Boote hilft. Zu meinem Erstaunen bin ich mit diesem Vorhaben nicht allein.

„Was machst du denn hier?“

„Ist es verboten, hier zu sein?“

„Nein.“

„Ich komme immer hier vorbei, wenn ich von der Schule nach Hause gehe.“

„Wirklich? Komisch, dass ich dich dann noch nie gesehen habe.“

„Du warst am Montag und Mittwoch hier in dieser Woche. Reicht das als Beweis?“

„Du musst mir nichts beweisen.“

„Scheint mir aber so.“ Malcolm befreit sich von seinem durchnässten Pullover.

„Was denkst du, wann es wieder aufhört?“, drehe ich mich ein wenig weg.

„Woher soll ich das wissen? Hab ich Löcher in den Händen? Hier halt mal.“

Er reicht mir seinen nassen Pullover und kramt in einer zweiten Tasche herum.

„Nur gut, dass ich heute meine ganzen Sportsachen zum Waschen mitgenommen habe.“ Schnell wird ein trockener Pullover angezogen.

„Schade um dich und Kida.“

„Woher weißt du das?“

„Spricht sich so rum. Hier, zieh das an“, kommt ein weiteres Kleidungsstück zum Vorschein. Irritiert nehme ich es entgegen. Wie hat er bloß davon erfahren?

Hatten Kevin und er doch noch Kontakt miteinander?

Er nimmt mir seinen nassen Pullover wieder ab und ich ziehe meinen aus.

Ein platschendes Geräusch, eine kalte Berührung auf meinem Bauch. Zurückweichend stehe ich im Regen, werde aber sofort wieder zurückgezogen, näher als ich es jemals gewollt habe. Für einen Augenblick fühle ich mich wie in einem Film, die Regentropfen bleiben einfach stumm in der Luft hängen und kein Atemzug verlässt meine Lunge.

„Du riechst nach Sonne“, zieht er genießerisch die Luft ein.

„Was?“

„Ich liebe die Sonne. Ich bin richtig verrückt danach.“
 

Klitschnass das Haus betretend ist es natürlich Kevin, dem ich als erstes über den Weg laufe.

„Wo warst du? Carol-Ann war ganz schön sauer.“

„Ich… will erst mal duschen“, renne ich an ihm vorbei nach oben. Ich schaffte es nicht einmal ihn, in die Augen zu sehen.
 

Part 48 - Ende
 

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~ Bagel
 

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Part 49

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Kida (by Stiffy)
 

Als ich an jenem Dienstagabend bei Ami blieb, hatte ich eigentlich keine wirkliche Vorstellung davon, wieso ich es tat. Sie war einfach nur irgendwie sympathisch und dieser unbestimmte Punkt hielt mich wohl auch... Dabei ist sie eigentlich schon auf eine bestimmte Art ein sehr merkwürdiger Mensch. Sie ist wahnsinnig aufgedreht, redet sehr viel und vor allem scheint sie tatsächlich oft Dinge zu sagen, ohne vorher darüber nachzudenken. Vielleicht ist das etwas, das viele stören würde, doch mir gefällt dieses Unnachdenklich, Spontane. Es ist genau das, was ich im Moment brauche.
 

Jenen Abend verbrachten wir in ihrem Zimmer, welches nur sehr spärlich eingerichtet ist und in dem mich zuallererst ein riesiges Bücherregal begrüßte.

„Wie du siehst, ich lese wahnsinnig gerne!“, sagte sie und deutete auf die Buchrücken. „Vor allem Fantasy und historische Romane haben es mir angetan...“

Ich ließ mich zu ihr auf den Boden sinken, auf dem sie sich niedergelassen hatte, und hörte mir mindestens eine Stunde lang alles mögliche über die verschiedenen Romane an, die in ihrem Regal zu finden sind. Wie sie auf die Idee kam, dass es mich interessieren könnte – keine Ahnung, aber tatsächlich war ich froh über ein so unverfängliches, einfaches Thema, darüber, dass sie Sakuya mit keiner Silbe mehr erwähnte.

Noch andere Themen raubten uns die Zeit und schnell war es so spät geworden, dass ich mich langsam auf den Heimweg begab.

Sie schien tatsächlich sehr enttäuscht zu sein, als ich ihr sagte, dass ich nun gehen müsse, und fragte, ob ich morgen nicht wieder vorbeikommen wolle. Aufgrund meiner Arbeit, die der Mittwoch in dieser Woche aber mit sich brachte, verlegten wir unser nächstes Treffen auf den Donnerstag.
 

~ * ~
 

So kommt es also, dass ich heute nach der Uni wieder an dieser bestimmten Station ausstieg und diesem bestimmten Weg folge... schließlich für einen Moment inne halte und zum Nachbarhaus hinüber starre, bevor ich es endlich schaffe, zu klingeln.

Warum hat dieses Haus bloß so eine große Anziehungskraft für mich? Wieso habe ich, wenn ich es ansehe, das Gefühl, einen wichtigen Ort verloren zu haben? Es ist doch nur ein einfaches Gebäude...

Und das Gebäude, in dem ich mich jetzt befinde, vermittelt mir irgendwie das Gefühl, falsch zu sein, am falschen Platz...

„Wie war es in der Uni?“, fragt Ami mich, als wir uns nun wieder in ihrem Zimmer niederlassen.

„Anstrengend aber ganz okay. Und bei dir?“

„Auch... und ziemlich trocken. Wir gehen im Moment die Hauptwerke von Shakespeare durch, das langweilt ein wenig, da ich die alle in- und auswendig kenne.“

„Das klingt wirklich trocken!“

Sie sieht mich amüsiert an. „Naja, du studierst Informatik, hast du gesagt, oder? Das wäre sicher auch gar nichts für mich!“

„Wirklich viel mit Informatik haben meine Fächer bisher aber noch nicht zu tun. Eher sehr viel Mathe.“

„Gott, noch schlimmer! Ich weiß schon, warum ich mir ein Fachgebiet gesucht habe, in dem die einzigen Zahlen Jahreszahlen sind!“

„Mathe kann auch Spaß machen.“

„Glaub ich gern, wenn man nen Draht dazu hat, aber ich habe so was schon immer gehasst...“ Grinsend zwinkert sie mir zu. „Aber sag mal, was ganz anderes... magst du am Wochenende mit mir ins Kino gehen? Da läuft ein Film an, von dem ich vor so nem Jahr das Buch gelesen habe...“

„Welcher denn?“

„Moment!“ Sie springt auf, zerrt vom obersten Regalbrett ein Buch herunter. „Das hier. Es ist klasse!“

Vom Cover aus sehen mich zwei Drachen und eine Art Krieger an. Schnell überfliege ich den Klappentext.

„Ich liebe das Buch!“, meint Ami dann, als ich sie wieder ansehe. „Ich hätte nie gedacht, dass sie es tatsächlich mal verfilmen würden!“

„Ist es nicht komisch, Filme zu sehen, von denen man die Bücher kennt?“, frage ich, ohne aus eigenen Erfahrungen sprechen zu können.

„Schon, aber irgendwie ist es auch spannend zu sehen, wie sich andere all das vorstellen...“

„Na, ich bin gespannt, was du sagst, wenn wir ihn gesehen haben.“

„Ich auch... Wann passt es dir denn?“

„Bei mir wäre Samstag gut, da muss ich nicht arbeiten.“

„Klasse!“ Ein breites Strahlen wird mir geschenkt. „Es freut mich, dass du mit mir da rein gehst! Hm... darf ich dir dennoch ein paar Sachen verraten? Ich red so gern darüber!“

„Na gut, mach ruhig...“

Und so darf ich mir in den nächsten Minuten Ausschweifungen über ein Buch anhören, das ich mir wohl nie selbst durchgelesen hätte, wie ich schnell feststelle. Drachen und Fabelwesen waren noch nie so wirklich mein Ding...
 

Später Zuhause lasse ich mich erstmal an meinem Schreibtisch nieder. Noch ein paar Aufgaben für die Uni muss ich erledigen, auf die ich eigentlich gar keine Lust habe...

Irgendwann, kurz bevor ich tatsächlich vollkommen die Lust verliere, reißt mich plötzlich mein Handy aus meinen Gedanken. Es ist Tatsuya, dem ich heute Mittag eine SMS geschrieben habe, wann er denn mal wieder Zeit hätte.

„Hi!“, melde ich mich erfreut, lasse den Kuli fallen.

„Sorry, hab die SMS jetzt erst gesehen...“

„Kein Problem! Und?“

„Ich weiß nicht... wie wäre es mit morgen?“

„Eher schlecht. Ich muss arbeiten und vorher wollte ich noch mit Eiji und den anderen was für so ein Projekt vorbereiten...“

„Hm, okay... Und Samstag? Da muss zwar ich ab Abends arbeiten, aber du könntest mal wieder ins doubleX kommen, wenn du magst...“

„Da bin ich schon mit Ami verabredet, aber vielleicht mag sie ja nach dem Kino mitkommen...“

„Ami?“

„Ähm...“, wird mir bewusst, dass er sie ja gar nicht kennt... und dass es nicht gerade toll ist, zu erzählen, wie ich sie kennengelernt habe. „Sie ist ne Nachbarin von... Sakuya... Weißt du was, ich muss jetzt aufhören, muss noch was für die Uni fertig machen. Ich erklär dir das ein anderes Mal! Vielleicht kommen wir am Samstag vorbei, sonst ruf ich dich Sonntag noch mal an!“

„Äh... okay...“, kommt es schon ein wenig verwundert, doch dann verabschiedet er sich ganz normal von mir und wir legen auf.

Einen Moment lang starre ich daraufhin mein Handy an.

Ich habe sie kennengelernt, als ich vor Sakuyas Haus meinen Erinnerungen nachgehangen habe – wie blöd wäre das denn gekommen?

Seufzend lasse ich mein Handy auf den Tisch fallen und widme mich dann den restlichen Matheaufgaben.
 

~ * ~
 

Der Freitag verläuft relativ chaotisch angesichts der Tatsache, dass wir innerhalb einer Woche in Gruppenarbeit ein kleines Projekt für das Fach Grundlagen der Informationssysteme erledigen müssen und ich erst jetzt feststelle, dass ich zwar mit zwei durchaus intelligenten aber irgendwie auch planungsunfähigen Personen zusammenarbeite. So also sind Sachiko und ich fast am Verzweifeln, während Eiji und Hinosuke scheinbar auch noch Spaß dabei haben, alles zehn Mal auf den Kopf zu stellen.

Darüber hinaus wäre ich aus dem Grund auch noch fast zur spät zur Arbeit gekommen.
 

Weniger chaotisch verläuft zum Glück der Samstagnachmittag, den ich ebenfalls für das Projekt in der Uni verbringe. Sachiko legt uns gleich zu Beginn einen Plan vor die Nase, wie sie sich die weiteren Tage vorstellt und wie wir nun am besten an die Sache dran gehen – und siehe da, heute klappt alles fast problemlos.

„Tja, alles eine Sache der Organisation!“, lacht Sachiko schließlich und während Eiji sie fest an sich drückt, bin ich erleichtert, dass mein Abend gerettet ist und ich ihn wider Erwartens pünktlich beginnen kann.
 

Mich am Abend von der Uni aus auf den Weg zu Ami machend, kämpfe ich mit gemischten Gefühlen, die ich auch die letzten zwei Male hatte, als ich diese Station erreichte.

Ich biege um die Ecke, lasse meinen Blick gesenkt, folge schließlich den Bodenplatten bis hin zu Amis Haustür.

Es kann doch nicht sein, dass ich jedes Mal ein komisches Gefühl habe, wenn ich hier bin... wie soll das denn dann weiter gehen?

Ich zwinge mich also, den Blick weiter nach vorne zu richten, und auch nachdem Amis Mutter mich begrüßt hat und sagt, dass sie Ami holen gehe, bleibe ich standhaft und drehe meinen Kopf nicht zur Seite. Ich will es tun, aber das muss aufhören. Ich habe nichts mehr mit dem Haus zu tun und damit basta!

„Da bin ich, wir können los!“, reißt Ami mich aus meiner nachdenklichen Stimmung wieder hervor. Ihr fröhliches Gesicht ringt auch mir ein Lächeln ab.

Sie verabschiedet sich bei ihrer Mutter und hakt sich dann bei mir ein.

„Bevor ich’s vergesse“, bringe ich mein Vorhaben sofort zu Wort. „Hast du Lust, nach dem Kino noch was trinken zu gehen? Ich kenn das ne kleine Bar und der Kellner ist ein Freund von mir. Er hat gefragt, ob wir nicht vorbeikommen wollen...“

„Klar, wieso nicht!“ Sie lehnt ihren Kopf gegen meine Schulter. „Umso länger der Abend dauert, desto besser!“
 

Im Kino angekommen, merke ich leider recht schnell, dass der Film nicht nur von ihren Erzählungen her genau an meinen Interessen vorbeizielt. Während Ami vollkommen begeistert und aufmerksam neben mir sitzt, fühle ich mich eher ein wenig gelangweilt und kann weder Schauspielern noch Story etwas abgewinnen.

Dennoch lasse ich mir davon nichts anmerken und höre ihrer Begeisterung einfach nur zu, während wir uns auf den Weg zum doubleX machen.

„Da ist es!“, unterbreche ich sie und deute auf das erleuchtete Schild, als wir nur noch wenige Meter vom Eingang entfernt sind.

„DoubleX? Hier war ich noch nie, glaub ich...“

„Ist auch eigentlich nichts Besonderes. Ich bin durch Zufall mal hier gelandet... und irgendwie hab ich mich mit dem Barkeeper angefreundet.“ Auf sehr merkwürdige Art und Weise, zugegeben, aber das muss ich ja nicht erwähnen.

Sofort als wir durch die Eingangstür treten, erkenne ich jemandem am Tresen, an den ich schon ewig nicht mehr gedacht habe – und bei dem ich mir auch nicht all zu sicher bin, ob ich ihn unbedingt wiedersehen wollte.

Zuerst aber werden wir von Sai entdeckt, der mir zulächelt und dann irgendetwas zu seinem Nebenmann sagt. Daraufhin dreht Ryouta sich um und in dem Moment, da sich unsere Blicke begegnen, gefriert seine Miene. Ein ganz merkwürdiges Gefühl fährt mir in den Magen.

Ich sehe mich nach Tatsuya um, entdecke ihn bei einem der Billardtische, wie er Bestellungen entgegennimmt, und habe das Bedürfnis, sofort wieder zu fliehen.

So leicht kann ich es mir heute aber wohl nicht machen.

„Lass uns erstmal zur Bar gehen“, meine ich zu Ami, die ihre Jacke aufgehängt hat und sich nun neugierig umblickt.

Es ist nur ein ganz kurzes Stück bis zu meinem Ziel und dennoch fühle ich, wie mir jeder Schritt schwer fällt. Ich spüre Ryoutas Blick auf mir und frage mich, wie viel oder besser was er wohl weiß. Ob er noch mit Sakuya Kontakt hat? Ich verdränge den Gedanken sofort wieder.

„Hi!“, versuche ich ganz locker zu wirken, als wir bei Ryouta und Sai angekommen sind.

Ich stelle die drei einander vor, weiche Ryoutas kaltem Blick aus und bin dann froh, dass Tatsuya sich zu uns gesellt.

„Hi Ami!“, begrüßt er meine Begleitung sogleich fröhlich und streckt ihr die Hand hin. „Was wollt ihr beide trinken? Das erste geht aufs Haus!“ Er wirft mir einen aufmunternden Blick zu, geht dann um den Tresen herum zu seinem Arbeitsplatz. Irgendwie scheint er heute unheimlich gut drauf zu sein.

Ami bestellt und lässt sich anschließend auf dem Hocker neben Sai nieder.

„Ich find’s schön hier!“, sagt sie zu mir und lässt ihren Blick erneut herumschweifen.

„Ja, find ich auch.“ Ich bleibe stehen, obwohl ich lieber sitzen würde. Irgendwie habe ich das Bedürfnis zur Flucht und das nur wegen Ryoutas eisigem Blick, den er nun der Maserung der Theke zuwirft. Ich war ja noch nie besonders warm mit ihm, aber heute fühle ich mich noch unwohler in seiner Gegenwart denn je zuvor.

Ob ich übertreibe?

„Wie war’s im Kino?“ Tatsuyas stellt die Bestellungen vor uns und sieht fragend zwischen uns hin und her.

Während ich nur mit den Schultern zucke, bricht Ami sofort wieder in Begeisterungsstürme aus.

„Klasse!“, strahlt sie in die Runde. „Okay, das Buch war um einiges besser, aber trotzdem! Die Spezialeffekte waren der Hammer!“

„Was habt ihr denn geguckt?“, schaltet sich nun Sai ein und während er es nun ist, der Amis unstillbares Mundwerk kennenlernt, lasse ich mich nun doch neben ihr nieder, nicht wirklich mit dem Bedürfnis, über den Film zu reden.

Ich nippe an meinem Getränk und werfe Ryouta einen verstohlenen Blick zu.

„Was gibt’s neues?“, sehe ich dann Tatsuya an, der schon wieder dabei ist, drei Gläser zu füllen und mit einem Ohr den Ausschweifungen von Ami zuhört.

„Nichts Wirkliches. Obwohl, Sanae war hier...“ Einen Moment lang wirft er mir einen festen Blick zu, bevor er sich umdreht. „Bin gleich zurück!“

Ihm mit den Augen dabei folgend, wie er die Getränke wegbringt, wird mir bewusst, wie lange ich eigentlich nichts mehr von ihr gehört habe... oder wie lange es her ist, dass ich mich bei ihr gemeldet habe. Wie konnte ich sie nur so vergessen? Und wieso?

„Wann war sie denn hier?“, greife ich das Thema sofort wieder auf, als Tatsuya zurück ist.

„Vor ein paar Tagen... Montag oder so. Kyo und sie waren hier was trinken und erst dachte ich auch, dass das alles wäre, doch dann hat sie ziemlich direkt nach dir gefragt. Wie es dir geht und so, du würdest dich ja nicht mehr melden...“

Ich schlucke, nicke. „Ich hab sie in letzter Zeit wohl wirklich sehr vernachlässigt...“

„Dann solltest du sie am besten so schnell wie möglich anrufen...“

„Ja, das denke ich auch...“

Noch ein zustimmendes Nicken von Tatsuya, dann verschwindet er auch schon wieder. Seufzend nippe ich an meinem Glas. Irgendwie weiß ich gar nicht, wie ich Sanae gegenübertreten soll. Sie weiß wahrscheinlich bescheid über Sakuya und mich, denn immerhin haben er und Kyo bestimmt noch Kontakt... oh Mann, irgendwie ist es verdammt schwierig überall Leute zu haben, die mit dem Exfreund befreundet sind...

Bei den Gedanken fällt mein Blick auf Ryouta und zu meinem Schreck sieht auch er mich an. Ein sehr merkwürdiger Ausdruck liegt in seinen Augen, kein so leicht zu deutender...

Ich stehe auf, stelle mich wieder zu Sai und Ami, die mittlerweile bei irgendeinem anderen Buch angekommen sind, das vor kurzem verfilmt wurde.

Nun grinst sie mich breit an. „Sai kennt die meisten meiner Lieblingsbücher!“

„Na, da hast du ja noch nen besseren Gesprächspartner gefunden als mich...“

„Scheint so...“ Sie boxt mir lachend in die Seite, wendet sich dann wieder Sai zu. „Er“, deutet sie mit dem Finger auf mich, „ist eher ein Literaturbanause. Außer Informatikbücher scheint er noch nie etwas gelesen zu haben.“

„Woher willst du das denn wissen? Du kennst meine riesige Büchersammlung doch noch gar nicht!“, zwinkere ich ihr zu.

„Na, du hast immerhin selbst zugegeben, dass du fast nie liest.“

„Wann das denn, das musst du falsch verstanden haben...“ Mein ironisches Grinsen wird auf ihren Wangen breit widergespiegelt, sie klopft mir auf die Schulter, lässt ein kurzes „Ja, ja“, hören und verdreht zu Sai hin lachend die Augen.

In dem Moment wird neben uns ein Hocker lautstark zurückgerückt. Ich sehe Ryouta an und dieser erwidert meinen Blick mit einer unglaublichen Härte.

„Wahnsinn... Dir scheint es ja echt gut ohne Sakuya zu gehen!“, faucht er dann plötzlich, feuert zwei Scheine auf den Tresen und dreht sich zum Gehen.

Verdattert starre ich ihn an, fühle mich, als habe mir jemand die Faust in den Magen gerammt... und spüre gleichzeitig ungeheure Wut in mir hochkommen.

Mir geht es gut ohne Sakuya? Was weiß er schon? Darf man denn jetzt nie wieder lachen?

„Was weißt du denn schon!?“, rufe ich ihm hinterher, als er die Eingangstür gerade erreicht hat. Er dreht sich zu mir um, funkelt mich an, will etwas sagen, doch ich lasse ihn nicht. „Und überhaupt... Was ich mache, geht dich doch nen Scheißdreck an! Hör endlich auf, dich ständig einzumischen!“

Ich drehe mich um, das Gefühl geben wollend, dass es mich nicht interessiert, wenn er noch etwas dazu zu sagen haben sollte... und tatsächlich bleibt es stumm hinter mir und nur die Türe fällt laut ins Schloss.

„Was war das denn eben?“ Tatsuya taucht neben mir auf, sieht mich fast erschrocken an.

„Nichts.“

Ich sehe ihm in die Augen und hoffe, dass er nicht weiter fragt. Im selben Moment werde ich sanft an der Schulter berührt.

„Kida?“

„Hm?“ Ich drehe meinen Blick ihr zu, bin froh, keinen komischen Ausdruck in ihrem Gesicht zu sehen.

„Da ist gerade ein Tisch freigeworden. Hast du Lust, ne Runde zu spielen?“ Sie deutet auf den Billardtisch hinter sich und wenn mir das Ding sonst immer wie ein Feind vorkam, so scheint es mich nun anzulächeln.

„Ja, lass uns spielen.“

Damit erhebe ich mich, werfe Tatsuya noch einen letzten Blick zu und folge dann Ami zum Billardtisch hinüber. Zwar spüre ich förmlich den verzweifelten Blick meines Freundes im Rücken, doch ich beschließe, nicht darauf zu achten.

Es ist nichts mehr zu ändern, das Leben geht weiter... und Ami ist eine wunderbare Hilfe dabei.
 

Etwas mehr als eine Stunde lang spielen wir Billard. Sai und Chiga, die wenig später auch im doubleX auftaucht, gesellen sich irgendwann zu uns und so wird fast schon ein kleiner Wettkampf daraus. Beinahe könnte ich vergessen, was zuvor vorgefallen war, würde mir nicht Tatsuya hin und wieder so einen ganz bestimmten Blick zuwerfen. Und dann, als ich zu ihm gehe, um zu bezahlen, bringt er die Sache tatsächlich noch mal hervor.

„Versteh mich nicht falsch...“, beginnt er zögerlich. „Es ist schön, dich lachen zu sehen... aber irgendwie mache ich mir dennoch Sorgen um dich, ob es dir wirklich gut geht so es ist.“

Ich seufze, suche nach passenden Worten um ihm meinen Standpunkt klarzumachen.

„Gut gehen ist reine Definition, Tatsuya“, sage ich schließlich. „Ich weiß nur, dass das Leben weitergehen muss und ich lasse mir nicht sagen, wie ich das anzufangen habe. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, vielleicht aber auch nicht. Ich werde es nie herausfinden und ich lasse es mir gerade von ihm nicht sagen, verstehst du?“

Ein langsames Nicken. „Ja, ich verstehe.“ Er reicht mir mein Wechselgeld und deutet zum Billardtisch, an dem sich Ami noch immer mit Sai und Chiga unterhält. „Sie ist übrigens ne ganz liebe...“, meint er lächelnd.

„Ja... Weißt du, es tut gut, mit jemandem was zu machen, der zwar von meiner Vergangenheit an sich weiß, aber nicht alles genau kennt und nicht ständig fragt...“

„Sie weiß das von Sakuya?“

„Nur, dass wir zusammen waren und jetzt getrennt sind, mehr nicht...“

„Ach so.“ Sein Blick fällt wieder an mir vorbei, dann meint er: „Ihr solltet jetzt wirklich langsam los, sonst ist sie nie bis Zwölf zuhause.“

„Du hast Recht. Wir sehen uns!“

„Ja! Vielleicht haben wir dann ja demnächst beide mal frei und können was zusammen machen...“

Lachend nicke ich, winke dann Ami zu und verlasse mit ihr zusammen das doubleX.
 

„Du hast nette Freunde!“, meint sie wenig später, als wir in der Bahn sitzen und sie ihren Kopf gähnend gegen meine Schulter gelegt hat.

„Freut mich, dass du sie magst.“

„Ja. Besonders Sai ist voll nett. Obwohl... als seine Freundin dazu kam, war er mit einem Mal viel stiller...“

„Findest du? Ist mir nicht aufgefallen...“

Ein Schulternzucken. „Vielleicht kam es mir auch nur so vor, ist ja auch egal. Sag mal, dieser andere Typ, Ryouta... war das auch ein Freund von dir?“

„Eher ein Freund von Sakuya, aber das ist eine ziemlich schwierige Geschichte.“

„Heißt das, dass ich nicht weiter fragen soll?“

Da sie die Augen geschlossen hat, sieht sie wohl mein leichtes Grinsen nicht. „So ungefähr.“

„Okay.“ Wieder ein Gähnen, dann sagt sie nichts weiter.

Ich lehne den Kopf zurück an die Fensterscheibe und schließe jetzt ebenfalls die Augen, darauf wartend, dass die Bahn ihr Ziel erreicht, und versuchend, an nichts anderes zu denken, obwohl es da mal wieder genug gäbe...
 

~ * ~
 

Den Sonntagvormittag verbringe ich damit, mir Gedanken darüber zu machen, wie ich Sanae gegenübertreten soll. Ob ich sie erstmal anrufen soll, oder direkt hingehen? Eine SMS?

Irgendwie ist es komisch zu wissen, dass sich eine Freundschaft, die seit frühsten Kindertagen dazu gehörte, verändert hat, ohne dass ich es wirklich realisiert habe.

Wieso habe ich in den letzten zwei Wochen überhaupt nicht daran gedacht, mich bei ihr zu melden? Liegt es wirklich nur daran, dass ihr fester Freund der beste Freund von Sakuya war und wahrscheinlich noch immer Kontakt mit ihm hat? Ist das wirklich alles?

Ich weiß es nicht, denn ich habe nicht gemerkt, wie sich irgendetwas verändert hat. Sie war in den Wochen, nach dem Sakuya weg ist, für mich da, hat sich unglaublich lieb mein Gejammer angehört... Woher also kommt es, dass ich jetzt weniger zu ihr hingezogen fühle als zu Tatsuyas, den ich noch nicht mal ein Jahr lang kenne?

Bin ich wirklich so ein undankbarer Idiot?
 

Nach langem Hin und Her entschließe ich mich dazu, einfach bei ihr vorbei zu gehen. Ich weiß nicht, was ich sagen sollte, wenn sie am Telefon ist, weiß nicht, wie ich ihr da irgendetwas erklären will.

So also führen mich meine Schritt immer näher zu ihr und als ich schließlich vor der Wohnungstür stehe, zittert meine Hand an der Klingel.

Sie ist doch meine beste Freundin, oder?

„Kida?“ Überrascht werde ich von Rin angesehen, die mir die Tür öffnet.

„Ja, äh... Hallo... ist Sanae zu Hause?“

„Ja. Komm doch rein!“

Ich betrete die Wohnung, schlüpfe aus meinen Schuhen und beobachte Rin, wie sie zum Zimmer ihrer Schwester geht und ihr von meinem Kommen erzählt.

„Komm rein!“, höre ich dann Sanaes Stimme und gehe ihr nach.

In dem Moment, als ich jedoch ihr Zimmer betrete, bleibe ich auch sofort wieder wie angewurzelt stehen. Ähnlich wie gestern Abend im doubleX ist es und dennoch ganz anders... Ein noch kühlerer Blick trifft mich, Augen, die überhaupt nichts Gutes verraten.

Und ich habe so darauf gehofft, dass er nicht hier ist.

„Hallo Kida“, kommt es kühl von der Person, die auf dem Bett sitzt, und als ich den Gruß erwidere und daraufhin Sanae ansehe, erkenne ich selbst in ihren Augen nicht die geliebte Freundschaft.

„Ähm... ich...“ Ich schließe die Tür hinter mir, trete in den Raum hinein.

Wieso ist es so komisch, hier zu sein?

„Setz dich doch“, deutet Sanae auf ihren Schreibtischstuhl und lässt sich ihrerseits neben Kyo auf dem Bett nieder. Dieser fixiert mich noch immer ganz genau.

„Es... es tut mir leid, dass ich erst jetzt wieder von mir hören lasse“, versuche ich dann auch sofort mein Kommen zu erklären. „In letzter Zeit war alles ein wenig schwierig und... außerdem...“

„Bla bla... Komm zum Punkt!“, fährt Kyo mich an. „Du bist ja so arm dran... und deine bescheuerte Trennung von Sakuya hat alles noch viel schlimmer gemacht, als du dachtest. Ach echt? Mann, Blitzmerker!“

Sprachlos starre ich ihn an, keine Ahnung was ich auf diese Worte erwidern soll. Mir wird kalt, und dass ich in Sanaes Augen keine Hilfe erkenne, macht es noch viel schlimmer.

„Das...“

Eine schnelle Bewegung bricht mich ab. Kyo rutscht zum Bettrand, sieht mich finster an. „Ich hab mir geschworen, dass ich dich umbringe, wenn du ihm wehtust... und weißt du was? Am liebsten würde ich es wirklich tun!“ Sanae will ihn berühren, doch er schlägt die Hand weg, schreit dann schon fast: „Weißt du eigentlich, was du ihm angetan hast?“

Immer noch fällt mir kein einziges Wort ein, das ich sagen könnte. Was denn auch? Ich kann seine ja nicht mal widerlegen, immerhin weiß ich doch,... dass er Recht hat.

„Was geht dich das noch an?“, frage ich schließlich ganz leise. Ein Rettungsanker...

„Wie bitte?“

„Es ist meine Sache! Ihr seid befreundet... na und?“ Es schmerzt... und wie es schmerzt! Dennoch schaffe ich es erfolgreich, Tränen der Wut zu unterdrücken. „Beziehungen werden geschlossen und sie gehen auseinander. Dachtest du wirklich, Sakuyas und meine wäre für die Ewigkeit?“ Was sage ich hier bloß?

Sanae springt auf, ebenso wie Kyo, doch sie hält ihn davor zurück, auf mich loszugehen. Unverständliche Worte werden gewechselt.

„Kida!“, kommt es dann hart und ihre Augen funkeln mich an. Noch immer hält sie Kyo an beiden Händen fest. „Wie kannst du so etwas sagen? Ich dachte, dass du so denkst...“

„Das... das habe ich auch...“ Meine Stimme wird schwer.

„Und wieso trennst du dich dann von ihm?“

„Weil es besser so ist!“ Hört doch endlich auf, mich zu hinterfragen, verdammt!

„Ist es das? Denkst du das wirklich?“

„Ja!“ Ich zwinge meine Stimme dazu, ruhig zu bleiben, fest, energisch.

„Du enttäuschst mich immer mehr.“

„Wie bitte?“

Ein Seufzen. Sie drückt den noch immer vor Wut schäumenden Kyo aufs Bett zurück, kommt dann einen Schritt auf mich zu, geht vor mir in die Knie und sieht mich nicht wütend sondern traurig an.

„Ständig... ständig durfte ich mir dein Gejammer anhören. Als du dich in ihn verliebt hattest, kamst du ständig zu mir, hast dich ausgeheult und gesagt, wie sehr du ihn magst, wie gerne du mit ihm zusammen wärst, du hattest kein anderes Thema als das. Dann wart ihr endlich zusammen und nur weil er plötzlich weg ist, gibst du das auf? Du hast doch gekämpft, als es so aussah, als ob er dich nicht will, du hast gekämpft, bis ihr endlich ein Paar wurdet. Ich hab dich echt dafür bewundert, hätte gedacht, dass du auch die Entfernung aushältst, solange du nur weißt, dass ihr euch liebt... und dann, plötzlich, einfach so machst du Schluss? Wo ist dein Wille geblieben, mit ihm zusammen zu sein? Einfach so weg? Das, Kida, genau das hat mich maßlos enttäuscht!“

Wie versteinert sitze ich da, höre ihre Worte, spüre, wie sie genau in mein Inneres gehen. Einfach so... weg? Ja, einfach so...

„Ich...“, versuche ich irgendeinen Satz zu bilden.

„Lass es.“ Sie steht auf, sieht auf mich hinab. „Verstehst du nicht, was ich meine? Du hast dich so verändert in den letzten Wochen... nein, eigentlich schon davor. Ich erkenne dich nicht wieder und ich vermisse dich, aber irgendwie geht es nicht im Moment. Ich verstehe deine Handlungen nicht mehr und ich kann dir darum nicht beistehen und so tun als würde ich es.“

„Was willst du damit sagen?“, ahne ich schon genau, was es ist.

„Ich weiß nicht genau... aber vielleicht ist es am besten, wenn du jetzt einfach nach Hause gehst.“

„Ist... ist das dein Ernst?“

Ein Schulternzucken, ein leises „Ja.“.

„Ich verstehe.“... und doch tue ich es nicht wirklich.

Ich erhebe mich, sehe noch ein Mal sie und den noch immer wütenden Kyo an, doch dann drehe ich mich zum Gehen. Mehr Worte würden im Moment rein gar nichts bringen.

Dies war doch eh schon wieder ein Ende, nicht wahr? Einfach so... weg...
 

Das Gefühl, welches mich auffrisst, während ich mich auf dem Weg nach Hause befinde, ist Wut? Trauer? Enttäuschung? Ich weiß nicht wirklich was überwiegt, es ist einfach nur ein tiefer Schmerz, schon wieder... kann so was nicht endlich aufhören? Ich habe es satt!

Die Worte der beiden rauschen in meinem Kopf herum und am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten, wenn es doch nur helfen würde!

Ich wollte neu beginne, aber wie neu? Wie sehr wollte ich all ihre Worte ab jetzt ignorieren? Wie sehr schaffe ich es?

Ich wollte doch nie auch noch eine Freundschaft verlieren! Wieso ist sie kaputt gegangen, ohne dass ich es gemerkt habe? Ist es wirklich alles meine Schuld?
 

Zuhause angekommen habe ich das Bedürfnis, Sanae anzurufen. Es kann doch nicht wirklich so einfach vorbei sein... Aber was soll ich ihr sagen, wenn sie dran geht?

Mein Weg führt mich am Telefon vorbei in mein Zimmer, doch ich schaffe es nicht, die Tür hinter mir zu schließen. Wieder Stille, wieder Gedanken... verdammt, wieso hat das nicht endlich alles ein Ende?

Stimmen treiben mich ins Wohnzimmer. Ich bleibe in der Tür stehen, beobachte meine Familie, die mich wohl noch nicht bemerkt hat. Ob sie auch enttäuscht von mir sind? Habe ich besonders meine Schwester zu sehr vernachlässigt, obwohl ich das doch wieder ändern wollte?

Minutenlang beobachte ich die beiden beim Spielen ohne bemerkt zu werden. Lynns Lachen erfüllt immer wieder das kleine Zimmer und auch meine Mutter sieht glücklich aus. Dies tut gut und gleichzeitig tut es weh. Nein, an Lachen kann nichts verkehrt sein, auch dann nicht, wenn es meins ist...

Egal wie hart das Leben ist, so lacht man doch irgendwann wieder, selbst wenn man Fehler gemacht haben sollte, selbst wenn man manches einfach nicht rückgängig machen kann. Ja, vielleicht habe ich meine Kraft zum Kämpfen verloren... aber das Leben geht weiter, nicht wahr? Und vielleicht musste ja gerade alles so verlaufen... wer weiß das schon?

Mit Tränen in den Augen, die ich mir selbst nicht erklären kann, mache ich nun endlich auf mich aufmerksam. Lächelnd setze ich mich neben Lynn und ziehe sie am mich, vergrabe meinen Kopf in ihren Haaren und bin froh, dass sie es einfach nur zulässt.
 

~ * ~
 

Am Montagnachmittag, als ich zusammen mit Eiji, Sachiko und Hinosuke an unserem Projekt arbeite, erreicht mich ein Anruf von Ami. Verwundert nehme ich ihn entgegen. Wir sind für Dienstag verabredet... ob sie absagen will?

„Wie geht’s dir?“, klingt es zunächst fröhlich am Telefon.

„Gut... Bin grad in der Uni und wir sind dabei-“

„Oh, stör ich?“, unterbricht sie mich sofort.

„Nein, kein Problem! Löten kann Eiji auch ohne mich als Zuschauer. Rufst du aus einem bestimmten Grund an?“

„Ja, das tu ich tatsächlich!“

„Und der wäre?“

„Naja, ich hab ja heute Geburtstag und-“

„Im Ernst? Herzlichen Glückwunsch! Warum hast du nichts davon gesagt?“

„Ich wollte dich doch nicht gleich zwingen, mir ein Geschenk zu machen, nur weil wir uns ne Woche kennen.“

„Hui, wie edel.“

„So bin ich!“ Ihr Lachen am Telefon lässt mich Lächeln. „Nee, aber jetzt mal zurück zum Thema..."

„Da sind wir doch schon. Du hast Geburtstag und hast dir überlegt, dass du nun doch was von mir haben willst“, grinse ich Eiji an, der kurz zu mir rüber schaut.

„Quatsch! Hör mir doch erstmal zu!“

„Okay, bin ganz Ohr.“

„Also! Meine Eltern sind heute beide nicht da und mein Bruder hat auch Nachtschicht... So sitze ich armes Mädchen also ganz allein mit meiner Geburtstagtorte hier und wollte fragen, ob du uns nicht Gesellschaft leisten willst...“

„Oh, schwere Frage! Was ist es denn?“

„Schokoladentorte, hat meine Ma heut morgen frisch noch gebacken... also?“

„Na wenn das so ist, kann ich doch schlecht nein sagen. Ich denke, ich sollte es einrichten können, nachher vorbei zu kommen, kann dir aber nicht genau sagen wann...“

„Kein Problem, Hauptsache du kommst!“, kommt es vollkommen begeistert. „Dann stör ich jetzt auch nicht weiter, damit du schnell hier bist! Bis nachher!“

„Ja, bis dann!“

Aufgelegt, werde ich nun neugierig von Eiji angesehen.

„Hui hui, du hast nachher eine Verabredung mit einem Geburtstagkind?“

„Ja.“ Ich verstaue mein Handy zurück in meinem Rucksack.

„Ist sie hübsch?“

Ich zucke mit den Schultern. „Schon, aber darum geht es nicht.“

„Ach nein?“ Ein ganz breites Grinsen nun von Hinosuke. „Dann muss sie ja ausgesprochen nett sein.“

„Ja...“, wird mir der Punkt, auf den sie hinaus wollen, langsam unangenehm. „Können wir jetzt weiter machen?“, deute ich auf den Lötstab in Eijis Händen.

Wieso denkt eigentlich jeder immer sofort, dass eine Frau und ein Mann nur das eine miteinander im Sinn haben? Ami ist einfach ein nettes Mädchen, mit der ich es schaffe, abzuschalten... man muss in so etwas doch nun wirklich nicht immer was hinein denken!
 

Es ist gegen 19 Uhr als ich bei Ami ankomme. Strahlend werde ich begrüßt und noch mehr erhellt sich ihr Gesicht, als ich ihr den kleinen Blumenstrauß vor die Nase halte, den ich noch schnell auf dem Weg hierher besorgt habe. Stürmisch werde ich umarmt und schließlich mit in die Küche geschliffen, wo neben der Geburtstagstorte noch andere Sachen auf dem Tisch stehen.

„Ich hatte Langeweile und hab uns was gekocht! Ich dachte mir, dass du bestimmt noch nichts gegessen hast“, erklärt sie mir, während sie eine Vase aus dem Schrank holt. „Willst du was trinken? Mein Vater hat gestern ne Flache Sake aufgemacht, wenn du magst...“

„Ne, lass mal“, wehre ich lächelnd ab. „Ich vertrag Alkohol nicht so gut und immerhin muss ich morgen früh wieder fitt sein.“

„Hast recht, ich auch. Cola? Saft?“

„Cola ist gut.“

„Okay“, dreht sie sich zum Kühlschrank und holt eine Flasche der braunen Flüssigkeit heraus.

„Warum hast du nicht noch ein paar deiner Freundinnen eingeladen? Ist doch genug vom Kuchen da und lustig wäre es mit ein paar mehr bestimmt auch geworden...“

„Bin ich dir etwa nicht genug?“ Lächelnd stellt sie zwei Gläser auf den Tisch, setzt sich mir gegenüber.

„So war das doch nicht gemeint! Ich hab nur selbst Erfahrungen damit, dass man seine Freunde nicht zu sehr vernachlässigen sollte...“

„Tu ich nicht. Und heute“ Sie hebt das Glas, prostet mir zu, „bist du die einzige Gesellschaft, die ich haben will.“

„So was hört man gern“, erwidere ich grinsend und lasse mein Glas gegen ihres stoßen.
 

Nach einem wirklich ausgezeichneten Essen und einem Stück Torte, begeben wir uns ins Wohnzimmer, wo Ami vorschlägt, sich einen Film anzuschauen.

„Was hast du denn im Angebot?“, frage ich skeptisch, worauf ich ein Lachen erhalte.

„Der im Kino war nicht so was für dich, oder?“

„Das hast du gemerkt?“

„Es war nicht zu übersehen, so oft, wie du gegähnt hast... Komm einfach schauen, hier sind auch ein paar DVDs von meinem Bruder, vielleicht magst du seinen Geschmack ja lieber...“

Tatsächlich entscheiden wir uns schließlich für einen Actionfilm aus der Sammlung ihres Bruders... und während ich anschließend mit Ami auf dem Sofa sitze und den Film ansehe, kommen Gedanken an alte Zeiten in mir hoch. Wie oft habe ich mit Sanae irgendwelche Filme geschaut, dabei über die Schauspieler gelästert oder uns über die vermeintlich spannende Handlung lustig gemacht? Wie oft haben wir uns bei Komödien fast zu Tode gelacht und wie oft lag sie an mich gekuschelt, während wir irgendeine Schnulze schauten? Unzählige Male, unzählige witzige Abende, die ich mit meiner besten Freundin verbracht habe... Abende, wie es sie nie wieder geben wird...

Ich blinzle zu Ami hinüber, die gespannt nach vorne auf den Fernseher sieht. Es ist schön, dass man in seinem Leben immer wieder neuen Leuten begegnet, immer wieder neue Freundschaften schließen kann, doch alte Freundschaften würde ich darüber hinaus nie freiwillig aufgeben. Ohnehin könnte ich Ami wohl nicht als einen Ersatz für Sanae ansehen. Sie aufgedrehter, verrückter, sie kennt mich nicht so gut, hat nicht so viele Jahre mit mir zusammen verbracht, ihr würde ich wohl nie alles erzählen... Ami einfach nur ein fröhlicher Mensch, der es im Moment sehr gut schafft, meine Stimmung nach oben zu schrauben. Mit ihr kann man Spaß haben, lustige Abende verbringen und vergessen, was einen im Moment bedrückt.

„Was ist los?“, dreht Ami irgendwann ihren Kopf zu mir, während ich sie noch immer anschaue und froh bin, wohl wirklich eine neue Freundschaft gefunden zu haben.

„Nichts.“ Ich lächele sie an, während sie ein Stück näher an mich heran rückt.

„Wirklich?“

„Ja.“

„Okay.“

Doch wendet sie ihren Blick nach diesen Worten nicht wieder nach vorne, sondern sieht mich weiterhin einfach nur an. Ihr Blick hängt ganz fest an meinem und während sie sich mit einem Mal noch etwas näher zu mir begibt, ihre Hand auf meine Schulter legt und ich schon ihren Atem spüren kann, begreife ich plötzlich die Zuneigung, die ich seit Anfang an in ihren Augen gesehen aber nicht erkannt habe... und im selben Moment legen sich ihre Lippen auf meine.
 

Part 49 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 50

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Part 51

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Kida (by Stiffy)
 

Ihre Lippen sind weich, sehr weich. Sie fühlen sich voll an, sinnlich, schön... und dennoch drücke ich mich von ihr. Wenn ich all das noch so bewusst wahrnehmen kann, ist das wohl Beweis genug dafür, dass hier etwas nicht stimmt.

Liebevoll ist ihr Blick und etwas verwirrt. Sie will sich erneut vorbeugen, doch ich lasse sie nicht. Fest halte ich sie an den Schultern auf Abstand, versuche mir zu befehlen, doch endlich etwas zu sagen... doch nichts. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Mit so einer Entwicklung habe ich beim besten Willen nicht gerechnet!

Wieso? Wieso um alles in der Welt muss sie ausgerechnet das wollen? Freundschaft, eine ganz einfache, zwanglose, witzige Freundschaft... ist das denn so viel verlangt? Vorhin noch dachte ich, eine gefunden zu haben, doch jetzt?

„Es... es tut mir-“

Als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich endlich den Mund aufmache, unterbricht sie mich sofort: „Ist es, weil ich ein Mädchen bin?“

Endlich sinkt sie völlig aufs Sofa zurück. Ich nehme meine Hände von ihren Schultern.

„Was meinst du?“, frage ich, obwohl ich es doch eigentlich ganz genau weiß.

„Willst du mich nicht küssen weil... ich weiblich bin?“

„Das... ist es nicht...“

„Was ist es dann? Liegt es daran, dass ich nicht er bin?“

„Nein“, sage ich, ehrlich, zumindest denke ich das. „Es geht einfach nicht.“

„Warum nicht?“

„Ich kann dich nicht so sehen, Ami. Ich habe keine Gefühle für dich, nicht solche...“

„Aber fühlt es sich nicht gut an, mich zu küssen?“

„Doch, an sich schon, aber ich will dich nicht ausnutzen und will auch nicht, dass du dir irgendwelche Hoffnungen machst...“

„Das mache ich nicht!“

„Natürlich würdest du!“ Ernst sehe ich sie an und obwohl sie ihren Mund erst öffnet, um zu protestieren, so schließt sie ihn dann doch wieder. „Du bist eine Freundin für mich geworden, Ami...“; spreche ich dann weiter, versuche ihren Blick festzuhalten. „Und darum will ich dir nicht wehtun.“

„Und du kannst dir... gar nicht vorstellen... mit mir...“

„Nein, leider nicht.“

Ein trauriges Nicken ihrerseits. Sie rutscht zum Sofarand, greift nach ihrem Glas, schüttet den Inhalt in sich hinein, sieht mich auch nicht mehr an, als sie es weggestellt hat. Dafür beobachte ich sie ganz genau... und in meinem Inneren spüre ich, dass es gut war, so zu handeln, für uns beide. Ihr muss ich nicht wehtun und auch ich muss mich nicht in eine solche Beziehung stürzen, nur weil meine vorherige nicht gut verlaufen ist.

„Wenn... wenn ich ein Junge wäre... hättest du dann...“, fragt sie schließlich und mit einem Mal klingt ihre Stimme unglaublich traurig, so als wäre sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Ihr Blick wandert wieder zu mir und aus glasigen Augen sieht sie in meine.

Ich seufze, fahre mir durch die Haare, irgendwie in die Enge getrieben. „Nein“, sage ich schließlich, weiß aber, dass ich es nicht dabei belassen kann, wenn ich sie nicht belügen will... „Jedenfalls glaube ich das...“

„Das ist Antwort genug...“ Sie wischt sich über die Augen. „Naja, Pech, wenn man so doof ist, sich in einen Schwulen zu verlieben...“, grinst sie schief.

Ich habe das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen, doch weiß ich, dass es besser ist, es nicht zu tun. Es würde ihr nichts bringen, es würde ihr wahrscheinlich gerade nur noch viel mehr wehtun.

„Es tut mir leid“, sage ich ehrlich und ahnungslos, was ich sonst tun könnte.

„Das muss es nicht, es ist ja meine eigene Schuld.“

Sie greift nach der Fernbedienung und schaltet den Film ab. Mit einem Mal wird es still im Raum, unangenehm, was ihr vielleicht gar nicht ganz bewusst war. Zögernd legt sie die Fernbedienung wieder zurück, senkt den Kopf, wischt sich erneut übers Gesicht.

Wie schaffe ich es bloß, im Moment jeden zu enttäuschen?

„Was jetzt?“, fragt sie dann, mich noch immer nicht wieder ansehend.

„Ich weiß nicht...“

„Kannst du... so tun, als sei nichts geschehen?“
 

„Ich denke schon, aber wäre das wirklich so gut?“

Ihr Kopf fährt herum, fast schon ängstlich sieht sie mich an.

„Wie meinst du das?“

„Ich meine... ich will dir nicht wehtun, aber wenn wir ständig zusammen sind, wird es das vielleicht immer wieder...“

„Ich kann damit umgehen!“

„Bist du dir da so sicher?“

Einen Moment hoffe ich darauf, dass sie mit „Ja“ antworten würde, doch dann schüttelt sie den Kopf... wie erwartet eigentlich, weiß ich doch selbst, wie schwer es ist, nur auf Freundschaft zu tun, wenn man mehr will. In gewisser Art und Weise war es mit Sakuya zu Anfang ja so ähnlich...

„Vielleicht...“, spreche ich dann zögernd. „Vielleicht sollten wir uns besser eine Weile nicht sehen... oder wenigstens nicht so oft...“

„Aber... das will ich nicht... ich will doch... mit dir...“ Tränen sind es nun, die sich ihren Weg bahnen, Tränen, die ich nicht sehen wollte.

Wieso bloß? Hätte es nicht einfach Freundschaft bleiben... oder besser gesagt werden können?

„Es wäre besser für dich.“

„Woher weißt du, was für mich besser ist?

„Weil es für jeden besser wäre.“ Ich greife nach einem Taschentuch vom Tisch, reiche es ihr. Nicht weinen!, will ich am liebsten sagen, aber ich verkneife es mir. Die Situation tut ihr weh, ist es dann nicht normal, zu weinen?

Ich berühre ihre Schulter zärtlich, rücke ein Stück näher an sie heran.

„Ich bin es nicht Wert, dass du weinst, Ami... du hast etwas Besseres verdient...“

Ihre glasigen Augen sehen mich an, während sie den Kopf schüttelt, während noch mehr Tränen rollen.

„Will ich aber nicht!“, spricht sie mit gebrochener Stimme. „Von Anfang an... schon als du noch mit Sakuya zusammen warst... ich... ich weiß auch nicht, aber...“ Sie kann nicht weiter sprechen, fängt immer stärker an zu weinen. „Und jetzt willst du noch nicht mal mehr mit mir befreundet sein... wie gemein ist das denn?“

Ich habe das Gefühl, ein immer größeres schlechtes Gewissen zu bekommen. Aber soll ich nur deshalb alles umwerfen, was ich denke, das richtig ist? Soll ich mich ständig mit ihr treffen und ihr bei jedem Mal nur noch mehr wehtun? Was wenn ich irgendwann wieder eine Beziehung habe... ich will sie doch nicht ständig leiden sehen.

„Das stimmt doch nicht! Ich will nur auf Abstand gehen, für dich!“

„Für mich! Hör auf, das ständig zu sagen! Ich-“

„Aber es ist so. Du kannst mich immer anrufen, wenn du magst, aber wir sollten uns einfach nicht so oft treffen, glaub mir, Ami, das ist besser...“

Wieder schüttelt sie den Kopf, immer noch weint sie...

Minuten vergehen, die sie schließlich still dasitzt und ich sie nur ansehen kann, darauf hoffen, dass sie mich wenigstens ein bisschen versteht... Doch nichts dergleichen kommt und so berühre ich schließlich sanft ihre Schulter.

„Ich sollte jetzt besser gehen“, sage ich, auch wenn ich genau weiß, dass ich so für diesen Moment alles nur noch ein bisschen schlimmer mache...

Doch kein Widerspruch wird eingelegt, sie begleitet mich einfach zur Tür, krallt dort ihre Hand in meiner Jacke fest.

„Bitte vergiss, was ich alles gesagt habe...“ Sie ist rot und ihre Augen sind immer noch feucht, aber sie scheint aufgehört haben, zu weinen... fürs erste zumindest.

„Das werde ich.“ Ich berühre ihre Hand an meiner Jacke. „Ruf mich an, wenn du reden magst...“

„Ja.“

Damit drehe ich mich um und trete aus der Tür hinaus. Am liebsten hätte ich sie zum Abschied umarmt, doch eben solche Gesten sollte ich mir sparen.

Als ich am Ende des Grundstückes angekommen bin, ruft sie mir einen Abschiedsgruß hinterher und schließt dann die Tür.

Noch ein paar Schritte gehe ich weiter, bis ich außer Sichtweite bin, dann bleibe ich stehen. Ich starre die Straße hinunter und habe das Gefühl eines dicken Kloßes in der Kehle.

Wieso sind zwischenmenschliche Beziehungen bloß so kompliziert? Kann nicht einfach alles ganz normal verlaufen ohne ständiges Wenn und Aber? Die Tage mit Ami taten so gut... wieso musste das so schnell wieder vorbei gehen?
 

Zuhause angekommen, finde ich meine Mutter und Takehito vor dem Fernseher wieder. Sie begrüßt mich mit leiser Stimme, er wirft mir nur einen kühlen Blick zu. Alles deutet darauf hin, dass es seit langem mal wieder richtig gekracht hat. Ein Wunder eigentlich, dass beide so friedlich hier sitzen...

„Bin wieder da“, sage ich nur und will mich auch sofort wieder verdünnisieren.

„Kida!“

„Ja?“, halte ich in meinem Vorhaben inne.

„In der Küche steht noch Suppe.“

„Danke, aber ich hab schon gegessen.“ Wieder will ich mich zum Gehen drehen.

„Jetzt bleib doch mal hier!“, pfeift mich die jetzt etwas ärgerliche Stimme meiner Mutter aber sofort zurück.

„Ja?“, frage ich erneut, mich nun in den Türrahmen lehnend.

„Was hast du morgen vor?“

„Weiß ich noch nicht...“ – oder besser gesagt, nicht mehr – „Wieso?“

„Ich bekomme morgen Besuch von Minami und Keiko...“

„Das heißt jetzt, wenn ich da bin, muss ich braver Sohn spielen?“

„Genau.“

„Dann werd ich nicht da sein“, grinse ich, doch ihr Gesicht zeigt, dass sie diese, eigentlich witzig gemeinten Worte, gerade sehr ernst nimmt. Es wird nicht weiter darauf eingegangen.

„Und was machst du übermorgen?“

„Noch mehr Besuch?“, frage ich rein rhetorisch, da es eigentlich klar ist... ist doch irgendwie jedes Jahr das Gleiche. „Ich treffe mich mit Eiji und den anderen für das Projekt, genau wie Donnerstag...“

„Donnerstag auch? Kannst du denn nicht hier bleiben?“

„Eher schlecht, wir müssen bis Freitag fertig sein... ja, schau mich nicht so an, ich weiß auch nicht, wieso der uns das gerade während der Golden Week auferlegt! Wahrscheinlich denkt der, wir brauchen keine Freizeit...“

„Aber versuch bitte, wenigstens Donnerstagabend da zu sein, okay? Für Lynn!“

Ich nicke. „Ich denke eh, dass wir spätestens am Nachmittag fertig sind. Und danach werd ich sofort heim kommen, versprochen.“

„Na gut“, seufzt meine Mutter und greift sich an die Schläfen.

„Noch was?“

„Nein, du darfst abtreten...“

„Okay, ich geh bald schlafen. Gute Nacht!“
 

In meinem Zimmer schlüpfe ich endlich aus meinen Klamotten, um mir etwas Bequemeres anzuziehen. Der Rucksack verschwindet in der Ecke, aber zuvor ziehe ich noch zwei Karten hervor und lasse sie auf den Schreibtisch fallen.

Und was soll ich jetzt damit machen?

Eigentlich wollte ich Ami morgen überraschen und am Nachmittag mit ihr in diesen Film gehen, den sie, wie sie letztes Mal, als wir im Kino waren, gesagt hat, gerne sehen würde...

Und jetzt? Jetzt ist diese Idee wohl gestorben...

Ich setze mich, lasse den Computer hochfahren.

Vielleicht hätte ich ihr die Karten gerade zum Abschied noch in die Hand drücken sollen, aber zum einen hatte ich in dem Moment wirklich andere Gedanken und zum anderen wäre das sehr herzlos rüber gekommen, nehme ich an...

Ich drehe die Karten in meiner linken Hand, knicke sie ein wenig, streiche sie wieder glatt...

Genauso herzlos ist es wohl auch, jetzt mit jemand anderem da reinzugehen... aber die Karten verfallen lassen, wäre doch auch dämlich, zumal ich wohl von Glück sprechen kann, überhaupt noch welche bekommen zu haben...

Ich könnte sie verschenken, aber dann hab ich morgen nichts vor und muss hier bleiben...

Ob Tatsuya Zeit hat?

Ich öffne Outlook Express, stehe dann auf, um mir das Telefon aus dem Flur zuholen. Vom Wohnzimmer her dringen nun undeutliche, aber ruhigere Stimmen. Scheinbar ist der Streit doch schon einigermaßen vergessen, wenn ich mich nicht vielleicht sogar getäuscht habe...

Wieder in meinem Zimmer wähle ich Tatsuyas Nummer, setze mich an den Schreibtisch und gehe kurz meinen Maileingang durch. Nichts besonderes, natürlich...

Während ich in den Hörer lausche, leere ich meinen Spamordner und schließe Outlook wieder, öffne stattdessen das Browserfenster.

Tatsuya scheint nicht da zu sein... er ist bestimmt arbeiten.

Ich lege auf, lasse den Hörer auf den Tisch fallen.

Und wen sonst? Es kann doch nicht sein, dass Tatsuya meine einzige Wahl ist... Aber wer sonst? Sanae? Wohl eher nicht... Eiji macht morgen was mit Sachiko...

Im Internet keine wirkliche Ablenkung und erst recht keine Antwort gefunden, schließe ich den Browser schnell wieder und fahre meinen Computer herunter. Irgendwie ist hier gerader der Wurm drin...

Ich bringe das Telefon zurück zur Station, statte dem Bad einen Besuch ab und lasse mich dann ins Bett fallen. Dort greife ich nach einem Mathematikbuch. Klasse Lektüre, gerade das brauche ich jetzt noch...

Dennoch blättere ich knapp eine Stunde lang darin herum, bis ich mich dazu entschließe, zu schlafen... Noch so früh und auch noch einen Feiertag vor der Tür, aber naja, was soll’s...
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen werde ich von meiner Mutter geweckt und in der Küche erwartet mich ein unglaublich harmonisches Familienfrühstück.

Ich lasse mich neben Lynn nieder, die mich verschlafen anblinzelt.

Mutter und Takehito reden über die aktuellen Nachrichten, als er sich plötzlich an mich wendet: „Wann musst du eigentlich wieder arbeiten gehen?“, werde ich gefragt.

Habe ich das den beiden nicht schon am Freitag gesagt?

„Heute und morgen Abend...“, gebe ich dennoch bereitwillig Auskunft. „Shin-san meint, letztes Jahr habe er das Restaurant zugemacht, da er mit seiner Familie weggefahren ist, aber dies Jahr will er sich das Feiertagsgeschäft nicht entgehen lassen... Und weil viel los sein wird, muss ich auch hin...“

„Ach so“, kommt es kurz zurück.

Zögernd sehe ich hin und her, blicke dann Lynn an, die mit ihren Stäbchen kämpft.

„Was ist eigentlich für Donnerstag geplant?“, frage ich dann an meine Mutter gewandt.

„Die kleine Dame wünscht sich, den Tag mit uns im Park zu verbringen und danach-“

„Bastelst du was mit mir?“, unterbricht Lynn, lässt die Stäbchen fallen und sieht mich aus großen Augen an. „Sensei hat uns was gegeben, das sieht ganz toll aus!“

„Klar machen wir das“, lächle ich sie an, streiche ihr durch die Haare und fühle mich für einen Moment erfüllt durch ihre Fröhlichkeit, wenn auch zugleich das in letzter Zeit übliche schlechte Gewissen in mir hochkommt. Immer noch schaffe ich es einfach nicht, mehr Zeit für sie zu haben...

„Toll!“ Sie strahlt, streckt sich dann und sieht über den Tisch hinweg. „Papa, wann stellst du die Fische auf?“

„Am Donnerstagmorgen.“

„Dann erst?“, trübt sich ihre Miene ein wenig.

„Wir wollen doch nicht, dass sie über Nacht davonfliegen...“

Sie scheint über die Worte nachzudenken. Wahrscheinlich fragt sie sich, wie Karpfen überhaupt fliegen können.

„Wenn du am Donnerstag aufstehst, hat Papa sie aufgestellt, okay?“, wirft nun meine Mutter ein.

„Okay!“

Nun lacht sie wieder, lässt sich die Stäbchen in die Hand geben und macht sich nun voller Freude über den Reis her. Einen Moment schaue ich ihr dabei zu und als ich den Kopf wieder hebe, trifft mich der Blick meiner Mutter. Ihr Lächeln ist ungewöhnlich sanft...
 

Gegen Mittag entscheide ich mich dazu, noch mal Tatsuya anzurufen. Wahrscheinlich ist es jetzt eh zu spät und er hat etwas vor, aber probieren kostet ja nichts.

Doch wieder ist mein Anruf erfolglos, keiner meldet sich und so lege ich nach ein paar Sekunden wieder auf, die Karten auf meinem Schreibtisch anstarrend.

Ich reiße mich davon los, lege mich aufs Bett, greife wieder nach dem Mathebuch, doch schlage es nach zwei Seiten auch schon wieder zu. Nein, so will ich diesen Tag doch nun wirklich nicht verbringen!

In den letzten Jahren habe ich unter der Golden Week immer viel Zeit mit Sanae verbracht, auch letztes Jahr noch...

Ich rolle mich herum, greife nach meinem Handy.

Wieso musste unsere Freundschaft eine solche Wendung nehmen? Natürlich war nicht alles gerade spitze, was ich gemacht habe, aber dann gleich so was... Funkstille. Zwar habe ich in der Zeit vor unserem Streit wenig an sie gedacht, doch irgendwie ist es nun so... ich weiß nicht. Wieso merkt man erst, wenn man etwas verloren hat, wie wichtig es eigentlich war? Es war immer so schön mit ihr... wieso kann es nicht immer noch so sein?

Tatsächlich ringe ich mich schließlich dazu durch, ihre Nummer zu wählen. Sie wollte nicht so bald wieder mit ihr reden, aber wieso es nicht wenigstens versuchen? Ich will doch einfach nur mit ihr reden, mehr nicht, heute irgendwas mit ihr machen, wäre eh zu viel verlangt...

Mein Herz schlägt fest wie nie zuvor, als ich die Nummer bestätige... und nach dem zweiten Mal Klingeln wird auch schon abgenommen.

„Hallo“, kommt es als Begrüßung, doch der Ton ist nicht fragend. Natürlich, sie hat gesehen, dass ich es bin. Ob sie überlegt hat, gar nicht erst dranzugehen? Sofort kommen Zweifel in mir hoch; War es doch nur eine Kurzschlussentscheidung, sie anzurufen? Hätte ich es lassen sollen?

„Wie geht es dir?“, bringe ich nach einer kurzen Pause hervor, versuche normal zu klingen. Bitte, geh darauf ein!

„Gut, und selbst?“

„Auch. Uni stresst ganz schön im Moment und zur Arbeit muss ich nachher auch noch... aber sonst...“

„Aha...“ Nicht kühl aber auch nicht interessiert.

Ich sinke in mir zusammen.

„Wie läuft es bei der Arbeit denn so?“, fragte sie dann doch weiter, aber ich könnte schwören, sie tut es nur aus Höflichkeit.

„Ganz gut. Zwar könnte ich wohl nie für mein Leben lang so was machen, aber als Job ist es schon ganz in Ordnung...“ Mehr weiß ich nicht dazu zu sagen und auch keine Frage will mir einfallen.

Blöde Idee, Kida, ganz blöd! Wieso hast du nicht noch eine Woche gewartet?!

„Wie läuft es in der Schule?“, frage ich dann, immerhin können wir das Gespräch nicht sofort wieder beenden.

Sanae antwortet, doch auch ihre Antwort ist kurz, ebenso wie ihre Frage denselben Zwang widerspiegelt wie meine.

Was ist bloß aus uns geworden?

Nicht mal acht Minuten schaffen wir es schließlich, miteinander zu reden, die Anstandsfragen und Höfflichkeiten halten uns einfach nicht länger auf. So also verabschieden wir uns schnell wieder, unverbindlich, nicht mit dem Gefühl, das bald wiederholen zu wollen.

Als die Leitung still ist, schlage ich die Hände vors Gesicht.

Was hab ich denn auch erwartet nach so kurzer Zeit? Obwohl... ob es in ein oder zwei Wochen besser gelaufen wäre?

Ich schwinge mich aus dem Bett bevor ich auch nur die Möglichkeit habe, noch weiter in meinen Gedanken zu versinken. Das bringt einfach rein gar nichts!

Doch bevor ich dazu komme, mein Zimmer zu verlassen und meine Mutter zu fragen, ob ich ihr irgendwas helfen kann oder mit Lynn und ihrer Freundin etwas zu spielen, ruft mich mein Handy zurück.

Der Name Tatsuya leuchtet mir entgegen und sofort habe ich das Gefühl, dass es mir wenigstens ein winziges bisschen besser geht.

„Hey!“, melde ich mich, schmeiße mich zurück aufs Bett.

„Hi du! Sorry, ich war duschen, konnte daher nicht ans Telefon gehen.“

„Kein Problem, jetzt bist du ja dran!“

„Jup. Und, was gibt’s?“

„Ich wollte eigentlich fragen, was du heute vorhast. Ich hab zwei Kinokarten und keinen, der mit mir rein geht...“

„Wieso hast du dann zwei Kinokarten?“, kommt es verwirrt.

„Erklär ich dir später. Also?“

„Ich würd gerne aber ich hab mich für die Extraschicht eingetragen. Ich muss im Moment alle Chancen auf Arbeit nutzen, weißt du...“

„Klar...“ Ich sinke in mir zusammen. Warum ich enttäuscht bin, weiß ich selbst nicht, da ich doch eigentlich gar nicht damit gerechnet habe, dass er zustimmt.“

„Tut mir echt leid.“

„Schon okay, wirklich.“

„Frag doch Sanae, die freut sich bestimmt.“

Ich lache kurz auf. „Eher nicht...“

„Wieso? Ist was passiert?“

„Kann man so sagen, aber ich glaub, ich will darüber jetzt nicht reden...“

„Na gut, und Ami?“

„Siehe Sanae.“

„Kann es sein, dass mir grad ne Menge entgangen ist?“, kommt es grinsend.

„Scheint so“, erwidere ich ebenfalls grinsend. „Weißt du sonst wen, der sich über zwei Kinokarten freut? Allein mag ich nicht und mir fällt auch sonst keiner ein... Sai und Chiga vielleicht?“

„Sai muss heut irgendwas in der Firma seines Vaters machen, wofür der extra den Feiertag nutzen will, daher fällt das flach...“

„Deprimierend...“

„Irgendwie schon. Aber davon mal ab, was machst du dann heut noch, wenn du nicht ins Kino gehst?“

„Nichts.“

„Wow, macht bestimmt Spaß...“, feixt Tatsuya.

„Und wie!“ Ich seufze. „Weißt du was, ich glaub, ich komm dich besuchen... Wann musst du denn arbeiten?“

„In ner Stunde.“

„Gut, dann komm ich vorbei.“

„Okay, also bis nachher!“

„Ja, bis dann!“
 

Als ich knapp eineinhalb Stunden später im doubleX ankomme, erwartet mich zusammen mit der Ankündigung, Tatsuya habe wen für die Karten gefunden, falls ich sie noch hätte, ein Gesicht, das ich bestimmt schon seit einer vermeintlichen Ewigkeit nicht mehr gesehen habe.

„Hi Kleiner!“, grinst Hisato mich an, nachdem ich Tatsuya begrüßt habe.

„Lass mich raten, du bist es auch, der meine Karten will...“, erwidere ich und versuche ebenfalls locker, fröhlich zu klingen.

„Richtig! Der Kandidat hat hundert Punkte! Naja, zumindest will ich sie vielleicht. Was für ein Film ist es denn? Ich will ja nicht die Katze im Sack kaufen...“

Ich hole die Karten aus meiner Jackentasche hervor. Eigentlich hatte ich sie nicht mitnehmen wollen, gut, dass ich es doch getan habe...

„Sind aber nicht die besten Plätze“, erkläre ich, als ich sie ihm reiche. „Aber was erwartet man auch an einem Feiertag...“

„Ganz recht.“ Kurz wirft er einen Blick auf die zwei Papierstücke, nickt mir dann zu. „Okay, gekauft! Wie viel bekommst du?“

„Ist schon okay, waren ja eigentlich eh als Geschenk gedacht...“

„Aber nicht für mich.“ Er schüttelt den Kopf, kramt in seiner Tasche und zieht schließlich einen Schein hervor, hält ihn nun aber nicht mir sondern Tatsuya hin.

„Da, ich bezahle mein Trinken... und den Rest behältst du und gibst dem Kleinen heut all das zu trinken, was er will, okay?“ Ein Zwinkern in meine Richtung, dann erhebt er sich von seinem Hocker.

„Aber das ist zu-“, werde ich in meiner Beschwerde aber sofort wieder unterbrochen.

„Ach quatsch. Meine Süße wird sich freuen, den Film wollte sie nämlich sehen und ich glaub, so lang läuft der nicht mehr... Dann muss ich jetzt aber auch gleich los!“

„Grüß Itsumi von mir!“, ruft Tatsuya ihm hinterher und dann, als ich mich nun endlich auf einen der Barhocker gesetzt habe, grinst er mich an. „Ich bin ihm vorhin auf dem Weg hierher begegnet, war also eher Zufall, dass du deine Karten jetzt los hast. Aber genug davon! Was willst du trinken?“

„Mach mir irgendwas Leckeres.“

„Wird erledigt!“

Ich drehe mich nun ganz zum Tresen, stütze die Arme auf, sehe Tatsuya dabei zu, wie er Orangensaft mit einem mir unbekannten Zeug mixt. Noch ein bisschen rot dazu, eine Orangenscheibe, dann stellt er das farbenfrohe Getränk vor mir ab. Skeptisch werfe ich einen Blick darauf.

„Keine Sorge, ist alkoholfrei.“ Er grinst mich an, deutet dann in eine Richtung. „Ich nehm noch eben die Bestellung da hinten auf, dann bin ich gleich wieder da und du erzählst mir, was es so neues gibt, okay?“

„Okay.“

Damit düst er ab und ich nippe an meinem irgendwie sehr süßen Getränk.
 

Schließlich verbringe ich den kompletten Nachmittag bei Tatsuya im doubleX. Ich erzähle ihm von der Sache mit Sanae, von Ami, von meiner Arbeit, von unserem Uniprojekt... von allem möglichen halt... und als ich mich gegen sechs Uhr auf den Weg zur Arbeit mache, habe ich nicht das Gefühl, meinen freien Tag vergeudet zu haben. Ich bin froh, dass ich wenigstens ihn noch habe... selbst wenn er nicht alles für richtig hält, was ich mache, so hängt er mir dies aber nicht nach... Wahrscheinlich macht das das Alter.
 

~ * ~
 

Der Mittwoch vergeht schleppend und während wir einen trüben Volksfeiertag haben, bei dem es wie schon in den letzten Tagen die ganze Zeit nach Regen aussieht selbst wenn keiner fällt, wird passend zum Kodomo no hi am Donnerstag mit einem Mal das Wetter besser. Es scheint, als wisse irgendwer da oben, dass es heute gilt, den Kindern eine Freude zu machen, und so ist kaum eine Wolke am Himmel zu sehen und die Temperatur klettert nach oben...

Das Frühstück verbringen wir alle gemeinsam, danach machen wir uns getrennt auf den Weg. Während ich in die überfüllte Bahn steige, um zur Uni zu fahren, begeben sich Vater, Mutter und Kind auf einen Sonnenspaziergang zum nächsten Park mit Spielplatz.
 

Letztendlich verbringe ich gut sechs Stunden mit den anderen in einem stickigen Seminarraum. Wir gehen die Texte bis ins Detail durch, prüfen alles nach und verbringen die Zeit natürlich nicht nur damit, das Projekt zu versorgen.

Als ich gegen 16 Uhr wieder nach Hause komme, erwarten mich die zwei Frauen des Hauses im Wohnzimmer. Hier sind die Fenster aufgerissen und während die Karpfen fröhlich im Wind schwimmen, sitzen Lynn und Mama am Wohnzimmerboden und basteln kleine Figuren.

„Schön, dass du da bist...“, lächelt meine Mutter mich an, als ich mich niederlasse und steht dann auch gleich auf. „Ich hol noch was zu trinken...“

Sie verschwindet und Lynn nutzt die Gelegenheit, um mir direkt die ganzen kleinen Männchen zu zeigen, die sie bereits gebastelt haben.

„Malst du die an?“, fragt sie dann und reibt an ihren Händen, um den Klebstoff abzubekommen.

„Natürlich!“ Ich nehme die erste Figur vom Boden und beuge mich vor, um an die Stifte zu kommen.

„Wah! Pass auf!“ Zu Tode erschrocken, lasse ich mich direkt wieder zurückfallen, folge Lynns Finger, der auf die Klebetube deutet, auf die ich mich wohl, als ich mich vorlehnte, aus Versehen gekniet habe.

„Mist!“

Schnell springe ich auf, flitze in die Küche, um Tücher zu holen, und als ich zurückkomme, hockt eine lachende Lynn am Boden, bei der jetzt nicht mehr nur die Hände voller Kleben sind.

„Das ist eklig!“, kreischt sie fröhlich und hält mir mit gespitzten Fingern die Tube hin.

Auch ich kann mir nun das Lachen nicht mehr verkneifen, verschließe schnell die Tube und versuche dann, sie und den Boden von den klebenden Fäden zu befreien, während sie aus dem Lachen gar nicht mehr herauskommt.
 

~ * ~
 

Die ersten Vorlesungen am Freitagmorgen vergehen ohne richtige Beteiligung von Eiji, Sachiko, Hinosuke, mir und wahrscheinlich auch allen anderen, die heute ihr Projekt präsentieren müssen. Überall wird hektisch geflüstert, mit Papier herumhantiert und alles gemacht, außer zugehört.

Wir für unsere Teil sind uns irgendwie sicher, etwas ganz wichtiges vergessen zu haben, doch kommen wir einfach nicht drauf, sind es auch noch immer nicht, als am Nachmittag die Präsentationen beginnen und die Gruppe vor uns durch ist, wir nun also unsere Plätze verlassen müssen, um vor den Pranger gestellt zu werden.

Doch irgendwie scheint es auch nur ein Hirngespinst gewesen zu sein, denn wiedererwarten klappt alles wie am Schnürchen.

„Geschafft!“, stöhnt Hinosuke, als er sich nach der Vorlesung zu mir ins Gras vor dem Gebäude sinken lässt.

„Ja, aber ich kann’s noch gar nicht glauben, dass für die paar Minuten die halbe Golden Week draufgegangen ist!“, murrt Eiji.

„Armer Junge!“ Sachiko lässt sich hinter ihn fallen, schlingt die Arme um ihn. Sie legt den Kopf an Eijis Schulter und sieht Hinosuke und mich an.

„Und? Was machen wir jetzt? Das muss doch gefeiert werden! Lasst uns noch ein paar andere fragen und was machen! Am besten gleich heute!“

„Klingt gut.“

„Und was machen wir?“

„Privatparty... nur was kleines, aber wenn wir die richtigen fragen, wird es bestimmt lustig!“

„Ich glaub mein Bruder ist übers Wochenende nicht da. Ich müsste erst fragen, aber ich denke, wir könnten dann bei mir was schmeißen...“

„Fantastisch!“ Sachiko strahlt Hinosuke an.

Auch Eiji nickt nun, scheint aus seinem Moment des Schmollens hervorzukommen. „Ich werd meine Mutter fragen, ob sie ein paar Sachen für uns hat...“
 

Ein paar Minuten, Anrufe und Einladungen später ist alles geklärt. Schnell löst sich unsere kleine Gruppe auf, mit der Abmachung, sich in drei Stunden bei Hinosuke zu treffen.

Auf dem Heimweg mache ich noch ein paar Erledigungen, die meine Mutter mir aufgetragen hat und Zuhause werde ich bis nach dem Abendessen nicht mehr aus der Küche gelassen.
 

Als ich schließlich endlich in mein Zimmer komme ist noch gerade so viel Zeit, dass ich noch ohne Hektik duschen und mich fertig machen kann. Zuerst aber reiße ich mein Fenster auf, weil es warm ist, viel zu warm, ungewöhnlich für diese Jahreszeit.

Einen Moment lang bleibe ich am geöffneten Fenster stehen, blicke nach draußen und ziehe die vermeintlich frische Luft ein. Der Himmel färbt sich schon langsam rosa und lässt die grauen Gebäude nicht mehr so unfreundlich erscheinen.

Ein Gähnen entweicht mir und mittendrin zucke ich plötzlich zusammen. Suchend schaue ich mich um, hole dann mein Handy unter meinem Bett hervor. Wie ist es da noch mal...?

„Ja?“

„Hey, ich bin’s!“

„Hallo...“ Ich stelle mich wieder ans offene Fenster, starre hinunter auf die Straße.

„Wie... wie geht es dir?“

„Gut, und dir?“

„Mir auch...“ Ein paar Sekunden der Stille, dann: „Kida?“

„Ja?“

„Ich... vermisse dich.“

Ich seufze, drücke meine Stirn gegen den Fensterrahmen und starre weiter hinab.

„Ami, das-“

„Ist schon gut, du musst nichts sagen. Ich wollte dir das eigentlich auch nur mitteilen und dir sagen, dass du recht hattest...“

„Ja?“

„Ja. Ich vermisse dich, aber dich jetzt zu sehen, würde es nur noch schlimmer machen. Ich denke, dass es besser ist, Dinge dann zu beenden, wenn es noch möglich ist, daher rufe ich jetzt an...“

„Ich verstehe.“

„Es tut mir leid, Kida...“

„Ist schon in Ordnung, ich verstehe das...“

„Wirklich?“

„Ja, sehr gut sogar.

„Okay... also dann...“

„Ami?“

„Ja?“

„Ich danke dir.“

„Wofür?“

Zögernd suche ich nach den richtigen Worten. „Du hast mir gezeigt, dass nach einem Ende auch immer wieder ein Anfang kommt...“

„Sprichst du von Sakuya?“

„Nicht nur.“

„Na dann, gern geschehen...“ Sie klingt, als sei sie den Tränen näher als die ganze Zeit schon.

„Auch für dich kommt ein neuer Anfang.“

„Ja.“ Ein tiefer Seufzer, dann ein leise geflüstertes „Machs gut.“

„Ja, du auch.“

Damit ist das Gespräch beendet und die Leitung bleibt still. Seufzend nehme ich mein Handy herunter und gehe ins Adressbuch.

Diese Sache ist nun also auch schon wieder vorbei... Zu Ende, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Aber wahrscheinlich ist es wirklich besser so für sie...

Ich lösche ihre Nummer aus meinem Handy, doch bevor ich dies nun wieder weglege, suche ich eine andere Nummer heraus.

Wie lang ist es her, dass ich sie das letzte Mal gewählt habe?

Und dennoch konnte ich sie nie einfach so löschen, auch wenn ich dann und wann daran gedacht habe...

Ich seufze, lasse meinen Daumen ungedrückt auf der Bestätigungstaste und starre hinaus in den langsam anbrechenden Sonnenuntergang. Auch die Sonne setzt für heute ein Ende, doch morgen wird sie wieder neu anfangen...

Es ist sinnlos, die wunderschönen Farben des Himmels als Erinnerung festzuhalten zu wollen, wenn man sie doch nie wieder genauso sehen wird...

Ich drücke die Taste ohne noch einen Blick auf die Nummer zu werfen, die nun verschwindet. In ein paar Wochen werde ich sie vergessen haben, so wie ich so vieles irgendwann vergessen werde, ob ich es will oder nicht...

Ich werfe mein Handy aufs Bett und schließe dann die Luft wieder draußen aus, gehe zum Schrank, um mir etwas für den Abend zum Anziehen zu suchen.

Es ist wohl überall im Leben so, ob es einem nun gefällt oder nicht. Manche Dinge hören auf, andere beginnen... Man muss sich nur manchmal das Beste für sich selbst aussuchen, man muss irgendwann wählen, ob man am Ende stehen bleiben oder weitergehen will... Ich glaube, ich für meinen Teil finde Weitergehen mittlerweile um einiges besser.
 

Part 51 - Ende
 

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~ Golden Week
 

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Part 52

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Sakuya (by littleblaze)
 

Ein Leben führen, einen Rhythmus finden. Genau das versuchte ich im Moment.

Was will ich? Normal leben, Freiheit, Spaß, Sex? Freundschaft, Liebe oder Verrat?

Dass es mir mit jedem Male einfacher erschien, meinem schlechten Gewissen zu entrinnen… unter geringem Scham muss ich zugeben, dass dies der Wahrheit entsprach.

Es war mir nicht egal, dass ich Kevin damit verletzte… wahrscheinlich verletzte. Aber leider war es mir im Moment einfach nicht möglich, das alles zu beenden.

Es tat mir gut mit Malcolm in dieser Weise zusammen zu sein und es war etwas, was ich nicht einfach unterdrücken konnte. Mein Wille war einfach nicht stark genug und mir war klar, dass ich zurzeit nicht das Recht hatte, mich einen Freund zu nennen.
 

Wahrscheinlich gerade deshalb verbrachte ich die meiste Zeit mit Kevin.

Natürlich kroch mir ihm gegenüber ein ziemlich schlechtes Gefühl die Kehle hoch, doch schaffte ich es weitgehend eine richtige Normalität zwischen uns aufzubauen.

An solchen Tagen ging ich mit ihm ins neue Fitnessstudio oder wir spielten einfach nur stundenlang Baseball… wie in alten Zeiten. Ich war gerne mit ihm zusammen.

Tage, da fühlte ich mich super, da war es, als würde nichts zwischen uns stehen. Und dann gab es da schlagartig wieder diese Momente, in denen ich Malcolm nur von weiten in der Schule sehen musste und sofort entbrannte in mir ein Verlangen, welches sich immer schwieriger unter Kontrolle halten ließ. Es war ein ständiges Auf und Ab meiner Gefühlssituation, einerseits, wollte ich so gerne, dass zwischen Kevin und mir alles wieder wie früher war, dass er alles über mich wusste, ich ihm alles erzählen konnte. Andererseits, schaffte ich es nicht, mich von Malcolm fernzuhalten.

Dass ich mich jemals von körperlicher Zuwendung so kontrollieren lassen würde, hätte ich niemals für Möglich gehalten, und die schlimmste Gewissheit, welche bei jedem meiner Verrate mehr entbrannte: Jedes Geheimnis kommt irgendwann ans Licht!

Es gibt nur wenige, welche man wirklich mit ins Grab nimmt, und dies war bestimmt nicht so eines. Oft wünschte ich, ich hätte niemals ein Geheimnis daraus gemacht, es einfach gesagt oder besser noch es gar nicht erst dazu gekommen lassen. Aber nun war alles einmal so wie es war.

Alles wäre wahrscheinlich viel einfacher, wenn Kevin jemand Neues finden würde, was mir zeigen würde, dass er nicht mehr an Malcolm hängt. Etwas, dass das Schuldgefühl in mir minderte, damit ich mich trauen könnte, ihm endlich zu sagen, wo ich an manchen Tagen war.

Niemandem hatte ich davon erzählt.

Malcolm und ich trafen uns im Schnitt zwei Mal in der Woche, um es, einfach zu sagen, miteinander zu treiben. Zu Hause erzählte ich, dass ich mich mit Daryl und Carol-Ann treffen würde. Angst, dass diese Lüge auffliegen würde, hatte ich kaum, da ich immer Tage nahm, an denen sie sich wirklich trafen. So langsam entwickelte sich etwas zwischen den Beiden und ehrlich gesagt, fand ich das richtig toll. Dass ich nun ein wenig außen vor stand, störte mich nicht. Ich wüsste eh nicht, wo ich sie zeitlich einplanen sollte. Wir trafen uns meistens ein bis zwei Mal die Woche im Club, unternahmen außerhalb aber nicht gerade viel zu dritt. Natürlich konnte ich das verstehen, immerhin wusste ich, wie es war verliebt zu sein, und wenn ich sie zusammen rumalbern sah, kamen natürlich Erinnerungen hoch… Erinnerungen, die ich vergessen wollte.
 

Der Mailkontakt den ich bis jetzt mit Ryouta und Kyo aufrechterhalten hatte, flaute immer mehr ab. Es passierte einfach und man konnte nicht wirklich erzwingen, dass dies nicht passierte. Man hatte sich einfach nichts Interessantes mehr zu erzählen oder wollte es auch einfach nicht. Derweil kam es mir vor, als wäre ich schon Ewigkeiten wieder zurück, nein, als wäre ich niemals weg gewesen. Die üblichen Floskeln und Themen zu denen man selber eh nichts beitragen konnte, da die Wege einfach zu weit auseinander gegangen waren. Auch diese Feststellung war natürlich quälend, doch es war nun einmal die ungeschminkte Wahrheit, dass sich alles veränderte, immer verändert, mit jeder weiteren Sekunde, und dass nichts so bleibt, wie es vor einem Augenblick noch war.
 

~ * ~
 

„Hör doch endlich auf, ich brauche wirklich keine neuen Hemden.“

„Aber das Blaue ist doch so schön, schau doch nur mal kurz.“

Mein Interesse, das den Mützen galt, wendet sich nun dem Gegenstand zu, welchen meine Mom in die Höhe hält.

„Ja, es ist schön“, gebe ich ihr patzig Recht. „Trotzdem brauche ich gerade keine neuen Klamotten. Ich warte draußen.“

Den Laden verlassend, hänge ich mich an die Brüstung und schaue in den ersten Stock des riesigen Einkaufszentrums hinunter. Hunderte von Menschen lachen, laufen herum. Kinder, die quengeln, weil sie etwas haben möchten, oder ältere Menschen, auf die nicht besonders viel Rücksicht genommen wird, doch alle sind sie aus nur einem Grund hier: um ihr Geld loszuwerden.

„Was ist denn mit dir? Sonst hat dir Einkaufen doch immer so viel Spaß gemacht.“

„Dinge ändern sich nun mal“, möchte ich ihr am liebsten entgegen schreien, da mir die neue Einkaufstüte in ihrer Hand nicht verborgen bleibt.

„Er fehlt dir immer noch, nicht wahr?...Wie geht es ihm denn so? Telefoniert ihr oft oder hat er dich vielleicht schon mal heimlich hier besucht?“, grinst sie mich schelmisch an.

Ich muss leicht schlucken, als ich mich aufrichte. Ihr habe ich es immer noch nicht erzählt und meinem Dad will ich einfach nicht die Genugtuung geben, dass er es im Endeffekt geschafft hat, uns zu trennen.

Den schmalen Gang entlanglaufend gebe ich nun zum ersten Mal Auskunft über alles.

„Das kann ich gar nicht glauben, so hätte ich ihn nicht eingeschätzt.“

„So ist es aber.“

„Warum hast du mir denn nicht schon früher was gesagt?“

„Und dann? Wärst du nach Japan geflogen und hättest ihn gezwungen, bei mir zu bleiben?“ Unsere Blicke treffen sich, ihrer hilflos. „Also, was hätte es schon gebracht? Nur noch jemanden, der mich bedauert.“

„Schatz, es tut mir s-“

„Hör auf, Mom“, weiche ich der Berührung aus. „Es ist vorbei, vergessen… ich will nicht wieder darüber nachdenken müssen.“

Aber genau das passiert in der folgenden Stunde immer wieder. Zwischen McDonalds, Klamottengeschäfte und Baseballladen kommen immer wieder Erinnerungen hoch, Vorstellungen, Wünsche und die große Frage: Was wäre wenn?

Was wäre, wenn ich jetzt zurückgehen könnte, wenn ich ihm jetzt noch einmal gegenüberstehen würde. Wie würde ich empfinden und würde ich noch einmal beginnen wollen?

Mein Herz fängt bei dieser Frage wie verrückt an zu schlagen. Es ist ein beängstigendes und doch erwartungsvolles Gefühl. Es bringt so viele schöne Dinge mit sich, lässt mich in einer Weise aufatmen, welche alles so viel schöner machen könnte. Doch mein Verstand spricht regelrecht dagegen. Angst verletzt zu werden, Enttäuschung und Misstrauen wiegen das schöne Gefühl auf. Er hat uns schon einmal gebrochen, uns aufgegeben und ich kann mir nicht sicher sein, dass er dies nicht noch einmal tun würde.

Wäre eine Notwendigkeit für diesen Schritt gegeben, hätte ich es vielleicht verstehen können, ihm verzeihen können, doch war alles, um wieder miteinander glücklich zu werden, nur ein wenig Zeit gewesen. Ein wenig mehr als ein Jahr, mehr hatte ich nicht verlangt, und wenn ich ihm diese Zeit nicht einmal wert war, wie konnte ich dann glauben, dass seine Liebe die Richtige sein sollte?

In meinem wohl noch immer kindlichen Trotz würde ich ihm nicht verzeihen können. Ihm nicht glauben, wenn er mir noch einmal die Hand reichen würde. Alles war kaputt gegangen, zerstört, wegen ihm… nur wegen ein wenig Zeit…
 

Das Haus betrete ich mit einem guten Dutzend Tüten.

„Wenn du Hunger hast, beweg deinen Hinter in die Küche“, dringt es aus der Küche singend hervor.

„Ich esse später etwas“, erklimme ich die erste Stufe der Treppe.

Bevor ich allerdings mein Zimmer betreten kann, um den zusätzlichen Ballast endlich loszuwerden, steht mir Kevin gegenüber.

„Hast mal wieder nicht geschafft, dich zu beherrschen.“

„Meine Mom hat mir die Sachen regelrecht aufgezwängt.“

Er lächelt über die Aussage, die so gar nicht zu meiner Natur passt, und direkt lässt sein Lächeln wieder dieses Gefühl entstehen; Zwischen zwei Türen stehend, schwanke ich zwischen Verrat und Freundschaft. Ich kann das einf-

„Was ist?“

„N... ichts… hier“, ich reiche ihm eine meiner Tüten, „..ich habe dir was mitgebracht.“

Das kann einfach nicht mehr lange so weiter gehen, ich muss das beenden, ich muss ihm endlich die Wahrheit sagen!

„Du bringst mir Unterwäsche mit?“

„Was?“

Ein wenig Stoff wedelt vor meiner Nase.

„Quatsch“, entreiße ich es ihm.

„Also, gehen wir heute noch ins Studio?“, folgt er mir in mein Zimmer, die Tüten landen auf dem Bett.

„Wann willst du denn los?“

„Vom mir aus sofort… hast du heute noch was vor?“

Ich drehe mich leicht weg, nur soweit, dass es nicht auffällt. „Ich treffe mich doch später noch mit Daryl… weißt du nicht mehr?“

„Stimmt ja, dann lass uns am besten gleich los… Ach übrigens…“

„Ja?“

„Es ist vielleicht ein wenig bescheuert, jetzt damit zu kommen, aber vorher war einfach nie der richtige Zeitpunkt dazu und ich weiß auch nicht… alles hat sich so schrecklich überschlagen und war irgendwie so kompliziert… ich…“

Aus Neugier wieder umgewandt, ist er mir viel näher als zuvor und auch den letzten Schritt zwischen uns überwindet er bevor er weiter spricht. Zudem bin ich fast schon geschockt, als sich seine Arme um mich legen.

„Ich hatte noch gar nicht die Chance, dir zu sagen, wie froh ich darüber bin, dass du wieder da bist.“

Der Druck festigt sich, nicht nur um meinen Körper sondern auch um mein Herz. Warum kommt er ausgerechnet jetzt damit? Das Gefühl nicht atmen zu können, als würde ein dicker Teerklumpen in meiner Kehle hängen und verhindern wollen, auf irgendeine Art darauf zu reagieren. Bevor ich das allerdings muss, trennt er sich wieder von mir. Ich zwinge mich zu einem Lächeln, sein Finger stupst leicht gegen meine Nase.

„Mach dich fertig, wir sehen uns unten.“
 

Die Fahrt und das Training selber laufen mechanisch ab. Mir war natürlich die ganzen Wochen über bewusst, dass ich mich falsch verhalte, aber seine wenigen Worte heute haben mir das nur noch deutlicher gemacht. Wenn unsere Blicke sich treffen, höre ich es immer wieder: „…wie froh ich darüber bin, dass du wieder da bist.“

Wärst du das auch noch, wenn du alles wüsstest? Könntest du damit leben, einen Verräter in dein Haus gebeten zu haben, angenommen zu haben, ich wäre dein bester Freund? Aber bin ich das denn nicht, dein bester Freund? Wie kann ich dir das dann nur antun? Wie schaffe ich es, dich einfach so zu hintergehen, dir etwas zu verschweigen, was man als einen der größten Vertrauensbrüche ansieht?

Am liebsten würde ich dir hier und jetzt alles sagen, doch ich habe Angst vor deinem Urteil. Wie würdest du über mich richten, wie würde es danach weitergehen? Schwäche, die mich davon abhält, es zu tun, ich habe zu viel Angst vor dem Danach. Doch eines kann ich tun, muss ich sogar tun, sage ich mir, während ich darum bitte, an der nächsten Ecke doch einfach rausgeschmissen zu werden.

„Ich kann dich auch direkt hinfahren.“

„Lass mal, ich möchte noch gerne ein Stück laufen.“

Entschlossen steige ich aus dem Wagen, warte noch bis dieser hinter der nächsten Ecke verschwunden ist. Mein schlechtes Gewissen lässt mich schneller laufen. Außer Puste komme ich an, zitternd betätige ich die Klingel.

Als sich die Tür öffnet, begegnet mir ein überraschter Blick. Hatte er unser eigentliches Vorhaben vielleicht verges- Seine Lippen pressen sich energisch auf mich, sein Körper drängt sich mir hart entgegen. Den Rand der Stufe unter meinen Füßen spürend, werde ich plötzlich nach vorne ins Haus hinein gezogen. Die Tür fällt ins Schloss, gemeinsam mit der Lösung unserer Verbindung. Kurz bin ich sprachlos, möchte eigentlich damit fortfahren, ihm zu sagen, dass ich nur hier bin, um das alles zu beenden, doch irgendwas stimmt nicht…

Er schaut mich nicht an, wendet sich der Wand zu, stützt sich dagegen.

„Ist et-“

„Geh!“

„Was?“ Ich trete einen Schritt vor.

„Verschwinde, habe ich gesagt.“

„Was meinst du damit, ich soll verschwinden?“, werde ich unkontrolliert lauter. „Was ist denn plötzlich los mit dir, gerade küs-“

„Du hast deinen Dienst erfüllt, nun GEH ENDLICH!“

Verwirrung als er sich umdreht, mich anschaut. Sein Blick, eine Paarung zwischen Lachen und Verzweiflung… Traurigkeit? Nichts was eindeutig hervorsticht.

„Sag mir doch einfach, was mir dir los ist“, versuche ich es erneut in einem ruhigen Ton.

„Er hat uns gesehen“, ziert ein breites Grinsen seine Mundwinkel. „Es ist vorbei!“

ER? Wen meint er damit… doch nicht etwa… Wie soll er uns gesehen haben, er war doch… nicht… ich habe ihn doch…

Ohne groß darüber nachzudenken, renne ich aus dem Haus hinaus. Suchend schaue ich mich um, erblicke den Wagen verlassen auf der gegenüberliegenden Seite stehen. Nein… nein, das darf nicht wahr sein, so sollte es nicht passieren, so nicht…

Rechts oder Links, wohin… nein, nicht nach Hause, er würde jetzt nicht nach Hause gehen, also Rechts. Ich renne die Straße hinunter, mein Herz schlägt ungewöhnlich schnell, doch das Laufen ist nicht der ausschlaggebende Grund dafür. Wo würde er hingehen, wo würde ich hingehen? Wieder eine Gabelung, immerhin bin ich mir immer sicherer dem richtigen Weg zu folgen…

Völlig außer Atem komme ich gut zwanzig Meter hinter ihm zum Stehen, aber was jetzt? Gefunden, schön und gut, aber wie genau soll ich mich jetzt erklären, was könnte ich sagen, damit sein Zorn nicht überhand nimmt, damit ich eine Chance auf Vergebung bekomme?

Jeden kleinen Ton, den meine Füße auf dem Untergrund abgeben, empfinde ich als ein riesiges Donnergrollen, verräterisch. In kleinem Abstand bleibe ich hinter der Bank stehen.

„Das war ja schon irgendwie typisch, du wolltest wohl gefunden werden.“

Meinen Mut verbraucht und keinerlei Reaktion.

Ich trete vor, berühre ihn an der Schulter, jede Reaktion ist besser als gar keine. Angeschrieen zu werden, weggestoßen, alles ist besser, nicht wahr... und wahrscheinlich verwährt er sie mir gerade deswegen. Nicht ein Zucken, nicht das kleinste Zeichen meiner Anwesenheit geht von ihm aus…

Ich gehe in die Hocke, denn ich fühle mich gerade nicht danach, von oben herab auf ihn einzureden, mein Druck auf seiner Schulter wird ein wenig fester. Ich habe Angst ihn loszulassen, als könne er mir einfach davon treiben.

„Es ist… einfach so passiert… es war nicht geplant oder so. Wir… hatten Sex, mehr nicht und es geht schon wochenlang. Ich…“ Aufgestanden umrunde ich nun doch die Bank. Vor ihm gehe ich wieder in die Hocke, wenigstens hoffend etwas in seinen Augen lesen zu können, wenn er mir schon keine Geste schenkt, doch es scheint, als würde er einfach durch mich hindurch sehen. „Es tut mir so schrecklich leid… ich weiß, dass dies ein Fehler war, ich weiß, dass es nicht… richtig war… dass es…“

Stockend senke ich kurz den Kopf, versuchend, die Tränen hinunterzudrücken. Es ist jetzt garantiert nicht mein Part zu weinen, denn ich habe doch genau das bekommen, womit ich gerechnet habe, und sicher habe ich das auch verdient.

„Es tut mi-“ Plötzliche Gegenwehr auf meine nächste Handlung, ich werde weggedrängt, falle.

Ein auf mich hinabschauender Blick. Ich würde gerne sagen, dass ich diese Art von Blick noch niemals gesehen habe, doch irgendwoher kenne ich ihn. Nichtsdestotrotz macht er mir Angst.

Es sieht aus als würde er nach den richtigen Worten suchen, während ich mich nicht traue, mich groß zu bewegen. Seine Augen wirken als würden sie zittern… So hat er noch niemals auf mich reagiert. Will ich denn wirklich hören, was er mir zu sagen hat? Könnte ich es ertragen zu hören, wie enttäuscht er von mir ist und dass er mir in Zukunft vielleicht kein Vertrauen mehr schenken kann. Ist es das wirklich wert gewesen?

„Lass mich allein“, dreht er sich weg.

„Nein, halt…“, rapple ich mich auf. „…lass uns darüber reden. Es mu-“

„ICH WILL NICHT DARÜBER REDEN, VERSTEHST DU DAS NICH? ICH WILL ALLEINE SEIN, ICH WILL DEIN GESICHT JETZT NICHT SEHEN!“, schreit er mich an, dreht sich wieder um, geht nicht, nur sein Blick senkt sich und sein Körper zittert leicht.

„Ich habe so eine verdammte Wut auf dich“, bedient er sich ruhiger Worte.

„Kevin… ich…“ Mein Kopf lässt mich keinen klaren Gedanken mehr fassen, was könnte ich noch sagen?

„Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Und hör enDLICH AUF immer daran zu spielen.“

Er schnellt vor, greift nach meinem Arm. Schrecken über sein plötzliches Vorwärtskommen lässt mich zurückweichen, mein Handgelenk ist fest in seinem Griff. Sekunden später ein schmerzendes Gefühl, ein wütendes Gesicht.

„Die ganze Zeit dachte ich, dass dies dein Problem ist, dass du deswegen traurig bist.“ Das abgerissene Armband rutscht zwischen seine Finger. „Aber nein, du hattest nichts besser zu tun als mit meinem Ex zu ficken.“ Ein fester Wurf lässt mich das Armband aus den Augen verlieren.

„Ich halt das nicht mehr aus. Ich kann nicht mehr… ich hab genug und jetzt lass mich endlich alleine und geh heim!“

„Heim?“

„Ja!“
 

Part 52 - Ende
 

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Part 53

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Part 54

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Part 55

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Sakuya (by littleblaze)
 

Das erste Ziel an jedem Morgen: der Wecker! Ob Hand, Kissen oder mit der Lampe, welche sich zuerst wagt, mir in die Quere zu kommen, spielt keine Rolle, Hauptsache das Ding ist schnell wieder still.

Viertel nach Vier, noch viel zu früh um ans Aufstehen zu denken und das habe ich auch ehrlich gesagt noch gar nicht vor… ich will nicht, krieche noch einmal unter die Decke und presse mich an den warmen Körper. Ein leises Seufzen, als auch sie sich an mich drückt.

„Ist es schon wieder Zeit?“

„Ja“, küsse ich sie in den Nacken. „Ich muss gleich los.“

„Bestellst du Kevins Eltern einen schönen Gruß von mir?“

„Du musst mich nicht testen“, treffe ich dieses Mal ihre Schulter. „Denkst du wirklich, dass ich so vergesslich bin?“

„Vergesslich ist vielleicht das falsche Wort… zur rechten Zeit… manchmal… ein wenig schusselig vielleicht“, dreht sie sich zu mir um und schenkt mir ein von der Müdigkeit zerrissenes Lächeln.

„Wer sagt denn eigentlich, dass ich überhaupt vorhatte, mit nach Boston zu fahren? Du weißt doch, wie ich die kleine Maus immer vermisse, ich kann gar nicht mehr ohne sie leben.“

„Baby, du machst mir Angst, weißt du das?“

„Ja.“

„Ich liebe dich, also pass auf dich auf.“

„Mach ich und jetzt schlaf noch ein bisschen, immerhin musst du sie nachher alle fertig machen.“ Unsere Lippen treffen sich ehe ich aufstehe.
 

Das zweite, nennen wir es an diesem Punkt mal Hindernis, an jedem Morgen wartet schon im Badezimmer auf mich: die neue Dampfdusche. Sie scheint mich einfach nicht zu mögen, weshalb ich, wenn ich es eilig habe, einen Bogen drum mache. Normal duschen gefällt mir, im Gegensatz zu allen anderen im Haus, sowieso viel besser.

Fertig angezogen betrete ich den Flur, wende mich zuerst nach links. Leise betrete ich das provisorische Kinderzimmer, horche. Das kleine Nachtlicht oberhalb der Wiege spendet genügend Licht, um das Ziel leise zu erreichen, einen Blick auf den schlafenden Körper zu werfen.

„Hey Baby“, berühre ich vorsichtig die kleine Hand. „Werd nicht ohne mich groß, ok?“ Es fällt mir jedes Mal schwer, mich für Tage von dem kleinen Wesen zu verabschieden.

Ein Geräusch lässt mich aufhorchen, ich verlasse den Raum, durchquere den gesamten Flur um zur hinteren Treppe zu kommen. Schnell haben wir festgestellt, dass es mit mehreren Personen im Haus ziemlich umständlich ist, die vordere Treppe nicht für jeden nutzbar gemacht zu haben. Schon lange sind wir gewillt dies zu ändern, zeitlich passt ein Umbau des vorderen Teils aber im Moment so gar nicht in unseren Lebensalltag.

Durchs Wohnzimmer und den unteren Flur betrete ich anschließend die Küche. Mein Blick fällt kurz in den Kühlschrank, obwohl ich genau weiß, dass ich so früh am Morgen noch nicht bereit bin, irgendetwas an Nahrung aufzunehmen. Ich durchquere den Raum, bleibe am Fenster stehen und schaue hinaus. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufgeht, ich liebe es ihr dabei zuzusehen. Wenn ich ehrlich bin, liebe ich alles hier; die Stadt, die Menschen, das Haus, einfach alles. Ich könnte mir gar nicht vorstellen, noch einmal irgendwo anders zu leben…
 

~ * ~
 

Der Tag, an dem sich entschied, dass ich in San Francisco mein weiteres Leben führen werde, war ein furchtbarer Tag. Er sollte Ende und Neuanfang auf einmal sein, zog einen Schlussstrich unter unser bisheriges Leben.

Die letzten Jahre hatten viele Veränderungen gebracht: College, Baseball, unsere eigene Wohnung und diese andere Sache…

Dieser Sache stand ich am Anfang ziemlich verwirrt gegenüber, wenn man es mal leicht ausdrücken mag. Eigentlich kann ich mich auch an sonst nicht mehr viel erinnern, was mir damals so alles durch den Kopf gegangen ist. Es ist einfach zu viel passiert, damals… zu viel hat sich zu schnell geändert. Und irgendwie fand ich es schön, brauchte ich es sogar, diese Sicherheit, dieses Gefühl, gewollt zu werden, gebraucht, nicht allein zu sein. Ziemlich einfach mit jeder weiteren Berührung zu vergessen, dass er eigentlich Freund, irgendwie Bruder war.

Bei den ersten Malen nahm ich es als eine Art Ausrutscher an. Die Trennung von Malcolm, meinen Verrat, irgendwie dachte ich, dass er nur ein Ventil zum Abregieren bräuchte und sich dies auf diese Art zeigte. Ich versuchte ihm dadurch, dass ich darüber nicht sprach, einfach so tat, als wäre nichts gewesen, ein Gefühl der Sorglosigkeit zu vermitteln. Obgleich ich eigentlich auch nicht wirklich darüber sprechen wollte, zu diesem Zeitpunkt.

Damals, dachte ich einfach, dass es irgendwann wieder aufhören würde. Ein Ups-Erlebnis halt, etwas, das man einfach nicht auf die Goldwaage legen sollte. Dass dies erst Jahre später der Fall sein sollte, konnte ich zuvor nicht ahnen.

Nachgefragt warum es überhaupt dazu gekommen war, ob meine früheren Annahmen die richtigen gewesen waren, tat ich niemals. Ich hatte einfach oft genug den Zeitpunkt verpasst, danach zu fragen.

Carol-Ann konnte mir immer nur raten, dass zu tun, was ich glaubte, dass es am besten für mich war. Doch was war das Beste? War das, was ich hatte, überhaupt gut?

Die Berührungen waren ziemlich angenehm und ich konnte nicht sagen, dass ich es nicht mochte, wenn er mich küsste. Ein schönes Gefühl, nachdem die anfängliche Scham verflogen war, so wie es eigentlich sein sollte. Keine gewaltsame Sexbeziehung, in die ich gestoßen wurde, sondern wog ich mich in einer Lebenslage, in der ich mir aller guten Züge meines Gegenübers bewusst war.

Daryl fragte mich, ob ich ihn lieben würde. Ich antwortete nicht darauf.

Kevin war und wurde erneut zu der wichtigsten Person in meinem Leben, setzte dies nicht eine Art von Liebe voraus? Aber diese Liebe war es nicht, nach welcher er mich fragte. Doch wie definiert man Liebe?

Jede Beziehung bringt neue Erkenntnisse, revidiert vorhandene. Wenn Liebe sich aus Vertrauen, Geborgenheit und Aufopferung, gespickt mit körperlicher Zuwendung zusammensetzt, dann muss es wohl Liebe gewesen sein. Müsste es, nicht wahr?

Warum schaffte ich es dann niemals es auszusprechen? Warum bekam ich jedes Mal ein schreckliches Gefühl, wenn es darum ging? Heute denke ich, dass etwas ziemlich Wichtiges zwischen uns stand. Nicht nur die Angst, etwas kaputt zu machen, sondern uns zu verlieren. Etwas, für das wir kein Überleben garantieren konnten.

Und dann, wie schon erwähnt, kam dieser besagte Tag…
 

Irgendwie hatte ich witzigerweise damit gerechnet, dass es immer so bleiben würde, zwischen uns. Aber als er dann diesen idiotischen Satz abließ, wollte ich ihn am liebsten erwürgen.

Ich wollte fragen, warum ausgerechnet jetzt alles vorbei sein sollte, warum er sich gerade jetzt dafür entschied, einfach nur mein Freund zu sein. Doch beließ ich es dabei.

Er hatte mich mein ganzen Leben lang in die richtige Richtung geschickt, so dass ich nun an seiner Entscheidung nicht rütteln durfte, und es war nicht die einzige Entscheidung an diesem Tag.

Ich bin mir durchaus darüber bewusst, dass ich ziemlich egoistisch war. Doch konnte ich nicht anders, ich ließ ihn nicht gehen. Kein Zweifel daran, dass er lieber nach New York gegangen wäre, aber ich konnte ihn nicht loslassen… es gibt Dinge, die man sogar mit ausgestreckter Hand nicht erreichen kann und wenn man sie gehen lässt, verwelken sie.
 

Es dauerte einige Wochen bis ich mich mit dem neuen Zustand abgefunden hatte. Abgesehen davon, dass wir nicht mehr miteinander schliefen oder uns küssten, war eigentlich alles wie immer geblieben. Doch fühlte ich mich einsam, wenn ich nun alleine, ohne ihn in meinem Bett lag. Niemand, an den ich mich anlehnen konnte, der mir eine Nähe schenkte, welche für mich zum Alltag geworden war. Wieder einmal hatte sich alles zu plötzlich geändert, hatte ich keine Zeit gehabt, mich irgendwie darauf vorzubereiten. Ich fühlte mich fallengelassen, abgewiesen, allein gelassen.

Aber im Nachhinein stehe ich vollkommen hinter dieser Entscheidung.
 

San Francisco schien uns auf Anhieb gut zu tun, eine neue Welt für ein neues Leben. Die ersten Wochen vergingen wie im Flug, wir hatten so viel zu tun, dass man gar keine Zeit mehr hatte, sich irgendwelche Gedanken zu machen, und irgendwann erkannte man dann plötzlich, dass alles wieder okay war.

Der frühe Tod meines Dads hat dazu beigetragen, uns den Wunsch von einem großen Haus zu ermöglichen. Ihm niemals verziehen zu haben, nagte im Nachhinein ziemlich an mir. Die erste Zeit nach seinem Tod war ich unausstehlich, zog mich zurück. Gefühle kamen hoch, ziemlich kalte, verhasste Gefühle, zu der Person, welcher ich die Schuld dafür zusprach. Natürlich vollkommener Unsinn, aber in diesen Wochen hätte ich mich am liebsten in einen Flieger gesetzt und ihn erwürgt.

Für eine geheuchelte Liebe hatte ich meiner Familie den Rücken gekehrt, die Chance verpasst, mit meinem Dad noch schöne Erinnerungen zu haben. Einen Teil der Schuld trug jeder von uns, doch den größten Teil sendete ich nach Japan. Ich hatte meinen Dad für etwas verloren, das es einfach nicht wert gewesen war.

Meine Mom ging nach seinem Tod wieder zurück nach Japan, ich habe sie vielleicht vier Mal in den letzten drei Jahren gesehen. Nicht einmal die Sehnsucht nach ihr bringt mich dazu, in ein Flugzeug zu steigen. Ich will dieses Land nie mehr wiedersehen.
 

~ * ~
 

In unserem Leben können wir uns ziemlich wenig aussuchen.

Man kann sich nicht wünschen, wann oder wo man geboren wird oder wer seine Eltern werden sollen, nicht auswählen, welches äußere Erscheinungsbild man bietet. Aber man kann sich dafür entscheiden, seine Makel zu überdecken oder sich ein neues Aussehen, einen schlankeren Körper zu kaufen.

Million von Menschen haben nicht die Chance, ihren Job auszuwählen. Sie werden wie der letzte Dreck behandelt und müssen sich für einen Hungerlohn die Seele aus dem Leib schuften. Natürlich könnten sie dieser Arbeit einfach den Rücken kehren… aber hat man wirklich eine Wahl, wenn man aus der Konsequenz daraus sein hungerndes Kind in den Schlaf wiegen muss?

Ich denke mit der Liebe ist es ganz genau so. Liebe kann man sich nicht aussuchen. Du kannst dich nicht dazu zwingen, jemanden zu lieben, nur weil er dir ein besseres Leben bieten kann oder dir deinen größten Wunsch erfüllt. Du kannst vielleicht eine gewisse Zuneigung oder Dankbarkeit für ihn empfinden, etwas, dass schon ziemlich nahe an die Liebe heran kommt, aber dir den Befehl dazu geben, kannst du nicht.

Andersherum ist es meistens noch komplizierter. Wir verlieben uns meistens in jemanden, der für uns unerreichbar ist; ein verheirateter Mann oder der Freund der Freundin.

Liebe ist ein Fluch, man kann ihr nicht entkommen, sie kommt immer wieder und meistens bringt sie mehr Schlechtes als Gutes.

Liebe auf den ersten Blick war etwas, an das ich bis dato nicht hatte glauben können.

Liebe, was sollte das eigentlich sein und warum verfolgt uns diese Frage unser gesamtes Leben? Warum kommt sie immer wieder auf und warum versuchen wir immer neue Erkenntnisse aus ihr zu ziehen? Und warum sprach und dachte man immer daran, sobald man sich zu Jemandem hingezogen fühlte?

Bei Charize war es, wenn man es jetzt mal so ausdrücken wollte, Liebe auf den ersten Blick. Sie betrat den Raum und ich verschluckte mich beinahe an meinem Kaugummi, als sie mich über den Tisch hinweg anlächelte.

Als sich unsere Hände berührten, hatte ich das Bedürfnis, ihre nicht wieder loszulassen. Ich verstand kein Wort von dem Anwaltslatein, welches sie mit Kevin durchkaute, ich nicke nur immer, wenn sie mich ansah. Gebannt an ihren Lippen, starrend auf ihre Finger, mein Fuß tippe nervös gegen einen der anderen Stühle. Wenn ich heute an diesen Augenblick zurückdenke, kam mir wohl nicht ein einziges Mal in den Sinn, dass sie ja eine Frau sei und irgendetwas gerade nicht stimmte.
 

Es dauerte gerade mal Stunden, bis ich sie um ein Date bat. Zu Hause hatte ich es nach diesem Anwaltsbesuch einfach nicht mehr ausgehalten und mich sofort wieder auf den Weg zurück gemacht. Ich hatte Blumen und Pralinen gekauft, so wie man es ja immer in Filmen sah, und stand kurze Zeit später wieder vor ihrer Bürotür.

Ich kann mich noch ziemlich gut an ihren verblüfften Blick erinnern, als ich ihr meine Mitbringsel überreichte, und an die kühle Stimme, mit der sie mir erklärte, dass sie mit Klienten der Firma keine Dates haben würde. Ich sagte ihr, dass wir das ja niemanden erzählen müssten, und sie äußerte sich, dass ich eh nicht ihr Typ wäre. „Viel zu hell, zu jung und viel zu auffällig“, waren ihre genauen Worte.

Dass ich mich danach von der Kanzlei trennte, empfand sie als einen Akt der Unreife und lehnte somit auch meinen zweiten Versuch ab.

Eine Besessenheit, wie schon lange nicht mehr, hatte mich gepackt. Ich wollte sie kennenlernen, in ihrer Nähe sein, doch die Saison hatte gerade erst angefangen und durch die auswärtigen Spiele war ich zu selten in der Stadt, um mich intensiv darum bemühen zu können.

Ich holte mir Unmengen an Tipps von meinen Mannschaftskollegen, was das Thema “zickige“ Frauen anging. Ich konnte ja wohl schlecht sagen, dass es die erste richtige Frau in meinem Leben war. Jede noch so verrückte Taktik probierte ich aus, jeden noch so idiotischen Spruch wandte ich an, aber nichts schien mich dem Objekt meiner Begierde näher zu bringen.

Die Blumen, welche ich ihr schickte, kamen zurück. Neben mir blieb ein leerer Platz, wenn ich ihr eine Eintrittskarte hatte zukommen lassen, und Geschenke spendete sie einem wohltätigen Zweck, wie ich durch die Dankschreibungen der Organisationen an mich erfuhr.

Ich streute den Flur vor ihrer Appartementwohnung mit Rosenblättern aus und bekam als Dankeschön eine Rechnung des Reinigungsservices.

„Mit Geld kommst du da nicht weiter“, erklärte mir Carol-Ann am Telefon. „Du musst etwas Romantisches, etwas richtig Tolles auf die Beine stellen.“

Das war natürlich leichter gesagt als getan, doch ich unternahm nichts, rief sie nicht an, bis mir eine, wie mir schien, weitere gute Idee kam.

Für diese spendete ich zuerst 50.000 Dollar an die Stadt. Als kleine Gegenleistung dafür wünschte ich mir eine Straßensperrung für zwei Stunden. Nur eine kleine Nebenstraße im Sinn, kam man mir schnell entgegen.

Ein kleines Podest vor dem Fenster ihres, im siebtem Stock liegenden Büros, Rosenblätter auf dem Straßenabschnitt und ein Feuerwehrmann, der mit einer brennbaren, geligen Substanz auf einem freien Teil der Straße beschäftigt war, ließen sich meine Idee Stück für Stück verwirklichen.

Die Band hatte ich in der Zeitung gefunden. Es waren nur ein paar Teenies, aber sie hatten ihre Sache super gemacht bei den zwei Proben, die wir miteinander gehabt hatten. Alles wartete nur noch auf ein Zeichen und kurz darauf bekamen wir es endlich: Die Dame meiner Wahl, war vom Mittagessen zurück und wieder in ihrem Büro. Laut drang die Musik zu ihrem Fenster hinauf und ich fing an zu singen:
 

What day is it

And in what month

This clock never seemed so alive

I can't keep up

And I can't back down

I've been losing so much time
 

Dass meine Stimme wirklich funktionierte, war schon ein Wunder. Nervöser als bei meinem ersten großen Spiel stand ich dieser Sache gegenüber. Noch mehr Passanten, als schon vorher beim Aufbau zugeschaut hatten, scharrten sich in angenehmen Abstand um uns, einige schossen Fotos.
 

Cause there is you and me

And all of the people

Nothing to do, nothing to lose

And there is you and me

And all of the people

And I don't know why

I can't keep my eyes off of you
 

Mein Blick war die ganze Zeit über auf ihr Fenster gerichtet, und es dauerte nicht lange, bis sie hinter den Vorhängen erschienen war, wohl um zu schauen, was dort unten für ein schrecklicher Akt von statten ging. Ich erhob meine Stimme noch ein wenig mehr, lächelte sie in den kurzen Pausen an.
 

All of the things that I want to say

Just aren't coming out right

I'm tripping on words

You got my head spinning

I don't know where to go from here
 

Was ihr Blick zeigte, konnte ich nicht sehen, zu weit war sie entfernt, aber dass sie immer noch dort stand und mich ansah, reichte mir vollkommen.
 

Cause there is you and me

And all of the people

With nothing to do, nothing to prove

And it's you and me

And all of the people

And I don't why

I can't keep my eyes off of you
 

Something about you now

I can't quite figure out

Everything she does is beautiful

Everything she does is right
 

Cause there is you and me

And all of the people

With nothing to do, nothing to lose

And it's you and me

And all of the people

And I don't know why

I can't keep my eyes off of…
 

Ich gab dem Feuerwehrmann das abgesprochene Zeichen, woraufhin er die Subtanz auf dem Boden entzündete. Kurz schaute ich ebenfalls auf die Straße, da ich zwar wusste, was dort erscheinen würde, aber nicht wie es im Endeffekt aussah. Mit kleinen Flammen erstrahlten die Worte: „Du und Ich! Mehr wünsche ich mir doch gar nicht!“
 

You and me

And all of the people

With nothing to do, nothing to prove

And there is you and me

And all of the people

And I don't know why

I can't keep my eyes off of you
 

Sie verschwand langsam wieder hinter dem Vorhang und leise ließ ich das Lied zu Ende gehen.
 

What day is it

And in what month

This clock never seemed so alive
 

Die Musiker packten ihre Sachen zusammen und ich half dabei, die Rosenblätter von der Straße zu fegen. Der Feuerwehrmann überzeugte sich davon, dass nichts Brennbares auf der Straße zurückbleiben würde.

Ich gab ein paar Autogramme, lächelte, obwohl mir gerade eigentlich nicht dazu zu Mute war. Was sollte ich denn noch alles tun? Warum schien alles was ich tat einfach nicht gut genug zu sein? Oder stellte ich mich einfach nur zu blöd an, was das Thema Frauen anging?

„Mr. Ryan?“

„Ja!“ Ein junger Typ stand vor mir, überreichte mir einen Zettel:

Morgen

19.30 Uhr

Gary Danko

PS: Sei Pünktlich!
 

~ * ~
 

Ich hatte nicht viel für französische Küche übrig, aber wenigstens lag das Restaurant fast um die Ecke. Eine halbe Stunde früher wurde ich zu unserem Tisch geführt, auf keinen Fall hätte ich mir ein zu spätes Kommen erlaubt. Schnell spürte ich aber, dass dies nicht gerade ein sinnvoller Plan gewesen war, denn mit jeder Minute wurde ich nervöser, fragte mich, ob sie auch wirklich kommen würde. Ich horchte in mich, ob ich bei vorherigen Dates auch immer so nervös gewesen war, eingeholt von der Erkenntnis, dass ich noch niemals ein richtiges Date gehabt hatte. Diese Tatsache brachte das Maß an Unruhe in mir natürlich auf einen neuen Höhepunkt. Ich fragte mich, ob es okay war, was ich trug, versuchte mir einen Satz zurechtzulegen, mit dem ich auf charmante, wie witzige Art das Gespräch anfangen könnte, und fragte mich, ob mich Alkohol vielleicht beruhigen würde.

Als man sie zum Tisch führte, hätte ich sie beinahe nicht wiedererkannt. Ihre Haare waren hochgesteckt, ihr Körper gehüllt in ein Traum aus schwarz und sie schien geradezu durch den Raum zu schweben.

Der Stuhl mir gegenüber wurde zurückgezogen. Sie bedankte sich, während sie sich setzte und die Karte entgegen nahm.

„Das hätte eigentlich ich tun sollen, nicht wahr?“, dokumentierte ich mein Fehlverhalten.

„Es wäre ein guter Anfang gewesen.“ Sie legte die Karte beiseite und schaute mich direkt an. Kurz in ihrem Blick vertieft, musste mir erst wieder einfallen, wie unwissend ich so einer Situation eigentlich gegenüberstand.

„Ähm… sagte ich eigentlich schon, dass dies ein umwerfendes Kleid ist?“

„Nein, aber danke“, lächelte sie und ihr anhaltender Blick machte mich noch unsicherer.

„Du siehst wirklich toll aus und die Haare erst und-“

„Lass uns etwas zu trinken bestellen, okay?“ Sie unterbrach mich mit einer kleinen Berührung.

Die Weinkarte gerade mal Sekunden in der Hand, trat auch schon der Kellner zu uns heran, bereit meine Wahl zu notieren. Ich blätterte die acht Seiten voller hochwertiger Spirituosen durch und hatte keine Ahnung, was ich bestellen sollte. Zuvor noch froh mein Gesicht dahinter verstecken zu können, mutierte sie wohl zur größten Falle des heutigen Abends. Einige der Namen sagten mir zwar vom Hören etwas, aber das war es dann auch schon was meine Kenntnisse in diese Richtung betraf. Wie sehr wünschte ich mir jetzt Daryl an meine Seite.

„Wir hätten gerne zwei Bier… einverstanden?“

„Gerne“, bestätigte ich ihre Wahl.
 

Die Nervosität verflog langsam. Wir unterhielten uns über die laufende Saison, das Wetter und die neusten Schlagzeilen. Die drei Gänge glichen mehr einem Kunstwerk als einer wirklichen Malzeit, doch war mein Magen mehr als zufrieden mit den kleinen Portionen. Jedes Lächeln brachte mich dazu, ihren Lippen aufs Neue zu verfallen. Auf starrende Art verbrachte ich wohl so die meiste Zeit dieses ersten Treffens.

Über wirklich Persönliches fingen wir erst ziemlich spät an zu reden. Ich erfuhr, dass sie aus einem kleinen Kaff in Ohio kam und ohne den Segen ihrer Eltern aufs College gegangen war, um Jura zu studieren. Sie fühlte sich ziemlich eingesperrt, sah keine Chance wirklich glücklich zu werden. Wahrscheinlich hätte sie früh geheiratet und wäre Mutter und Hausfrau geworden. Aber so hatte sie ihre Rolle im Leben niemals gesehen, sondern hatte sich schon ziemlich früh vorgenommen, irgendwann aus dem beengten Leben auszubrechen.

„Und du und Mr. Wyans wohnt zusammen?“

„Du kannst ihn Kevin nennen.“

„Wie kommt es? Ich meine, eine Wohnung teilt man sich schon mal, aber so ein großes Haus? Erst dachte ich ja, dass einer zur Untermiete wohnt, aber eure beiden Namen stehen auf der Besitzurkunde.“

„Wir haben eigentlich schon immer zusammen gewohnt. Nachdem ich mit meinen Eltern zwei Jahre in Japan gelebt habe und zurückkam, habe ich in Kevins Elternhaus Zuflucht gefunden, da ich mich mit meinem Eltern nicht mehr einigen konnte. Na ja, wie das nun mal so ist… irgendwann kommen die meisten nicht mehr so wirklich mit ihren Eltern klar. Später haben wir uns in Boston dann eine Wohnung zusammen genommen und als wir hierher kamen, stand es eigentlich niemals zur Diskussion, dass wir auch weiterhin zusammen wohnen würden.“

Obwohl es die vollkommene Wahrheit war, durchbohrte mich ein schlechtes Gewissen. Bei weitem noch zu früh ihr mehr zu erzählen, oder war es vielleicht genau der richtige Zeitpunkt und ich hatte mich nur nicht getraut?

„Hätten sie noch gerne einen Nachtisch?“, unterbrach uns der Kellner.

„Ja, ja gerne. Ich hätte gerne ein Eis und du?“

Ihre schlanken Finger verschränkten sich ineinander, stützten ihren Kopf ab. Mit einem beinahe neckischem Gesichtsausdruck sah sie mich an.

„Ja, gerne.“

„Welche Sorte, Madam?“

„Vanille, bitte.“

„Und der Herr?“

„Erdbeere“, wendete ich meinen Blick nicht von ihr ab.
 

Vor ihrer Haustür kamen wir zum Stehen. Ein gängiges Ritual, der Gute-Nacht-Kuss, doch ich war noch nicht bereit dazu. Nicht weil ich es nicht wollte. Ich traute mich einfach nicht, diesen Schritt zu wagen, zu riskieren, dass es falsch sein könnte und… es überhaupt zu tun. Ja, ich hatte schon mal eine Frau geküsst, aber trotzdem, es war so verdammt lange her. Würde es jetzt anders sein? Einfach so, wieder zurück?

Ich wollte mich schon umdrehen und einfach gehen, als sie mich fragte, ob ich nicht noch mit hoch kommen wollte. Ich nickte.

In ihrer Wohnung stotterte ich irgendein blödsinniges Zeug hervor, benahm mich schon beinahe wie ein Detektiv auf Spurensuche, der ja auch jedes Teil der Wohnung kommentieren wollte. Sie schenkte uns etwas zu trinken ein und wir setzten uns anschließend auf die Couch. Abermals fing ich an, über das Gemälde an der Wand mir gegenüber zu reden. Ich war unheimlich… nein, nervös ist nicht einmal das richtige Wort dafür, hierfür musste man erst noch eine neue Definition erfinden.

„Warum wolltest du unbedingt mit mir ausgehen?“

„Ich weiß nicht.“ Ich verbarg mein Gesicht kurz hinter dem Glas, trank daraufhin hastig einen großen Schluck… Ich wollte nicht so durcheinander sein.

„Du gibst dir so viel Mühe und weißt noch nicht einmal warum?“ Sie nahm mir mein Glas ab, stellte es auf den Tisch. Mit einer ordentlichen Antwort konnte ich nicht dienen, hatte mir selber diese Frage eigentlich niemals gestellt. Für einen kurzen Augenblick wünschte ich mich wieder auf die Straße, um meine Entscheidung revidieren zu können.

„Ist ja nicht so, als hätte ich es geplant…“, stotterte ich hervor, da ihr fragender Blick nicht zurück wich. „Ich konnte einfach nicht anders, seit ich dich zum ersten Mal sah. Ich wollte nichts mehr, als bei dir zu sein.“

Ihr Glas kam neben meinem zum Stehen.

„Das hast du wirklich schön gesagt.“

Ich weiß nicht mehr genau, was ich zuerst aufnahm; wie sich die Couch durch das zusätzliche Gewicht unter mir senkte, ihre Hand auf meiner Schulter oder die weichen Lippen.

„Du zitterst ja.“

„Der falsche Moment…“

„Nein, ganz und gar nicht.“

Ihr Bein rutschte über mich, zurückgedrängt, küsste sie mich erneut. Ich brauchte mehr Mut sie zu berühren, als ihren Kuss zu erwidern, sekundenlang schwebten meine Hände nur so in der Luft herum, bis ich mich endlich traute, sie an mich zu drücken.

An diesem ersten Abend, schliefen wir miteinander. Ungewohnt, neu, aber zum allerersten Mal fragte ich mich nicht, wie es denn nur dazu gekommen war. In meinem bisherigem Leben hatten immer nur irgendwelche Zweifel regiert, waren Fragen aufgeworfen und zogen Geheimnisse nach sich… hier fühlte ich mich zum ersten Mal richtig frei.
 

„Du gehst schon?“

„Ich muss. Wir haben morgen ein Auswärtsspiel.“

Eine kleine Drehung um mich selbst ließ mich endlich die verlorene Socke finden.

„Wirklich schade.“

Die Matratze gab nach, als ich mich auf die Bettkante setzte und mich fertig anzog.

„Ja, das finde ich auch.“ Leicht bewegte ich mich über ihren Arm. „Doch hoffe ich wohl, dass wir uns bald wiedersehen.“

„Das hoffe ich auch… immerhin hast du meinen kleinen Test bestanden.“

„Test?“

„Mein kleiner Eistest.“ Kein wirkliches Lächeln, eher der Ausdruck einem Jäger in die Falle gegangen zu sein.

„Ich komme leider immer noch nicht ganz mit.“

Unsere Finger trafen sich, streichelten, hielten einander fest.

„Aus irgendwelchen idiotischen Gründen benutzen weiße Kerle immer Schokolade, wenn sie auf eine sexuelle Anspielung aus sind. Du hast Erdbeere genommen.“

„Küss mich und ich erzähle dir ein kleines Geheimnis“, fiel es mir schwer, mein Lachen zu verstecken.

Lange schaute sie mich an, bis sie mich schließlich zu sich zog, mich küsste. Ein Kuss, welcher sich von Schönheit kaum übertreffen ließ. Weich und sinnlich, anmutig und betörend, voller Unschuld und doch so erregend, dass man sich am liebsten die Klamotten direkt wieder vom Leib reißen würde.

Langsam trennten sich unsere Lippen wieder, ein kurzer Moment, in dem man sich am liebsten für das gerade geschehene bedanken möchte. Ich streifte ihre Wange entlang, hielt am Ohr wieder an.

„Ich bin allergisch auf Schokolade“, flüsterte ich hinein.
 

~ * ~
 

In den folgenden zwei Monaten trafen wir uns so oft, wie wir nur konnten. Dies hört sich viel an, war es aber gar nicht, im Gegenteil. Wenn ich in der Stadt war, hatte sie meistens einen vollen Terminkalender und stand vor Gericht. An den Wochenenden war ich meistens nicht da oder im Training. Wie viel Arbeit in einer Saison steckt, können sich die wenigsten Laien vorstellen.

Ich sollte doch einfach eine kleine Steuerhinterziehung begehen, dann würden wir uns wenigstens im Gericht sehen können, versuchte sie die Situation ins Sarkastische zu ziehen. Wir lachten zwar, waren uns beide aber durchaus bewusst, dass es uns so nicht genug war.

Bei den wenigen Treffen, waren wir meistens genervt durch die ganzen Komplikationen, aus Frust heraus, schliefen wir ziemlich schnell miteinander.

Wenn ich sie tagelang nicht sah… träumte ich von ihr. Doch keine ungezügelten Sexträume schaukelten mich durch die Nacht, sondern Verrat und Betrug machte sich in ihnen breit. Ich vermisste sie so sehr, dass meine Angst, sie wieder zu verlieren, meinen ganzen Tagesablauf beeinträchtigte.

„Zieh bei mir ein“, bat ich sie deshalb.

Es war keine spontane Idee. Ich hatte schon etwas länger an diese Möglichkeit gedacht, sogar schon mit Kevin darüber gesprochen und sein Einverständnis bekommen. Vieles würde es vereinfachen und beide schienen sich wirklich gut zu verstehen.

„Du spinnst ja.“ Sie befreite sich aus meiner Umarmung, ihre Haare legten sich verführerisch über ihren nackten Rücken.

„Nein“, zog ich sie wieder hinunter. „Ich mein das vollkommen ernst. Bitte, zieh bei mir ein.“

Sie befreite sich erneut, ich setzte mich ebenfalls auf.

„Wir kennen uns doch eigentl-“

„Deswegen ja“, griff ich nach ihrer Hand. „Ich will dich endlich kennenlernen. Ich möchte wissen, wie deine morgendlichen Rituale aussehen.“ Ich strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Was du tust, wenn du dich unbeobachtet fühlst und ob du beim Saubermachen durch die Wohnung tanzt. Ich möchte soviel von dir erfahren, aber so wie es jetzt ist, funktioniert es nicht.“

„Du kannst doch nicht einfach von mir verlangen alles aufzugeben. Was ist denn, wenn es nicht klappt, wenn wir uns nach ein paar Wochen auf dem Wecker fallen und du mich am liebsten zum Teufel schicken möchtest?“

Ich spürte den Widerstand gegen meine Finger. Am liebsten wäre sie wie eine Furie durch den Raum gestiefelt.

„Wer sagt, dass du irgendetwas aufgeben musst?“

„Und meine Wohnung?“

„Behalt sie.“

„Aber…“

„Was aber? Wenn es nicht klappt, kannst du jederzeit wieder gehen.“

„Trotzdem… ich weiß nicht…“

„Überleg es dir einfach, okay?... Charize?“

„Okay, ich denk drüber nach.“

„Mehr verlange ich doch gar nicht.“
 

~ * ~
 

Zwei Wochen später zog sie bei uns ein.

Zu Anfang fand sie es schrecklich in dem großen Haus alleine zu sein, wenn Kevin und ich auswärts spielten, doch wie Frauen anscheinend sind, fand sie schnell eine sinnvolle Beschäftigung; Mit ihrer Freundin Tamy nahm sie sich unserer kleinen Abstellkammer an. Na ja, klein war da ein wenig das falsche Wort. Es war ein riesiger Raum, für den wir bis dato einfach keine Verwendung gehabt hatten und alles, was wir gerade nicht brauchten, dort hinein stellten.

Die Frauen machten in wochenlanger Arbeit ein riesiges Arbeitszimmer daraus. Ein gigantisches Regal beinhaltete hunderte von Büchern, welche Charize in der Ausführung ihres Berufes helfen sollten und gelegentlich empfing sie sogar Klienten dort. Uns sollte es recht sein, außer fürs Internet brauchte ich den Raum nicht und Kevin trug eh seinen Laptop andauern durch das ganze Haus.

Was unser Zusammensein betraf, so fuhren wir eine ziemlich steile Kurve aufwärts. Natürlich hatte ich auch ein klein wenig Panik vor unangenehmen Dingen gehabt, welche sich aus so einem Zusammenleben entwickeln konnten, aber bei uns lief alles einwandfrei. Der festsitzende Druck war endlich verschwunden. Wir konnten uns ganz auf uns konzentrieren, uns endlich richtig kennenlernen. Ich war glücklich, eigentlich wie noch nie in meinem Leben zuvor. Es war einfach unglaublich schön, meine Liebe jedem und überall, zeigen zu können. Sich nicht mehr verstecken, endlich ein ganz normales Leben führen zu können, nicht mehr daran denken zu müssen, was wäre, wenn man entdeckt werden würde…
 

„Das ist ja schön….“

„Was denn?“ Ich wickelte mir das Handtuch um die Hüfte, trat von hinten an sie heran. Kurz hatte ich das Bedürfnis zurückzuweichen, lehnte meinen Kopf dann aber doch gegen ihre Schulter und schaute auf ihr Handgelenk hinunter.

„Kannst du dich noch erinnern, als ich über die Bilder von Rick gestolpert bin und du meintest, Vergangenes sollte Vergangenes bleiben?“

„Ja.“

„Genauso ist es hierbei.“

Es war ziemlich selten geworden, dass mich irgendetwas in diese Zeit zurück warf oder Träume mich einholten. Es war Vergangenheit, nicht mehr von Bedeutung. Es war nicht wichtig und spielte für mein jetziges Leben keine Rolle. Von meiner Seite aus das einzige Geheimnis, welches zwischen uns stand. Doch war es als dieses garantiert am Besten aufbewahrt… ein Geheimnis, das auch für alle Zeit eines bleiben sollte.

„Schön ist es trotzdem.“

„Ich habe es selber anfertigen lassen.“

Ich konnte mich noch genau erinnern, wie der Mann und sein Geschäft ausgesehen hatten.

„Und was steht da?“

„Watashi no Sekai, das bedeutet: Meine Welt.“

„Sie muss dir viel-“

„Vergangenheit, ok?… Du findest das Armband schön?“

„Ja.“

„Willst du es?“

„Das geht do-“

„Warum nicht? Wozu soll es in dieser Schublade rumliegen, wenn es doch an dem schönsten Handgelenk der ganzen Welt erstrahlen könnte?“

„Süßholzraspler!“

„Ich spreche nur die Wahrheit aus. Also… wenn du es willst, dann gehe ich morgen zum Juwelier und lass einen anderen, einen ganz für dich persönlichen Anhänger dafür machen und dann bekommst du es, einverstanden.“

„Wirklich sicher?“

„Gaaaaaaanz sicher. Ich liebe dich“, drehte ich sie um. „Und nichts kann mich davon abhalten, dich glücklich zu machen.“
 

~ * ~
 

Geheimnisse sind so eine Sache. Man denkt immer, dass man einen wirklich guten Grund hat, aus einer Wahrheit ein Geheimnis zu machen, doch denke ich, versuchen wir uns in erster Linie nur selber zu schützen.

Mein ganz persönliches Geheimnis zwang ich auch anderen auf. Nicht nur Kevin musste mein, unser Geheimnis für sich behalten, auch andere bat ich um diesen Gefallen.

Daryl und Carol-Ann kamen uns ziemlich oft besuchen und wir besuchten sie ziemlich oft, wenn wir gerade in Boston oder New York Spiele hatten. Hier blieb der Kontakt zu Charize nicht aus und zu Anfang war ich ziemlich nervös, ob nicht irgendwie mal ein kleiner Ausrutscher vorkommen würde, nur eine Kleinigkeit, welche aber schon alles verraten könnte. Doch die anfängliche Sorge verschwand ziemlich schnell. Irgendwie war das Thema Schwul schon lange kein wirkliches mehr gewesen, was sich nun als ziemlich praktisch erwies.

Daryl war schon ein wenig verwundert gewesen, dass ich nun mit einer Frau zusammen war, Carol-Ann lächelte nur.

All die Jahre über waren die Beiden zusammen geblieben. Nicht einmal hatte ich mitbekommen, dass sie sich stritten. Sie waren mein Vorbild-Pärchen Nummer Eins.

Aber nicht nur dass das Thema Streit anscheinend nicht zu ihnen gehörte, auch sah man nach sieben Jahren immer noch genau, wie sehr sie sich liebten. Jeder einzelne Blick war weich und liebevoll, niemals konnte man zwischen ihnen Sorge oder Ärger erkennen. Wie sie dies schafften, war mir ehrlich gesagt ein Rätsel und ein Patentrezept schienen sie selber dafür nicht geben zu können. Zwei ziemlich starke Charaktere, beide mit ihrem eigenen Dickkopf und trotzdem schafften sie das, wovon ich immer geträumt hatte.

Doch langsam durfte ich mir eingestehen, dass ich meinem Traum mittlerweile näher gekommen war… ziemlich nahe sogar.
 

Wenn alles im Leben gut läuft, fragt man sich nicht, warum das Leben für einen gerade so verlaufen ist, warum alles so gekommen ist… Warum gerade bei mir?

Man hinterfragt sein Leben nur, wenn man nicht gerade auf der Sonnenseite steht. Doch warum ist dies so?

Haben wir wirklich so viel Angst davor, dass sich alles zum Negativen ändert, sobald wir diese Frage stellen, den Gedanken daran, nur zu Ende gedacht haben?

Es gibt große und kleine Schicksalsschläge im Leben und das verrückte ist, dass wir sie in große und kleine unterscheiden. Denn wenn uns ein großer Schicksalsschlag trifft, wir zum Beispiel der Verlust eines geliebten Menschen, könnte neben uns die Welt untergehen, ohne das wir etwas davon mitbekommen würden.

Ist es aber nicht auch wichtig sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, welche Wege man gegangen ist, welche Mauern man durchbrochen hat, damit dieses Glück, welches man jetzt hat, nicht als Selbstverständlichkeit hingenommen wird?

Es gibt viele Lehren, die ich aus meinem bisherigen Leben ziehen musste;

Dass mit einem wirklich guten Freund an seiner Seite vieles einfacher ist!

Dass man auch nachdem man alles verloren hat, wieder neu anfangen kann!

Dass es mehr als nur eine Art gibt zu lieben!

Dass Freundschaft und Liebe ziemlich nahe beieinander liegen!

Dass das Leben weiter geht, sobald der Schmerz erst einmal nachgelassen hat!

Alles was ich mir gewünscht habe, ist in Erfüllung gegangen. Ich lebe in den USA, habe meinen besten Freund um mich und habe den Beruf, welchen ich mir immer gewünscht habe. Ein großes Haus, das super Einkommen eines Profispielers und eine Frau an meiner Seite, die ich über alles liebe. Könnte ich mir noch etwas anderes wünschen?

Nein… doch, wenn ich ehrlich bin, gibt es da noch etwas…
 

~ * ~
 

Leicht drehe ich mich vom Fenster weg.

„Hey, ich habe dich gar nicht bemerkt.“

„Gut geschlafen?“

„Es ging… sollen wir los oder willst du noch was essen?“

„Wir können los.“

Ich folge Kevin aus der Küche hinaus, greife nach meinem Koffer. Ein bekanntes Geräusch lässt mich aufhorchen.

„Hörst du? Das Baby ist wach.“

„Die Mama wird sich schon drum kümmern“, werde ich durch die Tür geschoben und befreie als nächstes das Auto aus der Garage.

„Ich denke, ich werde mich von Marc trennen“, wird lässig in den kleinen Raum geworfen.

„Das tut mir leid“, trete ich leicht aufs Gaspedal.
 

Part 55 - Ende
 

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Info::

Das Lied „You and me“ ist übrigens von Lifehouse.
 

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~ Baseballgage

~ Baseballsaison

~ Gary Danko

~ San Francisco
 

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Part 56

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Kida (by Stiffy)
 

„Du gehst schon nach Hause?“

„Was heißt schon?“ Ich werfe einen Blick auf die Uhr, die mir verrät, dass es nicht viel früher ist als die letzten Tage.

„Hast du etwa ne Verabredung?“

Ich zucke mit den Schultern, sehe mich noch mal zu Shawn um, der breit grinst und mich dazu bringt, die Augen zu rollen. Er mit seinen ständigen Frauengeschichten kann sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass ich heute mal froh wäre, wenn niemand nach der Arbeit auf mich warten würde.

„Na, dann wünsch ich dir viel Spaß!“

„Danke, dir auch.“

„Den werd ich haben, Sydney kommt mich heut besuchen...“ Ein anzüglicher Gesichtsausdruck, der genau meine vorherige Annahme unterstreicht.

„Freut mich für dich. Bis Montag!“

Ich steige in den nun endlich angekommenen Fahrstuhl, drücke den Knopf, der mich zur Tiefgarage bringen soll. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Spiegelwand und schließe die Augen, nehme nur nebenbei wahr, wie schon nach einem Stockwerk der Fahrstuhl wieder hält, irgendwer hinein tritt.

Ich habe das Gefühl, auf der Stelle umfallen und einschlafen zu können. Wie schön es doch wäre, heute Abend mal einfach meine Ruhe zu haben... Aber nein, ich musste ja unbedingt zu ihm sagen, dass er auf mich warten kann. Hätte ich mich vielleicht doch besser auf die Diskussion einlassen sollen, die sich eh wieder um das leidige Thema dreht... Oh, wie mich das langsam nervt, ich sollte echt-

„Hey Kida!“, werde ich sanft am Arm berührt. Erschrocken fahre ich auf.

„Ah, hallo Rachel“, begrüße ich die junge Frau, die mich freundlich anlächelt, ihren Blick dann zu entschuldigend wandelt.

„Habe ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht!“

„Nein, schon in Ordnung“, lächle ich, lehne mich dann wieder zurück an die Wand. „Wie geht es dir?“

„Gut!“ Direkt strahlt sie wieder. „Joshua kommt heute endlich wieder nach Hause! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lang einem zwei Wochen vorkommen können.“

„Das glaub ich gern.“

„Und bei dir? Dir scheint es nicht so gut zu gehen.“

„Was heißt nicht gut gehen, ich bin einfach nur geschafft...“

„Das ist alles? Du wirkst so nachdenklich, das hab ich heut Mittag schon gedacht, als ich dich gesehen habe.“

„Sag bloß man merkt mir das an?“

„Du kennst mich doch, ich seh so was sofort.“ Sie zwinkert mir zu, während der Fahrstuhl zum Stillstand kommt und wir hinaus in die kühle Tiefgarage treten. „Hast du Heimweh?“

Ich schüttle den Kopf, sehe mich dann suchend nach meinem Auto um. Wo habe ich heute früh noch mal geparkt?

„Ist wirklich nichts bestimmtes, mach dir keine Gedanken“, lächle ich sie an. In den paar Wochen, die ich sie nun kenne, habe ich gelernt, dass sie nämlich genau so ein Mensch ist.

„Nein?“

„Ach Quatsch!“ Mich wieder erinnernd, wo ich heute Morgen mit der heißen Tasse Kaffee, die mich wachrütteln sollte, langgelaufen bin, deute ich in eine Richtung. „Ich steht da.“

„Okay. Ich wünsch dir noch einen schönen Abend.“

„Dir auch! Und grüß Joshua von mir!“

„Mach ich! Ach warte mal.“

„Hm?“ Ich bleibe stehen, drehe mich noch mal zu ihr um.

„Willst du am Sonntagmittag zum Essen kommen? Ich wollte Cioppino machen.“

„Hört sich interessant an. Ich komme gerne!“
 

Endlich im Auto sitzend, atme ich erst einmal tief durch.

Ob man mir wirklich ansieht, dass mir im Moment so viele Sachen durch den Kopf gehen? Dabei kann ich selbst nicht genau benennen, was es eigentlich ist.

Heimweh? Nicht wirklich... vielleicht ein wenig...

Liebeskummer? Eher das falsche Wort...

Die Arbeit? Nein, nur was einen bestimmten Punkt angeht...

Und ansonsten? Ich weiß es nicht direkt. Eigentlich denke ich im Moment über so vieles nach...
 

Ich starte den Wagen und fahre aus der Tiefgarage hinaus. Noch immer ist es helligster Tag und die Sonne strahlt mir entgegen. Komisch eigentlich, dass es immer dann, wenn einem schlechtes Wetter wirklich gefallen würde, nur Sonnenschein pur gibt.

Und schon wieder eine vollkommen dämliche Sache, über die man nachdenken kann...

Aber ist es nicht so? Nur in Filmen gibt es bei den traurigen, dramatischen Szenen Regen... während ich das Gefühl habe, dass mich in meinem Leben fast immer die Sonne zum Lachen bringen wollte, wenn mir nicht danach war... und der Regen zum Weinen, wenn ich einfach nur glücklich sein wollte.
 

~ * ~
 

Nach Jahren ist es aber wohl schwer, sich überhaupt an solche Dinge zu erinnern. Und dennoch kann ich mit Gewissheit sagen, dass in dem Sommer nach der Trennung von Sakuya außergewöhnlich oft die Sonne von einem wolkenlosen Himmel herab schien.

Es passte nicht wirklich zu meiner Stimmung... und dennoch hätte wahrscheinlich nichts passender sein können. Denn so kam es oft vor, dass ich mich mit Eiji, Sachiko oder einigen anderen von der Uni traf, zum Lernen oder einfach nur um Spaß zu haben. Durch die Sonne hatte man viel mehr Lust auf Unternehmungen, was mir Ablenkung verschaffte, die ich vielleicht nicht bewusst benötigte, die aber dennoch mehr als gut für mich war.

Denn natürlich dachte ich noch immer sehr viel an Sakuya. Zwar hatte ich seine Nummer gelöscht und so einen kleinen Schlussstrich für mich gezogen, aber sofort, von einer Sekunde auf die andere hilft das natürlich nichts. Kleine Dinge tauchten immer wieder in meinem Kopf auf, selten Gedanken daran, wie es ihm wohl gerade erging, kleine Fetzen, die einfach so vor meinen Augen auftauchten... oder vergangene Worte, die ich in meinem Kopf hörte. Es waren Gedanken, die schmerzten, selbst wenn ich sie nicht immer wirklich realisierte sondern einfach gerade nur irgendetwas tat, das mich an ihn erinnerte.

Ich redete mit niemandem darüber außer mit Tatsuya, und selbst bei ihm vermied ich das Thema wenn es ging. Es brachte mir einfach nichts mehr, darüber zu sprechen oder bewusst darüber nachzudenken.

Und so, ganz langsam, begann es wirklich Vergangenheit zu werden... und ich schaffte es, mir nicht nur vorzunehmen, weiter zu gehen, sondern es auch zu tun. Natürlich, selbst heute noch erinnere ich mich an so manche Kleinigkeit, doch wenn ich an sie denke, ist es mit jedem Mal mehr verblasst und es kommt kein wehleidiges Gefühl mehr in mir auf.

Ich kann nicht sagen, wann genau es war, dass ich aufgehört habe, ständig daran zu denken oder davon zu träumen. Ich denke irgendwann hört so etwas einfach auf.

Und ja, ich würde sagen mir half ein wunderschöner Sommer dabei.
 

Nicht in jenem Sommer sondern erst im Januar des folgenden Jahres war es, dass ich Rie kennenlernte und mit ihm noch mehr Schritte vorwärts ging. Mit ihm hatte ich zum ersten Mal wieder Sex und es tat mir gut, die Nähe eines anderen Menschen zu spüren, nicht jede Nacht allein zu sein.

Am Anfang empfand ich nichts als bloße Zuneigung für ihn. Er war nett, liebevoll und gab mir Kraft, doch die Liebe brauchte eine ganze Weile. Ich merkte es schließlich daran, dass ich irgendwann begann, nicht nur die körperliche Nähe, sondern auch ihn selbst zu vermissen, dass ich mich danach sehnte, ihm wieder in die Augen blicken zu können. Erst als ich dieses langsam begriff, stellte ich ihn meiner Mutter vor, ließ es zu, dass er auch bei mir übernachtete und ich mich nicht immer nur in seiner Wohnung versteckte.

Rie brachte mich dazu, dem Schwulenviertel Shinjuku ni-chome eine Chance zu geben. Ich hatte zuvor nie wirklich daran gedacht, dorthin zu gehen. Was es mir gebracht hätte, war klar, aber das wollte ich nicht, ich wollte nicht irgendwelche One-Nights-Stands. Mit Rie nun besuchte ich einige Bars und Shops, lernte neue Leute kennen, wenn auch nie wirkliche Freundschaften daraus wurden, und zudem tat es irgendwie gut, sich in dieser Gegend nicht ganz so verstecken zu müssen.
 

Verstecken war ohnehin ein leidiges Thema... oder ist es immer noch. Während meiner gesamten Unizeit erfuhren nur zwei Personen was für ein Leben ich führe. Dies geschah ein halbes Jahr, nachdem ich mit Rie zusammengekommen war. Er holte mich an jenem Tag von der Uni ab und weil es so ein schöner Tag war und ich mich gerade danach fühlte, stellte ich ihn Eiji und Sachiko als meinen festen Freund vor. Sie reagierten überraschend positiv darauf und fortan war es ebenso wenig ein Thema wie es zuvor gewesen war, nur dass ich vor ihnen nicht immer Ausreden erfinden musste, was ich denn so vorhatte.
 

Was die Uni ansonsten anging, so begann ich während meines zweiten Jahres langsam ein Gefühl dafür zu bekommen, was ich eigentlich werden wollte. Mathematik machte mir zwar noch immer riesigen Spaß, doch ich konnte mir nicht vorstellen, mein Leben lang nur von Formeln umgeben zu sein. Und da mir Informatik wohl noch um Längen besser lag, war die Wahl eigentlich gar nicht mehr so schwierig. Programmieren, Computerprobleme lösen, neue Soft- und Hardware entwickeln... Irgendwo da sah ich mich, irgendwo da wollte ich hin.

Dass ich für diesen Bereich vor allem auch sehr gute Englischkenntnisse benötigte, war ein kleiner, bitterer Beigeschmack, doch es galt ihn zu überwinden, da ich mir durch so etwas nicht den Weg versperren lassen wollte. So belegte ich zu Anfang meines zweiten Jahres einen Englischkurs zusammen mit Eiji. Zudem lernte ich mit Rie, wenn er Zeit hatte und kaufte mir ein Lernprogramm für den PC, das aber so dämlich war, dass es schnell wieder deinstalliert wurde.

Keine Ahnung was nun am Ende half, doch nichtsdestotrotz wurde ich langsam immer besser, verstand wo meine Schwächen lagen und versuchte sie auszumerzen. Tatsächlich war ich irgendwann von mir selbst überrascht, wie leicht es mir plötzlich fiel, Texte zu verstehen, ihren Sinn wiederzugeben, oder eigene Texte in Englisch zu verfassen.
 

Natürlich war Englisch nicht der einzige Punkt in meinem Studium, der schwer zu bewältigen war. Für das ein oder andere Fach schlug ich mir Nächte um die Ohren, verbrachte Stunden in der Bibliothek oder saß vor dem Computer, bis mir die Augen fast von alleine zufielen.

Mit jedem Semester hatte ich das Gefühl, mehr Arbeit und weniger Freizeit zu haben, da eine Aufgabe die andere ablöste, ein Projekt nach dem anderen auf mich zukam.

Ich begann Rie, der aus Leib und Seeler Verkäufer war und Tatsuya, der mittlerweile die Uni abgeschlossen hatte und als Elektroingenieur arbeitete, zu beneiden. Sie hatten Arbeitszeiten, an die man sich im Großen und Ganzen halten konnte, mussten nicht ständig lernen und eine Klausur nach der anderen schreiben. Ich wünschte mir, arbeiten gehen zu können, da ich vom Lernen langsam wirklich die Schnauze voll hatte und viel lieber mehr praktische Sachen getan hätte.

Komischerweise war dies ein Punkt über den Rie und ich uns mit fortschreitender Zeit immer häufiger stritten. Ohnehin krachte es ständig bei uns, wenn er gestresst von der Arbeit und ich gestresst von der Uni gemeinsam auf dem Sofa nach Entspannung suchten und prompt in den nächsten Streit hineinspazierten. Immer wieder artete es darin aus, dass wir uns förmlich an die Gurgel gingen. Zwar hatten wir dadurch meist den besten Sex, doch auch das schaffte es natürlich nicht, unsere Beziehung letztendlich zu retten.

Irgendeiner dieser Konflikte war es schließlich, der die wahrscheinlich unvermeidbare Trennung endgültig machte. Ich packte die meisten Sachen, die ich in den vergangenen eineinhalb Jahren zu ihm gebracht hatte, zusammen, verließ seine Wohnung und warf mich in meinem zu der Zeit wenig bewohnten Kinderzimmer heulend aufs Bett. Dies geschah im späten Sommer meines dritten Unijahres und ich meine mich zu erinnern, dass auch an jenem Tag die Sonne ganz grässlich auf Tokyo hinunter schien.
 

In den nächsten Monaten dachte ich nicht mal im Traum daran, mir wieder eine Beziehung zu suchen. Ich ging weder nach Shinjuku noch ging ich auf die Einladungen ein, von Leuten, die ich in den vergangenen Monaten – meist durch Rie - dort kennengelernt hatte. Ich wollte sie nicht sehen, wollte Rie nicht begegnen... ich hatte die Schnauze einfach gestrichen voll.

Dies änderte sich erst wieder, als die Tage kürzer und die Nächte länger geworden waren. Ich überwand mich und machte mich auf nach Shinjuku, wo ich zuvor noch nie ohne Rie gewesen war.

Als hätte ich zuviel an den Teufel gedacht, stand er natürlich auch direkt an jenem Abend vor mir. Vielleicht lag es daran, dass ich mich mit einem unserer Freunde traf, dass Rie ausgerechnet im richtigen Moment in derselben Bar auftauchte. Es war ein ziemlich stockendes Gespräch, welches wir führten, in dem es schwer fiel, einander anzusehen, denn irgendwie war uns wohl beiden klar, dass der Zauber zwischen uns verflogen war. Wir verabschiedeten uns nur flüchtig und sahen uns nie wieder, da er, wie er beim Abschied beiläufig erwähnte, eine Stelle in Osaka angenommen hatte.
 

In den nächsten Monaten hatte ich nur zwei kurzweilige Beziehungen, wenn sie es überhaupt würdig waren, so genannt zu werden. Die meisten Abende, die ich in Shinjuku verbrachte, ging ich alleine nach Hause, was mir wiederum auch irgendwie recht war, da der Unistress anhielt und ich ohnehin nicht allzu viel Zeit gehabt hätte, eine Beziehung zu pflegen.

An einem solchen Abend lernte ich Yamada kennen... und erst als ich ihn fast eine Woche später erneut traf, flog der Funke über. Alles andere hingegen ging mir ihm ganz schnell und einfach, und so zog ich nach nicht ganz einem halben Jahr mit ihm zusammen, was aber wohl vor allem daran lag, dass ich langsam von Zuhause weg wollte.

Ich erkannte schnell, dass ich damit eine gute Entscheidung getroffen hatte. Bereits in den ersten Wochen merkte ich, wie gut es mir tat, endlich diese Selbständigkeit erreicht zu haben, wie es mich entspannte, nicht mehr zwischen zwei Orten hin und her pendeln zu müssen, weil ich ihn sehen wollte. Zudem war es schön, mit Yamada zusammenzuleben. Wir verstanden uns prächtig, gingen uns selten auf die Nerven und lebten ein wunderbares Leben, über ein ganzes Jahr lang, zusammen in derselben Wohnung.

Das einzige, was dazu vielleicht nicht ganz passte, waren unsere Gefühle. Wir begehrten uns, aber wir liebten uns nicht. Zwar hatten wir Sex, doch unabhängig davon tauschten wir selten Zärtlichkeiten aus. Dafür redeten wir eine Menge, auch über persönliche Dinge, halfen uns bei Problemen und wussten genau, was der andere mochte und verabscheute.
 

Ein paar Monate nachdem ich mit Yamada zusammengezogen war, schloss ich die Uni ab. Ich hatte mich die letzten Wochen fast nur noch mit dem Lernen beschäftigt und war froh, dies nun endlich ein für alle Mal hinter mir gelassen zu haben.

Mein Abschluss war vielleicht nicht der Beste, aber er war gut, weshalb ich mir große Chancen ausrechnete, bei einer guten Firma genommen zu werden. Dennoch wurde es Juni, bis ich endlich eine Zusage bekam, im Entwicklungsbereich von Toshiba. Es war eine meiner ersten Bewerbungen gewesen, die ich noch vor meinem Abschluss losgeschickt hatte, doch wirklich mit einer Zusage hatte ich nicht mehr gerechnet, nicht zuletzt weil ich so lange nichts von ihnen gehört hatte. Umso begeisterter war ich letztendlich, da es fast genau der Bereich war, in dem ich arbeiten wollte... und kaum mit der Arbeit angefangen, begann ich ziemlich schnell, meinen Job zu lieben.
 

Man kann sagen ich genoss mein Leben zu dieser Zeit in vollen Zügen, denn ich war unabhängig und gleichzeitig nicht vollkommen allein. Ich hatte einen guten Job gefunden, hatte Freiheit und dennoch eine Person, die auf mich wartete, mir Körperlichkeiten schenkte. Ich glaubte, ich könnte ewig so weiter machen, als ich eines Tages nach Hause kam und einen riesigen Koffer im Flur vorfand.

Es warf mein Leben durcheinander, in dem Moment, als ich durch die Tür trat, denn erst dieser Koffer offenbarte mir Dinge, die ich bis dahin nicht bemerkt hatte.

Im Wohnzimmer wartete Yamada auf mich und als ich mich mit dem Gefühl, jeden Augenblick losheulen zu können, zu ihm setzte, lächelte er und fragte mich, ob ich mich an diesen Kurs erinnerte, den er Wochen zuvor gemacht hatte. Er sei ein Zeichen für ihn gewesen, eine Botschaft, der er nachgehen musste. Ihm wäre gezeigt worden, dass er sein Leben so nicht weiterführen könne, also habe er seinen Job gekündigt und einen Flug nach Europa gebucht. Ob ich umziehen oder die Miete fortan alleine bezahlen wollte, fragte er mich, während ich mit Traurigkeit kämpfte und ihn gleichzeitig sowohl verfluchte als auch für verrückt erklärte. Auf meine Frage antwortete er nur: „Ich will mich selbst finden.“

Ich war wie vor den Kopf gestoßen, saß ich doch von einem Tag auf den anderen plötzlich allein in unser gemeinsamen Wohnung, in der er fast all seine Möbel gelassen hatte und es so war, als wäre er gar nicht verschwunden.

Zwei Wochen hielt ich es dort aus, dann verkaufte ich den größten Teil der Sachen und zog in eine kleine Zweizimmerwohnung – alleine. Ich war schwer getroffen von dem Verlust, denn erst mit dem Koffer hatte ich gemerkt, wie sehr ich Yamada geliebt hatte.
 

~ * ~
 

Seit jener Zeit sind mehr als zwei Jahre vergangen. Ich habe in dieser Zeit keine Beziehung mehr geführt, die länger hielt als ein paar Monate, denn irgendwie traf ich niemanden, mit dem ich zusammenbleiben oder der mit mir zusammenbleiben wollte. Ich fragte mich des Öfteren woran dies wohl lag, doch eine Antwort bekam ich eigentlich nie, egal wie oft ich doch über die Liebe nachdachte.
 

Ein weiterer Punkt, über den ich zu der Zeit oft nachdachte, war Freundschaft.

Es heißt, manche Personen begleiten einen nur einen bestimmten Lebensabschnitt lang... ist das wirklich so? Muss man sich dafür bereit machen, viele geschlossene Freundschaften irgendwann wieder zu verlieren? Etwa so wie die zu denen aus der Uni? Oder aus dem Chowa Don?... Oder gar wie die zu Sanae?

Wann immer ich auch heute noch an sie zurückdenke, macht es mich traurig. Seit frühster Kindheit waren wir ein Herz und eine Seele, waren ein unzertrennliches Gespann... und dennoch ging es kaputt. Und seitdem? Wie oft habe ich sie in den vergangenen Jahren mit ihr gesprochen? Fünf, vielleicht sechs Mal? Ich weiß, dass sie Kyo geheiratet hat, ich weiß, dass sie nun zusammen an der japanischen Westküste leben und beide einen guten Job gefunden haben... aber was weiß ich sonst? Nichts, gar nichts verbindet mich mehr mit ihr...

Und Akito? Von ihm habe ich nie wieder etwas gehört... ebenso wenig von Ami.

Personen für einen bestimmten Zeitabschnitt?

Ist das nicht irgendwie deprimierend?
 

Wenn ich so darüber nachdenke, gibt es nur wenige, mit denen ich über einen langen Zeitraum in Kontakt geblieben bin...

So ist Eiji zum Beispiel der Einzige, bei dem die Freundschaft unsere gemeinsame Unizeit überdauert hat. Einige andere lernte ich kennen, lernte ich mögen, doch diese Kontakte verschwanden ebenso wie das Versprechen, sich bald wieder zu melden. Selbst von Sachiko höre ich nichts mehr. Ein halbes Jahr nach Abschluss der Uni, trennten Eiji und sie sich. Er meinte, sie beide verbände einfach nichts mehr, sie meinte, er liebe sie nicht mehr...

Eiji hat mittlerweile eine neue Freundin gefunden, mit der er zusammen lebt. Wir reden zwar nicht oft miteinander, da uns der Alltag zu sehr auf Trab hält, aber ab und an schreiben wir eMails oder telefonieren – es reicht um es zumindest ansatzweise eine Freundschaft nennen zu können.
 

Von meiner Zeit im Chowa Don ist mir nur Naoki geblieben, wobei man auch erwähnen muss, dass er der Einzige meiner Kollegen war, mit dem ich mich wirklich angefreundet hatte. Kurz vor mir hörte er auf, im Chowa Don zu arbeiten, da er beschlossen hatte, sich selbstständig zu machen. Er bot mir sogar an, mich mitzunehmen, doch ich lehnte ab. Noch knapp drei Monate dauerte mein Studium zu diesem Zeitpunkt und ich hoffte darauf, direkt danach eine richtige Arbeit zu finden. Außerdem mochte ich das Chowa Don; Ich mochte die Arbeitsatmosphäre und ich mochte meine Kollegen. Mittlerweile seit fast vier Jahren dort arbeitend, hatte ich meinen eigenen Bereich bekommen und bereitete kleinere Gerichte zu. Natürlich war es irgendwie komisch, nicht dann und wann die Person neben sich zu haben, mit der man sich seit Anfang an gut verstanden hatte, mit der man viel gelacht hatte, doch auch daran gewöhnt man sich wohl ziemlich schnell...

Dass Naoki und ich heute noch Kontakt haben, liegt daran, dass er ganz in der Nähe von Toshiba Japan arbeitet. Ab und an ging ich nach der Arbeit dort essen, machte meist dann einen kleinen Abstecher zu ihm in die Küche und wir redeten über dies und jenes... Dennoch würde ich nicht sagen, dass wir eine wirkliche Freundschaft miteinander pflegten, er ist eher ein sehr guter Bekannter geblieben... und wie es in ein paar Monaten sein wird, steht eh noch in den Sternen.
 

Es entwickelte sich so, wie man es sich vielleicht hätte denken können, dass ich schlussendlich mit Tatsuya am meisten Kontakt behielt, die Freundschaft mit ihm bis zum heutigen Tage etwas geblieben ist, das wohl nicht so einfach enden wird – zumindest hoffe ich das.

Natürlich, es gab Phasen in den vergangenen Jahren, in denen wir nicht regelmäßig etwas voneinander hörten, aber irgendwie schafften wir es dennoch immer, den Kontakt wieder neu zu schaffen, uns wieder zu treffen und schließlich unsere Freundschaft beizubehalten.
 

Wenn es um Tatsuya geht, kommt unweigerlich auch irgendwie Sai hinzu.

Natürlich fiel es mir auf, wie eng die Freundschaft zwischen den beiden wurde, war sie doch auch der Grund, weshalb ich begann, mich mit Sai immer besser zu verstehen. Er war immer eher still gewesen und ich hatte in seiner Gegenwart lange ein Gefühl der Unsicherheit behalten, doch irgendwann merkte ich, dass er eigentlich ein Mensch war, mit dem man stundenlang über den größten Scheiß reden konnte.

Auch spürte ich immer deutlicher, dass die beiden etwas anderes verband, als Tatsuya und mich, doch eigentlich fragte ich mich nie ernsthaft, was es wohl war. Sie waren einfach so: vollkommen vertraut, unerschütterlich, etwas spezielles...

Dass es etwas anderes, viel Normaleres war, das ich dort erlebte, lernte ich erst vor ungefähr drei Jahren. An jenem Abend war ich bei Tatsuya zu Besuch und wir redeten über alltägliches, als es klingelte und ein vollkommen zerzaust wirkender Sai in der Tür stand. Ich sah ihre Umarmung, beobachtete ihren Kuss, als habe ich noch nie zuvor einen gesehen, und wusste plötzlich ganz genau was es war, das sie beide so anders wirken ließ.

Ich verabschiedete mich mit einem verwirrten Lächeln von ihnen, da mir irgendwie klar war, dass ich sie alleine lassen musste, dass irgendwas vorgefallen war, was sie unter vier Augen besprechen mussten. Auf dem Heimweg schüttelte ich immer wieder innerlich den Kopf und fragte mich, wieso ich bloß zu blind gewesen war, um zu merken, was genau hinter dieser besonderen Art der Freundschaft gesteckt hatte. Und wieso hatte Tatsuya es mir nie erzählt?
 

Im Allgemeinen kann ich sagen, dass ich durch all die zerbrochenen und noch bestehenden Beziehungen und Freundschaften eine Menge begriffen habe; Nicht immer ist alles so, wie es scheint, die unerschütterlichsten Dinge können einfach so zerbrechen, Personen, die man mag, kann man im nächsten Moment aus den Augen verlieren... und noch vieles mehr.

Eigentlich ist es ziemlich traurig, wenn man so darüber nachdenkt, aber ich glaube, mit solchen Dingen findet man sich ab, denn es ist wohl ganz normal so, der Lauf des Lebens... und so wird man auch immer wieder neue Leute kennenlernen, Freundschaften schließen, Beziehungen beginnen... denn wer weiß schon, was davon für die Ewigkeit gedacht ist und was nicht...
 

~ * ~
 

Was mich angeht, so habe ich in den letzten drei Monaten eine Menge neue Leute kennengelernt, aufgrund einer großen, beruflichen Veränderung.

Diese begann damit, dass ich vor ungefähr einem halben Jahr in das Büro meines Chefs gebeten wurde. Es war ein verregneter Tag, was ich daher weiß, da mir in seinem Büro als erstes die Wassermassen auffielen, die an der Fensterscheibe hinter meinem Chef hinunterflossen.

Was ich mitgeteilt bekam, war, dass Toshiba Amerika für ein Jahr eine Art Mitarbeitertausch mit unserer Filiale vornehmen wollte. Ob ich daran interessiert wäre, war die Frage, die mir gestellt wurde. Überrascht sah ich ihn an, analysierte förmlich seine Worte in meinem Kopf. Amerika... Längst hatte das Wort seinen Beigeschmack verloren und so spürte ich das Interesse in mir wachsen, zusammen mit einigen Zweifeln, die mir ebenso durch den Kopf schossen.

„Sie brauchen sich nicht sofort entscheiden...“, lächelte mein Chef mich an, als ich nicht antwortete, und erklärte mir dann, dass ich 48 Stunden Bedenkzeit hatte.
 

Nach der Arbeit fuhr ich nicht nach Hause sondern zu Tatsuya, wo ich allerdings zunächst nur auf Sai traf, da Tatsuya unter der Dusche stand. Er war somit der erste, der von dem Angebot erfuhr und im Gegensatz zu mir schien er sofort Feuer und Flamme zu sein.

„Natürlich machst du das!“, rief er fast euphorisch. „Weißt du eigentlich was das bedeutet?“

Natürlich wusste ich das, doch es ließ mich dennoch keine Luftsprünge machen. Was war mit meiner Wohnung... mit meinen Freunden? Außerdem... Amerika... Ich wollte nie wirklich nach Amerika, nie so weit weg.

Sai lächelte verständnisvoll, als ich ihm meine Bedenken mitteilte, doch ebenso versuchte er auch sofort, sie aus der Welt zu schaffen.

„Das ist DIE Chance!“, meinte er und ich höre jetzt noch, wie er die Worte betonte.
 

An jenem Abend dachte ich noch sehr lange darüber nach, ließ mir Sais und Tatsuyas spätere Worte durch den Kopf gehen... Ich wälzte mich durchs Internet, selbst wenn ich nicht wirklich wusste, wonach ich eigentlich suchte. Was hätte mir schon bei meiner Entscheidung helfen können? Es kam so plötzlich, unvorbereitet...

Ein ganzes Jahr!

Und dennoch, noch bevor ich an jenem Abend ins Bett ging, hatte ich eine Entscheidung getroffen. Was mein letzter Anstoß war, weiß ich nicht so genau... vielleicht sagte ich mir einfach nur, dass ich meinen Schweinehund endlich mal überwinden müsste. Klar, ich war noch nie ein Mensch, der große Veränderungen liebte, aber manchmal können sie doch auch was gutes bedeuten... oder etwas sehr Interessantes, was ein Jahr Ausland garantiert bieten würde.
 

Wie dem auch sei, bereits am Dienstagmorgen teilte ich meinem Chef mit, dass ich mich für Amerika entschieden hatte. Doch kaum hatte ich diese Entscheidung getroffen, wurde ich auch schon vor die nächste gestellt.

„Sie haben Glück, dass Sie sich so schnell entschieden haben. So können Sie noch wählen... wollen Sie nach Boston oder-“

Seine weiteren Worte hörte ich gar nicht mehr, hatte ich doch das Gefühl, vor eine Wand gerannt zu sein. Gleichzeitig verfluchte ich mich selbst, dass mir das nicht schon früher eingefallen war: fast grundsätzlich fand ein solche Mitarbeitertausch nur mit den beiden Hauptsitzen des amerikanischen Toshibas statt... und einer davon lag am Rande Bostons.

Ich war sprachlos. Wirklich, für ein paar Sekunden war mein Kopf vollkommen leer... und danach dachte ich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder an Sakuya.

Dieselbe Stadt... irgendwie war das ein merkwürdig beunruhigender Gedanke, auch wenn es eigentlich doch gar nichts bedeutete.

Mein Chef riss mich aus meinen Gedanken heraus.

„Das... ist mir relativ egal...“, sagte ich schließlich stockend. „Aber... naja... die Westküste soll schöner sein, nicht wahr?“

Ich lachte gezwungen, er erwiderte es und sagte dann dass ich das wohl selbst entscheiden müsse. Ich nickte und ärgerte mich innerlich, dass ich nicht 100% rational an die Sache ranging, dass der Name „Boston“ noch immer irgendwie anders klang...

Und so, vielleicht weil ein Fetzen Erinnerungen geblieben war, vielleicht weil ich wusste, dass es komisch sein würde, in einer Stadt mit meiner ersten großen Liebe zu leben, vielleicht oder wahrscheinlich genau aus den Gründen entschied ich mich für South San Francisco.
 

~ * ~
 

Die meisten meiner Sorgen, die ich mit dem Jahr Amerika verband, waren, wie sich herausgestellt hat, vollkommen überflüssig... vor allem die mit meiner Wohnung.

Bereits am Tag meiner Entscheidung wurde mir erklärt, dass sich darum Toshiba kümmern würde. Es gab da irgendwelche Klauseln, die mir erlaubten, diesen befristeten Betriebswechsel zu machen und die in Japan anfallende Miete auf Kosten der Firma laufen zu lassen. So werde ich nach dem Jahr einfach wieder zurückziehen können.

Ebenso einfach wäre es auch gewesen, eine Bleibe in Amerika zu bekommen, doch hier war nun ich es, der die Sache komplizierte.

Ich studierte die zwei Prospekte, die mir in die Hand gedrückt worden waren, doch ich hatte einfach ein unglaublich schlechtes Gefühl bei der Sache. Sollte ich wirklich in Gebäude ziehen, in denen auch einige meiner zukünftigen Arbeitskollegen ein- und ausgingen... war das wirklich das Richtige? Würde ich so nicht ständig mit der Angst leben, entdeckt zu werden?

Lange, viel zu lange dachte ich über diese Sache nach, obwohl mir doch von Anfang an klar gewesen war, wie meine Entscheidung aussehen würde: Es ging nicht, ich konnte mir nicht ein Jahr lang das letzte bisschen Freiheit rauben lassen, dass ich überhaupt noch besaß.

So lehnte ich das Angebot, eine vergünstigte Wohnung gestellt zu bekommen, ab... und verbrachte das gesamte Wochenende damit, etwas anderes zu finden. Nicht zu weit weg von der Arbeit sollte es sein, aber auch nicht zu nah dran... eine Stelle, wo ich keine Angst haben müsste, ständig von vermeintlichen Kollegen umgeben zu sein.

Das Appartement-Gebäude, für welches ich mich schließlich entschied, lag dennoch weiter weg, als ich es mir ursprünglich vorgestellt hatte. Fast zehn Kilometer würde ich so jeden Tag fahren müssen... und zudem war es durch die nördlichere Lage auch noch um einiges teurer als das Toshiba-Angebot... aber dennoch, was tut man nicht alles für ein kleines Stück schwule Freiheit?
 

~ * ~
 

Zusammen mit mir flogen noch sechs weitere Mitarbeiter nach Amerika, vier davon nach Boston, zwei mit mir nach San Francisco. Leider gehörte Yuuto, der im Flugzeug neben mir saß, einem anderen Bereich als ich an, weshalb wir uns weder bisher kannten, noch in Zukunft viel miteinander zu tun haben würden. Dennoch unterhielten wir uns während des Fluges eigentlich recht gut. Er meinte, dass er schon immer mal nach Amerika gewollte hatte, und nun froh war, diese Chance bekommen zu haben... Komischerweise konnte ich seine Vorfreude nicht wirklich teilen, denn noch immer verfolgte mich die Sorge daran, wie es wohl sein würde: ein ganzes Jahr in einem fremden Land.

Was den Flug ansonsten anging, so muss man wirklich sagen, dass es eine ganz eigene Sache für sich war. Nie hatte ich es mir so schrecklich vorgestellt, knapp neuneinhalb Stunden lang in einem Flieger sitzen zu müssen. Zwar schlief ich einen Teil davon oder unterhielt mich mit Yuuto, doch die meiste Zeit war ich wach und untätig, starrte aus dem Fenster auf die Wolkenberge, welche mich zu Anfang noch faszinierten, schließlich aber nur noch langweilten, ebenso wie das endlos weite Meer, das sie irgendwann ablöste.

Ein paar Mal holten mich Gedanken an vergangene Flugzeugabstürze ein, von denen man immer mal wieder hörte... und ich stellte mir vor, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn das Flugzeug einen Sturzflug anträte... Zum Glück schaffte ich aber es immer recht schnell, solche Gedanken zu verdrängen und lieber über meine bevorstehende Zeit in Amerika nachzudenken...
 

Und dann war ich da: in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
 

Heute, nach mehr als drei Monate, muss ich sagen, dass ich es sehr schnell geschafft habe, mich in diesem fremden Land einzuleben... und das hätte ich wirklich nicht gedacht.

Natürlich, hier ist alles irgendwie anders, von Geschäften über das Essen bis hin zu meinem Appartement, aber es hat nichts vollkommen falsches oder außergewöhnliches an sich, weshalb ich es nicht mögen könnte.

Auch an meine neue Arbeitsstelle habe ich mich ziemlich schnell gewöhnt. Meine Kollegen sind alle durchweg sehr freundlich, wenngleich man auch deutlich merkt, dass man sich nicht unter Japanern sondern unter Amerikanern befindet. Hier geht irgendwie alles viel lockerer und gelassener zu, was wohl der Punkt ist, an den ich mich am schwersten gewöhnen kann.

Ein anderer, irgendwie gewöhnungsbedürftiger Punkt war, dass ich ein Zweimannbüro bekam, wie jeder Mitarbeiter der Entwicklungsabteilung. Aus Japan kannte ich so etwas nicht und irgendwie war ich mir auch nicht sicher, ob ich es mögen sollte oder nicht. Ich war es gewohnt, von Stimmen und Geklapper umgeben zu sein, eng an eng mit den anderen zu arbeiten und sich ab und zu auszutauschen. In meinem neuen Büro nun war es mit nur einer weiteren Person ungewöhnlich still, ein irritierendes Gefühl.
 

Alles in Allem würde ich sagen, dass ich letztendlich eine gute Entscheidung getroffen habe, nach Amerika zu gehen. Es bringt so viel Neues mit sich, so viele interessante Kleinigkeiten, wie allein schon der Umgang mit der ganz anderen Art von Leben. Wahrscheinlich war es sogar die beste Entscheidung, die ich seit langem getroffen habe...
 

~ * ~
 

Eine andere Entscheidung, die ich in den letzten Monaten getroffen habe, bereitet mir da schon mehr Kopfzerbrechen... und zwar die bezüglich der Beziehung, in der ich aktuell stecke. Eigentlich habe ich nie vorgehabt, mir in Amerika jemanden zu suchen und wenn, dann dachte ich an kurze, unkomplizierte Zusammenkünfte, nichts wirklich festes, da immerhin Japan wieder auf mich wartet. Aber letztendlich kommt es wohl doch immer ein wenig anders als man denkt und schon steckt man in einer Sache, aus der man nur mit Mühe wieder rauskommen wird...
 

Das erste Mal traf ich ihn an meinem dritten Tag in Amerika. Er wurde mir als vertretender Hausmeister vorgestellt, oder als „Mädchen für alles“, wie er sich selbst augenzwinkernd nannte und dabei eine komische Art von einem Knicks vollführte.

Ich bedankte mich und nahm meine Hand aus seiner, als er sie endlich losließ, sah dann wieder den Kerl von der Rezeption an, der ihm mir als Alec Manson vorgestellt hatte, doch der verabschiedete sich nun von mir.

Keine dreißig Sekunde später war ich alleine mit Alec, der mich noch immer anlächelte, dabei fast fixierte, während mein Blick zu seinen Haaren glitt, die ich als erstes an ihm bemerkt hatte. Ich frage mich heute noch, wie man seinen Haaren so etwas antun kann.

Vielleicht sah ich in dem Moment zu lange hin, denn sein Grinsen wurde nur noch breiter.

Schnell nickte ich ihm noch einmal zu und setzte mich dann in Bewegung, doch so einfach wurde ich ihn nicht los. Er gesellte sich zu mir in den Aufzug, meinte grinsend, dass er ja meine Etage wisse und drückte zwei Tasten.

„Was bringt Sie nach San Francisco?“, fragte er dann.

Ich zuckte zusammen aufgrund des unerwarteten Gespräches und sah ihn an, was mich nur noch mehr überraschte.

„Ich arbeite hier“, brachte ich nur mühsam hervor.

„Wo hier?“

Der Fahrstuhl hielt an. 4. Etage, ich stieg aus und blieb ihm die Antwort schuldig, da er stehen blieb. Die Tür schloss sich und ich starrte sie ungläubig an, aufgrund des eindeutigen Blickes, der in seinen Augen gelegen hatte. Und dann auch noch dieses affektierte Winken...

Waren alle Amerikaner so offensichtlich?
 

Bereits am nächsten Abend wurde ich schon wieder mit ihm konfrontiert und zwar als er mir die Post entgegen streckte. Verdattert über seine Anwesenheit starrte ich einige Sekunden auf den Brief in seiner Hand.

„Toshiba?“, fragte er und sah mir dabei schon wieder ganz tief in die Augen.

Meiner Antwort folgte die Frage, ob ich dann Japaner sei. Wieder beantwortete ich sie mit einem schlichten „Ja“.

Es lag eigentlich noch nicht mal an ihm, dass ich so kurz angebunden war an jenem Abend. Ich hatte einfach keine Lust auf Smalltalk, war doch gerade erst mein zweiter Arbeitstag zu Ende gegangen. Ich wollte mich einfach nur noch aufs Sofa hauen und über die neue Situation nachdenken.

Er allerdings schien das nicht zu bemerken, lehnte sich stattdessen in meinen Türrahmen, wobei er den Arm in die Seite legte und den Rücken merkwürdig einbog. Sollte es entzückend wirken?

Wie mein Arbeitstag war, wollte er wissen, fragte mir danach noch weitere Löcher in den Bauch, die ich nur kurz und knapp beantwortete. Was wollte er hören? Und wieso versuchte er mich in ein Gespräch zu verwickeln? War er nicht nur da, um die Post zu verteilen? Zumindest wirkte der Kasten am Boden so.

„Sie sind nicht sehr gesprächig, was?“, lächelte er mich schließlich an und sein Blick schien mich durchbohren zu wollen... unangenehm.

„Es kommt drauf an.“

„Auf was?“

„Ob ich mich mit den Leuten unterhalten will oder nicht.“

Sein Grinsen wurde noch breiter und selbst jetzt noch machte er keine Anstalten zu gehen. Dabei hatte ich mich soeben noch gefragt, ob meine Aussage vielleicht eine Spur zu unfreundlich gewesen war.

„War das eine Abfuhr?“, fragte er dann und legte den Kopf etwas schief.

„Möglich.“ Noch direkter und unhöflicher wollte ich dann doch nicht mehr werden. Ich drehte den Brief in meinen Händen, warf einen demonstrativen Blick auf die Uhr. Langsam verärgerte er mich wirklich...

„Schade.“ Er schwang sich aus meinem Türrahmen zurück. „Aber Sie haben wohl Recht, ich sollte weiter machen...“ Er deutete beiläufig auf die Kiste. „Ich hoffe, du gewöhnst dich schnell an mich... Du gefällst mir, Kida.“

Ich war schockiert, ließ mit einer schnellen Bewegung die Tür ins Schloss fallen und zuckte selbst unter ihrem lauten Knallen zusammen.

Was war das denn jetzt bitte? So direkte Worte, einfach so... nein, so etwas hatte ich tatsächlich noch nie erlebt, oder zumindest erinnerte ich mich nicht mehr daran... und dann auch noch diese persönliche Ansprache! Wie konnte er es wagen mich einfach so bei meinem Vornamen zu nennen?!

Aus einem unerfindlichen Grund war ich ziemlich aufgebracht darüber.
 

Tags drauf begegnete ich Alec auf dem Weg ins Erdgeschoss und sofort bereute ich es, nicht die Treppe genommen zu haben, ein bisschen Sport würde mir zudem auch gut tun!

Er grüßte mich fröhlich und strich sich dabei ein paar feuchte Haare aus dem Gesicht. „Wie geht es dir?“

Ich zuckte mit den Schultern, noch viel zu müde, um mich auf ein Gespräch einzulassen, das ich nicht führen wollte. Seine Augen fixierten mich und ich wandte den Blick ab, konnte irgendwie nicht mit ansehen, wie er mit seinen Haaren spielte, sie durch seine spritzen Finger gleiten ließ.

Ob ich auf dem Weg zur Arbeit sei, wollte er wissen, und ich konnte es bei einem „Ja“ belassen, da der Aufzug im Erdgeschoss angekommen war.

„Kida! Warte mal!“

Bereits an der Eingangstüre des Gebäudes blieb ich wieder stehen, unangenehm berührt, wütend. Ich fuhr herum, wollte die Person, die mit schnellen Schritten auf mich zukam, gerade anschnauzen, er solle aufhören, mich so zu nennen, als er schon bei mir angekommen war und ich seine Hand an meinen spürte, zusammen mit einem Regenschirm, den er mir hineindrückte. Sprachlos sah ich ihn an, vergaß, was ich zuvor hatte sagen wollen.

„Bitte“, lächelte er und drückte meine Hand mit seiner, bevor er sich dann von mir entfernte. Sein Blick sagte mir, dass er wirklich hoffte, dass ich ihn nun nicht ablehnen würde.

Ich sah auf den knallpinken Schirm mit den gelben Blumen hinab, nickte schließlich und versuchte mir ein Lächeln abzuringen.
 

Ich benutzte den Schirm nicht, sondern ging durch den strömenden Regen zu meinem Auto und spürte Alecs Blick auf meinem Rücken. Wieso ich das tat? Ich habe keine Ahnung. Um Distanz zu wahren vielleicht...

Als ich bei der Arbeit ankam, wo mir eine rote Ampel verriet, dass die Tiefgarage verständlicherweise bereits voll war, ließ ich den Schirm im Kofferraum liegen und wurde lieber noch etwas nässer bei den paar Schritten ins Gebäude... denn mit einem solchen Schirm konnte ich mich unmöglich hier zeigen!

Ich beschloss, mir so bald wie möglich einen eigenen zu kaufen.
 

Der nächste Tag war ein grauer Samstag, an dem ich nur bis Mittags arbeiten musste. Wieder Zuhause hatte ich mir gerade Anzugjacke und -hose ausgezogen, um es mir einfach nur vor dem Fernseher gemütlich zu machen, als es an der Tür klingelte. Schnell schlüpfte ich zurück in meine Hose und öffnete. Fast aus Reflex heraus hätte ich sie sofort wieder zugeschlagen, denn da stand eine leuchtende Figur vor mir, die mich angrinste. Das Orangegelb seines Shirts stach fast in meinen Augen, erst recht zusammen mit der grünen Hose. Auch sein Gesicht strahlte wie eh und je, als er mich nach meinem Vormittag fragte und mich dann, ohne noch lang darum herum zu reden, zum Mittagessen einlud.

Fast war ich ein wenig froh, dass ich schon in der Firmenkantine gegessen hatte, und so lehnte ich ab... woraufhin sich sein Lächeln gleich ein wenig trübte. Aber wahrscheinlich wäre er nicht er, wenn er nicht sofort nach dem Abendessen gefragt hätte.

Wie hartnäckig er ist!, fuhr es mir durch den Kopf, doch sympathischer machte es ihn nicht, eher im Gegenteil. Mich schreckte diese Hartnäckigkeit nur immer mehr ab, gerade bei einer solchen Person. Irgendwas in mir verbot mir jegliche Gedanken daran, diesen Kerl überhaupt irgendwie nett zu finden oder es in Betracht zu ziehen, etwas mit ihm zu machen. Nein, eigentlich wusste ich genau, woran das lag...

Ich log ihn an und er wirkte noch deprimierter, stieß sich weniger elegant von meinem Türrahmen weg und ließ die Arme sinken.

„Vielleicht ein anderes Mal?“

„Vielleicht.“ Ich nickte, selbst wenn ich ihm eigentlich keine Hoffnungen machen wollte.

Damit drehte Alec sich um und ich schloss die Tür. Doch in der nächsten Sekunde stach mir der knallige Regenschirm in die Augen, den ich am Abend zuvor mit hochgenommen hatte, da ich nicht genau wusste, wo ich ihn abgeben sollte. Ich griff danach und riss die Tür wieder auf.

Alec, der gerade am Fahrstuhl angekommen war, drehte sich um, als ich nach ihm rief. Auf seinem Gesicht erschien ein Strahlen, es währte allerdings nur Millisekunden, da er sofort den Schirm entdeckte. Ich übergab ihn ihm und verschwand dann wieder in der Wohnung, ließ ihn mit einem deutlich enttäuschten Gesichtsausdruck zurück.
 

~ * ~
 

In den darauf folgenden Tagen kam es jedes Mal zu mindestens einem Aufeinandertreffen mit Alec, manchmal auch so zufällig, dass es mir schon wieder komisch vorkam... So achtete ich schon richtig darauf, ob ich ihn in der Eingangshalle sah, doch nirgends war auch nur eine Strähne seiner verrückten Haare zu erkennen. Und dennoch suchte er mich kurz darauf in meinem Appartement heim, immer wieder, ob er nun Post für mich hatte oder nicht.

Mein negatives Gefühl ihm gegenüber veränderte sich in dieser Zeit nicht. Tatsächlich ging es mir Tag für Tag mehr auf die Nerven, dass er ständig meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen versuchte, denn ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Er war nett, daran bestand kein Zweifel, ebenso wenig wie daran, dass seine Nettigkeit zumindest mir Gegenüber spezielle Motive hatte... und eben das machte es so schwierig. Schon seit unserem ersten Treffen war klar gewesen, dass er ein Mensch war, der keine Anstalten machte, sein Schwulsein zu verbergen. Er war offen schwul und stolz drauf... auf eine Art, wie ich es aus Japan nicht kannte. Und er musste noch nicht einmal darüber reden, man merkte es ihm einfach an. Seine Bewegungen waren weich, seine Hände verspielt und sein Lächeln viel zu oft zu strahlend... Das alles gefiel mir nicht, ich ertrug es nicht so leicht.

Und genau deshalb hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich damit umgehen sollte.
 

Eigentlich hatte ich irgendwie das Gefühl, dass es immer so weitergehen würde, dass er wahrscheinlich auch bald das Interesse verlieren würde und ich dann endlich meine Ruhe bekäme... aber letztendlich kommen immer so viele Sachen anders als man denkt.
 

Es war der Freitag meiner dritten Amerikawoche, an dem ich müde von der Arbeit kam und mich auf einen friedlichen Abend freute, als die Fahrstuhltüre sich öffnete. Ich weiß nicht mehr genau, was ich in dem Moment dachte, nur, dass ich tatsächlich das Bedürfnis hatte, umzukehren. Natürlich tat ich das nicht, trat nach einer winzigen Schrecksekunde heraus und zog nun seinen Blick auf mich. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht und zeigte noch viel deutlicher, dass er tatsächlich auf mich gewartet hatte. Was machte er hier?

Eben diese Frage stellte ich ihm auch sofort, als ich bei ihm angekommen war, und erhielt darauf einen verlegenen Blick, sowie die Erklärung, dass er seinen Schlüsselbund in seinem Appartement gelassen hatte. Ob es keinen Universalschlüssel gäbe, wollte ich wissen und er nickte.

„Schon, aber davon hab einen ich an meinem Schlüsselbund und den anderen nimmt Joe immer mit nach Hause... wegen nächtlichen Überfällen und so...“ So oder so ähnlich waren seine Worte, als er mich noch ein wenig verlegener ansah.

Ich brauchte gar nicht fragen, was er denn vorhatte, das machte seine Anwesenheit nur zu deutlich, doch so einfach ließ ich ihn nicht in meine Wohnung kommen.

„Dann ruf Joe an!“, meinte ich stattdessen, woraufhin ich nur die ernüchternde Auskunft bekam, dass er kein Handy dabeihabe. Ich rang mit mir, hatte eigentlich überhaupt keine Lust, ihn hineinzulassen, doch schließlich tat ich es – ich war doch kein Unmensch.

Alec strahlte und in meinem Appartement sah er sich neugierig um, obwohl er das Innere doch eigentlich kennen musste, waren alle Möbel doch schon vorher hier gewesen.

„Das Telefon steht um die Ecke“, deutete ich ihm den Weg und ging selbst erstmal ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen.

Ich hörte Alec telefonieren und fragte mich, ob das tatsächlich alles so war, wie er es hinstellte. Was wenn das alles nur als Vorwand diente?

Ich ging zurück ins Wohnzimmer als Alec aufgelegt hatte und sah ihn fragend an. Erst in etwas mehr als einer Stunde würde Joe hier sein können, war die Auskunft, die ich erhielt. Sofort spürte ich ein unsäglich komisches Gefühl im Magen und hatten keinen blassen Schimmer, was ich eigentlich mit ihm reden sollte. Daher fragte ich ihn, ob er was essen wolle – dies war ohnehin eines der ersten Dinge, die ich auch alleine jetzt getan hätte.

Alec stimmte begeistert zu und folgte mir in die Küche, schwang sich auf die Küchenzeile und sah mir von dort dabei zu, wie ich uns etwas zubereitete. Ich fühlte mich komisch unter seinen Blicken, vor allem, da wir nicht redeten. Wann immer ich ihn getroffen hatte, war er nur am Reden gewesen... nun so still mit ihm hier zu sein, in meinem eigenen Territorium machte die Sache unangenehm.
 

Erst beim Essen begann sich langsam, ein Gespräch zu entwickeln, als er mir mehrere Fragen über die Arbeit stellte, danach über Japan... und dann musste er nicht mehr fragen, ganz von alleine begann ich zu erzählen, ein richtiges Gespräch mit ihm zu führen. Ich muss zugeben, dass ich bis dahin nicht wirklich geglaubt hatte, dass es möglich war. Er kam mir überdreht vor, nicht erwachsen genug, um sich länger ganz normal zu unterhalten, ohne ständig irgendwelche Witze einzuwerfen, doch es ging, sehr gut sogar – zumindest an jenem Abend.

Irgendwann wurden wir durch ein Klingeln unterbrochen. Ich stand als erstes auf, ging zur Tür und öffnete Joe, der mir sofort den Schlüssel entgegenstreckte und dann an mir vorbeistierte.

„Mach das nie wieder!“, grummelte er und gähnte. „Das nächste Mal fahr ich nicht noch mal extra her!“

„Werds mir merken...“, meinte Alec hinter mir verlegen während ich den Schlüssel entgegennahm.

Joe verschwand so schnell wie er gekommen war und Alec und ich waren wieder allein. Ich gab ihm den Schlüssel und wir sahen uns an... sein Gesicht strahlte mit einem Mal überhaupt nicht mehr.

„Hast du... was dagegen... wenn ich noch etwas bleibe?“, fragte er schließlich anstatt weiter von einem aufs andere Bein zu treten... und tatsächlich brauchte ich nur knappe zwei Bedenksekunden um zu nicken. Ich weiß nicht was passiert war, aber ich weiß, dass ein Teil meiner Abneigung gegen ihn, das Gefühl, genervt zu sein, von mir abgefallen war und ich seine Gesellschaft gerne noch etwas länger ertrug.
 

Letztendlich muss ich sagen, dass ich den Abend richtig genoss. Erst gegen Mitternacht war es, dass das Gespräch langsam abflaute und ich mir ein Gähnen nicht mehr verkneifen konnte. Alec nahm mir die Entscheidung ab, stand auf und erklärte, nun in sein Appartement zu gehen.

An der Türe von meinem blieb er allerdings mit der Klinke in der Hand stehen, sah mich mit einem Blick an, den ich bis Dato noch nicht kannte.

„Es war schön“, flüsterte er schon fast und wurde sogar ein wenig rot, zumindest glaube ich das. „Magst du...“, sprach er auch sofort weiter, „...morgen vielleicht was mit mir machen? Wir könnten nach Japantown, wenn du da noch nicht warst...“

„War ich schon“, erwiderte ich ehrlich.

„Oh... Ich könnte dir aber auch noch ein paar andere schöne Ecken zeigen... nur wenn du magst...“

„Gerne.“

Tatsächlich stimmte ich zu, ohne mir weitere Gedanken darüber zu machen. Erst als er kurz darauf verschwunden war und ich allein in meinem Bett lag, fragte ich mich, was mich bloß geritten hatte. Niemals hätte ich gedacht, dass ich es auch nur ein paar Minuten mit Alec im selben Raum aushalten würde, geschweige denn, dass ich vorhatte, etwas mit ihm zu unternehmen.
 

Am nächsten Morgen dachte ich nur kurz darüber nach, abzusagen, doch dann entschied ich mich dagegen. Immerhin war es zuvor ein wirklich schöner Abend gewesen.

So also verbrachten wir den gesamten Tag in San Francisco und als wir am Abend in meinem Appartement ankamen, taten uns die Füße höllisch weh. Dennoch lachte Alec und brachte auch mich dazu, während wir uns im Wohnzimmer niederließen und froh waren, endlich von unserem Schuhwerk befreit zu sein.

„Komm her!“, meinte Alec schließlich nach einigen Minuten und zog meine Füße zu sich heran.

Ich war schockiert. Ich hatte seine Offenheit kennengelernt... aber ging das nicht ein wenig zu weit?

„Lass das, die stinken doch!“, wollte ich mich zurückziehen, doch er ließ es nicht zu, hielt mich fest, während mir die Schamesröte ins Gesicht stieg.

„Ach Quatsch, das stört mich nicht und außerdem ist es gar nicht so schlimm!“

Er zog mir die Socken aus, während ich die Röte in meinem Gesicht immer noch spürte, dennoch wehrte ich mich nicht mehr.

Alec begann erst ein wenig, dann immer stärker meine Füße zu massieren, und während sich die ersten Sekunden ein wenig unangenehm anfühlten, so wurde es schnell zu einem wirklich erholsamen Gefühl. Ich lehnte mich im Sessel zurück und beobachtete die Finger, wie sie elegant meine Füße berührten. Mein Blick wanderte jedoch schnell weiter und ich sah in sein Gesicht, verlor mich in seinem Blick, der die eigene Tätigkeit genau verfolgte. Mit einem Mal fühlte ich mich unglaublich von Alec angezogen.

Als könnte er meine Gedanken hören, blickte er hoch und sah, dass ich ihn beobachtete. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, dann senkte er diese und küsste meinen linken Fußrücken.

In diesem Moment schwappte mein Verlangen über, das ich zuvor gar nicht so direkt wahrgenommen hatte.

Fast stolperte ich bei meinem Versuch, auf die Beine zu kommen, doch halb auf Alec liegend, war mein Knie, das ich mir dabei am Tisch stieß, auch schon wieder vollkommen egal. Ich drückte ihn in die Polster und verschloss seine überraschten Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss.

Alec keuchte auf, als wir uns wieder voneinander lösten, dann entwich ihm ein „Wow“. Dies verursachte, dass ich ihn nur nochmals küssen wollte.

Unsere Küsse wurden schnell heftiger, ich versuchte Alec zu umarmen, wobei wir vom Sofa fielen und ich mich erneut irgendwo stieß. Nun am Boden zog ich ihm das Hemd aus, küsste seinen Hals und von dort an ein wenig weiter hinunter...

Ich hatte ein ungeheures Verlangen mit einem Mal. Wie lange hatte ich bloß mit niemandem mehr geschlafen?

Wir wälzten uns am Boden herum, stießen die Vase vom Tisch hinunter, holten uns noch weitere blaue Flecke ein und stöhnten so laut, dass ich mich frage, ob es von draußen wohl zu hören war. In dem Moment war es mir gleich. Mit jeder Sekunde wollte ich Alec mehr und so kotzte mich sogar die Prozedur des Kondomüberstreifens unglaublich an, da mir jede Sekunde, in der ich nicht über ihn herfallen konnte, viel zu lang vorkam.

Als es dann soweit war, bebte Alecs Körper unter mir, seine Schulternmuskeln spielten ein verführerisches Spiel und ich konnte nicht anders, als ihn wieder und wieder überall zu küssen und zu berühren, dabei seinen Körper an mir zu halten und stöhnend zusammen mit ihm zum Höhepunkt zu kommen.
 

Minuten vergingen bis ich es schaffte, mich zu erheben. Ich zog Alec mit mir hinauf auf das Sofa und dort kuschelte er sich in meine Arme. Er küsste meinen Hals, fuhr mir über die Brust und flüsterte es mir zum ersten Mal ins Ohr: „Ich liebe dich.“

Mir stockte der Atem. Ich musste mich fast dazu zwingen, meine Arme jetzt nicht zurückzuziehen... und ich erwiderte nichts.
 

~ * ~
 

All dies liegt nun etwas mehr als zwei Monate zurück... zwei Monate, die ich nun schon mit Alec zusammen bin... und wenn man denken könnte, dass ich in dieser Zeit eine glückliche Beziehung führte, so kann ich nur sagen, dass dies leider nicht der Fall war.

Die ersten zwei, vielleicht auch drei Wochen waren wirklich schön. Ich merkte, wie sehr ich es genoss ihn zu küssen und zu berühren... doch hielt dies Gefühl viel, viel kürzer an, als ich eigentlich gedacht hatte. Bereits einen Monat, nachdem wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten, stritten wir uns mehr als miteinander im Bett zu sein.
 

Es gibt viele Punkte, über die wir uns uneinig sind, und zudem stören uns Kleinigkeiten an dem anderen, über die wir ständig in Konflikt geraten.

So gefällt es Alec zum Beispiel nicht, dass ich nach der Arbeit nicht immer sofort nach Hause komme, sondern manchmal etwas mit Kollegen mache, etwas trinken oder essen gehe. Besonders auf Timothy ist er eifersüchtig, obwohl er ihn noch nicht einmal kennt und ich ihm immer wieder versichere, dass Timothy nur auf Frauen steht. Alec jedoch glaubt mir nicht, beschwert sich jedes Mal, dass ich erst so spät zurück komme... und noch mehr darüber, dass ich Timothy nicht mal mitbringe, damit er ihn kennenlernen kann. Natürlich gibt es einen ganz einfachen Grund, weshalb ich dies nicht tue, doch den will Alec nicht verstehen... womit auch der vielleicht größte Streitpunkt benannt ist.
 

Eigentlich habe ich ja von Anfang an gewusst, dass ich jemanden kennengelernt habe, der sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, sein Schwulsein zu verstecken, und dennoch war ich schockiert, als Alec zum ersten Mal in der Öffentlichkeit meine Hand nehmen wollte.

Ich kannte so etwas nicht. Mit all meinen Beziehungen hatte ich ein Leben im Verborgenen geführt, ihnen nie mehr als eine flüchtige Berührung gegönnt, wenn wir in der Öffentlichkeit waren. Es ging nicht anders, ich konnte nicht mehr zulassen. Egal wo ich mich befand, hatte mich das Gefühl verfolgt, beobachtet zu werden, eingeholt... hatte ich Augen von Kollegen auf mir ruhen gespürt, wenn ich auch nur eine Sekunde zu lang meine Begleitung ansah. Es war ein ständiges Versteckspiel, das ich über Jahre super beherrschte... und nun versuchte Alec, mit dem ich noch nicht mal einen Monat zusammen war, neue Regeln aufzustellen.

Bis heute lasse ich es nicht zu. Es interessiert mich dabei nicht, dass wir hier in Amerika sind und nicht in Japan, dies macht keinen Unterschied, nicht für mich. Egal wo, wenn mein Chef Wind davon bekommt, war es das wahrscheinlich mit meiner Stelle. Klar, ich bin ein guter Mitarbeiter, aber ich bin nun mal nicht gerade unersetzbar, weshalb er wohl auch keine Sekunde lang zögern würde, mich hochkant rauszuwerfen.

Mit diesem Gedanken immer im Hinterkopf habe ich über Jahre gelernt, das Spiel richtig zu spielen. Man lernt mit der Zeit, auf was man achten muss, wie man auf Fragen nach dem Schema „Und? Wann heiraten Sie? Gibt es schon eine potentielle Frau Takahama?“ reagieren muss; Einfach lächeln dann... lächelnd und locker bleiben bei der Antwort, am besten einen Scherz bringen, oder eine Lüge, dass man am Abend noch verabredet sei... und dann auf Empfängen oder Weihnachtsfeiern jemanden mitbringen, der einem die Freundin spielt.

Die vielen Male, die ich versucht habe, Alec diesen Standpunkt zu erklären, fragte er immer wieder, ob ich mich nicht scheiße dabei fühle... Sei es nicht so, als würde man sich in ein Kostüm quetschen, das drei Nummern zu klein ist? Natürlich ist es so und in mir drin hasse ich es auch, hasse ich es wie die Pest... aber was habe ich schon für eine Wahl? Ich habe nie einen anderen Ausweg gesehen, als dieses Spiel der Gesellschaft mitzuspielen und so zu tun, als könne ich mir nichts anderes vorstellen, als irgendwann einmal Frau und Kinder zuhause sitzen zu haben.

Alec muss an diesem Spiel teilnehmen, ich zwinge es ihm regelrecht auf, weshalb er wieder und wieder rebelliert.
 

Worüber wir uns noch streiten? Kleinigkeiten nur, Dinge, die ich erst bemerkte, als ich viel zu schnell meine rosarote Brille absetzte, die ich vielleicht nie getragen habe. Plötzlich begannen mich Angewohnheiten von ihm zu stören, die ich am Anfang niedlich gefunden hatte... Eine davon ist, dass er ständig mit immer neuen Spritznamen aufwartet, mit denen er mich auch viel zu oft in der Öffentlichkeit ruft... Ich hasse es, dieses ständige Sweety, Honey, Darling, Princess, Chéri oder am aller schlimmsten sein amerikanisiertes Koibito – wobei ich keine Ahnung habe, wo er das her hat.

Auch noch winzigere Kleinigkeiten beginnen mich in letzter Zeit zu stören, so zum Beispiel das Abspreizen seines kleinen Fingers beim Trinken oder der Tick, sobald man irgendwo sitzt, die Beine auf unglaublich feminine Weise übereinander zu schlagen. Außerdem ist er extrem unordentlich, was mich wieder und wieder zur Weisglut treibt, wenn ich nach Hause komme und mein Appartement noch unordentlicher vorfinde als ich es verlassen habe.

Wahrscheinlich sind all das Dinge, über die man hinwegsehen sollte, doch es geht nicht. Ich könnte mich jedes Mal aufs Neue aufregen, wenn wir einen Film gucken und er pausenlos Kommentare von sich gibt, und manchmal tue ich es auch. Und immer wieder kommt es dann zum Streit... natürlich tut es das. Alec ist eine temperamentvolle Person und er lässt sich ungern Sachen sagen, lässt sich ungern kritisieren. Dennoch kann ich manchmal nicht anders, als es zu tun... und fast jedes Mal ist es die Überleitung zu einer endlosen Diskussion, die ich eigentlich gar nicht führen will.
 

~ * ~
 

Ein paar Tage nach unserem ersten Mal erfuhr ich, dass Alec nur einen befristeten Vertrag hat. Er erzählte es mir kleinlaut und wirkte dabei ziemlich niedergeschlagen. So schlimm wie die Sache sich im ersten Moment anhörte, ist sie allerdings gar nicht. Er würde nicht arbeitslos sein, da er bereits eine neue Stelle hat, welche er Anfang September antreten wird. Das Hotel, in dem er dann arbeitet, liegt mitten im Herzen Oaklands und somit ungefähr 12 Meilen von hier entfernt, auf der anderen Seite der Bay.

„Wir werden uns so wenig sehen können“, stellte er traurig fest und in jenem Moment wurde auch ich von einem solchen Gefühl heimgesucht.

In den nächsten Wochen sprachen wir wenig über diesen Punkt, schwiegen ihn aus, doch seit Ende Juli, als Alec begann, sich eine Wohnung in der Nähe des Hotels zu suchen, werden die Diskussionen um das Thema immer präsenter.

Ganz Feuer und Flamme ist Alec plötzlich von der Idee, mit mir zusammen nach Oakland zu ziehen. Dass es so schön wäre, sich eine Wohnung zu teilen mit einem kleinen Garten, in dem er Gemüse züchten könnte, schwärmt er mir immer wieder vor... und während ich die Vor- und Nachteile dieses Vorschlages abwiege, stelle ich fest, dass eine Seite überwiegt. Alec dies allerdings klar zu machen, führt zu fast noch heftigeren Streits als das ewige Thema der öffentlichen Annäherungen. Er versteht nicht, dass es für mich mehr als unpraktisch ist, jeden Tag bestimmt 20 Meilen zur Arbeit zu fahren, dabei zwei Mal am Tag die überfüllte Bay Bridge zu passieren.

„Weißt du eigentlich, wie lange ich da unterwegs bin?“, argumentiere ich immer wieder und werde wütend, da er es nicht versteht will.

„Aber ich will dich nicht nur am Wochenende sehen!“

„Vielleicht tut uns das aber mal ganz gut...“

„Das ist nicht dein Ernst? Liebst du mich überhaupt?“

An einem Abend vor zwei Wochen stellte er mir zum aller ersten Mal diese Frage, die ich nicht beantworten konnte... und auch nicht wollte. Ich bin mir sicher, dass es keine Liebe ist, die ich für ihn empfinde. Meistens mag ich seine Nähe, aber es stört mich nicht sonderlich, wenn ich sie mal nicht habe. Doch konnte ich das aussprechen? Wohl eher nicht...

„Hör auf mich so unter Druck zu setzen!“, versuchte ich mich zu retten und wurde noch wütender. „Darum geht es nämlich gar nicht!“

„Natürlich tut es das! Wenn du mich lieben würdest, würdest du mitkommen!“

Er begann zu weinen und ich fühlte mich machtlos. Ich stand auf und ging ins Bad. Ich sah seine Tränen vor mir, aber ich konnte sie nicht trocknen, wollte es nicht, denn wenn ich es täte, wäre ich einen Schritt weiter in seine Richtung gegangen, obwohl ich letztendlich nie mit ihm zusammenziehen würde.

Die Arbeit ist doch nicht der einzige Grund dafür. Es gibt so viele Dinge, die dagegen sprechen, nicht zuletzt unsere ständigen Streits, die dadurch wahrscheinlich nur noch öfter werden würden. Und außerdem... es bleiben nur noch etwas mehr als acht Monate. Dann werde ich wieder nach Japan zurückgehen, daran gibt es nichts zu rütteln... Würde ich aber mit ihm zusammenleben, würde ich mich wahrscheinlich schon irgendwann in ihn verlieben... und dann täte ein Abschied uns beiden nur noch viel mehr weh.

Während ich an jenem Abend darüber nachdachte und zum ersten Mal ernsthaft einen anderen Ausweg in Betracht zog, öffnete sich die Tür zur Duschkabine und Alec stieg zu mir hinein. Ich schloss ihn in die Arme und wir schliefen miteinander, während mich die ganze Zeit ein unsäglich schlechtes Gewissen plagte: Ich hatte zum ersten Mal ernsthaft daran gedacht, Schluss zu machen.
 

Ob ich immer noch so denke? Manchmal ja... nein, eigentlich öfter als nur manchmal. Es ist ein trauriger Gedanke, wirklich, da ich nicht gedacht hätte, diese Beziehung so schnell den Bach runtergehen zu sehen. Aufhalten kann ich es allerdings nicht. Ich fühle mich zermürbt, ausgelaugt, sehnend nach Ruhe und Einsamkeit. Dass ich dies fast an keinem Tag bekomme, macht es nur immer schlimmer, auch jetzt wieder...

Es ist schade, dass es so gekommen ist... Aber vielleicht soll es mir zeigen, dass wir nie füreinander bestimmt waren, vielleicht hätten wir nur ein Abenteuer bleiben sollen. Wieso sonst ist es bereits nach zwei Monaten so schwierig geworden, diese Beziehung weiter zu führen? Wieso sonst denke ich seit jenem Tag so oft darüber nach, es einfach zu beenden?
 

~ * ~
 

Ich fahre auf einen freien Parkplatz, bleibe einige Sekunden sitzen und starre hinauf in den blauen Himmel. Noch immer ist kaum eine Wolke zu sehen, und wenn sind es nur weiße Schönwetterwolken. Dabei habe ich das Gefühl, wenn ich jetzt aus dem Auto steige, in Sekunden vollkommen durchnässt zu sein.

Seufzend ziehe ich den Schlüssel aus der Zündung und steige aus.

Den Weg zum Eingang lege ich langsam zurück, mit einem Blick auf die Fenster des vierten Stocks. Zwar ist meines nicht auf dieser Seite, aber trotzdem fühle ich mich, als würde er mich beobachten.

Im Aufzug stehend, werde ich immer lustloser. Ein einfacher Abend vor der Glotze ohne Zwischenkommentare, ohne Geschmuse und ohne Streit... was ich jetzt bloß darum geben würde...

Ich betrete mein Appartement und finde es zu meiner Überraschung leer vor. Auf einem Stapel von Alecs Zeitschriften, die er immer auf dem Wohnzimmertisch liegen lässt, finde ich einen Zettel vor, der mir sagt, dass er nur kurz was einkaufen ist. Seufzend lasse ich den Zettel wieder fallen, gehe ins Schlafzimmer, ziehe mich um. Vielleicht sollte ich einfach schlafen gehen, dann würde er sicherlich nur zu mir ins Bett kriechen und mich in Ruhe lassen. Obwohl, nein, wahrscheinlich würde er sich dann beschweren, weil er sich ja so auf den Abend gefreut hat...

Ich bin ungerecht, nicht wahr? Ich bin überempfindlich und schnell genervt. Ob ich schon immer so war, beziehungsunfähig? Ich glaube nicht, sonst hätten die Beziehungen zu Rie oder Yamada sicherlich nicht so lange gehalten. Liegt es also doch speziell an Alec? Oder daran, dass ich mir von Anfang an vorgenommen habe, keine ernsthafte Beziehung in Amerika zu beginnen?

Wieder im Wohnzimmer lasse ich mich aufs Sofa fallen, zerknülle den Zettel in meiner Hand und greife nach einer der Zeitschriften, irgendein Klatschblatt, in dem etwas über Stars und Sterchen steht. Minuten später landet es wieder auf dem Tisch und eine andere Zeitschrift verrät mir, dass sie ungefähr denselben Inhalt haben wird. Seufzend richte ich mich etwas auf, schiebe eine Zeitschrift nach der anderen vom Stapel herunter, hoffend, wenn auch nicht daran glaubend, irgendwas Interessantes zu finden. Klatsch und Tratsch, Kinonews, Sportmagazine überwiegend über Basketball... Alec liest immer nur solchen Kram, nichts anspruchsvolleres.

Doch im nächsten Moment stockt mir der Atem.

Mit einer schnellen Bewegung setze ich mich hin, ziehe die Ursache meiner Erschütterung an mich heran.

Veränderungen, natürlich, aber dennoch ein so unverkennbares Gesicht wie vor sieben Jahren... die einmalig starken Augen.

Mein Magen dreht sich um sich selbst.

Es handelt sich nicht um eine Verwechslung und auch nicht um einen Traum... Es ist wirklich er... einfach so.

Mit demselben konzentrierten Blick, den ich in Erinnerung habe...
 

Part 56 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Cioppino

~ Koibito

~ Oakland

~ San Francisco Bay

~ San Francisco Bay Bridge

~ San Francisco Japantown

~ Schweißdrüsen

~ Shinjuku ni-chome

~ South San Francisco

~ Toshiba
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

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Part 57

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Sakuya (by littleblaze)
 

Genervt versuche ich mir einen besseren Blick zu verschaffen; Vorwärts, Rückwärts, alles dicht. Kein Durchkommen. Außer Abwarten bis sich das Chaos auf der Straße wieder verzieht, habe ich wohl kaum eine andere Wahl. Gehupe hinter mir, Geschrei von mehreren Seiten. Einige Polizisten versuchen alles wieder zu regeln.

Den Kopf zurück gelegt reibe ich mir über die geschlossenen Augen und den Nacken. Ich möchte nur endlich nach Hause.

Aufs Radio horchend, die Nachrichten, das Ereignis, bei welchem ich eigens involviert bin. Scheiße verdammt, ich hatte eigentlich darauf gehofft, da zu sein bevor Charize das Haus verlässt. Mein Kopf dröhnt, der Nachtflug hat anscheinend nicht die erhoffte Wirkung gehabt.

„Sir?“ Vorsichtiges Klopfen gegen die Scheibe.

„Ja?“

„Sind Sie irgendwie verletzt?“

„Nein, mir geht es gut, Officer.“

Der Blick des Mannes wechselt von Besorgnis zu Überlegung.

„Wann denken Sie geht es endlich weiter?“, greife ich wie selbstverständlich nach meiner Sonnenbrille, versuche vor der Erkennung zu flüchten. Autogramme schreiben, mich über die Saison unterhalten, darauf habe ich jetzt gar keinen Bock.

„Der Abschleppwagen ist schon unterwegs, bitte haben Sie noch etwas Geduld.“ Eine kleine Handbewegung und er macht sich auf den Weg zum nächsten Fahrzeug.

Die Scheibe fährt wieder hinauf, die Klimaanlage erklimmt die nächste Stufe.
 

Viel später erst kann ich meinem Wagen endlich entfliehen. In der Küche allerdings erwartet mich nicht die ersehnte Ruhe.

„Wo ist Amber?“

„Sie ist im Poolhaus, Sir.“

„Schon wieder?“

Die gerade geöffnete Flasche wird lästig wieder abgestellt, die Schadenfreude im Gesicht unserer Haushälterin entgeht mir dabei allerdings nicht. Wahrscheinlich hatte sie nur auf diese Frage gewartet, mit sadistischer Vorfreude darauf gehofft.

„Ich habe ziemlich direkt daran erinnert, was sie davon halten, Mr. Ryan, aber sie wollte wieder einmal nicht hören.“

„Schon gut, Brenda.“ Im Vorbeigehen schnappe ich mir eine gerade geschälte Karotte, durchquere den Garten und betrete, den letzten Bissen runter schlingend, das Poolhaus. Sofort verraten mich meine Schritte auf dem glatten Grund.

„Oh, Sie sind schon wieder zu Hause“, dröhnt die fröhliche, unbekümmerte Stimme durch den ganzen Raum. Mein Blick heftet sich allerdings sofort an das kleine strampelnde Etwas auf dem Boden, einfach abgelegt auf einer Bettdecke. Ich knie vor der Decke nieder.

„Na Süße.“ Das Strampeln beschleunigt sich, ein kleiner glucksender Ton erklingt und sofort ist mein Herz gefesselt.

Den kleinen Körper hochhebend, ziehe ich den Duft von Puder und Baby ein.

„Lassen Sie nur, ich war eh gerade fertig.“

„Es geht nicht darum Ihnen den Spaß zu verderben“, drücke ich den sanften Gesichtsausdruck aus meiner Miene. „…sondern dass Sie den Anweisungen folgen, welche man Ihnen gibt. Wenn Sie arbeiten, von uns bezahlt werden, sollen Sie sich um Amber kümmern und nicht Ihrem Vergnügen nachgehen.“

In letzter Sekunde drehe ich mich weg, höre nur noch wie ihr Körper dem Wasser entsteigt. Er ist gewiss splitterfasernackt, was wohl der Hauptgrund für besagte Anweisung war.

„Wir brauchen Sie heute nicht mehr, Sie können gehen wenn Sie sich angezogen haben.“
 

Nachdem auch Brenda all ihren Pflichten nachgekommen war und das Haus verlassen hatte, blieb ich unheimlich still zurück. Amber schlief die meiste Zeit. Ihr dabei zuzusehen war wie eine Art Zauber, alle Ruhe kehrte in mich zurück, so dass ich mir vorkam als könne mich Jahrhunderte nichts mehr aus der Fassung bringen.

Charize kam erst ziemlich spät, und dass gerade heute nichts mit ihr anzufangen war, wusste ich schon von vornherein. Eine kleine Trauermiene verdeutlichte jedoch mein Bedürfnis nach Zuneigung, als ich meinen Kopf auf das gerade mal sandwichgroße Stückchen Bett lege, das noch nicht mir irgendwelchen Papieren zugeschüttet ist.

„Ach komm schon, du weißt, dass das jetzt wirklich ein scheiß Timing ist.“

„Ich weiß“, lasse ich meinen Kopf auf die andere Seite plumpsen und stoße einen kleinen jaulenden Ton aus.

„Baby...“ Blätter werden beiseite gelegt, feine Geräusche, bis mich der Geruch ihres Shampoos erreicht. „Ich würde doch jetzt auch viel, viel, viiiiieeeeel lieber schmutzige Dinge mit dir tun, aber an diesem Fa-“

„...Fall hänge ich schon drei Monate und morgen ist ein ziemlich wichtiger Tag. Ja, das weiß ich alles, trotzdem... vermisse ich dich.“ Mit großen Augen schaue ich zu ihr hinauf.

„Das tu ich doch auch.“ Galant rutscht ihr Körper vom Bett und bleibt neben meinen ruhen. Für einige Minuten herrscht wieder Stille, eine angenehme, zufriedene Ruhe. Unsere Finger berühren sich, gleiten übereinander hinweg.

„Schläft Amber?“

„Ja“, deute ich auf das Babyfon.

„Irgendeine Chance, dass du wieder Ruhe gibst?“

Kurz gebe ich vor, angestrengt zu überlegen, schüttle dann den Kopf.

„Nein“, grinse ich sie breit an, während meine Finger den Knoten um ihr Haar lösen und den fallenden Schwall dabei beobachten, wie es sich an zarte Haut schmiegt.

„Na ja, das Haus ist nicht oft so still.“

„Nein, ist es nicht“, pirsche ich mich näher heran.

„Wir müssten uns halt beeilen... ich habe noch... so viel zu tun.“

„Ja, das müssten wir wohl“, finde ich mein Ziel und drücke es sanft hinunter zu Boden.

Meine Hand wandert in ihren Nacken, zieht sie ein Stückchen wieder hinauf, um besser ihre Lippen gegen meine pressen zu können. Eine leichte Drehung und zarte Hände, die unter mein Shirt wandern. Ihr Bademantel ist schnell zur Seite gedrückt, wo drunter sich warme Haut verbirgt. Ich lasse ihre Lippen hinter mir. Ein Stöhnen entweicht ihr, als sich meine Finger kraftvoll ihren Oberschenkel nähern. Je höher ich gehen werde, umso fordernder wird sie werden. Immer heiserer werden ihre Laute sein, mein Name wird dabei lustvoll ihre feuchten Lippen umwandern…

Ich drücke mich vom Boden auf, mein Blick geheftet auf das Babyfon, ihrer auf mir.

„Da waren wir wohl nicht schnell genug.“

„Warum so deprimiert?“ Ich ziehe leicht an ihren Lippen, woraufhin sich der gezeigte Schmollmund auflöst. Sie zieht mich zu sich hinunter und reibt ihr Bein zwischen meine Oberschenkel.

„Ich will dich“, haucht sie mir entgegen, leicht zittern meine Lippen unter der Anspannung. Schnell und ungeschickt öffne ich meine Hose, während sie den störenden Bademantel von sich schleudert. Ihren Körper drücke ich gegen die Bettseite, gefesselt von schnell herumpirschenden Händen und einer Vielzahl erregten Küssen. Ich presse mich ihren Unterleib entgegen, um mit dem ersten, feuchten Eindringen auch schon wieder quälend zu stoppen. Das schrille Babygeschrei halt tausendfach in meinem Kopf wieder.

„Tut mir leid“, ziehe ich mich zurück.

Ich betrete das Badezimmer, ziehe mich an und wasche mir die Hände ehe ich das Zimmer eilends verlasse. Ein „Ich liebe dich“ folgt mir auf dem Fuß. Sekunden später stehe ich vor der Wiege und nehme Amber hinaus. Leicht auf den Armen wiegend beruhigt sie sich schnell.

„Und?... was gibt es denn so Wichtiges?“

Ich lege sie auf den Wickeltisch, woraufhin sofort wieder das Gekreische losgeht.

„Also die Windel ist es nicht“, hebe ich sie mir vor die Nase und schnuppere. „Alptraum? Hunger?” Ihr Gesicht ist meinem gegenüber. „Du wirst schon mit mir sprechen müssen, wenn du was Bestimmtes willst.” Mein Daumen wischt einige Tränchen aus dem nichtssagenden Ausdruck.

„Versuchen wir es also mit was zu futtern?“ Nach einem Sabberlatz greifend, verlassen wir den Raum und begeben uns in die Küche. Amber wird in einen auf dem Tisch stehenden Autositz verfrachtet. Ihre braunen Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hat, verfolgen mich neugierig. Ich entnehme dem Kühlschrank ein fertiges Fläschchen, drehe den Sauger ab und stelle die Flasche in die Mikrowelle. 37 Sekunden warten wir geduldig bis die Milch die genau richtige Temperatur hat. Das kurze „Ping“ lässt das wartende Kind aufhorchen, natürlich nicht wirklich wissend, um was es sich dabei handelt.

Obwohl beim Füttern ein Großteil der Milch an den Seiten des Mundes wieder hinausläuft, ist dies Schauspiel wohl eines der Schönsten, welchen ich jemals beiwohnen durfte. Diese Zufriedenheit, die müden Augen, immer wieder zufallend, und die kleinen winzigen Finger, die sich bei einem kräftigen Zug zu einer Faust zusammen ballen.

Den danach meist eingeschlafenen Körper dann wieder hochstemmen, um für eine erholsame Ruhe, dass nötige Bäuerchen zu machen, ist da schon fast wieder eine Quälerei. Leicht auf den Rücken klopfend erklimmen wir wieder die Treppe.

Da das Bäuerchen oben angekommen immer noch nicht den Weg hinaus gefunden hat, staple ich mir die Kissen auf und lege mich ins Bett. Der ruhig atmende Körper reicht mir gerade mal vom Unterleib bis zum Kinn. Leicht schaukle ich hin und her, summe etwas, wenn sie unruhig wird und klopfe weiterhin leicht auf ihren Rücken. Als sich dann endlich das Ergebnis zeigt, kommt als Gastgeschenk ein großer Teil der Milch direkt wieder mit hinaus. Den getränkten Sabberlatz von uns werfend, rutsche ich tiefer in die Kissen und krabble umständlich unter die Decke. Wieder ein nervöses Zucken. Ich fange erneut an zu summen und kurz darauf folgen leise Worte:

You are my sunshine, my only sunshine

You make me happy when skies are grey

You'll never know, dear, how much I love you

Please don't take my sunshine away
 

The other night, dear, as I lay sleeping

I dreamed I held you in my arms

When I awoke, dear, I was mistaken

Please don't take my sunshine away
 

Please don't take my sunshine away
 

~ * ~
 

Von irgendetwas aus dem Schlaf gerissen, stütze ich mich auf allen Vieren ab. Ich suche unter mir, neben mir, spähe über den Bettrand, aber nirgends ist das Kind zu sehen. Ich springe aus dem Bett und werfe einen Blick in die Wiege. Eine kleine Botschaft darin verrät mir, dass alles in Ordnung ist.

Ich schnappe mir das Foto auf dem ein großes Babygesicht mit einer gemalten Sprechblase zu sehen ist: „Na, endlich wach.“ und nehme mehrere Stufen auf den Weg in die Küche.

„Echt witzig.“ Ich winke mit dem Foto in Richtung der Kindesmutter.

„Fand ich auch“, lächelt sie mir daraufhin zu.

„Möchten sie etwas essen, Sir?“

„Nein danke, Brenda... Hey, hey, hey...“ beuge ich mich zu Carol-Ann hinunter, küsse sie leicht auf den Mund und Amber auf das wenige Gestrüpp, welches ihre Mom als Haare bezeichnet. „Erzähl schon, wie war’s?“

„Die Hölle, aber wenigstens muss ich die meisten der Leute bald niemals wiedersehen.“

Eine harmlose Aussage, doch mich trifft sie wie ein Schlag ins Gesicht.

„Ich geh mal duschen, okay?“

„Klar, lass dich nicht aufhalten… Ach, Sakuya…“

„Ja?“

„Ich hab auf dem Planer gesehen, dass ihr heute ein Spiel habt?“

„Ja, wieso? Ist was?“

Der Planer ist ein riesiges Infoboard, das Charize in der Küche angebracht hat. Alle Aktivitäten, die irgendwie mit dem Miteinander in Verbindungen stehen, sind darauf verzeichnet.

„Nein, nichts Wichtiges… aber Kevin ist nicht da, Charize ist vor Gericht und wenn du nachher weg bist… du weißt doch, Daryl kommt später. Ich wollte ihn vom Flughafen abholen.“

„Kein Problem“, versichere ich ihr. „Du kannst natürlich den Wagen haben, ich nehm dann die Maschine.“

„Vielen Dank.“

Ich zwinkere ihr leicht zu und verlasse den Raum.

Wie gesagt, eigentlich nur eine ganz harmlose Bemerkung, doch macht sie mir wieder einmal bewusst, dass Amber nicht wirklich zu mir gehört. Natürlich bin ich mir dessen auch so bewusst, aber etwas verdrängt dieses Wissen ansonsten immer ziemlich erfolgreich.

Carol-Ann ist nach San Francisco gekommen, um an irgendeiner total erlesenen Fotoausbildung teilzunehmen. Nur sehr wenige wurden auf Grund ihrer Arbeiten dafür ausgewählt, und ihr persönlich war dies so wichtig, dass sie ein halbes Jahr zu uns zog, schwanger, ihren Mann und ihr Zuhause hinter sich lassend.

Daryl besucht sie so oft es geht, doch da er mittlerweile den Club seines Bruders übernommen hat, ist das ziemlich selten der Fall. Einige Male, besonders gegen Ende der Schwangerschaft, hielt es Carol-Ann einfach nicht mehr aus und stieg am Wochenende kurzfristig in einen Flieger, was allerdings auch nicht immer einfach war, da sich manche Fluggesellschaften querstellten, wenn es darum ging, eine hochschwangere Frau zu transportieren.

Wie dem auch sei, wir haben die letzten Monate der Schwangerschaft, das ungeduldige Warten auf die Geburt und die ersten zweieinhalb Monate von Ambers Leben miterlebt. Sie ist ein Teil unseres Lebens geworden und wir sicher auch ein Teil ihres, woran sie sich aber bestimmt schon bald nicht mehr erinnern kann… es ist… einfach schwer, sie gehen zu lassen.

Im Schlafzimmer angekommen werfe ich zum ersten Mal einen Blick auf die Uhr. Schon später als ich gedacht habe. Ich blicke mich um auf der Suche nach meinem Handy. Als ich es im Zimmer nicht finden kann, drücke ich die Kurzwahltaste am Telefon. Ich lasse es etwa ein dutzend Mal klingeln, ehe ich auflege und es erneut versuche.

„Ja.“

„Wo bist du?“

„Ich komme später.“

„Du solltest längst hier sein. Ist was mit dem Flug?“

„Nein… ich komme direkt zum Spiel.“

„Schön, aber wo bist du?“

„Erzähl ich dir später, bye.“

Die Verbindung wird unterbrochen. Kurz bin ich nur dazu in der Lage, auf den Hörer in meiner Hand zu starren. Was bitteschön war das jetzt? Doch der Gegenstand in meiner anderen Hand lenkt mich schnell davon ab. Immer noch schauen mich die großen braunen Augen von dem Foto her an.

Ich lege den Hörer auf und lasse mich auf das Bett fallen. Dem Licht entgegengehalten sieht das Bild ziemlich gespenstig aus. Ich sollte unbedingt daran denken, noch ein paar Aufnahmen von Amber zu machen, ehe sie wieder nach Boston-

Der Gedanke lässt mich schnell wieder aufrecht sitzen, der Trauer Einhalt gebieten. Ich stehe auf und gehe hinüber zum großen Spiegel. Unzählige Fotos, nicht nur von Amber prangen an sämtlichen Seiten des Möbelstücks. Eines mehr wird nun hinzugefügt.
 

Nach dem Spiel gehören wir zu den letzten im Umkleideraum. Kevin lässt sich heute ausgesprochen viel Zeit für alles, aber gerade dieser Moment bringt endlich ein wenig Privatsphäre.

„Was war denn nun los?“

„Nichts.“ Sofort beschleunigen sich seine Handgriffe.

„Du wolltest mir doch was erzählen.“

„Hat sich erledigt.“

Da meine Sachen schon seit Minuten gepackt sind und ich eigentlich nur noch auf ihn warte, hatte ich genügend Gelegenheiten zu bemerken, dass dies ganz sicher nicht der Fall ist.

„Ist was mit der Familie?“

„Nein.“

„Du kannst es mir ruhig sagen, es ist auch mei-“

„Hör endlich auf, verdammt. Kannst du es nicht mal akzeptieren, wenn ich dir nicht direkt alles auf die Nase binde?“ Seinen Blick verbirgt er vor mir. Mit schneller Hand greift er nach seiner Tasche, schlägt die Tür seines Spindes zu und setzt einen Schritt zum Gehen an. Doch weit kommt er nicht. Zur selben Zeit dachte sich auch jemand anderer, dass dies wohl ein guter Weg wäre und so prallen zwei Körper zusammen.

Automatisch gehe ich nach vorne, um Kevin abzustützen, der leicht nach hinten fällt. Doch genauso schnell werde ich von ihm abgeschüttelt und er beugt sich mehr der anderen Person zu. Verwirrt stocke ich und trete anschließend einen Schritt zurück. Die Sicht nun frei, gibt mir mein Wissen die Person als unbekannt dar.

„Pass doch auf.“

„Entschuldigung.“

„Alles in Ordnung?“

„Ja, ja ich denke schon.“ Ein junger Mann, wahrscheinlich nicht älter als 25, braunes Haar und braune Augen.

„Pass das nächste Mal einfach besser auf.“

Ein kurzes, affektiertes Lächeln, bevor der Typ sich geschwind aus dem Staub macht.

„Wer zum Teufel war das?“

„Sein Name ist Matthew Dylan Curtis.“

„Woher kennst du ihn?“, bin ich überrascht.

„Ich kenne ihn nicht, er hat seine Sicherheitskarte fallen lassen.“

„Oh... steht ne Adresse drauf?“ Ich fange die Karte auf.

„Willst du ihn etwa besuchen?“

„Ich dachte wir bringen ihm die Karte zurück.“

„Bin ich seine Amme? Wir geben sie bei John ab.“
 

Wieder zu Hause wird die Sorge um Kevin durch etwas anderes beiseite geschoben. Eine Mischung aus Verlustangst, Eifersucht, Sehnsucht und Neid.

Daryl in den Arm nehmend, gut darauf bedacht Amber, dabei nicht zu verletzen, ruft mir mein Kopf auch schon zu, wie dumm all diese Gefühle ihm gegenüber sind. Trotzdem schaffe ich es nicht, mich von ihm zu trennen, ohne Amber ebenfalls begrüßt zu haben.

„Und?“

„Verloren… Ist Charize schon da?“

„Sie ist oben und telefoniert.“

„Dann werd ich auch mal hoch gehen und mich umziehen.“

Oben jedoch betrete ich nicht unser gemeinsames Schlafzimmer, aus dem eine laut diskutierende Stimme schalt, sondern wende mich Kevins Tür zu. Zögernd klopfe ich an und trete anschließend hinein.

„Hey“, blicke ich auf den ruhenden Körper hinab.

„Hey.“

„Reden?“

„Nicht wirklich.“

Unsicher stehe ich kurz dumm rum. Er zieht sich hoch, stemmt sich vom Bett auf und fängt an, sich auszuziehen. Gerade als ich mich umdrehen und den Raum wieder verlassen möchte, scheint er es sich anders überlegt zu haben.

„Mit Marc ist es aus.“

„Also doch reden?“ Eine große Eröffnung ist dies nicht, hatte er ja schon vorher gesagt, dass dies wahrscheinlich bald eintreffen würde.

„Wie lange hätte ich es schon vor dir geheim halten können? Eine Woche? Dann können wir es auch direkt hinter uns bringen.“

„Du weißt ja, ich hatte nie besonders viel mit ihm zu schaffen.“

„Ja, ich weiß.“

„Wer war es denn?“, schießt die wohl beknackteste Frage aus mir heraus.

„Keine Ahnung, irgendwie haben wir wohl beide dazu beigetragen… Aber du musst jetzt nicht groß Interesse an der Situation heucheln.“

„Ich heuchle ke-“, will ich protestieren.

„Sorry, ich weiß. Ich bin nur gerade nicht gut drauf und du wirst es wohl abbekommen, wenn wir weiter darüber reden… lassen wir es gut sein, ok?“

„Sicher?“

„Klar, ist doch jetzt eh alles für’n Arsch.“ Er dreht sich weg und ich kann nur auf die große Tätowierung starren, die seinen Rücken ziert. Eine ägyptische Hieroglyphe, ein Anch, das Zeichen für körperliches Leben, und ich ringe mit mir, ob ich ihn zum Trost in den Arm nehmen soll. Schließlich entscheide ich mich dagegen und verlasse ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
 

Später im Bett, erwähne ich die Trennung der Beiden nur kurz. Auch Charize ist es nicht entgangen, dass nicht alles rosig zwischen den beiden lief. Unter dem drückenden Schuldgefühl, ob ich vielleicht doch hätte mehr tun können, versuche ich mich daraufhin mit etwas anderem abzulenken.

„Ich möchte Babys.“

„Als ob mir das entgangen wäre.“ Sie grinst und schmiegt sich an meine Brust.

„Ganz viele Babys“, wickeln meine Finger ihr Haar auf.

„Irgendwann will ich auch welche.“

„Was meinst du mit irgendwann?“

„Na, irgendwann halt. Wenn die Zeit gut dafür ist.“

„Wann ist die Zeit denn gut dafür?“

„Komm schon, müssen wir jetzt darüber reden?“

„Warum nicht?“ Meine Finger haben schon aufgehört mir ihren Haaren zu spielen und nun drücke ich sie etwas von mir, um ihr Gesicht besser sehen zu können und mich aufzusetzen.

„Ok, schön“, setzt sie sich ebenfalls auf. „Ich bin gerade daran, mich mächtig hochzuarbeiten, habe den Wunsch, irgendwann noch Partner in der Kanzlei zu werden. Ich will noch was erleben, Spaß haben… ich will noch nicht jeden Tag meines Lebens zu Hause sitzen und mich um ein dutzend Kinder kümmern.“

„Bist du wirklich der steinzeitmäßigen Annahme, dass man als Mutter keinen Spaß mehr haben kann? Wir haben genügend Geld, dass wir uns jederzeit einen Babysitter leisten können, wenn wir mal weg wollen.“

„Ich bring aber keine Kinder auf die Welt, um sie dann einer Fremden in die Hände zu legen. Außerdem will ich noch nicht aus dem Beruf raus. Ich bin gerne in dieser Kanzlei, ich liebe meine Arbeit-“

„Hat irgendjemand gesagt, dass du deinen Job aufgeben müsstest?“

„Wie gesagt, ich setzte keine Kinder in die Welt um sie von Fremden aufziehen zu lassen.“

„Bin ich etwas ein Fremder“, setze ich erst einmal Stille in den Raum.

„Das ist nicht dein Ernst?“

„Doch.“ Und in meinem Kopf schwirrt nicht einmal der Gedanke, kurz darüber nachzudenken. „Das ist mein voller Ernst.“

„Aber du liebst Baseball und du verdienst viel mehr als ich.“

„Ich liebe Amber… mehr als Baseball und wenn ich sie schon mehr liebe, wie würde ich dann meine eigenen Kinder erst lieben, und Geld haben wir genügend auf der hohen Kante. Keiner von uns müsste noch arbeiten, wenn wir nicht gerade ein paar Tausender am Tag aus dem Fenster schmeißen.“

„Du meinst das wirklich im Ernst, nicht wahr?“

„Ja.“ Ich drehe mich ein Stückchen und nehme ihre Hände in meine. „Mein Vertrag läuft in einem Jahr aus. Ich könnte einfach keinen neuen eingehen und schon wäre ich frei. Wir könnten Babys kriegen, du weiter deinen Job machen und ich bleibe hier und kümmere mich um die Kids.“

„Und wenn es dir dann irgendwann leid tut, du merkst, dass du dich falsch entschieden hast“, versucht sie partout Gegenargumente zu finden.

„Das wird ganz sicher nicht passieren.“

„Und wenn doch?“

„Es wird nicht passieren.“ Mein zuerst ernstes Gesicht, gefolgt von einem dümmlichen Grinsen verstärken meine Entschlossenheit, lassen ihr daraufhin wohl selber keine Zweifel mehr an meinem Vorhaben.

„Aber wir werden es jetzt nicht wie die Karnickel treiben, nur damit ich schwanger werde?“

„Ich kann mich an eine Zeit erinnern, da hattest du nichts dagegen, wenn wir es wie die Karnickel getrieben haben.“ Ich zwicke sie leicht in die Hüfte.

„Du weißt was ich meine.“

„Versprochen“, hebe ich die Hand zum Schwur. „Wir werden es ganz locker angehen und der Natur ihren Lauf lassen.“

Ein prüfender Blick.

„Lass mich noch eine Nacht drüber schlafen.“

„Einverstanden.“ Ich werfe sie auf die Matratze und wickle uns in die Decke ein. „Dann aber schnell“, küsse sie auf die Stirn und schließe die Augen.

Eigene Kinder, der einzige Wunsch, der mir bis jetzt verwehrt geblieben war.
 

~ * ~
 

Wie die letztendliche Entscheidung ausfiel, stellte sich so dar, dass die Antibabypillen-Packung demonstrativ im Mülleiner landete. Unser Entschluss würde vorerst unser Geheimnis bleiben und schon Sekunden danach musste ich mich zusammenreißen, nicht direkt ans Werk zu gehen.

Das Wochenende verging rasend schnell. Wir verpackten die meisten von Carol-Anns und Ambers Sachen für den UPS-Transport und brachten zwei weitere Spiele hinter uns.

Am darauf folgenden Montag war Carol-Anns Abschlusstag ihrer Ausbildung und am Mittwoch geht es wieder zurück nach Boston. Im ganzen Haus liegt Abschiedsstimmung in der Luft. Die gepackten Kartons und die vielen kleinen Utensilien, die nun überall nicht mehr vorhanden sind. Carol-Ann und Daryl suchen immer wieder idiotische Ausreden dafür, damit ich mich um die kleine Maus kümmere, doch ich weiß genau, dass sie mir eigentlich nur noch mehr Zeit mit ihr schenken wollen. Ob dies wirklich gut für mich ist, weiß ich nicht. Jedes Mal, wenn ich in das kleine, zarte Gesichtlein blicke, hüft und zerspringt mein Herz zugleich. Der einzige und wohl größte Trost ist, dass ich in nicht weit entfernter Zukunft mein eigenes Kind in den Armen halten darf.
 

Freudestrahlend erwarten wir Carol-Ann. Da wir heute kein Spiel haben und sich Charize den Nachmittag frei genommen hat, wollen wir alle zusammen schick Essen gehen, Amber eingeschlossen. Aufbruchbereit kehre ich nur noch einmal um, um die vergessene Mütze des Kindes zu holen, welches derweilen um meinen Oberkörper geschnallt ist. Kurz stocke ich dabei…

„Sakuya? Können wir?“ Mein Blick schweift vom Fenster zu Daryl.

„Ja, klar.“ Ich greife nach der Mütze und verlasse die Küche. Ich hätte schwören können, dass da draußen jemand war.
 

Part 57 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 58

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Kida (by Stiffy)
 

Mittlerweile schon drei Mal den Artikel gelesen, begreife ich es immer noch nicht. Es kann nicht sein, das kann doch einfach nicht sein! Nie, niemals habe ich daran gedacht, dass es einen solchen Moment geben könnte. Die Welt ist zu groß dafür, um einer einzigen Person ein zweites Mal zu begegnet, wenn man sie einmal aus den Augen verloren hat, wenn einen nicht nur Städte trennen sondern Kontinente – doch selbst darüber habe ich nicht nachgedacht... wieso hätte ich es auch tun sollen?

Wer hätte schon an einen solchen Zufall geglaubt?

Ich lese die Worte, die dort stehen und die ich nicht begreifen kann.

…hat gestern Sakuya Michael Ryan, Spieler der San Francisco Giants,...

San Francisco... wie kann das bloß funktionieren?

Es ist zum Greifen nahe und dennoch entzieht sich die Tatsache meinem Verstand. Ich hatte doch San Francisco irgendwie auch deshalb gewählt, um eben einem solchen Moment zu entgehen, hatte nie gedacht, dass mir jetzt noch etwas so Bekanntes in Amerika begegnen könnte... nicht dieser so lange vergangenen Teil meiner Vergangenheit.

Es ist fast schwer, nicht von Wahnvorstellungen zu sprechen, so unglaublich ist es.

Er ist hier....

Er ist immer noch Baseballspieler...

Und er ist ein Star... so wie er es sich immer gewünscht hat, so wie einen jeder nur belächelt, wenn man als Kind davon spricht, so wie er es ihnen allen doch gezeigt hat... und nun ganz oben ist.

Das kann doch eigentlich alles nur ein Traum sein!

Kopfschüttelnd stiere ich schon wieder auf den dritten Absatz des Textes. Gleich sollte ich den kurzen Bericht in- und auswendig kennen... wie einen guten Film, den man immer wieder aufs Neue schaut, da man ihn einfach so sehr mag...

Mögen... mag ich das, was hier gerade lese?

Nein. Irgendwie wirft es mich aus meinem Konzept, das ich nie hatte. Es verwirrt mich und ich kann nicht sagen, weshalb. Es ist einfach falsch, wenn Vergangenheit und Gegenwart so unmittelbar aufeinander treffen.

Ich reiße meine Augen von den Worten „Spieler der San Francisco Giants“ los und lasse sie ein Stück zur Seite schweifen, zu der abgebildeten Nahaufnahme; Irgendeine Augenblick, in dem Sakuya den Schläger von sich feuert, um loszurennen...

Ich verharre bei den Augen, die so winzig auf dem Bild sind und mir dennoch etwas Bekanntes zeigen. Auch nach all den Jahren ist auf seinem Gesicht noch dieselbe angespannte Begeisterung zu erkennen, die er mit diesem Sport immer verbunden hat... noch dasselbe unverkennbare Glitzern. Ich hätte geschworen, dass ich solche Dinge vergessen habe, doch nun scheint es, als würden sie noch immer irgendwo in meinem Kopf auf Abruf warten.

Ich schlage die Zeitschrift zu und lege sie auf die anderen zurück, schließe die Augen... ich reibe mir die Schläfen, eine Geste, die ich bei meiner Mutter immer dämlich fand, aber mittlerweile habe ich es mir auch angewöhnt...

Ich habe das Gefühl, Kopfschmerzen zu bekommen. Mein Kopf scheint überzulaufen mit diesen neuen Informationen, die er nicht aufnehmen wollte.

Ob ich gleich aus diesem hirnlosen Traum aufwache?
 

Als nur einige Minuten später die Tür meines Appartements aufgerissen wird, befinde ich mich noch immer hier und noch immer liegt da die Zeitschrift mit dem handflächengroßen Bild von Sakuya am Rand. Fast wütend starre ich sie an.

Kein Traum... natürlich.

„Sweety~ Bist du da?“, tönt es aus der Küche, zusammen mit dem Rascheln von Tüten.

„Mhm“, mache ich, auch wenn ich weiß, dass er mich nicht hören kann.

Ich werde dieses unangenehme Drücken in meiner Bauchgegend einfach nicht los.

„Hey, da bist du ja, wieso antwortest du mir nicht?“, steht Alec dann plötzlich schmollend vor mir und lenkt meinen Blick von der Zeitschrift weg.

Ich zucke mit den Schultern, keine Lust auf eine Erwiderung. Alec runzelt die Stirn, während er sich die Jacke auszieht.

„Stress bei der Arbeit?“

Ich nicke nur und schließe wieder die Augen. Bitte hör auf zu reden... bitte... ich ertrage gerade nicht noch mehr Input.

Eine Berührung auf meiner Hand lässt mich aufschrecken und Alec direkt vor mir wiederfinden. Er beugt sich zu mir, küsst mich... Ich schiebe ihn von mir.

„Ich brauch ein bisschen Ruhe“, sage ich und sehe an ihm vorbei.

Ein Seufzen, dann steht er auf.

„Okay, okay... Hast du schon gegessen?“ Als er keine Antwort erhält, verschwindet er mit der Information, dass sich das bald ändern wird.

Erleichtert lasse ich mich noch etwas tiefer in die Polster sinken, stütze meinen Kopf auf den Arm und starre erneut die Zeitschrift an, kritisch, so als würde sie mir jede Sekunde entgegen springen.

Wieso ist er ausgerechnet hier?

Ich springe auf, blitzschnell. Für einige Sekunden dreht sich alles und ich muss mich abstützen, um nicht wieder zurückzusinken. Dann räume ich mit einer schnellen Bewegung die Zeitschriften zusammen und lasse sie unterm Tisch verschwinden. Ich kann das Bild einfach nicht noch länger anstarren, das macht überhaupt keinen Sinn!

Bei Alec in der Küche schnappe ich mir ein Messer aus der Schublade.

„Ich helfe dir.“

„Aber das musst du nicht“, kommt es verwundert.

„Will ich aber!“

Ich greife nach einigen Kartoffeln und beginne sie zu schälen. Doch wie vielleicht zu erwarten war, bringt dies nicht die gewünschte Ablenkung mit sich. Ich sehe Bilder von mir. Drei davon sind aus der Zeitschrift und dazwischen sind welche aus der Vergangenheit, die ich längst vergessen hatte... Wie oft hatte ich ihm eigentlich beim Baseballspielen zugeseh-

„Au!“, entfährt es mir, und als sich mein Blick klärt, erkenne ich rote Flecken auf dem gelben Fleisch der Kartoffel. „Verdammt!“

Ich lasse das Messer fallen und will mich zu den Tüchern umdrehen, doch Alec ist schneller, schnappt sich meine Hand mit der klaffenden Wunde am Ballen und drückt seine Lippen darauf. Ein Brennen durchzieht mich und ich will meine Hand zu mir nehmen, doch er lässt nicht los.

„Hast du was zum Desinfizieren da?“

„Ich... nein...“ Mir wird schwindelig und ich stütze mich an der Arbeitsplatte ab.

„Okay, warte kurz.“ Er drückt ein Küchentuch auf die Wunde und schließt meine Finger darum, dann verlässt er die Küche.

Ich folge ihm mit den Augen und das Bild vor mir verschwimmt. Ich bin nicht empfindlich auf Blut, wieso also sonst habe ich das Gefühl, jeden Moment umzukippen?

Ich höre die Badezimmertür sich schließen, höre Schritte... ich öffne meine Augen wieder, die ich... wann geschlossen hatte? Blondes Haar kommt auf mich zu, grüne Augen... Ich schwanke.

„Pass auf!“ Alecs Stimme holt mich in die Realität zurück. Seine Hände an meinen Schultern drücken mich auf einen Stuhl, dann nimmt er meine Hand und öffnet sie wieder. Ein brennender Schmerz.

„Au! Lass das!“

„Es muss aber desinfiziert werden!“ Mit energischem Griff hält er meine Hand fest und stellt das Aftershave auf den Tisch. „Hast du heute genug getrunken?“

„Hä?“

„Du bist ganz blass. Wann hast du zuletzt gegessen?“

„Vormittag...“

Er seufzt tief, kramt dann in einer Schublade und holt Verbandszeug heraus. Ein Stück davon tränkt er in dem scharfen Alkohol und dann wickelt er meine Hand ein. Trotz des Schmerzes sehe ich nun ruhig dabei zu... und muss daran denken, wie sich Sakuyas Mutter einmal beim Kochen verletzt hat...

„Komm, steh auf... Am besten setzt du dich ins Wohnzimmer...“

Ich folge der Anweisung und leere sogar das Glas Wasser, welches Alec mir im Wohnzimmer in die Hand drückt. Ein Gähnen entweicht mir.

„Vielleicht bist du auch einfach nur übermüdet...“

„Woher das wohl kommt“, kann ich mir eine ironische Bemerkung mit Erinnerungen an die letzte Nacht nicht verkneifen. Erst gab es Sex und danach einen ewiglangen Streit. Ich weiß nicht mal mehr, worum es diesmal ging.

Alec verzichtet auf eine Erwiderung und lässt mich alleine. Ich sinke im Sofa zusammen und klemme mir das Kissen fester unter den Kopf. Mein Blick legt sich auf den Stapel Zeitschriften, auf dem ganz oben irgendein dunkelhaariges Model zu sehen ist.
 

Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich von einer sanften Hand berührt werde und das Essen vor mir auf dem Tisch sehe, kann ich mich nicht erinnern, an was ich die letzten Minuten gedacht habe.

Der Duft des Essens steigt mir in die Nase und einen Moment lang wird mir schlecht davon. Dann richte ich mich auf und greife nach meinem Besteck. Ohne ein Wort schlinge ich alles in mich hinein, ohne wirklich das Gefühl zu haben, irgendwas zu schmecken. Meine Gedanken schweifen schon wieder zu grünen Augen ab... und hinterlassen dieselbe Frage, die ich mir schon die gesamte Zeit stelle: wie kann es einen solchen Zufall bloß geben?

„Danke“, sage ich schließlich, als ich mein Besteck auf den leeren Teller lege. Ich versuche, Alec anzulächeln, welcher dies erwidert.

„Geht es dir besser?“

„Ich denke schon.“ Ich kann das Lächeln nicht länger halten und stehe deshalb auf, um meinen Teller in die Küche zu bringen. „Lass uns schlafen gehen.“

„Jetzt schon? Es ist erst Neun und es ist Freitag...“

„Ich bin todmüde... meinetwegen kannst du auch noch wach bleiben, ich geh jedenfalls schlafen.“

„Ist ja schon gut... Ich räume nur kurz die Küche auf.“

„Hm.“

Schnell begebe ich mich ins Bad und mache mich fertig, alles ziemlich zügig, um nicht zu lange bei einzelnen Abschnitten zu verharren und wohlmöglich länger nachzudenken. Als ich dann aber im Bett liege, klappt das natürlich nicht mehr.

Was für ein Scheiß! Wieso regiert diese Sache so energisch meine Gedanken?

Doch da es nichts bringt, sich dagegen zu wehren, lasse ich mich einfach darauf ein. Ich schlinge die Decke um mich, schalte das Licht aus und lasse den Fragen in meinem Kopf freien Lauf. Viele Bilder erscheinen dabei vor meinem Auge und immer wieder darunter die neuen... Er sieht noch immer sehr gut aus...
 

Fast eingeschlafen, reißt mich eine Berührung wieder zurück. Ich schrecke auf und starre Alec im fahlen Licht der Nachttischlampe an.

„Hab ich dich geweckt? Das tut mir aber leid...“, grinst er schelmisch, während er seine Hand an meinem Oberschenkel weiter hinaufwandern lässt.

„Was soll das werden?“

„Wonach sieht es denn aus?“ Er beugt sich vor und küsst meinen Bauchnabel. „Ich dachte, ich verwöhne dich noch ein bisschen...“

Im selben Moment berührt seine Hand mein Glied. Ich lasse es geschehen... doch als sich bei mir kein angenehmes Gefühl einstellen will, schiebe ich Alec von mir herunter.

„Lass gut sein, ich bin einfach zu müde dafür...“

Ein schmollendes Gesicht sieht mich an.

„Bitte Alec“, erwidere ich seinen Blick fest, keine Lust auf jegliche Diskussion. „Lass uns einfach schlafen, okay?“

„Na schön“, kommt es zickig und dann schaltet er endlich das Licht aus.

Ich schlinge die Decke wieder um mich und will mich zur Seite drehen, als sein Kuss mich findet. Er schmiegt sich an meine Seite. Ich drehe mich auf den Bauch, habe das Bedürfnis, ihn von mir zu schieben aufgrund der Wärme, die er ausstrahlt. Einen Moment lang will ich es tun, aber dann entscheide ich mich dagegen. Es würde nur Streit geben. Also strecke ich ein Bein unter der Decke hervor, lege einen Arm um ihn und versuche seine Wärme zu akzeptieren.
 

~ * ~
 

Mit dem Gefühl vollkommener Müdigkeit wache ich am nächsten Morgen durch ein Geräusch auf. Es ist der Fernseher.

Mein Blick fällt auf die Uhr und verrät mir, dass es kurz nach Acht ist. Habe ich gerade tatsächlich fast elf Stunden geschlafen? Doch auch mit dieser Erkenntnis versinke ich erneut im Kissen. Wahrscheinlich hab ich eh höchstens zehn Stunden geschlafen, solange wie ich gestern dann doch noch wach gelegen habe...
 

Noch knappe zwanzig weitere Minuten bleibe ich im Bett, bevor ich mich zum Aufstehen bewege. Im Wohnzimmer finde ich Alec vor, der irgendeine Talkshow verfolgt.

„Musst du heute nicht arbeiten?“, frage ich und lasse ihn dabei erschrocken zusammenfahren, da er mich wohl nicht bemerkt hat.

„Doch“, erklärt er, „aber erst ab zwölf.“

„Ach so. Ich geh duschen.“

„Kann ich mitkommen?“

„Nein.“

„Aber-“

Ich lasse ihn mit seinem Protest zurück und betrete das Badezimmer, schließe dabei die Tür nicht ab. Sollte Alec den Versuch starten, mir doch zu folgen, und dann eine verschlossene Tür vorfinden, hört er wahrscheinlich gar nicht mehr auf, wütend zu sein – vielleicht aus verständlichen Gründen.

Unter dem warmen Wasser gehe ich meine Pläne für den heutigen Tag durch, was ziemlich schnell geht, da ich heute eigentlich gar nichts vor habe, außer meine Unterlagen mal wieder in Ordnung zu bringen... Also wird mir erschreckend deutlich bewusst, dass ich bis heute Abend, wenn Alec von der Arbeit kommt, Zeit habe, mir Gedanken zu machen.

Gerade als ich aus der Dusche steigen will, klopft es an der Tür und Alec kommt herein. Wusst ich’s doch.

„Kann ich nicht doch...“

Ich seufze und gebe nach. „Meinetwegen.“

Schnell ist er aus Shorts und Shirt und zu mir unter die Dusche geschlüpft. Sein kühler Körper drückt sich an mich und ich erwidere seinen Kuss.
 

Dreieinhalb Stunden später macht Alec sich fertig für die Arbeit... und auch ich tue das, da ich mich irgendwann im Laufe des Morgens dazu entschieden habe, nicht den gesamten Tag Zuhause verbringen zu wollen. Ich habe keine Lust auf diese Gedanken, die mich auch an diesem Morgen vermehrt eingeholt haben. Ich will so tun, als wisse ich immer noch nicht, dass er ganz in der Nähe ist... ich will, dass alles so ist, wie es noch vor nicht mal 24 Stunden war.

In der Lobby trennen wir uns und ich kann Alec gerade noch davon abhalten, mir vor Joe und zwei mir fremden Frauen einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Ich nicke ersterem kurz zu und verschwinde dann mit dem Versprechen, spätestens um Acht, wenn Alecs Schicht endet, wieder da zu sein. Alec hat sowieso ziemlich überrascht geguckt, als ich gesagt habe, dass ich an meinem freien Tag arbeiten gehen will.

„Und du willst nicht deine Ruhe genießen?“, grinste er mich selbstironisch an, wohl in Erinnerung an eine unser letzten Diskussionen, als ich ihm deutlich machte, dass es mir gut tut, jeden zweiten Samstag mal ein paar Stunden für mich zu haben. Damals war er ziemlich enttäuscht gewesen, doch wir redeten so lange darüber, bis er schließlich nickte und sagte, dass er mich vielleicht sogar ein klein wenig verstehen würde. Wirklich glaubte ich ihm das zwar nicht, aber wenigstens ist er danach nicht mehr sauer gewesen.
 

Im Auto auf dem Weg zur Arbeit stelle ich das Radio an, etwas, was ich eigentlich relativ selten mache, da ich die Ruhe beim Autofahren angenehm finde. Heute allerdings ist mir alles recht, was mich irgendwie auf andere Gedanken bringt.

Es läuft eine Art Rockballade auf dem Sender, den Alec immer hört, wenn wir zusammen fahren, und selbst wenn mir das Lied nicht zusagt, schalte ich nicht um. Ich versuche mich auf den Text zu konzentrieren und während ich dies tue, erinnere ich mich daran, wie ich vor Jahren eine Übung dieser Art vorgesetzt bekommen habe.

„Hör dir die Lieder an und schreib danach auf, um was es ging“, hatte Sakuya damals gesagt und dann grinsend hinzugefügt: „Auf Englisch natürlich.“

Ich schalte um, bin froh, als mich auf dem nächsten Sender die Nachrichten empfangen. Weg von den vergessenen Erinnerungen höre ich nun der Moderatorin zu, wie sie über die aufkommenden Senatswahlen spricht.
 

Angekommen bei der Arbeit begegne ich zunächst Jodie und dann Timothy. Von beiden werde ich verwundert angesehen.

„Hattest du heute nicht frei?“, fragt mich Timothy, als ich mich an meinem Schreibtisch in unserem Büro niederlasse.

„Schon...“

„Okay... und was machst du dann hier?“

„Mir ist eingefallen, dass ich bis Montag noch einen Auftrag durchgehen muss...“

„Ahhhja“, kommt es stirnrunzelnd, aber er fragt nicht weiter.

Erst als ich einen Ordner aus dem Schrank nehme, fällt mir ein, dass ich ihm gestern noch erleichtert mitgeteilt habe, dass ich endlich mal wieder ein Wochenende frei hätte und mir bis Montag keinerlei Gedanken mehr über die Arbeit machen bräuchte. Seufzend schlage ich den Ordner auf und suche zwei Blätter heraus, während ich nebenbei den Computer zum Hochfahren bringe. Wer hätte auch ahnen können, dass etwas passieren würde, was mich diesen Tag nicht faulenzen lassen will...
 

Am Abend wieder in meinem Appartement ankommend, bin ich froh, diese Ablenkung gewählt zu haben. Es war zwar nicht gerade einfach, nur an die Arbeit zu denken, aber es hat zumindest einigermaßen funktioniert. Als ich allerdings gegen Zwei mit Timothy was Essen ging, konnte ich mir eine Frage nicht verkneifen.

„Du stehst doch auf Baseball, oder?“

„Jup“, grinste er und bestellte ein Sandwich.

„Kennst du dich mit den Giants aus?“

„Na was denkst du denn?! Wenn man schon eine so gute Mannschaft in der Nähe hat, muss man doch Fan von der sein!“ Er lachte, nahm seine Bestellung und deutete in eine Ecke. „Ich setz mich da vorne hin.“

Als ich ihm kurz darauf mit meiner Bestellung folgte, war ich zu dem Entschluss gekommen, ihm keine Fragen bezüglich des Themas mehr zu stellen. Was wollte ich denn auch erfahren? Und wollte ich die Antworten wirklich kennen?

Nun Zuhause bin ich mir dessen immer noch nicht sicher. Eigentlich will ich doch nur alles vergessen und nicht noch mehr Informationen bekommen.

Ich sehe mich um. Es ist halb Acht, in einer halben Stunde wird Alec da sein. Und bis dahin?

Tatsächlich dauert es nur die Zeit fürs Umziehen, Trinken holen, Musikanlage anstellen und zusätzlich fünf quälende Minuten, bis ich die Zeitschrift in der Hand halte und den Artikel zum viertel Mal lese.
 

„Seit wann interessierst du dich für Sport?“, trifft mich die Frage, als ich so in die Betrachtung des Bildes versunken bin, dass ich Alec nicht kommen höre.

Sofort schlage ich die Zeitschrift zu und werfe sie zu den anderen zurück.

„Tu ich nicht, das hat andere Gründe...“

Ich stehe auf und gehe in die Küche, um mir noch etwas zu trinken zu holen. Am Kühlschrank schlingen sich Arme um mich.

„Und welche?“, fragt er neugierig.

„Nicht so wichtig.“ Ich schließe den Kühlschrank wieder und drehe mich zu ihm um, küsse ihn, befreie mich dann von seinem Griff, um zurück ins Wohnzimmer zu gehen. „Wie war die Arbeit?“
 

~ * ~
 

Der Sonntag verläuft bis zum Abend in einem bestimmten Sinne genau wie der Samstag. Nur dass mich hier nicht die Arbeit einigermaßen von den immer wiederkehrenden Fragen ablenkt, sondern Alecs Schmollen, das sich darauf bezieht, dass ich bei Rachel zum Essen eingeladen bin – und ihn nicht mitnehme, aus einem Grund, den er langsam hätte begreifen sollen.

„Du siehst toll aus“, werde ich schließlich gelobt, als ich mich vor dem Spiegel anziehe. „Ich wünschte, ich könnte mich jetzt auch fertigmachen...“

„Alec... Jetzt fang bitte nicht schon wieder damit an“, verdrehe ich die Augen.

„Ich weiß...“ Ich sehe in sein schmollendes Gesicht. „Ich find’s einfach nicht fair... du kennst alle meine Leute...“

„Sie wissen ja auch alle, was wir sind.“

„Was wir sind? Was sind wir denn? Menschen?“

„Du weißt was ich meine. Es ist besser, wenn meine Kollegen nichts davon erfahren“, wiederhole ich mich zum unzähligsten Male.

„Schämst du dich für mich?“

„Alec...“ Ich gehe zu ihm hinüber und lege ihm die Hände auf die Schultern, blicke ihm dabei fest in die Augen. „Können wir das Thema bitte lassen? Wir haben es schon so oft durchgekaut. Ich habe jetzt wirklich keine Lust auf Streit...“

Sein Blick wird etwas weicher als er aufsteht und mich in den Arm nimmt.

„Du hast recht, ich auch nicht. Tut mir leid.“

Ich nicke, küsse ihn dann.

„Und was mache ich den ganzen Abend?“, fragt er nach dem Kuss immer noch ein wenig schmollend.

„Triff dich doch mal wieder mit Nick...“

„Hast du nichts dagegen?“

„Ach Quatsch.“ Mein Blick fällt auf eine Uhr. „Mist, ich muss los!“
 

Nach zwanzigminütiger Autofahrt werde ich bei Rachel von gutgelaunten Gesichtern begrüßt. Außer mir ist noch Rachels beste Freundin Melissa mit ihrem Mann Fynn da, außerdem ihr Sohn Rico. Seine und Max’ Stimme hört man aus dem Kinderzimmer hervordringen.

„Schön, dass du kommen konntest!“, begrüßt mich Joshua mit einer kurzen Umarmung und die anderen tun es ihm gleich – das ist im Übrigen eine der Sachen, an die ich mich in Amerika erst einmal gewöhnen musste: wiederholter, wenn auch fast förmlicher Körperkontakt, etwas, das in Japan mehr als unüblich ist.

Ich lasse mich zwischen Fynn und Rachel nieder.

„Es riecht genial!“, lobe ich die Köchin, worauf diese ein wenig skeptisch das Gesicht verzieht.

„Wir hoffen, es schmeckt auch so“, kommentiert Joshua dies und wirft seiner Frau ein verschmitztes Zwinkern zu.
 

Nach einem wirklich unglaublich guten Essen, begeben wir uns ins Wohnzimmer. Fynn und Joshua sind in irgendein Gespräch über Basketball vertieft und Melissa hat einen Abstecher ins Kinderzimmer gemacht, als Rachel plötzlich näher zu mir rückt und mich ernst anblickt.

„Was ist los?“, fragt sie leise.

„Was soll sein?“, stelle ich die Gegenfrage.

„Dir geht es nicht so gut, oder?“

„Wie kommst du darauf?“

„Du wirkst abwesend... nicht die ganze Zeit, aber immer mal wieder, als würdest du dir über irgendwas Sorgen machen...“

„Sorgen ist das falsche Wort...“

„Was ist es dann?“ Sie sieht mich mit fragenden Augen an und als ich nach ein paar Sekunden immer noch nicht antworte, fragt sie, ob ich nicht darüber reden will.

Noch nachdenklicher blicke ich nun in ihr Gesicht. Nicht darüber reden wollen ist vielleicht das falsche Wort, aber wie soll ich darüber reden? Wie jemandem meine Gedanken, ohne meine eigentliche Situation erklären?

„Ich habe zufällig herausgefunden,... dass ein alter Freund von mir in San Francisco lebt...“

Ein kleines Runzeln erscheint auf ihrer Stirn. „Und das ist nicht gut?“

„Naja... wir haben uns seit acht Jahren nicht mehr gesehen und damals sind wir nicht allzu gut auseinander gegangen...“

„Du weißt nicht, ob du ihn besuchen sollst, hab ich recht?“

Ich sehe sie an und höre ihre Frage, eine Frage, die ich in den letzten eineinhalb Tagen verdrängt habe. Ich habe so viel und lange über ihn nachgedacht, aber ich habe mich gezwungen, genau diese Sache nicht zu bedenken.

„Ich... glaube nicht, dass das gut wäre...“, sage ich schließlich.

„Wieso nicht? Ihr ward doch gut befreundet, oder? Sonst würdest du dir nicht solche Gedanken machen...“

„Schon, aber... Es war meine Schuld, dass die Freundschaft kaputtgegangen ist.“

Einen Moment lang schweigt sie nun und ich frage mich, ob ich nicht am besten das Thema wechseln sollte. Ich will doch einfach nur nicht mehr über Sakuya nachdenken müssen.

„Aber wäre es dann nicht erst recht gut, ihn zu besuchen?“, kommt eine unerwartete Aussage von ihr.

„Ich kann doch... nach acht Jahren nicht einfach da auftauchen, und mich... entschuldigen...“

Sie zuckt mit den Schultern. „Wieso nicht? Okay, ich weiß nicht, was vorgefallen ist, aber vielleicht würde er sich auch freuen, dich mal wiederzusehen...“

„Das... glaube ich nicht.“

„Oh Mann, du bist ein echt schwieriger Fall.“

Sie lässt sich im Sofa zurücksinken und atmet tief durch. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, sage aber nichts weiter.

Kurz darauf kommt Melissa wieder in den Raum. Sie lässt sich auf Fynns Schoß nieder und erklärt Rachel, dass die beiden Jungs jetzt schlafen.

„Ich hab keine Ahnung, wie ich Rico nachher nachhause schaffen soll...“, lacht sie, doch Rachel winkt ab.

„Dann schläft er halt hier und du holst ihn morgen früh ab und bringst die beiden zur Schule.“

„Das wäre wahrscheinlich das Beste...“, wirft Fynn ein.

„Ja, vielleicht... aber dann musst du morgen früh-“

„Sag mal“, zieht Rachel meine Aufmerksamkeit wieder zurück auf sich. „Wie hast du überhaupt herausgefunden, dass er nun hier wohnt? Ich meine, so etwas steht ja nun nicht an jeder Ecke geschrieben...“ Diesmal sieht sie mich wirklich einfach nur neugierig an, während ich mir nicht sicher bin, ob ich die Frage wirklich beantworten will.

„Naja...“ Ich versuche ein Grinsen. „Bei ihm ist das etwas leichter. Er ist ein Spieler der San Francisco Giants.“

Stille – zumindest auf unserem Sofa.

„Ist das dein Ernst?“

„Ja...“

„Wow! Wenn ich das meiner Nichte erzähle, flippt sie aus. Die ist ein riesen Fan von der Mannschaft. Besonders auf diesen Schönling steht sie... wie heißt der noch mal... das ist irgendwas japani-“ Mitten im Satz bricht sie ab. Ihre Augen werden noch größer, überraschter... und ich kann einfach nur nicken.

„Sakuya Michael Ryan“, sage ich dann und sie nickt sofort heftig, während sich in mir irgendwas verkrampft. Lange, fast eine halbe Ewigkeit habe ich diesen Namen nicht mehr ausgesprochen.

„Genau der. Krass, mit dem bist du befreundet?“

„War!“, erinnere ich sie.

„Egal. Es gibt ne Menge Leute, die dich darum beneiden würden!“

„Hm.“ Ich schaffe es nicht mehr wirklich, das Grinsen auf meinem Gesicht zu behalten. Mein Magen verkrampft sich immer mehr. Es geht nicht darum, mit einem berühmten Menschen befreundet zu sein, nein, darum geht es ganz bestimmt nicht. „Lass uns das Thema wechseln, okay?“

„Na gut... obwohl es grade richtig interessant wurde.“ Sie zwinkert mir zu, während ich mir mein Glas nehme und einen Schluck trinke. „Okay, dann was anderes. Wieso hast du deine Freundin nicht mitgebracht?“

Ich verschlucke mich und pruste fast den halben Wein wieder heraus.

Gibt es denn eigentlich gerade kein unverfängliches Thema in meinem Umfeld?
 

~ * ~
 

Der Montag beginnt damit, dass ich mich mal wieder mit Alec streite. Er ist sauer, dass ich ihn gestern Abend nicht geweckt habe, als ich Zuhause war, und es ist schwer, ihm klarzumachen, dass ich an seiner Stelle froh darüber gewesen wäre.

Nicht wirklich versöhnt machen wir uns beide auf den Weg zur Arbeit, wobei ich für meinen Teil mal wieder den Nachrichten lausche. Trotzdem lassen ich die Worte Rachels, die mich schon die gesamte Nacht hindurch schlecht haben schlafen lassen, nicht wirklich los. Vielleicht würde er sich freuen, mich zu sehen? Nein, ganz sicher würde er das nicht!
 

Im Büro wartet zum Glück der am Samstag angefangene Auftrag auf mich, und so versuche ich meinen gesamten Kopf auf die Entwürfe und Details zu konzentrieren, die ich dafür zusammenstellen muss.

Gegen Mittag lenkt mich eine Mail von Tatsuya davon ab und erst hier beginnen meine Gedanken wieder, wie wild durcheinander zu huschen.

Kurz schreibe ich ihm von meiner vergangenen Woche, von dem Essen bei Rachel, von den wiederholten Streits mit Alec... und erwähne dabei mit keinem Wort Sakuya. Nur am Ende zögere ich lange, schreibe sogar zwei Sätze zu dem Thema, aber lösche sie sogleich wieder. Lass es Kida. Umso mehr Leute du mit in dieses Thema einbeziehst, umso schwerer ist es, nicht mehr daran zu denken... wobei es vielleicht schon gut wäre, zu erfahren, was Tatsuya dazu denkt.

Letztendlich schreibe ich nur noch einen lieben Gruß an Sai unter die Mail und schicke sie ab. Wenn ich wirklich mit ihm darüber reden will, dann sollte ich das wohl ohnehin besser telefonisch machen...

Das Mailprogramm wieder geschlossen, öffne ich den Browser, um die Seite einer unserer Kunden zu besuchen – dabei bleibe ich allerdings bei der Suchmaschine auf meiner Startseite hängen.

Ich glaube meine Finger zittern sogar ein wenig, als ich Sakuyas Namen dort eintrage und die Suche bestätige. Millisekunden später werden mir tausende Ergebnisse geliefert... Fakten, Daten, Neuigkeiten werden mir angekündigt und führen dazu, dass mir schlecht wird. Ich schließe den Browser und stehe wohl so schwungvoll auf. Timothy sieht mich fragend an. Ein Blick auf die Uhr verschafft mir Rettung.

„Ich glaub, ich hab Hunger. Kommst du mit?“
 

Alec ist scheinbar immer noch irgendwie sauer auf mich, zumindest werde ich am Abend nicht mit einem fröhlichen Strahlen begrüßt wie sonst immer. Ich gehe nicht darauf ein, sondern verschwinde ohne jegliches Gespräch im Schlafzimmer. Auf diese komische Stimmung habe ich keine Lust. Vielleicht hätte ich einfach länger im Büro bleiben sollen...

Ich klappe den Laptop auf, begebe mich aufs Bett und hole ein paar Zettel aus meiner Tasche hervor. Eigentlich sollte ich mich wohl entschuldigen – zumindest erwartet er das, und die Stimmung wäre dann auch wieder besser – aber irgendwie sehe ich nicht ein, wofür ich mich entschuldigen soll. Außerdem ist der Moment dazu jetzt wohl vergangen.
 

Ich würde sagen es ist knapp eine Stunde verstrichen, als der Ton des Fernsehers verschwindet. Selbst wenn ich ihn zuvor ausgeblendet habe, fällt mir nun auf, dass es völlig still wird. Einen Moment lang schiele ich zum Flur und tatsächlich taucht Alec dort auf. Er sieht traurig aus, nicht mehr wütend wie zuvor. Zögernd kommt er zum Bett und sieht mich forschend an. Als ich nichts sage, lässt er sich auf dem Bett nieder, seinen Kopf gegen mein Bein geschmiegt und dabei ein paar Blätter zerknickend.

Wenigstens waren es keine wichtigen, stelle ich fest, als ich sie unter ihm wegziehe.

Ich lasse meine Hand durch seine Haare fahren, gewillt, den Streit wirklich beizulegen. Es bringt nichts, sich immer an jedem einzelnen festzuhängen, dann wäre ich nur noch damit beschäftigt.

Ich nehme meine Hand wieder zurück, greife nach einem anderen Zettel. Alecs Finger streicheln mein Bein, eine Berührung, die mich nach einigen Minuten zu stören beginnt, weil ich versuche, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren.
 

„Ich hab Hunger...“, kommt es irgendwann leise.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr: halb Neun.

„Haben wir irgendwas da?“

„Ich glaub nicht, zumindest war ich nicht einkaufen. Moment, ich guck mal…“

Alec springt vom Bett. Sekunden später höre wie die Kühlschranktür auf geht und sehr schnell wieder zu.

„Darling~“, kommt es mit pfeifender Stimme. „Bestellen wir was?“

„Meinetwegen...“

Ich höre ihn in einer Schublade kramen, lese schon zum dritten Mal denselben Satz.

„Was willst du?“

„Egal... irgendwas mit Nudeln oder so...“ Eigentlich habe ich gar keinen Hunger, zumindest nicht einen solchen, als dass ich was zu essen bräuchte.

„Okay!“

Nachdem Alec bestellt hat, kriecht er zurück zu mir ins Bett zurück, schmiegt sich wieder gegen mich. Ich arbeite weiter, froh, gleich endlich fertig zu sein.
 

~ * ~
 

Der nächste Tag vergeht damit, dass ich vier Kundenbesuche hinter mich bringe. Das Gute daran: ich konnte am Morgen etwas länger schlafen, das Schlechte: ich habe eine Menge Zeit im Auto verbracht, die ich dazu nutzen konnte, über Sakuya nachzudenken.

Zu welchem Schluss ich gekommen bin? Zu keinem. X-Mal ist mir die Frage durch den Kopf gegangen, ob ich vielleicht wirklich versuchen sollte, an Sakuyas Adresse zu gelangen, und x-Mal habe ich mich dazu entschlossen, dies nicht zu tun. Was soll es auch bringen? Wieso sollte ich meine eigene Vergangenheit wieder hervorkramen? Wieso in Wunden kratzen, die es gar nicht mehr gibt? Wir führen zwei Leben, die nichts mehr miteinander zu tun haben. Genau so sollte es auch bleiben.
 

„Da bist du ja wieder!“, werde ich fröhlich begrüßt. „Wie war die Arbeit?“

„Ganz gut.“ Ich gehe ins Schlafzimmer und ziehe mich aus. „Ich geh eben duschen.“

„Okay, aber beeil dich, es gibt gleich essen!“

„Mach ich.“

Kaum stehe ich unter der Dusche, fließt ein Stückchen Anspannung meines Körpers mit dem Wasser davon. Wenn es doch so leicht wäre, alles einfach durch den Abfluss wegzujagen...

Ich höre das Telefon klingeln, entschließe mich dazu, es zu ignorieren, während ich mich in Erinnerung an einen vergangenen Streit gleich wieder etwas mehr verspanne. Ich hatte Alec damals gebeten, meine Telefonanrufe nicht zu beantworten. Ich war mir selbst darüber bewusst, dass dies eine ziemlich gemeine Bitte war, aber ich sah einfach keinen anderen Ausweg. Wie soll ich meinen Kollegen denn erklären, wer dieser Mann war, der an mein Telefon ging? Alec verstand natürlich wieder nicht im Geringsten, weshalb ich mich so anstellte, und dennoch blieb ich hart. Dann und wann, wenn Alec mit klingelndem Hörer zu mir kommt und mich leicht grimmig ansieht, kommt das schlechte Gewissen wieder in mir hoch. Dennoch, ich habe keine andere Wahl, wenn ich mein Geheimnis bewahren will.
 

Frisch geduscht und bereit für ein schönes, erholsames Abendessen verlasse ich das Bad und werde in der Küche von einem wütenden Gesicht empfangen, zusammen mit einem Zettel auf meinem Teller, auf dem eine Adresse steht, zusammen mit einem Namen, den ich nur allzu gut kenne.

Mir verschlägt es den Atem.

„Was ist das?“, kommt es sogleich giftig und sein spitzer Finger deutet auf den Zettel.

„Das... frage ich mich auch. Woher kommt die?“, sehe nun ich ihn fragend an.

„Darum geht es nicht! Sag mir, wieso dich deine Kollegin anruft und sagt, dass-“

„Du bist ans Telefon gegangen?“, rufe ich erschrocken.

„Ja, aber darum-“

„Doch, darum geht es! Ich habe dir gesagt, dass du das nicht sollst!“

„Ich hab aber auf einen Anruf gewartet!“

„Wozu hast du ein Handy?“

„Jedenfalls nicht, um mich zu verstecken!“ Alec springt auf und funkelt mich wütend an. „Ich bin dein Freund, verdammt noch mal, wieso darf ich dann nicht auch an dein Telefon gehen?“

„Du weißt genau warum!“

„Und ich verstehe es nicht!“

„Du willst es nicht verstehen!“

„Darum geht es überhaupt nicht!“

„Ach nein? Und worum geht es dann bitteschön?“

„Darum, warum deine Kollegin dir eine Adresse rausgesucht hat, von einem Freund wie sie sagte. Ein Freund? Ich kenne den Kerl, das ist doch dieser Footballspieler... was hast du mit dem zu schaffen?“

„Baseball! Aber das geht-“

„Oh, verteidigen tun wir ihn also auch noch, scheint dir ja sehr wich-“

„ALEC, verdammt noch mal!“ Ich packe ihn an den Schultern. In meinem Kopf wirbelt alles herum. Die Adresse, Sakuyas Adresse!

Alec auf seinen Stuhl zurückgedrückt, sitzt er da, mit geballten Fäusten, funkelnden Augen... aber still. Und dann sehe ich Tränen – oh bitte, nicht auch das noch.

„Was verheimlichst du vor mir?“, fragt er mit leiser, gebrochener Stimme.

„Gar nichts.“

„Ach nein? Und wieso brauchst du dann diese Adresse?“

„Ich... ich brauche sie nicht. Das hat was mit der Arbeit zu tun...“

„Aber sie sagte, dass er ein Freund von dir...“

„Das stimmt, aber das ist lange vorbei.“

„Ha... hattest du was mit ihm?“

„Nein“, lüge ich, weil ich weiß, dass er sonst erst recht anfangen würde, zu heulen.

Er nickt zögernd und schlingt dann die Arme um mich, presst seinen bebenden Körper an mich. Wieso muss er auch so verdammt eifersüchtig sein?

„Es... es tut mir leid, dass ich ans Telefon bin...“, flüstert er. „Ich... Kathy wollte uns Karten für diese Aufführung nächste Woche besorgen... also hab ich gesagt, sie solle mich bei dir anrufen, wenn es klappt... deshalb hab ich... bin ich... ich hab dich nicht verraten oder so... wirklich...“

„Ist schon gut.“ Ich streiche ihm über die Haare, innerlich was das Thema Rachel angeht aber noch nicht beruhigt. Wenn ich nur wüsste, was er am Telefon gesagt hat... Ich beschließe, das Thema dennoch fürs erste sein zu lassen. „Sorry, dass ich so ausgeflippt bin...“

Er nickt und sinkt vom Stuhl herunter, so dass wir beide auf den kalten Fußboden sacken.

„Ich liebe dich, Honey... sei mir nicht böse...“

„Bin ich nicht...“

Ich drücke ihn enger an meinen Körper, welcher nur in Shorts steckt, eigentlich mit dem Plan, ihn gleich wieder loszulassen und das lecker riechende Essen zu verschlingen, doch mein eigener Körper macht mir einen Strich durch die Rechnung, als Alec sich wahrscheinlich unabsichtlich gegen meinen Schoß bewegt.

Natürlich hat auch er das bemerkt, hebt den Kopf und grinst mich aus feuchten Augen verführerisch an. Im nächsten Moment fasst er mir in den Schritt.
 

Viel später, als Alec im Bett liegt und schläft, und ich ihm dies eigentlich gleichtun sollte, führen mich meine Schritte zurück in die Küche, wo noch immer der Zettel mit Sakuyas Adresse liegt. Mit einem Gefühl von anfangenden Kopfschmerzen lasse ich mich auf einen Stuhl sinken und starre den Zettel an.

Jetzt habe ich also eine Ausrede weniger, Sakuya nicht besuchen zu gehen...
 

~ * ~
 

Mittwoch und Donnerstag vergehen eigentlich sehr ruhig. Alec und ich sind einander sehr friedlich gestimmt... der große Ausbruch kommt erst am Freitag, als ich auf Rachel treffe. Diese erklärt mir, dass sie die Adresse von ihrer Nichte habe, die schon mal bei Sakuyas Haus war – wie ein verrückter Fan halt. Ansonsten verhält sie sich ganz normal und jegliche Sorge ist eigentlich gerade am verfliegen, würde sie mir nicht zum Abschied, unterstützt von einem Zwinkern, einen lieben Gruß an meinen Freund mitgeben. Ihr gegenüber verschlägt es mir die Sprache und ich nicke nur, während ich auf dem Nachhauseweg innerlich koche. Fast Mordgedanken schwirren in meinem Kopf herum – er kann nur froh sein, dass es nur Rachel war! Wie es aussieht, hat sie damit kein Problem, wahrscheinlich wird sie es auch keinem sagen... aber wenn es irgendwer sonst gewesen wäre!

Zuhause kommt es zum riesigen Streit, der nicht so leicht zu schlichten ist, wie der Streit zwei Tage zuvor. Vor allem nicht, da Alec mittendrin das Thema aufkommen lässt, dass ich nicht zu ihm ziehen will, und so ist der Streit perfekt. Wütend verlässt Alec meine Wohnung und lässt sich den restlichen Tag nicht mehr blicken. Seit langem schlafe ich mal wieder alleine und stelle fest, dass es ein ungewohntes, wenn auch nicht schlechtes Gefühl ist.
 

Was das Thema Sakuya angeht, so sind die Tage Mittwoch bis Freitag wiederum weniger ruhig – in mir drin. Die Adresse ist in meinem Nachttisch verschwunden und seitdem hängen meine Gedanken an diesem. Wieso ich ihn nicht weggeschmissen habe? Es ging einfach nicht... selbst wenn ich nicht vorhabe, dorthin zu fahren... nein... einfach vernichten kann ich diese Möglichkeit trotzdem nicht...

Irgendwie ist das Ganze doch schon fast Ironie des Schicksals, nicht wahr? Ich hätte Boston wählen können, er hätte wahrscheinlich viele andere Orte wählen können... aber nein, wir haben uns beide für San Francisco entschieden... vielleicht ist es wirklich Schicksal...

So oft ich diesen Gedanken denke, so oft verneine ich ihn auch wieder. Ich habe nie an so etwas wie Schicksal geglaubt, nie an eine höhere Macht, die bestimmt, wann man welchem Menschen begegnet... also kann ich auch jetzt nicht daran glauben, selbst wenn alles so zufällig ist, dass es schon fast kein Zufall mehr sein kann.

Doch eigentlich braucht mich all das doch nicht zu interessieren, solange ich der Sache nicht nachgehe, nicht wahr? Solange kann es mir egal sein, wie es dazu gekommen ist... Ich muss einfach nur nicht zu ihm gehen.
 

~ * ~
 

Den Samstag beginne ich mit Arbeit und am Mittag mache ich mich auf den Heimweg, nicht wirklich wissend, was ich dort nun machen soll. Was ich vorfinde, ist ein zerknirschter Alec in meinem Wohnzimmer, der gerade irgendeines seiner Klatschblätter liest, als ich nach Hause komme. Sofort als ich das Wohnzimmer betrete, schlägt er die Zeitschrift zu und blinzelt mich an.

Zögernd setze ich mich neben ihn, nicht sicher, was ich nun sagen soll – wohl ebenso wie er, weshalb uns zunächst nur Stille umfängt. Wartet er darauf, dass ich mich entschuldige? Warte ich darauf, dass er sich entschuldigt? Und macht all das überhaupt Sinn? Wir haben uns über Themen gestritten, die wieder aufkommen werden, wieder und wieder... es bringt nichts, sich jedes Mal zu entschuldigen, für einen Standpunkt, den man auch das nächste Mal noch unterstützt. Aber was sollen wir dann tun? Uns trennen?

Ich sehe ihn an, sehe seine traurigen Augen, und frage mich wie so oft, wie lange diese Beziehung das wohl noch aushalten wird. Es tut mir leid, dass ich so denke, tut mir Leid für ihn, da ich weiß, wie sehr er an mir hängt... doch ich weiß auch, dass ich nur realistisch denke. Wahrscheinlich sollte man all das wirklich einfach endlich beenden...

„Wir drehen uns im Kreis“, spreche ich und sehe das Unverständnis in seinem Blick. „Vielleicht sollten wir-“

„Nein“, unterbricht er mich. „Egal was du gerade sagen wolltest, sag es nicht!“

„Aber-“

„Nein! Bitte, ich will es nicht hören.“

Alec greift nach meiner Hand und führt sie an seine Lippen.

„Wir hatten einen furchtbaren Streit“, flüstert er und der Atem streicht über meine Finger. „Dir tut es leid, mir tut es leid. Also lass es uns vergessen und da weitermachen, wo wir am Donnerstag aufgehört haben. Es war doch schön, oder?“

„Ja...“, spreche ich zögernd. Wenn es friedliche Tage gibt, ist es wirklich schön mit Alec... dann ist es so, wie es noch vor ein paar Wochen war, als diese Beziehung noch frisch war, als ich die ganzen Konflikte noch nicht kannte... aber jetzt haben wir Ende August und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir uns das nächste Mal streiten. Es ist schade, aber so ist unsere Realität.

„Dann lass uns da weitermachen, ja?“

Ich sehe ihn immer noch an und spüre seine Lippen an meiner Hand... dann entziehe ich sie ihm und stehe auf.

„Es geht nicht, Alec“, spreche ich und blicke zur Wand.

„Wie... was meinst du... damit?“

„Ich... kann so nicht weiter machen.“ Ich starre das Bild an, doch im nächsten Moment werde ich herumgerissen, sehe in ein Gesicht voller Trauer und Wut.

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“

„Doch“, sage ich, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. Eigentlich habe ich ihn doch schon viel zu lange in mir getragen, diesen Entschluss.

„Aber... das kannst du doch nicht tun!“ Tränen, Unmengen von ihnen fließen nun seine Wangen hinab. Ich spüre den Instinkt, meine Finger danach auszustrecken, doch tue ich es nicht. „Bitte Kida... Ich liebe dich doch... ich...“ Er drückt sich an mich, küsst mich... und ich schiebe ihn weg.

„Es ist besser so“, sage ich und halte ihn an den Schultern auf Abstand. „Wir tun uns nur immer wieder weh... Ich tu dir nur immer wieder weh. Spätestens wenn du Oakland wohnst wird es ohnehin vorbei sein.“

„Wieso sollte es das? Wir können uns doch trotzdem-“

„Du weißt, dass unsere Beziehung nicht so fest ist, dass das funktionieren könnte. Das ist doch auch der Grund, weshalb du unbedingt willst, dass ich mitgehe... weil du weißt, dass es sonst vorbei ist.“

„Nein, das stimmt nicht... das...“ Er verstummt, schluchzt... schüttelt im nächsten Moment meine Hände ab. „Ich liebe dich“, flüstert er mit gebrochener Stimme. „Liebst du mich denn gar nicht?“ Flehende Augen blicken in meine... und erhalten eine Antwort, die ich schon viel zu lange auf den Lippen trage:

„Nein. Nicht so, wie du es dir wünschst.“
 

Eine Stunde nachdem Alec meine Wohnung weinend verlassen hat, kommen auch mir die Tränen. Ich sitze auf meinem Sofa und starre schon seit geraumer Zeit vor mich hin... und sehe ihn vor mir, wie er da stand, mit roten, nassen Wangen und zitternden Fäusten... Dieser Anblick tat mehr weh, als ich geglaubt hatte. Aber vielleicht ist das logisch, schließlich ist es nicht einfach, mit jemandem Schluss zu machen, wenn man auch nur ein wenig mag... oder?

Ich seufze tief und schließe die Augen, höre noch immer seine flehenden Versuche, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

Ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe? Eigentlich denke ich das schon, aber...
 

~ * ~
 

Am Sonntag schlafe ich sehr lange nachdem ich zuvor kaum ein Auge zutun konnte. Als ich dann gegen Mittag aufstehe, holen mich Unmengen an Gedanken ein. Alec... Sakuya... viel zu viele unschöne Dinge, die in den letzten Tagen passiert sind. Kann man nicht einfach auf Zurück drücken, und alles noch mal erleben?

Doch was genau würde ich ändern? Und wo würde ich Anfangen, etwas zu ändern?

Mit solchen und ähnlichen deprimierenden Gedanken vergeht die erste wache Stunde dieses Tages bis ich beschließe, keine Lust mehr auf pures Nachdenken zu haben. Also verbringe ich die nächsten Stunden mit Aufräumen, Putzen, Kochen, Musikhören, Fernsehen... und dem ständigen Verdrängen von bestimmten Namen und Gesichtern.

Irgendwann gegen Nachmittag klingelt das Telefon. Tatsuya ist am Apparat. Erfreut über diese neue Ablenkung lasse ich mich aufs Sofa fallen, berichte ihm über meine vergangenen Tage – und schließlich auch über die neuste Entwicklung.

„Dabei wollte ich ihm nie wehzutun...“, schließe ich.

„So etwas geht aber nun leider nicht ohne...“

„Ja, leider...“

„Wirklich schade. Ich habe echt gedacht, du hast jemanden gefunden, den du lieben kannst...“

„Das hast du schon mal gesagt.“

„Ich weiß.“

„Mach dir lieber Gedanken um deine eigene Beziehung...“

„Ah, das war fies...“ Ein tiefes Atmen. „Du weißt, dass ich nicht gerne daran denke...“

„Ja. Wie geht es ihm denn?“

„Ganz gut, im Moment. Die Arbeit ist halt stressig, er ist fast nie da und ich vermisse ihn... das übliche halt...“

„Tut mir Leid...“

„Ja, mir auch... Hey, warte mal, wieso reden wir jetzt über mich?“

Ich grinse in den Hörer. „Ablenkungsmanöver erfolgreich.“

Ein Lachen am anderen Ende der Leitung. „Na okay, lassen wir die Themen. Was gibt es sonst Neues?“

„Das sollte ich wohl eher dich fragen. Apropos, hast du was von Ryouta gehört?“

„Nein... und irgendwie gefällt mir das nicht. Ich weiß halt nur, dass bei den letzten Untersuchungen alles okay war... danach hat er sich nicht mehr gemeldet.“

„Vielleicht solltest du einfach mal vorbeigehen...“

„Das hab ich auch schon gedacht... mal sehen... Ach, übrigens, rate mal, wen ich gestern getroffen habe...“

Damit sind wir weg von den deprimierenden Themen, hin zu erfreulicheren Dinge... und während ich so das Gespräch mit Tatsuya weiterführe, verschwindet auch ein anderer Gedanke aus meinem Kopf, nämlich der, ihm das mit Sakuya zu erzählen. Ich hatte wirklich daran gedacht, einfach weil es vielleicht gut wäre, mit jemandem darüber zu sprechen, der die Situation kennt... Aber wahrscheinlich würde ich so die Bedeutung der Sache unterstreichen, sie wichtiger machen, als sie sein sollte... So also erwähne ich Sakuya mit keinem Wort und wir legen auf, mit dem üblichen Versprechen, anzurufen, wenn was Wichtiges ist. Einen Moment lang starre ich den Hörer an, mit dem Gefühl, ihm etwas verschwiegen zu haben... aber nein, es ist immerhin nichts Wichtiges... oder?
 

Knapp eine Stunde später sitze ich über meinen Arbeitsunterlagen gebeugt, habe es geschafft, der Versuchung, erneut nach Sakuya im Internet zu suchen, nicht nachzugeben, und suche mir gerade noch mal die wichtigsten Fakten heraus, die ich den zwei Kunden, die ich morgen treffen werde, präsentieren will. Ich schreibe alle feinsäuberlich auf die dazugehörigen Zettel, irgendwo unter den Adressen, auf die Sekunden später mein Auge fällt... und auf denen es hängen bleibt.

Pacific Heights.

Ich überlege, ich denke, krame schließlich in meinem Nachttisch und bereue dann, dies getan zu haben. Gerade mal zwei Blöcke liegt eine der Adressen, zu denen ich morgen muss, von Sakuyas entfernt.
 

~ * ~
 

Ich komme wohl nicht darum herum, mir einzugestehen, dass ich noch nie so unkonzentriert bei der Arbeit war, wie an diesem Tag. Ständig, immer wieder muss ich daran denken, dass ich bald ganz in seiner Nähe sein werde... und als ich es dann bin, mit dem anderen Kunden ein angeregtes Gespräch führen sollte, werde ich nur immer nervöser.

Nur zwei Blöcke sind es... nur ein Katzensprung... keine Distanz, die schwierig zu überwinden wäre. Oh Hilfe, Konzentration, komm zurück!

Der Hilferuf funktioniert natürlich nicht. Viel zu oft verhasple ich mich und würde am liebsten im Boden versinken. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, meiner Arbeit nicht im Geringsten nachkommen zu können... und als ich schließlich wieder in meinem Auto sitze, wünsche ich mir dies riesige Erdbeben herbei, von dem immer alle Sprechen, damit ich an was anderes denken kann.

Natürlich bleibt die Erde still und so bleibe auch ich still in meinem Auto sitzen... Sakuyas Adresse in der Hand, auch wenn sie sich schon in meinen Kopf eingebrannt hat.

Vielleicht sollte ich einfach hinfahren, mir das Haus von der Straße aus anschauen, und sofort wieder verschwinden. Vielleicht kann ich mich dann endlich auf etwas anderes konzentrieren, wenn ich weiß wie er jetzt wohnt – ach, dass ich nicht lache! Er wohnt in den Pacific Heights, ich weiß, wie er wohnt: Reich, Nobel... so wie er es verdient hat.

Ich starte den Wagen und fahre von der Auffahrt herunter, auf der ich wahrscheinlich schon viel zu lange stand. Ich zerknülle den Zettel in meiner Hand und werfe ihn auf den Rücksitz, schlage den Weg nach rechts ein und beschließe, nach Hause zu fahren.

An der nächsten Möglichkeit drehe ich um. Drei Straßenecken zurück zur Ausgangsposition, an dem Haus vorbei, von dem ich soeben kam. Es wird mir keine Ruhe lassen, wenn ich es nicht wenigstens gesehen habe!
 

Als ich da bin, bleibe ich wie angewurzelt sitzen. Es ist nicht das prachtvolle Haus, das mich atemlos werden lässt, sondern die Sache an sich. Wie ein bescheuerter Groupie starre ich das Haus an und bereue, hier zu sein. Wie könnte ich denn jetzt so einfach wieder fahren?

Ich parke den Wagen am gegenüberliegenden Seitenstreifen und steige aus. Es ist falsch, hier zu sein, vollkommen falsch! Und dennoch tragen mich meine Füße über die Straße.

Es ist schon komisch, zu wissen, dass er nun in diesem wunderschönen Haus wohnt. Sicher, er ist ein Baseballstar, er wird schon genug verdienen, um sich so etwas leisten zu können... aber alleine wird er wohl trotzdem nicht hier wohnen...

Mein Blick fällt auf den Briefkasten, auf dem ein kleines Namensschild prangt. Einen Schritt näher gehe ich heran, neugierig mit wem er wohl in diesem riesigen Haus wohnen mag. Als ich es dann sehe, stocke ich.

S. M. Ryan, K. Wyans, C. Sheridan

„Wyans?“, spreche ich leise, mehr verwundert darüber, als über einen dritten Namen. Kevin ist auch hier?

Ich sehe wieder zum Haus hinüber, mit einem plötzlich ganz mulmigen Gefühl in der Magengegend. Meine Finger berühren einen der schwarzen Gitterstäbe. Das Metall ist kalt... und im nächsten Moment entzieht es sich mir. Irgendwie erschrocken sehe ich mich um, sehe kein Auto oder keinen Menschen weit und breit, sehe nur die Kamera, die mich anstarrt. Ob er mich... ob einer von ihnen mich gesehen hat?

Bei dieser Erkenntnis will ich umdrehen und gehen – was mache ich bloß hier? - doch ich entscheide mich dagegen. Ich bin hier, das Tor steht auf, ich kann hindurch... ich sollte es tun.

Nein, eigentlich solltest du es nicht!, schreit mein Verstand mich an, doch aufhalten kann er mich nicht. Mit ein paar entschlossenen Schritten gehe ich auf die Eingangstür zu, wenn ich auch gegen Ende immer langsamer werde. Ich zögere, sehe mich um, trete auf die Stufen und stocke beim betrachte eines kitschigen, goldenen Türklopfers, der darauf wartet, von mir benutzt zu werden.

Ich strecke meine Hand nach ihm aus... doch sofort ziehe ich sie wieder zurück, denn mit einem Mal verlassen mich der Mut und jegliche Gründe, dies zu tun. Ich trete einen Schritt zurück.

Was mache ich hier? Was denke ich mir, herzukommen? Was soll geschehen, wenn wir aufeinander treffen? Will ich mich entschuldigen? Will ich sagen „Hey, lang nicht mehr gesehen!“? – Bin ich denn von allen guten Geistern verlassen?!

Schnell ist der Entschluss gefasst, abzuhauen, doch genau in dem Moment, als ich mich fluchtartig umdrehen will, geht vor mir die Tür auf.
 

Part 58 - Ende
 

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~ Senatswahlen
 

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Part 59

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Sakuya (by littleblaze)
 

„Was war denn?“

„Ach nichts, ich hatte nur das Gefühl, dass da draußen jemand ist, aber das kann ja eigentlich gar nicht sein.“ Gemeinsam nähern wir uns der Haustür.

„Könnte schon… ich habe das Tor aufgelassen, da wir ja sowieso sofort wieder los wollten.“ Carol-Ann schaut verlegen in die Runde. „Es war keiner draußen und ich dachte nicht, dass die paar Minuten was ausmachen.“

„Das fehlt auch noch, so ein kleiner Paparazzo, der ums Haus schleicht.“

Die Tür von Daryl geöffnet, erstarre ich. Ich hatte erwartet, auf steinerne Stufen zu schauen, auf eine grüne Rasenfläche, auf den großen Baum mit seinen viel zu schweren Ästen oder vielleicht ja wirklich genau in die Linse eines nervigen Fotografen, doch ich schaue in ein mir bekanntes, schwarzes Augenpaar, knappe zwei Meter von mir entfernt.

Augen, welche mich schwach gesehen haben, die mit mir lachten, traurig waren; Augen, die mich berührten, denen ich vertraute, welche ich einst liebte.

Sein Blick ist natürlich ebenfalls auf mich gerichtet. Zu keiner Regung fähig schaue ich ihn weiterhin nur an. Vielleicht sollte mir mein Instinkt sagen: „Renn weg!“ oder „Mach die Tür zu!“ oder irgendetwas Verrückteres, ich scheine aber fürs erste zu wirklich nichts fähig zu sein. Es ist so unlogisch, so unwirklich, dass er wirklich gerade jetzt vor mir steht.

Eine direkte Anrede, lässt ihn woanders hinschauen. Zu wem? Wer redet mit ihm? Der Versuch, etwas zu verstehen, wird von irgendwo in meinem Gehirn geblockt, wie ein heftiges Rauschen durchfährt es meine Ohren. Ihn immer noch fest im Visier, klebe ich nun an seinen Lippen. Er will antworten… was will er sagen?… ich kann nichts hören. Mein Kopf wirbelt herum. Das kann doch nicht der Wirklichkeit entsprechen…

Ich möchte zurückweichen, ich drücke mich gegen einen Körper hinter mir. Mir wird das Kind vor mir und der plötzliche Blick aller auf mir bewusst. Was ist? Warum schaut ihr alle so?

„Sakuya?“, erscheint Carol-Anns Gesicht vor mir.

„Ich...“ Mein Blick wandert von ihr zu ihm, wieder zurück und wieder zur Tür. Nervös versuche ich mich von dem Babygeschirr zu befreien, endlich hat mich der erwartete Instinkt erreicht. Ich muss hier weg!

„Ich…“ Mehrere Finger, ebenfalls versuchend mich von den Luft aufsaugenden Stricken zu befreien. Mein Atem geht ungewöhnlich schnell und ich habe das ungute Gefühl, meine Finger nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Endlich befreit, drücke ich das Bündel an Carol-Ann ab. Ein letzter Blick in die Runde und an Charize, die mich verwirrt anschaut.

Unter einem lauten Nachruf stürze ich in die Küche und reiße den passenden Schlüssel vom Board. Es dauert nur Sekunden, bis die Maschine unter mir aufschreit und die kleinen Kieselsteine mir Platz machen.

Die Auffahrt, das Tor hinter mir schaffe ich es gerade mal zwei Ecken weiter. Die Straße ist zu viel für mich, ich zittere. Ich stoppe, brauche festen Boden unter den Füßen. Ich steige ab, fahre mir mit den zitternden Fingern durch die Haare und laufe in einem kleinen Abstand wild hin und her.

Das kann doch nicht wahr sein. Was tut er hier? Was will er nach all den Jahren? Wie hat er mich bloß hier gefunden? Ok, mich zu finden, war wohl die kleinste Schwierigkeit, wird mir sofort klar, aber was bringt ihn dazu einfach so wieder aufzutauchen? Was will er, was passiert gerade… was erzählt er ihnen jetzt? Scheiße…

Ich renne die kurze Distanz zurück zum Haus, suche mir einen versteckten Winkel, um auf das Grundstück zu schauen. Auf dem Rasen sehe ich sie stehen, Kevin und ihn. Sie reden. Natürlich… Kevin hätte es niemals zugelassen, dass er mich in Schwierigkeiten bringt, eher hätte er ihn K.O. gehen lassen… Sie schütteln sich die Hand, nein, er reicht ihm etwas. Was? Ein Brief, eine Telefonnummer, was? Noch ein kurzer Wortwechsel, dann macht er sich auf den Weg Richtung Tor. Mein Blick schweift umher… Da! Ein Toyota der älteren Klasse, nicht wirklich passend in dieser Gegend, noch nie zuvor gesehen. Es muss seiner sein. Mein Blick geht wieder zurück, immer näher kommt er dem Tor. Panik umgibt mich. Ich renne wieder zurück zu meinem Motorrad.

Immer noch zitternd flehe ich mich innerlich um Ruhe an, ich muss hier weg. Er könnte genau hier entlang kommen. Ich setze wieder auf, lasse den Motor unter mir aufbrausen und gebe Gas. Wohin ich lenke ist mir sofort klar. Ein Ort, an dem ich sicher bin, einer, an den er nicht kommen kann.
 

Durch die Sicherheitskontrolle hindurch betrete ich den rötlichen Boden, den Rasen. Mitten auf dem Feld bleibe ich stehen, schließe die Augen. Jubelnde Fans und Spieldurchsagen erreichen meine Fantasie, ehe alles wieder ruhig wird, nur noch das Rauschen von Wasser zu hören ist.

Ich öffne die Augen wieder. Die strahlende Sonne blendet meine Sicht, kein Wölkchen streift den Himmel. Sollte es an so einen Tag nicht eigentlich regnen? Sollte nicht irgendwo etwas von dem schlechten Gefühl in mir drin zu sehen sein?

„HASST DU MICH DENN WIRKLICH SO SEHR?“, schreie ich dem blendenden Himmel entgegen. Eine stoppende Bewegung aus dem Augenwinkel lässt meine Arme sinken, den Blick wenden. Über die große Distanz hinweg ist es schwer ihn zu erkennen. Er scheint nach Atem zu ringen, trippelt einige Stufen hinunter.

„Alles in Ordnung?... Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“, schallt es über die Leere der Tribüne und des Spielfeldes.

„Ja…“, schallt es zurück. „Kümmere dich um deinen eigenen Dreck!“

Nach kurzem Zögern setzt er sich wieder in Bewegung, verschwindet aus meiner Sicht. Ich lasse mich auf den Rasen nieder, strecke alle Glieder von mir.

Warum?

Warum?

„WARUM?“, schreie ich erneut empor, nicht fähig diesbezüglich einen klaren Gedanken zu fassen. Es kann doch nicht sein, dass er… deswegen… wieder hier ist. Nach all der Zeit… Wild schüttle ich den Kopf. Das kann nicht sein, es ist schon so lange vorbei. Da ist nichts mehr, gar nichts mehr… das kann es nicht sein. Aber warum dann?

Ich rolle mich auf den Bauch, sofort pickt mir einer der kurzen Grashalme in die Nase. Was will er verdammt?

„Wärst du nicht weggerannt, dann wüsstest du es jetzt“, spreche ich mich leise selbst an.

„Ja… das war sowieso eine ziemlich blöde Idee“, antworte ich mir darauf.

Wie soll ich das denn nur erklären? Ihr erklären? Was sag ich ihr, wenn sie mich fragt, was diese Reaktion sollte, wenn sie wissen möchte, wer er ist, was uns verbindet? Was?

Die Wahrheit? Nein, dafür ist es schon viel zu spät. Ich kann ihr nicht erst mit der Wahrheit kommen, nur weil er hier aufgetaucht ist. Das würde sie nur noch mehr verärgern.

Ich stelle mir die Szenerie vor, wie sie tobend auf mich einbrüllt, mich fragt, wie ich ihr so etwas Wichtiges verschweigen konnte, ob ich noch alle beisammen hätte etc., etc.

Aber ob sie mir meine Vergangenheit verzeihen könnte, eher gesagt die Lüge?

Ich drehe mich wieder auf den Rücken.

Wahrscheinlich, aber wirklich vertrauen würde sie mir nicht mehr. Obwohl… eigentlich habe ich sie doch gar nicht belogen, ihr nur einen wichtigen Teil meiner Vergangenheit verschwiegen. Sie hat mich niemals nach meiner sexuellen Orientierung gefragt, nie nachgehackt, ob Kevin und ich irgendwann mal was miteinander gehabt haben. Was schon ziemlich merkwürdig ist, aufgrund unserer langen und intensiven Freundschaft. Vielleicht haben sich ihr diese Fragen aber niemals gestellt, oder will sie die Antworten darauf vielleicht gar nicht hören?

Mist! Versuch dich doch nicht da rauszureden. Es war von Anfang an deine Schuld. Du hättest einfach von vorneherein ehrlich sein und ihr alles erzählen sollen, dann hättest du dieses Problem jetzt nicht!

Na ja, wenn er nicht aufgetaucht wäre, müsste ich jetzt keine Erklärung geben. Es ist ja mal wieder so einfach ihm die Schuld für alles zu geben. Was verdammt wollte er nur? Ist er vielleicht todkrank, stirbt bald und will alle seine Fehler verziehen wissen? Quatsch, so blöd ist doch keiner. Was dann? Was treibt ihn extra nach Amerika nur um mich aufzusuchen?

„Egal, vergiss das, finde eine Lösung für dein wirkliches Problem. Du musst eine Lösung finden.“ Ich setze mich auf. „Mit der Wahrheit kannst du jetzt nicht kommen, es würde alles nur kaputt machen. Etwas anderes…“

Es musste natürlich etwas mit ihm zu tun haben, mit ihm und Japan. Denk nach, denk nach… Er könnte mein bester Freund gewesen sein und er könnte… könnte… mit meiner Freundin geschlafen haben. Nein, Schwachsinn! Dann hätte ich ihm wahrscheinlich eine verpasst, aber wäre nicht auf und davon gebrettert.

Ich lasse mich wieder zurückfallen. Die Sonne ist nur noch am äußeren Rand des Stadions zu erkennen. Und wie ich den langen Strahlen aufmerksam folge, kommt mir tatsächlich eine ziemlich plausible Idee. Einfach, unkompliziert und glaubhaft.
 

Trotz meiner einfachen, unkomplizierten und glaubhaften Idee schaffe ich es erst Stunden später, wieder das Grundstück zu betreten. Wie nicht anders zu erwarten, treffe ich am Tor auf Kevin. Gehofft, dass eigentlich er anfangen würde zu sprechen, stehen wir uns erst einmal stumm gegenüber.

„Wie ist die Stimmung da drin?“ Ich nicke kurz in Richtung Haus.

„Könnte schlimmer sein.“

Ein dutzend Fragen durchstreifen meinen Kopf, doch möchte ich keine davon aussprechen.

„Er wollte nur “Hallo“ sagen.“

„Bitte?“, starre ich ihn ungläubig an.

„Wenigstens hat er das behauptet. Hier…“ Er zieht eine Karte aus der Hosentasche. „…die soll ich dir gehen… Falls du dich melden möchtest.“

Leicht zitternd nehme ich meine Finger wahr, welche sich keinen Millimeter vorwärts bewegen.

„Ich will nicht.“

„Deine Entscheidung“, steckt er sie wieder ein und geht ohne ein weiteres Wort in Richtung Haus davon.

Bleib stehen!, würde ich am liebsten schreien. Lass mich nicht so ungewiss darüber, was mich im Haus erwartet stehen, doch bleibe ich stumm, ihm hinterher blickend, bis er verschwindet.

Stumme, bewegungslose Momente später, verschließe ich das Tor hinter mir und lege langsam den Weg zur Garage zurück. Das Motorrad penibel genau an seinen vorherigen Ort platzierend, wobei ich es drei Mal umstellen muss, zögere ich auch hier die Konfrontation mit Charize hinaus. Jedoch fallen mir spätestens jetzt keine guten Gründe mehr ein, nicht das Haus zu betreten.

Die Küche lässt sich noch relativ leicht durchqueren, auch die Treppen lassen noch nicht wirklich ein negatives Gefühl aufkommen, wofür es der Flur danach mächtig in sich hat. Rechts höre ich Daryl lachen.

Einen Fuß vor den anderen, der Flur nur leicht erhellt von den neu angebrachten Fußbodenlichtern. Vor der Tür, bleibe ich wie zu erwarten war erst einmal wieder unruhig stehen, doch was bringt mir mein Zögern? Irgendwann muss ich eh hinein.

Leise drehe ich den Türknauf herum, vielleicht schläft sie ja schon. Na klar, das hättest du wohl gerne! Ich drücke die Tür nach innen, trete einen kleinen Schritt vor, woraufhin ich sofort versuche einem kleinen, aber ziemlich schweren Kissen auszuweichen.

„WO ZUM TEUFEL WARST DU?“, wird hemmungslos mit dem Kissen auf mich eingeschlagen. Ich versuche das Kissen zu ergattern, schaffe es zunächst nicht.

„Einfach zu verschwinden, ohne ein Wort, ohne Handy…“ In einem kurzen Moment der Schwäche greife ich das Kissen und schmeiße es durch den Raum. „..ich könnte dich erwürgen!“ Ich packe ihre nach mir schlagenden Hände und ziehe sie an mich.

„NEIN, lass mich los!“, versucht sie sich mir zu entreißen. Wir fallen. Instinktiv drehe ich mich, damit ich nicht auf ihr lande.

„Ich hoffe, es tat so richtig weh!“, gibt sie uns keine Erholungspause und ich drücke sie erneut an mich.

„Es tut mir leid.“

„Vergiss es.“

„Es tut mir leid“

„Darauf scheiß ich!“

„Bitte…“, lasse ich sie los. „…sei mir nicht böse.“

„Ich will dir aber böse sein!“, steht sie daraufhin auf. „Weißt du wie doof ich mir vorkam? Du haust einfach ab und lässt mich ohne jedes Wort stehen… vor unseren Freunden! Einfach so, ohne jedes Wort!“

„Ich sagte doch, dass es mir leid tut.“ Ich erhebe mich nun ebenfalls.

„Dann sag mir endlich, was das Ganze sollte. Warum haust du einfach so ab? Wer ist dieser Typ?“ Durchdringend schaut sie mich an.

„Sein Name ist Kida-“ Ihn zu hören, selber auszusprechen ist merkwürdig. „Kida Takahama.“

„Ich weiß wie er heißt, erzähl mir was, das ich nicht weiß.“

„Woher?“, erhebe ich mein zuvor gesenktes Gesicht.

„Kevin.“

„Was hat er dir noch erzählt?“, platzt es unkontrolliert heraus.

„Gar nichts und dabei habe ich ihm wirklich zugesetzt… Ich habe Jeffrey angerufen.“

„Wozu?“

„Aus demselben Grund warum ich ihn sonst auch immer anrufe.“

„Du hast ihn durchchecken lassen?“

„Ja.“

„Und?“, frage ich ziemlich leise und nicht wirklich so gleichgültig wie geplant. Kurz noch bleiben ihre Augen auf mir ruhen. Sie geht zu ihrem Laptop und hebt das danebenliegende Blatt hoch. Die wenigen Sekunden durchstreifen mich dutzende irre, perverse Ideen, was wohl auf diesen Blatt stehen könnte.

„Auf deine tolle Reaktion habe ich leider keine Antwort bekommen.“ Mir wird das Blatt gereicht. „Versicherungsnummer, Visum, Arbeitserlaubnis, Eltern, Geschwister, der ganz normale Kram halt. Nichts was mir irgendwie zu denken geben könnte.“

Neugierig überfliege ich selber die vielen einzelnen Informationen.

Visum und Arbeitserlaubnis sind bis Mai nächsten Jahres datiert. Er wohnt schon einige Zeit in San Francisco… ist er also gar nicht meinetwegen hier?

Toshiba? Eine Elektronikfirma, nicht wahr? Aber war-

„Also?“

„Also was?“, bin ich weiter an das Blatt gefesselt.

„Warum bist du so ausgeflippt?“

Das Blatt geht zu Boden, ich nähere mich ihr ein wenig. Ich will sie berühren, in den Arm nehmen, doch hätte dies nun eh keinen Sinn.

„Schnell und unkompliziert?“

„Ja.“ In ihren Augen liegt mehr als stummes Flehen. Unsicherheit, Angst, Nervosität… ich hasse mich dafür, doch bleibt mir meiner Meinung nach nichts anderes übrig als mit den nächsten Worten die Anfänge meines Lügennetzes zu spinnen.

„Er war damals in Japan mein bester Freund“, fange ich an und versuche dem Drang zu widerstehen, mein Gesicht abzuwenden. „Wir waren auf einer Party, ich wollte nur noch meinen Drink in Ruhe zu ende trinken aber meine… meine Freundin…“ Ich senke meinen Blick, halte kurz inne. „Sie… sie wollte nach Hause und hatte nicht groß Lust noch länger zu warten. Kida nahm sie auf seinen Roller mit und dann… dann…“ Mein Blick schnellt wieder hoch, festigt sich an ihren schönen langen Wimpern. Es tut mir so leid, mein Schatz, aber ich muss das jetzt tun. Ich tue es für uns, damit sich nichts zwischen uns stellt, damit wir weiter glücklich sein können. „…sie hat den Unfall nicht überlebt.“

Ich halte kurz die Luft an, als würde etwas meinen Hals blockieren, lasse mich dann wie in Schockzustand aufs Bett sinken.

„Oh Gott, Baby, das tut mir so schrecklich leid.“

Ihre Arme umschlingen mich und natürlich komme ich mir gerade ziemlich mies vor, ihr so eine Geschichte aufzuschwatzen, und doppelmies, da sie mir so bedingungslos zu glauben scheint.

„Das ist so schrecklich.“ Sie geht vor mir in die Knie. „Warum hast du mir das nicht-“

„Ich wollte das einfach nur vergessen“, schmiege ich meinen Kopf an ihre Schulter.

„Das ist… Gott, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es tut mir leid, dass ich so irre reagiert habe…“

„Woher hättest du es denn wissen sollen?“

„Aber trotzdem, ich hätte erst einmal abwarten können, dir vertrauen können, bevor ich so einen Wind um die ganze Sache mache.“

„Ist schon in Ordnung.“ Ich streichle ihr über die Wange, gleite den Arm hinunter bis zur Hand und streife dabei das Armband.

„Ist… ist das Ihres?“ Ihre Hand bleibt auf meiner liegen. Das Armband, ich sehe es an, berühre es kurz.

„Die Person, die dieses Armband eins getragen hat, gibt es nicht mehr.“ Wenigstens für mich nicht, festige ich diesen Gedanken.

„Und nach dem Unfall?“ Sie will sich mir ein Stück entziehen, wahrscheinlich um mich richtig ansehen zu können. Doch lasse ich das nicht zu, kann ihr jetzt nicht in die Augen schauen.

„Nichts“, flüstere ich schon beinahe.

„Nichts?“

„Es war ein Unfall, er konnte nichts dafür. Trotzdem… ich habe es nicht geschafft, ihm zu verzeihen und dann, dann sind wir auch schon wieder zurück nach Boston gezogen.“

„Du hast danach also nicht noch einmal mit ihm geredet? Keine Aussprache?“

Ich schüttle leicht den Kopf.

„Warum denn nicht?“

„Für mich gab es einfach nichts zu bereden. Ich war sechzehn, meine Freundin war tot und er war für mich schuld daran. Was gab es da noch zu sagen?“

Die nächsten Minuten halte ich sie einfach nur schweigend im Arm, während sie mir sanft über den Rücken streicht.

„Ich muss mit Kevin reden und mich bei Carol-Ann für mein blödes Benehmen entschuldigen.“

„Ok“, lässt sie vorsichtig von mir ab. „Soll ich mitkommen?“

„Schon gut.“

Ich stehe auf, entferne mich, wobei unsere Hände noch ziemlich lange Kontakt halten. Erst an der Tür angekommen reißt dieser ab. Beinahe draußen, drehe ich mich nochmals um.

„Ich will auch… nicht mehr daran erinnert werden, okay?“

„Okay, aber denkst du nicht, dass es vielleicht doch besser wäre, mir ihm z-“

„Ich möchte es einfach nicht“, unterbreche ich sie mit fester Stimme.

„Kapiert“, hebt sie ein wenig abwehrend die Hände. Ich mache noch einmal kehrt.

„Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“

„Mehr als alles andere und mehr als ich je alles andere geliebt habe.“

„Das freut mich“, lächelt sie mir entgegen.

„Das hat dich auch gefälligst zu freuen“, spiegle ich ihren Gesichtsausdruck wieder, woraufhin sich sanft unsere Lippen berühren. Ich zwicke sie spielerisch in die Seite, was ein lautes Lachen zur Folge hat. Ich packe sie im Nacken und ziehe sie nahe an mich.

„Ich würde nicht ohne dich leben wollen.“

„Musst du zum Glück ja auch nicht.“

Wir küssen uns.
 

„Warum hast du ihr seinen Namen gesagt?“ Ich lasse mich neben ihn fallen.

„Irgendetwas musste ich ihr ja schließlich sagen.“

Peinlich genau erzähle ich ihm daraufhin meine neu erfundene Vergangenheit.

„Und das hat sie dir abgekauft?“

„Warum nicht, klingt immerhin ziemlich plausibel.“

„Und fühlst du dich jetzt gut damit?“

„Nein.“ Ich rutsche nach hinten und lehne mich gegen den Kissenstapel. Zaghaft schiebe ich mich an seine Schulter heran, lege meinen Kopf dagegen. „Aber was hätte ich sonst tun soll? Ihr die Wahrheit erzählen?“

„Warum nicht?“, steht er auf und lässt meinen Kopf in der Schwebe hängen. „Verschwinde aus meinem Bett. Ich hab es satt, dass du immer nur ankommst, wenn dich irgendwas juckt. Hast du eigentlich schon bemerkt, dass ich gerade selber nicht wirklich was mit mir anzufangen weiß? Ich habe gerade eine Beziehung beendet.“

„Das weiß ich doch, immerhin hast du es mir erzählt.“ Ich stehe auf.

„Oh ja, danke, dass du wenigstens das zur Kenntnis genommen hast.“

„Sag mal, was ist denn auf einmal los?“

„Nichts ist los, gar nichts.“ Die Decken werden heftig zurückgeschlagen. „Ich hab gerade nur echt keinen Bock wieder mal in deine Schwierigkeiten hinein gezogen zu werden. Weißt du was…“ Er geht an mir vorbei und kramt in seiner abgelegten Hose nach etwas. „Hier, nimm sie, ruf ihn an. Mach was du willst, aber halt mich da raus, ok?“

„Ich will sie nicht“, lasse ich die Visitenkarte zu Boden gleiten.

„Das ist mir, wie schon gesagt, scheiß egal. Halt mich nur da raus!“ Seine Hand fährt scharf durch die Luft, sein Blick wütend.

„Was denkst d-“

„Es ist mir egal“, komme ich erst gar nicht zu Wort. „Egal…verstehst du?“

„Verstehe… dann… gute Nacht.“

Die Tür leise hinter mir zugezogen bleibe ich wie angewurzelt im Flur stehen. Das gerade Geschehene kann ich nicht einordnen. Habe ich irgendetwas Falsches gesagt? Warum ist er auf einmal so wütend geworden?

Auch bei Carol-Ann stoße ich auf keine große Zustimmung.

„Sag ihr doch einfach die Wahrheit.“

„Das kann er doch nicht tun“, stellt sich wenigstens einer auf meine Seite.

„Warum kann er das nicht tun?“, funkelt sie Daryl an.

„Frauen können nun einmal nicht gut mit der Wahrheit umgehen.“

„Du bekommst gleicht meine Wahrheit zu spüren.“

„Ok, du hast gewonnen, Schatz… Sakuya, sag es ihr.“

„Nein, ich werde bei der Geschichte bleiben. Ihr müsst ja nicht meiner Meinung se-“

„Wir sollen NUR für dich lügen.“

„Das habe ich nicht verlangt. Die Geschichte könnte euch genauso neu sein wie ihr.“

„Mir schmeckt das gar nicht… dir auch nicht Amber, nicht wahr?“

„Das ist unfair“, lächle ich. „Zieh sie da nicht mir rein.“

„Was denn? Sie soll schon früh merken, was für Schweine Männer sind.“

„Gib sie mir mal.“

Zärtlich schmiege ich den kleinen Körper an mich.

„Habt ihr eigentlich ne Ahnung, was mit Kevin los ist?“

„Abgesehen davon, dass er ziemlich down ist wegen der Sache mit Marc?“

„Ist er das?“

„Sag mal, wo schwebst du eigentlich rum? Er war das ganze Wochenende mies drauf.“

„Ist mir ehrlich gesagt gar nicht aufgefallen“, wiege ich meinen Oberkörper hin und her.

„Dafür ist mir etwas aufgefallen.“

„Was denn?“, werde ich neugierig.

„Kidas Haare waren kürzer als auf den Fotos von früher.“

„Ja, und er sah aus wie so ein nerviger Vertreter, dem man am liebsten die Tür gleich wieder vor der Nase zuschlägt. Zuerst juckte es mich da echt in den Fingern. Hab ganz schön lange gebraucht, bis ich endlich geschaltet habe.“

„Hört auf“, unterbreche ich ihr aufgenommenes Lachen. „Das ist vorbei, Vergangenheit. Bitte lasst es bleiben, über ihn zu reden.“ Ich reiche Amber an Carol-Ann zurück.

„War nicht böse gemeint, Alter.“

„Ich weiß… gute Nacht.“
 

Wieder zurück im Schlafzimmer erwartet mich ein hinter dem Laptop hervorschauender, bemitleidender Blick.

„Hast du eigentlich schon etwas gegessen?“

„Nein.“

„Soll ich dir schnell was machen?“

„Nein, ich habe keinen Hunger.“

„Verstehe“, schlüpft sie aus dem Bett und schaltet den Laptop aus. Ich gehe ins Bad, entkleide mich und schmeiße meine Sachen in den Wäschekorb. Mein Spiegelbild präsentiert mir ein elendes, verlogenes Schwein.

Mit großer Hingabe putze ich mir die Zähne. Diese Farce aufrecht zu erhalten, könnte schwieriger sein als geglaubt. Warum kann sie es nicht einfach auf sich beruhen lassen? Muss sie nachhaken, mich bemitleiden? Ich seife mir die Hände ein, lasse den Schaum immer mehr werden.

„Ich liebe dich, Sakuya Michael Ryan.“

Ich schnelle zurück, weg vom Waschbecken.

„Schatz?“

„Alles in Ordnung“, schaue ich mich verwirrt um. „War nur ein Zahnputzbecher.“

Meine Hände sind immer noch mit Schaum bedeckt. Wie in Zeitlupe trete ich wieder an das Waschbecken, blicke mich suchend um. Was erwarte ich denn bitteschön zu finden?

Ich lasse den Schaum in den Ausguss fließen und verlasse das Bad. Die noch feuchten Hände gleiten durch mein Gesicht und über meine Brust.

Ich lege meine Uhr auf den Nachttisch, lösche das Licht und krieche unter die Bettdecke.

„Mmhh, du bist schön kalt.“

„Wärmst du mich ein wenig?“

„Wie warm hättest du es denn gerne?“ Ihre Finger setzen sich zärtlich auf meine Brust.

„Spürst du es? Wie aufgeregt ich bin?“

„Ja... und ich bin es ebenso, wie du...“

„Ich weiß nicht, was ich tun soll...“

„Liebe mich einfach.“

„Das tue ich.“

In Windeseile bringe ich gut einen Meter zwischen uns und klatsche zwei Mal laut in die Hände, damit sich das Licht wieder einschaltet. Ein erschrockener Ausdruck trifft mich.

„Was… h.. ast.. du… gesagt“, zittert meine Stimme.

„Nur wie warm du es gerne hättest? Was ist denn los?“

„Nichts, gar nichts…“ Ich klatsche abermals in die Hände, obwohl ein größerer Drang mich dazu bringen möchte, unter dem Bett und im Schrank nach einem ungebetenen Gast Ausschau zu halten. „Lass uns einfach nur schlafen.“ Fest kuschle ich mich an ihren Körper, streife immer wieder durch ihr Haar.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Ja, lass uns nur schlafen“, küsse ich sie sanft in den Nacken. Werde ich jetzt total verrückt? Ist das die Strafe für meine Verlogenheit?
 

Gegen zwei Uhr in der Nacht und mit nicht eine Minute Schlaf stehe ich wieder auf. Mir stundenlanges Schäfchenzählen aufgezwungen, um nur ja nicht anderen Gedanken nachzuhängen, überkommt mich nun ein quälender Hunger.

In der Küche schnappe ich mir eine Platte mit kaltem Huhn und einigen Stücken Käse. Doch schon nach den ersten paar Bissen ist der Hunger so gut wie verschwunden.

Im Büro verzichte ich auf Licht, schalte nur den Computer an. Auf der Google-Startseite gebe ich den Suchbegriff „Toshiba San Francisco“ ein. Sekunden später blicke ich auf Adresse und Telefonnummer des Betriebes. Ich wende mich dem ab, indem ich mir die Kurse einiger Aktien anschaue, meinen Maileingang checke und einige Fotos bearbeite.

Die Fotos bringen mich schließlich auf den großen, braunen Umschlag, der zuvor in einer der Kisten lag, welche wir in diesem Raum verstaut hatten. Doch wo war dieser Umschlag jetzt hingekommen?

Nicht wegen dem Inhalt, sondern eher wegen der Unwissenheit, fange ich an, den Umschlag zu suchen. Immerhin muss das Ding ja irgendwo sein. Einiges in diesem Umschlag sollte besser nicht von Charize gesehen werden… warum hatte ich nicht schon vorher an dieses scheiß Ding gedacht? Wo ist der nur hin?

Ich räume Schubladen aus und krame in Bücherregalen. Nichts!

Wo würde ich einen großen Umschlag mit der Aufschrift: „Sakuya! Private!“ hinlegen… wenn ich eine Frau wäre? Wo legen Frauen private Dinge hin, Dinge, die nicht jeder sehen soll? Sie verstecken sie… Ich drehe mich um mich selbst… der Safe!

Ich öffne das kleine Stück gefaktes Bücherregal und gebe die Kombination in das Schloss ein. Unter einigen Dokumenten sehe ich ihn schließlich, immer noch ungeöffnet, dort liegen. Vorsichtig als wäre er zerbrechlich nehme ich ihn hinaus, schließe den Safe wieder. Im Licht der Schreibtischlampe liegt er vor mir auf dem Tisch. Soll ich ihn ö-

„Sakuya?“

Einem Herzinfarkt nahe drehe ich mich um. „Ja?“

„Was tust du denn hier?“

„Ich kann nicht schlafen und du?“

„Amber… sie will einfach nicht trinken.“

„Ich helf dir.“ Ich schalte den Computer und das Licht aus und verlasse mit Daryl das Büro.

„Kein Wunder“, nehme ich die Flasche ins Visier. „Du hast den falschen Sauger erwischt. Schau her.“ Ich nehme Amber in den Arm und versuche sie mit der Flasche zu füttern, doch sie windet sich nur halb weinend umher. „Und nun pass auf.“ Schnell wechsle ich die Sauger auf dem Fläschchen aus und versuche es erneut. Friedlich und genüsslich wird nun daran genuckelt.

„Sie mag seit neuem diese geraden Sauger nicht mehr, nur noch diese Gaumengeformten. Keine Ahnung, warum wir die anderen überhaupt noch hier haben.“

„Du wirst bestimmt mal ein ganz toller Dad.“

„Das hoffe ich doch mal… aber hey, es war wirklich nur der Sauger. Setz dich.“

Vorsichtig lege ich ihm Amber in die Arme. „Siehst du, gar kein Problem mehr.“

Ein Gähnen entweicht mir und ich nehme ihnen gegenüber platz.

Und als gäbe es kein anderes Thema, fängt er natürlich wieder damit an:

„Willst du ihn denn gar nicht wiedersehen?“

„Ach komm, lass das doch endlich auf sich beruhen“, bin ich sofort wieder hellwach.

„Wirklich gar nicht?“

„Wozu denn?“

„Um ihn wiederzusehen.“

„Und was soll das bringen?“

„Ich weiß nicht… aber wolltest du nicht immer wissen, warum er sich dam-“

„Das interessiert mich schon lange nicht mehr.“

„Wirklich nicht?“

„Sag mal, du hast nicht zufällig in den letzten Stunden mit Kevin gesprochen?“

„Nein, wieso?“

„Ach, vergiss es. Alles ok, wirklich. Die Sache ist vergessen, erledigt und vorbei. Wenn ich immer noch so erpicht auf eine Antwort gewesen wäre, dann hätte ich mich schon längst in den Flieger setzten und ihn fragen können. Nur weil er jetzt zufällig in der Stadt ist, heißt das nicht, dass er automatisch wieder in mein Leben gehört.“

„Trotzdem war es ziemlich mutig von ihm, hier aufzutauchen, findest du nicht?“

„Ja, das war es ganz sicher.“
 

Wieder alleine vor dem verschlossenen Umschlag frage ich mich, wie es mit ihm am besten weitergehen soll. Wegschmeißen? Irgendwo verstecken, wo Charize ihn keinesfalls finden kann oder doch öffnen?

Das letzte Mal geschah dies, als ich den Anhänger vom Armband ungeachtet des restlichen Inhaltes hineinwarf. Schon eine ganze Weile her. Ob ich aus dem Kopf wüsste, was sich alles in ihm befindet?

Die Naht weicht dem Brieföffner. Langsam taste ich hinein und ziehe zuerst seinen Brief, seinen Abschiedsbrief an mich hinaus. Ich lege ihn beiseite, fische Kinokarten, den Anhänger, den Ohrring und einige CDs mit gesammelten Fotos hervor. Danach ein zusammengefaltetes T-Shirt. Mein Instinkt möchte daran riechen, mein Kopf aber verrät mir, dass es schon damals nicht mehr nach ihm gerochen hat.

Als nächstes ziehe ich einen weiteren Umschlag hervor. Verschlossen und unbeschrieben.

Ich nehme seinen Brief wieder an mich.

„…aber wolltest du nicht immer wissen, warum er sich dam….“

Steht doch alles hier drin, schwarz auf weiß. Wozu brauche ich noch Antworten? Ich falte den Brief auseinander, sofort springen mir die bekannten Bruchstücke entgegen:

muss ich dir erklären, was los ist… Jetzt glaube ich, dass es sein muss… Ja, ich weiß, dass du das nicht verstehst und glaub mir, eigentlich verstehe ich mich selbst nicht. Dennoch habe ich diesen Entschluss gefasst… Die letzten Wochen waren ein einziger Albtraum… dass ich dich tatsächlich verloren habe… dass es nie wieder wie vorher sein kann… weil du mir wichtiger bist, als alles andere... deshalb denke ich, dass es besser ist, wenn wir Schluss machen… Besser für dich... und natürlich auch für mich… und wir nicht mehr beide diese unmögliche Liebe teilen?

Du bist nur weggerannt. Kitsch, um damit deine Feigheit zu entschuldigen. Du hast dich damit gerechtfertigt, dass du mich nicht mehr traurig sehen wolltest… pah, wie billig von dir.

Und dennoch weiß ich, dass es richtig ist, und dass auch du irgendwann verstehen wirst, wieso es kein Zurück mehr gibt.

Nein, verstanden habe ich es niemals. Ich hätte damals alles dafür getan, alles, um nicht aufzugeben, aber dir schien das ja so richtig einfach zu fallen.

„So…“ Ich reiße den Brief entzwei. „…richtig…“ In vier Teile. „…einfach…“ In acht… weiter, bis nur noch kleine Fetzen von ihm übrig sind.

Ein kleiner Berg Papierfetzen erinnert nun nur noch an seine Existenz, ich widme mich wieder dem geschlossenen Umschlag.

Der Inhalt ist auf zwei Seiten gedruckt. Ordentlich in Times New Roman, Schriftgröße 12. An jedes einzelne Wort erinnere ich mich. Geschafft ihn abzuschicken? Nein… Ihn wegzuschmeißen? Ebenso wenig. Ein Teil von mir, doch nun auch nicht mehr wert als der Papierhaufen vor mir. Meine Hand ballt sich zu einer Faust. Die Muskeln wieder gelockert ist der Umschlag voll von Spuren der Zerstörung. Vielleicht gerade deswegen lege ich ihn danach wieder in den größeren Umschlag, zusammen mit den anderen Gegenständen.

Die Papierfetzen zusammengefegt wandern sie in den Küchenmüll, vergraben unter einigen Obst- und Gemüseresten. Den Umschlag selber verstecke ich hinter einem Schrank in meiner Dunkelkammer. Umringt von den Utensilien dieses Raumes überkommt mich der Wunsch, mich wieder einmal intensiv diesem Hobby zu widmen.

Im Schlafzimmer ist bereits der frühe Morgen zu spüren. Ich lege mich ins Bett, das Gesicht der Decke zugewandt. Nein, ich will ihn nicht wiedersehen. Warum auch?
 

~ * ~
 

Erschrocken öffne ich die Augen. Ein Traum…

Ich träumte, ich sei wieder in Tokyo. Ich sah mich am Anfang der Auffahrt stehen und ich konnte mich zuerst nicht weiter vorwärts bewegen, denn der Weg war versperrt. Ein riesiges Tor stand da, wo vorher keines gewesen war. Ein riesiges Schloss daran machte mir das Hineinkommen noch unmöglicher. Dann aber besaß ich plötzlich wie alle Träumer übernatürliche Kräfte und sprang über das riesige Hindernis hinweg.

Die eigentlich kurze Auffahrt wurde vor meinen Augen immer länger, schlängelte sich. Das Haus schien vor mir zurückzuweichen, bis ich es nicht mehr erkennen konnte.

Der Weg war schmal und ungepflegt. Ich musste herabschwingenden Ästen ausweichen. Alles schien eine drohende Gefahr vorherzusagen, aber ich schritt unbeirrt weiter. Mein Ziel war es zum Haus zu kommen.

Reglos, in finsterer Dichte drangen die Bäume immer näher an den Wegesrand. Wo vorher Stein lag, wurde der Boden nun durch Gras und Moos erstickt. Mal nach Norden, mal nach Osten wand sich der kümmerliche Pfad. Oft ummantelte mich die Angst davor, den Pfad aus den Augen zu verlieren, ihn unter der Oberfläche nicht mehr erkennen zu können, doch es tauchte immer mal wieder ein kleines Stückchen davon auf, wies mir den Weg.

Es müssen Meilen gewesen sein. Und dieser Pfad führte zu einem Labyrinth, nicht zum Haus. Nach allen Seiten hin versperrte mir das wachsende Dickicht die Sicht und ich stand da, das Herz pochte mir in der Brust und ich kämpfte mit meinen Tränen. Ich schloss meine Augen.

Als ich sie wieder öffnete, stand unser Haus vor mir. Nichts hatte sich verändert, alles schien wie damals zu sein. Die gleichen Blumen blühten auf dem Fenstersims und die Zeitung lag verträumt im Briefkasten. Ich griff nach der Türklinke, um ins Innere zu gelangen, und meine Hand wurde durch hervorsprießende Äste an die Tür geheftet. Es wurde schlagartig dunkel, die Fenster erleuchteten sich grell und die Vorhänge bauschten sich unter starkem Wind auf.

Die Tür glitt nach innen. Ich versuchte dagegen zu drücken, versuchte mich zu befreien, riss und trat gegen das sich bewegende Holz.

Die Gestalt vor mir lächelte mich sanft an. Alles wird gut, lag in seinem Blick. Er kam auf mich zu, streckte die Hand aus und für einen Moment entwich mir alle Angst. Ich wollte sie nur noch ergreifen, doch wie aus dem Nichts sprossen Äste aus den Fingern hervor…
 

Meine Hand noch einmal irritiert begutachtet verlasse ich das Bett. Ich dusche, ziehe mich an und verbringe den restlichen Nachmittag damit, mit Carol-Ann und Daryl viele süße Babyfotos von Amber zu machen.

Am Abend gehen wir zu viert Bowlen. Kevin hatte sich schon abgesetzt, bevor ich am Nachmittag aufgestanden war. Ich sehe ihn nur kurz vor dem Zubettgehen, als er sich etwas zu trinken holt. Auf meine Frage, ob alles in Ordnung ist, bekomme ich ein abgehaktes Nicken.

Die Sache mit meiner angeblich toten Freundin kommt nur einmal kurz zur Sprache als wir später im Bett liegen und Charize mich fragt, ob sie denn hübsch gewesen sei.

„Denkst du, ich würde mit hässlichen Mädchen ausgehen?“, scherze ich und küsse sie in den Nacken.

„Hast du ein Bild von ihr?“

„Nein.“

„Oh, Schade… ich hätte sie gerne einmal gesehen.“

Ich schweige.
 

~ * ~
 

Der Mittwoch fängt nicht gerade freudig an. Wir stehen versammelt vor dem Haus und warten auf das Taxi welches unsere Langzeitgäste zum Flughafen bringt.

„Sicher, dass wir euch nicht fahren sollen?“

„Abschiede am Flughafen sind so gar nicht mein Ding“, versichert Carol-Ann Charize.

„Ich werde euch vermissen.“

„Ich werd euch auch so sehr vermissen“, ist es dann doch Carol-Ann, die zuerst anfängt zu weinen. Ihre Tränen gesehen, hält mich natürlich auch nichts mehr.

„Es war so schön bei euch“, drückt sie sich an mich.

„Dann geh doch einfach nicht weg“, versuche ich unter den Tränen ein Lächeln herauszuwürgen.

„Wir sehen uns doch bald wieder… Thanksgiving ist ja nicht mehr so lange.“

„Drei Monate…“

„Das Taxi“, macht man uns aufmerksam, woraufhin wir uns voneinander trennen und eilige Wiedersehensgrüße zwischen den Anwesenden herumgehen.

„Und wehe du kannst bis Thanksgiving nicht lächeln. Ich will ein Lächeln sehen, hörst du!“, drücke ich das kleine Köpfchen an mein Gesicht.

Es wird sich noch eine weitere Runde verabschiedet und zum Abschied winken wir dem Taxi hinterher.

„Es wird nun ziemlich ruhig werden“, prophezeit Charize.

„Ja… vorerst bestimmt.“
 

Gegen Mittag treten Kevin und ich den Weg zum Stadion an. Die ganze Zeit ist es still zwischen uns, sonst gehen wir im Auto immer die Stärken und Schwächen der einzelnen Spieler durch, aber heute ist wieder einmal einer dieser Tage, an dem man besser nichts sagt, als das Falsche zu sagen.

Das heutige Spiel gegen die LA Dodgers lässt uns den morgendlichen Abschied schnell vergessen. Zuerst läuft auch alles seinen ganz gewohnten Gang: Umziehen, Aufwärmtraining, die ersten Bälle schlagen; doch unerwartet setzt ein garstiges Gefühl ein, beobachtet zu werden.

Obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gibt, sehe ich die große Zuschauermenge um mich herum nun nicht als unbekümmerte Fans an, sondern als ein gutes Versteck für eine einzige Person. Er könnte überall sein. Mich beobachten… seine Augen könnten auf jeder einzelne Bewegung von mir haften.

Sofort wird mir flau im Magen, ich fühle mich wie auf dem Präsentierteller. Doch weglaufen ist nicht, ich bin am Schlag.

„Strike!“, höre ich hinter mir aufschreien. Ich hatte den Ball nicht einmal kommen sehen. Konzentrier dich, mahne ich mich. Du redest dir da nur was ein, er ist bestimmt nicht hier… Und wenn doch? Ein Home Run würde dich retten, direkt vom Feld. Und wenn es nicht klappt, nur ein normaler Schlag? Ich wäre auf dem Feld gefangen, eine leichte Beute.

„Strike Two!“

Lass ihn einfach durch und du bist runter… nein, wir stehen zwei Punkte hinten, das kannst du nicht machen. Nicht, weil du gerade auf dem Feld überschnappst. Ich lasse den Schläger sinken, laufe ein paar Schritte. Ich drehe mich herum, versuche irgendetwas auf den Tribünen zu erkennen… keine Chance. Meine Hände schwitzen, ich reibe sie mir an der Hose ab, bevor ich mich wieder auf Position stelle. Hebe den Schläger an, warte auf den Ball und lasse ihn einfach so passieren.

„Strike out!“
 

Länger als nötig gebrauche ich nach Spielende die Wasserreserven des Stadions. Keine Lust darauf, mir blöde Kommentare anhören zu müssen oder Fragen über meinen Gesundheitszustand zu beantworten. Natürlich war niemandem entgangen, dass irgendwas nicht stimmte. Ich hatte ja nicht einmal versucht, den Ball zu erwischen. Untypischer für mich ging es ja schon gar nicht mehr. Habe ich denn wirklich so viel Panik davor, dass er mich beobachten könnte? Will ich jetzt ein Spiel nach dem anderen in den Sand setzten? Das kann es doch nicht sein.

Die Haare zum vierten Mal abgewaschen verlasse ich endlich den Duschraum. Als ich bemerkt werde, wird das gelesene Buch verstaut und aufgestanden. Ich packe mein Duschgel und Shampoo in meine Tasche.

„Schaffst du es allein nach Hause?“

„Ich dachte meine Probleme wären dir egal“, beziehe ich seine Frage sofort auf meine heutige spielerische Verfassung. „Du wolltest dich doch nur noch um deinen Scheiß kümmern“, drehe ich mich um, grinse ihn angriffslustig an. Postwendend wird sich offensiv dagegengestellt, ich lande fest mit dem Rücken an der Wand.

„Lass es, Sakuya“, verstärkt sich der Druck auf meiner Brust. „Heute ist kein guter Tag für deine Zickerein.“

„Was ist… Lust, mich zu schlagen?“ Sein wechselnder Blick scheint mir Recht zu geben. Seine Pupillen wirken erstarrt, seine Lippen zittern leicht. Es soll anscheinend nur eine Frage seiner Beherrschung sein. „Dann tu es doch….

Der Druck gegen mich verschwindet, sein Blick bleibt weiterhin bestehen. Ich spüre wie mir das Handtuch, mein einziges Kleidungsstück von den Hüften rutscht.

Er wendet sich ab.

„Nimm bitte meine Sachen mit… und… wartet nicht mit dem Essen.“
 

Um der Stille des Hauses zu entfliehen, gehen wir auswärts essen. Wir verbringen einen schönen Abend, spazieren Hand in Hand durch die beleuchteten Straßen und reden über vieles, was in letzter Zeit auf der Strecke geblieben ist. Die Themen Freundin, Japan und Kida werden zum Glück dabei nicht genannt.

Ein perfekter Abend endet natürlich mit gutem Sex und mit vielen Streicheleinheiten hinterher. Sie in den Armen haltend weiß ich, dass ich genau da bin, wo ich sein will. Und zum ersten Mal wird mir bewusst, dass ich ohne seinen damaligen Entschluss vielleicht gar nicht hierher gekommen wäre, meine Träume vielleicht aufgegeben hätte und mein Leben vielleicht ein anderes sei, das ich gar nicht leben wollen würde.

„Vielleicht sollte ich ihm doch verzeihen.“

„Vielleicht solltest du das.“
 

~ * ~
 

Den gesamten Donnerstagvormittag laufe ich nervös im Haus herum. Ich räume Dinge von einem Ort zum anderen, um sie kurz darauf wieder an ihren vorherigen Platz zu stellen, und gehe Brenda mächtig auf den Zeiger. Der Grund ist ein einfacher: Kevin ist die Nacht über nicht nach Hause gekommen. Ohne mein Wissen ist dies in den ganzen Jahren vielleicht ein halbes Dutzend Mal vorgekommen, genug um sich Sorgen zu machen.

Ich stehe in seinem Zimmer und schaue mich um. Am liebsten würde ich der Versuchung nachgeben, seine Schränke zu durchwühlen, nach einer Art Tagebuch Ausschau zu halten, irgendeinen Hinweis darauf zu finden, was ihn zur Zeit bewegt und was ihn so mächtig wütend auf mich zu machen scheint. Natürlich verletze ich seine Privatsphäre nicht, was allerdings schon ein gewaltiges Maß an Willensstärke benötigt.
 

Zirka drei Stunden vor dem heutigen Spielbeginn taucht er auf. Ich erwarte ihn in seinem Zimmer, womit er zweifelsohne nicht gerechnet hat.

„Was gibt’s?“

Am liebsten würde ich ihn genau so anfauchen, wie Charize es bei mir getan hat. Ihn fragen, ob es denn zu viel verlangt sei, mal kurz anzurufen, bescheid zu sagen oder wenigstens sein Handy nicht auszustellen, damit man ihn anrufen könnte. Doch in den letzten Stunden hatte ich einiges an Zeit, Zeit nachzudenken und irgendwie muss ich zu allererst wohl erst einmal etwas anderes sagen.

„Es tut mir leid.“

„Schön.“ Ohne sich mir zuzuwenden geht er an mir vorbei ins Bad.

„Willst du denn gar nicht wissen, was ich meine?“, versuche ich ruhig zu bleiben.

„Hat das Zeit bis morgen? Ich habe nicht gerade viel geschlafen und ich wollte mich noch eine Stunde hinhauen.“ In Unterwäsche tritt er wieder ins Zimmer, verkriecht sich in seinem Bett.

Mein Ziel ist nun ebenfalls das Bett, ich bleibe daneben stehen.

„Es tut mir leid, dass ich dir kein besserer Freund gewesen bin“, spreche ich mehr mit seinem Hinterkopf. Wahrscheinlich ist es so sogar noch leichter. „Und es tut mir leid, dass ich anscheinend überhaupt keinen Riecher dafür habe, wann es dir mal schlecht geht. Du warst immer schon stark, schon als wir Kinder waren. Du hast eigentlich niemals groß Schwäche gezeigt… witzigerweise dachte ich immer, du hättest gar keine Probleme oder würdest mit ihnen super alleine klar kommen und gar keine Hilfe haben wollen.“

In meiner kurzen Pause dreht er sich zu mir um.

„Wahrscheinlich blöd so zu denken, denn irgendwie braucht doch jeder mal Hilfe, aber ich… glaub mir, es war wirklich keine Absicht.“

„Das weiß ich und ich danke dir.“

„Wofür?“

„Dass du anscheinend ernsthaft darüber nachgedacht hast.“

„Vielleicht ein wenig spät… oder?“

„Es ist niemals zu spät.“

„Ist dann alles wieder in Ordnung… ich meine zwischen uns?“

„Ja“; er greift nach meiner Hand und drückt sie. „Alles ok.“

„Und, möchtest du jetzt über irgendetwas reden? Ich meine, so Probleme halt?“

„Nein“, lacht er leicht auf und lässt meine Hand wieder los. „Im Moment möchte ich wirklich nur ein wenig schlafen.“

„Oh… ok, ich weck dich dann wenn wir los müssen.“

„Tu das.“

„Gute Nacht.“

Zwar mit einem guten Gefühl aber immer noch mit der brennenden Frage, was ich in Zukunft besser machen, worauf ich achten sollte, verlasse ich den Flur. Die Zeit bis zum Aufbruch vertreibe ich mir mit sinnlosem Herumzappen der Kanäle.
 

~ * ~
 

Die nächsten drei Tage verbringen wir in nicht ganz so großer Harmonie, Charize Eltern sind zu Besuch. Sie können mich nicht leiden, vor Kevin haben sie regelrecht Angst. Die denken wohl, dass er sie mit irgendeinem Homo-Virus anstecken könne. Laut ihren Vorgaben sollte Charize zwei Mal die Woche eine Kirche besuchen und natürlich keinen vorehelichen Sex betreiben.

Ihren ganzen Groll gegen unsere Lebenssituation voran, lassen sie es sich aber nicht nehmen, gut drei Mal in Jahr unsere Vielfliegermeilen, sowie unser Haus zu benutzen, um einen schönen Urlaub zu verleben. Kurz und knapp, das Wochenende ist die reinste Hölle für mich, und dass Kevin sich aus dem Staub macht, ist ihm nicht einmal zu verdenken.
 

Am Montag wieder Elternfrei spukt zum ersten Mal ernsthaft die Frage umher, ob ich Kida denn nun mal wieder sehen möchte oder nicht. Was würde mir ein Treffen bringen? Eigentlich verbindet uns doch rein gar nichts außer unserer damaligen Beziehung.

Natürlich würde ich nun doch gerne wissen, welche Beweggründe ihn vor unsere Tür getrieben haben.

Und irgendwo, ganz hinten in meinem Kopf sehe ich immer die klitzekleine Variante, dass er doch aus diesen einem, diesen pur unwahrscheinlichsten aller Gründe gekommen ist. Und ich frage mich, wie man wirklich so blöd sein kann, zu glauben, dass man genau wieder dort ansetzten kann, wo alles geendet hat.

Wie er glauben konnte, dass ich ihm seine Aufgabe an mich verzeihen kann, dass er sich einreden könne, dass ich ihm noch einmal vertrauen würde. Mein jetziges Leben für ihn aufgeben, für jemanden, der mich fallengelassen hat, der keinen Glauben an uns und an eine gemeinsame Zukunft aufbringen konnte…

Doch wie gesagt, pirscht dieser Gedanke nur ganz weit hinten in meinem Kopf umher. Trotzdem kommt er auf, man kann gar nichts dagegen machen. Ist doch völlig normal, dass es so ist, wenn plötzlich ein Ex vor der Tür steht.
 

Kurz darauf betrete ich Kevins Zimmer und öffne die Schublade, in der nach meinem Wissen sein Adressbuch liegt. Sofort erblicke ich die gesuchte Visitenkarte oben drauf liegend. Ich nehme sie an mich und verlasse wieder das Zimmer.

Auf den Weg ins Büro weicht mein Blick auf die Uhr aus. Kurz nach fünf.

Ich hebe den Hörer auf, wähle ohne Zögern die Nummer. Ich weiß zwar noch nicht, ob ein „Hallo“ oder ein „Ich bin’s“ die bessere Alternative wäre, vielleicht auch direkt ein „Was willst du?“ Aber das kommt dann schon aus dem Bauch heraus. Wahrscheinlich wird er eh seinen Ohren nicht trauen und ich muss einen zweiten Anfang präsentieren.

Es klingelt zum zweiten Mal… zum dritten Mal…

„Takahama?“

Der Hörer knallt hinab.
 

~ * ~
 

Nachdem ich mich am Montag nicht zu einem weiteren Telefonat durchringen konnte, versuche ich es am Dienstag mir der direkten Konfrontation. Durch einen kleinen Anruf bei Toshiba erfahre ich, dass dienstags normaler Büroschluss um 16.00 Uhr ist, also mache ich mich pünktlich auf den Weg.

Sein Auto finde ich nach einigen Suchen auf dem Parkplatz, was mir sein Hiersein garantiert. Ich warte, ungeduldig, nervös, aber ich warte, genau 34 Minuten lang. Dann erblicke ich ihn und zwei weitere Mitarbeiter aus dem Gebäude kommend. Ein kurzer Gespräch, Verabschiedung und es werden getrennte Wege eingeschlagen. Ich halte mich hinter einem Mauervorsprung bedeckt. Seine Schritte sind gut wahrzunehmen, werden lauter… und ich lasse die Stelle verstreichen, an der ich eigentlich hervortreten, mich zeigen wollte.

Unbemerkt geht er an mir vorbei.
 

Part 59 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 60

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Kida (by Stiffy)
 

Da ist er... tatsächlich ER.

Alles scheint still zu stehen.

Oh mein Gott!

Ich will mich abwenden, will mich zwicken, um aus diesem Traum zu erwachen, doch ich tue nichts, starre ihn einfach nur an.

Das kann doch einfach nicht wahr sein!

„Können wir etwas für Sie tun?“, höre ich Worte. Schwer fällt es, den Blick zu drehen, die sprechende Person zu finden. Fragende Gesichter sehen mich an.

Dann treffe ich auf ein weiteres, mir bekanntes Gesicht. Überrascht starrt auch er mich an.

Mein Blick fährt zu Sakuya zurück, nimmt das schreckensbleiche Gesicht wahr. Mein Mund ist trocken als ich ihn öffne und ich bringe kein einziges Worte heraus.

„Sakuya?“, durchbricht eine Frauenstimme die fast gespenstige Situation.

Ich sehe sie an, sehe dann Sakuya mit einem Mal in Bewegung kommen. Seine Finger greifen nach etwas und dann erkenne ich, wovon er hektisch versucht, sich zu befreien: ein Baby.

Fast automatisch mache ich einen Schritt vorwärts.

Ich will etwas sagen – doch was? Ich schweige und lasse zu, dass er davonläuft. Ich zucke, spüre den Instinkt, hinterher zu rennen, doch irgendwas in mir hält mich auf.

Sekunden, dann liegen wieder alle Blicke auf mir. Besonders ein paar Augen aus einem dunkeln Frauengesicht funkeln mich misstrauisch an. Ich halte ihr Stand, obwohl ich hinter mir ein lautes Geräusch wahrnehme und irgendwer einen Schritt zur Tür macht.

Das Baby fängt an zu schreien.

Dann sehe ich plötzlich Kevin direkt vor mir, wie er mich fest ansieht, mit ernstem Blick.

„Komm mir raus!“, sagt er auf Japanisch, doch gerade als ich reagieren will, hält mich jemand am Handgelenk fest.

„Wer sind Sie?“, fragt die dunkelhäutige Frau argwöhnisch.

„Ich-“

„Sag jetzt bloß nichts falsches!“, kommt es zischend neben mir, wieder so, dass nur ich es verstehe. Ich sehe ihn an, dann wieder das ernste Frauengesicht.

„Ich kenne Sie nicht, also muss ich Ihnen keine Rechenschaft abgeben“, sage ich und ziehe an meinem Arm.

Als sie mich loslässt, drehe ich mich um, folge Kevin aus der Tür heraus und ziehe diese demonstrativ hinter mir zu. Mein Blick fährt die Auffahrt herunter, fast einen Fluchtweg suchend.

„Was willst du hier?“ Kevin steht mir gegenüber, mit wütenden Augen. Das Englisch seiner Worte verleiht dem Ganzen einen nahezu drohenderen Unterton.

In meinem Kopf schwirrt alles herum, nicht wirklich Worte für diese Frage findend. Mein Herz hämmert und ich versuche es zu beruhigen. Komm endlich wieder zur Fassung!, schreie ich mich an.

Seine Lippen öffnen sich erneut zum Sprechen, doch ich komme ich ihm zuvor, versuche meine Worte mit Bedacht zu wählen, obwohl sie plötzlich nur so hervorsprudeln.

„Ich weiß nicht, was ich hier mache. Ich wollte gar nicht herkommen, ich wollte grad wieder gehen... doch dann ging die Tür auf... ich weiß nicht... das ist...“ Ich breche ab, merkend, dass ich nur Stuss rede.

Kevins runzelt die Stirn, als versuche er, irgendwas meinen Worten zu entnehmen, das ich nicht gesagt habe.

„Okay... versuchen wir es noch einmal...“, sagt er dann und seine Stimme klingt ungeduldig. „Also: Warum bist du in San Francisco?“

„Wegen meiner Arbeit.“ Forschend schaut er mich an, die Lüge suchend.

„Und diese führt dich ausgerechnet heute hier her?“ Sarkasmus pur.

„Nein. Ich weiß auch nicht, warum ich hier bin. Wirklich... keine Ahnung... ich wollte einfach Hallo sagen... ich weiß nicht...“ Leise verstumme ich. Muss ich ihm überhaupt Rechenschaft ablegen?

„Das ist doch Schwachsinn!“

„Ich weiß.“

Stille. Kevin fährt sich mit einer festen Bewegung durchs Haar, sieht sich um, scheint zu überlegen. Auch ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.

„Ich glaube, ich hätte nie herkommen sollen.“

„Denk ich auch. Und darum solltest du jetzt auch besser gehen.“

„Ja.“

Ein Zögern. Ich greife nach dem Schlüssel in meiner Hosentasche und stoße dabei gegen etwas. Ich versuche meine Finger ruhig zu halten, als ich eine Karte aus ihrem Mäppchen entferne. Ich halte sie ihm hin.

„Was ist das?“

„Meine... Visitenkarte. Gibst du sie ihm?“

„Wieso sollte ich?“

Ich zucke leicht mit den Schultern, nicht wirklich einen Grund wissend. „Nur für den Fall“, sage ich dann.

Ein zögerndes Nicken, als er sie in seiner Hosentasche verschwinden lässt. „War’s das?“

„Ja.“ Ich drehe mich um, bemerkend, wie er stehen bleibt.

Mit normalem Schritt, bloß nicht zu schnell oder langsam, gehe ich auf mein Auto zu, steige hinein. Ich blicke zurück, sehe, wie Kevin sich nun in Bewegung setzt. Meine zitternde Hand lässt das Visitenkartenmäppchen fallen und dreht dann den Schlüssel in der Zündung um. Mit normalem Tempo fahre ich um die ersten zwei Ecken, doch ab der dritten werde ich schneller, verfluche jede rote Ampel und jedes langsame Auto, das mir in die Quere kommt. Ich konzentriere mich darauf, nur darauf, bis ich schließlich auf der verhältnismäßig leeren Schnellstraße angelangt bin.

„Verdammt!“, schreie ich und trete aufs Gas. „Verdammte Scheiße!“

Wut lässt meine Hände zittern, die ich ums Lenkrad kralle.

„Und was hat dir das jetzt gebracht? Gar nichts, überhaupt nichts! Du bist so verdammt bescheuert!“ Es tut gut, mich selbst anzuschreien, und dennoch brodelt meine Wut immer weiter.

Ich sehe Sakuya vor mir, diesen erschrockenen Blick, das schneeweiße Gesicht. Und deshalb war ich da? Um zu sehen, wie schockiert er über mein Auftauchen ist?

Aber was hatte ich auch erwartet? Dass er strahlen würde, sich freuen? So habe ich bei seinem Foto schließlich auch nicht reagiert.

Ein lautes, langes Hupen lässt mich zusammenzucken und auf die Bremse treten. Fast 30 MPH zu schnell. Scheiße, ich sollte mich beruhigen!

Schwierig ist es, mein Tempo zu zügeln, während noch immer die ganze Wut durch meinen Kopf rauscht. Ich bräuchte etwas, auf das ich schlagen kann – einen Sandsack mit einem Foto von mir zum Beispiel – etwas, woran ich meine Wut auslassen kann.

Aber ist es nicht eigentlich ziemlich dreist von mir, wütend auf mich selbst zu sein? Es ist ja nicht so, als habe ich ohne mein eigenes Wissen gehandelt.

Verdammt, es ist scheiße, wenn man niemandem die Schuld geben kann!

Ich drücke wieder aufs Gas. Sollen sie mich doch blitzen oder anhalten, dann hätte ich wenigstens etwas anderes, zum wütend sein.
 

Froh bin ich dennoch, als ich endlich auf dem Parkplatz ankomme. Ich zittere am ganzen Körper, nicht wirklich wissend, woher dies nun eigentlich rührt. Meine Finger lösen sich verkrampft vom Steuer, ziehen den Schlüssel heraus und tasten dann nach dem Mäppchen auf dem Beifahrersitz, ohne dass ich die Kraft habe, mit den Augen danach zu suchen. Es nicht gefunden, lasse ich es zusammen mit meiner Tasche im Wagen, steige aus und knalle die Tür zu. Ich atme tief durch, noch immer mit dem Bedürfnis, irgendwas zu zerstören, setze dann einen Fuß vor den anderen.

Kurz nur überlege ich, ob ich nicht doch wieder einsteigen soll, zurück zur Firma und arbeiten... so tun, als wäre nichts gewesen. Ich entscheide mich schnell dagegen, sicher, dass ich ohnehin nichts gebacken bekommen würde. Und stattdessen? Es wird bestimmt noch ein ganz toller Abend werden, mit den ganzen Selbstvorwürfen und meiner sich weiter aufstauenden Wut.

An der Rezeption begegne ich Joe, dem ich nur kurz zunicke, ohne mir aber ein Lächeln abzuquälen. Meine Schritte führen mich zum Aufzug. Das Knöpfen betätigt, stehe ich vor der geschlossenen Tür und spüre, wie ich Kopfschmerzen bekomme. Im nächsten Moment ruft jemand meinen Namen.

Ich fahre zusammen, auf förmlich alles vorbereitet nur darauf nicht. Die Tür vor mir öffnet sich zum Inneren des Aufzuges und während ich hinein steige, höre ich Schritte und eine bekannte Stimme näherkommen.

„Hey Kida, warte doch mal! Kida!“

Obwohl ich auf den Knopf zum Schließen der Tür drücke, schafft er es, seine Finger dazwischenzubekommen und somit die Tür automatisch wieder auffahren zu lassen. Ich sinke gegen die Wand hinter mir, erschöpft und mich gleichzeitig zusammenreißend, um ihm nicht ins Gesicht zu schreien, dass er mich in Ruhe lassen soll. Er kann doch nichts dafür!

„Kida, was hast du denn?“, spüre ich eine Hand an meiner Schulter, die ich weg schlage.

„Nichts“, fauche ich, greife mir dann an die Stirn, um mein Gesicht hinter der Hand verbergen zu können. Außerdem wird der Kopfschmerz schlimmer.

„Ist was passiert? Du bist ganz blass“, lässt er sich wie erwartet nicht so leicht abwimmeln.

„Mir geht es gut.“ Meine Stimme zittert vor Anstrengung, meine Wut im Zaum zu halten.

„Aber-“

Das „Ping“ der Fahrstuhltür lässt ihn verstummen und mich wieder die Augen öffnen. Ich trete auf den Flur hinaus, gehe schnellen Schrittes auf mein Appartement zu – und höre ihn noch immer hinter mir.

Als ich die Tür aufschließen will, fällt mir der Schlüssel zu Boden. Auch Alec beugt sich danach, doch ich reiße sie ihm sofort wieder aus den Fingern.

„Was ist denn passiert?“, klingt er zunehmend sorgenvoll.

Ich beiße mir auf die Lippe und schließe die Tür auf. Am liebsten würde ich schreien – doch was? Dass er mich nervt? Dass ich mich selbst hasse? Dass ich am besten niemals nach Amerika gekommen wäre?

Ich trete durch die nun offene Tür, will sie hinter mir zuschlagen.

„Autsch!“

Ich fahre herum, funkle ihn an. „Was bist du auch so blöd, den Fuß dazwischen zu stellen?“ Jegliches Mitleid ist bei mir gerade fehl am Platz. Ich könnte es nirgends mehr unterbringen. „Verschwinde einfach!“

Ich will die Tür zudrücken, doch er stützt sich dagegen. Ich gebe schnell nach, keine Nerven für solche bescheuerten Spiele.

„Sag mir doch was los ist! Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragt Alec, als er in mein Appartement getreten ist und die Tür verschlossen hat.

„Kannst du mir einen Sandsack besorgen?“

„Äh... was?“

„Vergiss es!“ Ich schiebe ihn unsanft zur Seite, als er mir zur Gardarobe im Weg steht. Meine Anzugjacke fällt zu Boden und ich lasse sie liegen.

Ein Arm packt mich, als ich mich umdrehe und ins Wohnzimmer verschwinden will. Wie ein Schraubstock schließt sie sich um mein Handgelenk und auch als ich daran ziehe, ziehe ich ihn nur näher an mich.

„Das ist keine gute Idee!“, funkle ich ihn drohend an, mir selbst immer wieder sagend, dass er es nur gut meint. Es hilft nichts.

Nicht einen Fingerbreit bewegt sich seine Hand, stattdessen überwindet er die kurze Distanz zwischen uns und sieht mich mit merkwürdigen Augen an.

„Ich will dir doch nur helfen“, spricht er sanft, berührt meine Wange, woraufhin ich die Hand weg schlage. Nochmals zerre ich an meiner Hand, die er nicht freigibt.

„Lass mich verdammt noch mal los!“, knurre ich ihn an.

„Nur wenn du mir sagst, was los ist!“

„Bist du meine Mutter? Scher dich um deinen eigenen Dreck!“

„Nein! Ich liebe dich, darum will ich-“

„Na klasse, das hat mir jetzt auch noch gefehlt!“, spüre ich die Wut in mir immer stärker brodeln. Ich weiß nicht mal mehr, gegen wen sie sich nun richtet. „LASS MICH LOS!“, betone ich jedes einzelne Wort.

„Nein!“

„Wenn du mich jetzt nicht sofort...!“

Meine Wut kocht über. Ich verdrehe ihm den Arm, so dass er mich loslässt, stoße ihn zurück gegen die nächste Wand und kralle ihn am Kragen.

„Bist du so blöd oder tust du nur so? Du nervst, ich habe keinen Bock auf dich, ich will meine Ruhe! Also lass mich VERDAMMT NOCH MAL in Frie-“

Lippen sind es, die mich unterbrechen.

Sogleich reiße ich mich wieder zurück, doch verharren meine Hände noch immer an seinem Kragen. Ich starre ihn an, sehe die überraschten Augen, habe das Gefühl, ihm ins Gesicht schlagen zu wollen – und küsse ihn dann wieder, indem ich ihn fest gegen die Wand und meine Lippen gegen seine presse.

Augenblicke später sind da Hände an meinem Nacken, die mich festhalten, und meine ziehen ihn am Kragen fester zu mir. Ich schmecke Blut, dringe mit meiner Zunge tiefer und spüre seinen festen Körper an meinem. In meinem Kopf wirbelt alles herum. Getrieben von meiner Wut und einer plötzlichen Begierde, ziehe ich ihn mit mir zu Boden. Wir reißen Kleider vom Leib des anderen, greifen mit festen Berührungen nacheinander und ich nehme ihn so heftig, dass er nicht nur vor Lust schreit.
 

Wahrscheinlich sind es nur Sekunden, die vergehen, denn ich spüre Alec noch immer um mich, als mein Kopf mit einem Mal so klar ist, wie er es schon seit mindestens einem ganzen Tag nicht mehr war. Sofort ziehe ich mich zurück, springe auf, stolpere ein paar Schritte rückwärts bis zu meinem Bett und sinke hinauf.

„Scheiße!“, flüstere ich zu mir selbst, während ich Alec beobachte, wie er sich am Boden aufsetzt und mich anblickt. Auf seinem Gesicht liegt ein leichtes Lächeln, welches genau das zeigt, was ich befürchte.

Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen, als er mir näher kommt, dann berührt er mein Bein.

„Kida?“

Ich zucke zusammen unter der Sanftheit seiner Stimme und schaffe es nicht, ihn anzusehen. Mir steigen Tränen in die Augen, auch wenn ich nicht genau sagen kann, woher sie kommen.

„Es tut mir leid“, höre ich meine eigene unruhige Stimme.

„Was?“

„Das, was gerade passiert ist.“

„Aber das muss es nicht.“

„Doch!“

„Weshalb?“

Ich schlucke, wische mir über die Augen, bevor ich meine Hände entferne, und hoffe, dass keine Feuchtigkeit mich verrät.

„Weil es aus ist zwischen uns.“

Alec öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Was er darauf sagen soll, weiß er wohl ebenso wenig, wie ich weiß, was ich nun tun soll. Ich stehe auf, schlinge die dünne Bettdecke um mich und gehe auf die verstreuten Kleider zu.

„Ich verstehe dich nicht“, höre ich dann plötzlich ein unterdrücktes Schluchzen hinter mir, als ich mich gerade nach seiner Jeans bücke. „Ich liebe dich, wieso können wir nicht zusammen sein?“

Ich erwidere nichts darauf, sammle seine Schuhe, seine Shorts und das Hemd vom Boden auf, um es ihm zu reichen. Alles sinkt neben der weinenden Gestalt zu Boden.

Ich starre ihn an, wie er da sitzt, und verfluche mich selbst.

„Ich wollte dir keine Hoffnungen machen“, spreche ich dann zögernd. „Es ist einfach passiert, das hat nichts mit irgendwelchen Gefühlen für dich zu tun.“

„Wie kannst du so gemein sein?“ Sein anklagender Blick trifft mich, während seine zitternden Finger zwischen seinen Kleidern die Shorts heraussuchen. „Du hast mich also einfach nur verarscht! Du hast mich ausgenu-“

„Ja, das habe ich. Es tut mir leid“, schuldig will ich den Blick senken, weiß aber, dass ich es nicht tun sollte.

Ein lauteres Schluchzen lässt mich zusammenzucken. „Und du leugnest es noch nicht mal!“, ruft er unter Tränen.

Nun drehe ich mich doch ab, da ich seinen traurig wütenden Anblick nicht länger ertrage. Hinter mir vernehme ich Schluchzen und Geräusche des Anziehens, zusammen mit leisem Fluchen. Schon unsere eigentliche Trennung war schmerzhaft genug für ihn, aber niemals hatte ich ihm so wehtun wollen. Wieso um Himmels Willen konnte ich mich nicht besser kontrollieren?

Schritte verraten, dass er im Flur steht, als sie innehalten.

„Kida?“

„Mhm?“

„Eine Frage...“

„Ja?“ Ich drehe mich zu ihm um.

„Hast du... mich von Anfang an nur benutzt?“

Seine Frage erschreckt mich, lässt mich ihn für einige Sekunden einfach nur ansehen, während sein Blick mit jeder davon trauriger wird.

Doch dann schüttle ich den Kopf, in Erinnerung daran, wie es mit uns begonnen hat. Es war vielleicht nie wirklich Liebe, aber dennoch war da irgendwas...

„Wenn du das nicht selber weißt...“, spreche ich langsam.

Er nickt, lässt dann den Blick sinken und verschwindet hinter der Ecke. Kurz darauf fällt die Appartementtür ins Schloss.

„Scheiße!“, schreie ich fast im selben Moment, kralle mir etwas, feuere es gegen die nächste Wand. Krachend fällt es zu Boden, gefolgt von zwei anderen Sachen und einem Kissen.

Dann stehe ich da, keuchend, mich verfluchend... Plötzliche Schwäche lässt mich aufs Bett sinken. Ich wickle mich enger in die Decke, obwohl mein Körper schon jetzt überhitzt ist, und vergrabe meinen Kopf im Kissen. Schwer atme ich, während mir tausende Gedanken im Kopf herumschwirren, während Bilder von Sakuyas bleichem Gesicht die von Alec ablösen und während ich mich von Sekunde zu Sekunde nur immer miserabler fühle.

„Scheiße!“

Am besten wäre ich heute Morgen einfach im Bett geblieben.
 

Es ist irgendwann mitten in der Nacht, als mich ein Hitzeschub aufweckt. Ich schleudere die Decke von mir und bin erleichtert über die relativ kühle Luft, die meine nackte Haut trifft. Dann bemerke ich das Pochen in meinem Unterleib.

Fluchend stehe ich auf, und während ich versuche, mich an den Traum zu erinnern, stelle ich mich unter das eisige Wasser der Dusche.

Als ich diese wieder verlasse, fühle ich mich vollkommen durchgefroren, und dann ist da noch mein unruhiger Magen. In einen Kimono gehüllt begebe ich mich in die Küche, fische mir einen Apfel aus der Obstschale und verziehe mich damit ins Bett zurück. Die Uhr verrät mir, dass es zwei Uhr nachts ist – ich fühle mich hellwach.

Auf dem Bett sitzend und lustlos am Apfel kauend starre ich meine Klamotten an, die noch immer zwischen Flur und Schlafzimmer auf dem Boden liegen. Ich gehe im Kopf unwichtige Sachen durch, wie, welchen Anzug ich morgen anziehen soll, nachdem ich die Hose von heute erstmal bügeln müsste, und frage mich dann, ob es eigentlich noch irgendwas zu tun gab, bevor ich morgen zur Arbeit fahre. Auf nichts kommend, wird dieser Gedanke von einem anderen abgelöst, von grünen Augen in einem erschrockenen Gesicht. Ich lege den abgekauten Apfelstrunk zur Seite und ignoriere das Knurren meines Magens, während ich versuche, das Bild wieder zu verdrängen. Soll es mich denn ewig verfolgen?

Das Licht löschend, weiß ich, dass ich nicht schlafen werde. Dennoch tausche ich Kimono gegen Decke aus und verkrieche mich darunter. Ich starre gegen das fahle Licht, das die Straßenlaternen an meine Decke werfen, und frage mich wohl zum x-ten Mal, wie ich bloß so doof sein konnte.

Was habe ich denn erwartet, wie es abläuft, wenn ich vor seiner Tür stehe? Dachte ich wirklich, er würde sich freuen, mich zu sehen? Habe ich überhaupt gedacht? War ich denn wirklich schon immer so dämlich? Habe ich in solch Situationen schon immer so bescheuert voreilig gehandelt, ohne darüber nachzudenken?

Es ist genau in dem Moment, als dieser Gedanke schon am Verfliegen ist, als plötzlich eine Erinnerung in meinem Kopf auftaucht.

„Weißt du eigentlich wie schön du bist?“

Ich spüre, wie ich rot anlaufe. Wie lange habe ich nicht mehr daran gedacht? Oh man, wie bescheuert ich damals doch war, einfach so etwas zu ihm zu sagen, aus dem Nichts heraus!

Aber jedenfalls beantwortet es meine Frage: ja, war ich!

Versuchend an andere Situationen mit anderen Liebhabern zu denken, schaffe ich es nicht, diese eine Erinnerung loszuwerden. Schleierhaft sehe ich ihn vor mir stehen, wie er es damals tat, in der Disco, als ich ihn zum ersten Mal bewusst ansah. Kaum zu glauben, dass es das schon neun Jahre her ist, erscheint mir die Situation doch immer noch sehr real. Was damals wohl passiert wäre, wenn Sakuya nicht mit Sanae getanzt hätte?

Lächelnd über eine solch merkwürdige Frage schließe ich die Augen, und ein Gähnen entweicht mir.

So was wie heute wäre dann wohl nie passiert. Vielleicht würde ich in Boston arbeiten... oder würde jetzt mit Sanae irgendwo einen Kaffee trinken und über unsere andauernde Freundschaft philosophieren. Vielleicht würde ich auch gerade mit irgendeinem Mann meine Zukunft planen. Doch ob ich überhaupt wüsste, dass ich Männer viel mehr als Frauen begehre?

Der Gedanke ist es, der mich wieder die Augen aufreißen lässt.

Ganz deutlich sehe ich mit einem Sakuya vor mir, sich nervös von dem Babygeschirr befreiend. Schlagartig sitze ich senkrecht im Bett.

Wieso wird mir das erst jetzt bewusst?

Ich schalte das Licht an, vielleicht um mir sicher zu sein, nicht in einem dunklen Traum festzusitzen.

Keine Ahnung, wieso diese Tatsache mich so überrascht. Ich hatte schließlich damit gerechnet, dass er in einer Beziehung steckt – doch irgendwie war ich mir sicher, dass es ein Mann sein würde. Wieso hätte ich ihn auch mit einer Frau sehen sollen? Oder geschweige denn mit einem Kind?

„Oh Mann“, flüstere ich und schalte das Licht wieder aus.

Die erste Überraschung, der kurze Schreck, wenn man es so nennen kann, ist verrauscht, und zurück bleibt nur die Ungläubigkeit. Hat sein Vater also doch geschafft, was er wollte: Sakuya vom Schwulsein wegbringen. Wer hätte das gedacht... Ich kann ein sarkastisches Lächeln nicht unterdrücken.
 

~ * ~
 

Erst gegen vier Uhr wieder eingeschlafen, weckt mich um sieben Uhr der Wecker mit seinem schrecklich schrillen Klingeln. Minutenlang bleibe ich liegen und kämpfe gegens Einschlafen an, bis ich es schaffe, mich endlich hochzustemmen, was letztendlich an meinem schmerzenden Magen liegt.

Eigentlich kein Freund eines großen Frühstücks stürze ich mich heute auf die Bagel als hätte ich seit Wochen nichts mehr zwischen die Zähne bekommen. Als ich fertig bin, ist mir schlecht.

Der Küche folgt ein relativ kurzer Zwischenstopp im Bad mit Toilettengang und Zähneputzen. Rasieren muss ich mich zum Glück erst wieder in ein paar Tagen.

Wieder im Schlafzimmer sammle ich die noch immer verstreuten Klamotten auf und befördere sie in die Wäsche. Anschließend kommen die Dinge dran, welche meinem kleinen Wutanfall zum Opfer fielen: Ein Notizbuch, ein normales Buch und mein nun kaputter XXX, der direkt im Müll landet.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mich zu lange aufhalte, weshalb ich mich schnell für einen Anzug entscheide, in Hose und Hemd schlüpfe und mich dann nur kurz frage, wo meine Tasche ist, bis mir die Lösung einfällt. Das Jackett überm Arm, verlasse ich mein Appartement und befinde mich schon kurz darauf in meinem Auto, wo mein erster Blick auf das Visitenkartenmäppchen am Boden des Beifahrers fällt.

Als ich den Wagen gestartet habe, kommen schon wieder Gedanken an gestern hoch.

Sakuya hat nun also wahrscheinlich meine Visitenkarte... ob er mich anrufen wird? Wohl eher nicht. Wahrscheinlich zieht er es vor, einen Geist gesehen zu haben, anstelle mich zu treffen. Eigentlich kann ich es ihm noch nicht mal verdenken...
 

Mein Arbeitstag vergeht damit, dass mich eine Mischung aus Selbstvorwürfen, Erinnerungen und Fragen quält. Ich bin mir vollkommen sicher, dass ich niemals zu ihm hätte gehen sollen, und dennoch frage ich mich, ob es vielleicht eine andere, bessere Möglichkeit gegeben hätte, mit ihm in Kontakt zu treten. Aber wieso? Wieso lässt mich dieser Gedanke nicht los? Warum habe ich es nicht geschafft, die Vergangenheit ruhen zu lassen? Wieso überhaupt haben es ein einfaches Foto und ein Artikel geschafft, mich derart aufzuwühlen? Selbst jetzt noch werde ich diese Fragen einfach nicht los.

Timothy merkt natürlich auch, dass ich fast noch abwesender bin als in der vergangenen Woche. Zwei Mal fragt er nach, doch ich schaffe es nicht, ihm irgendwas zu sagen, außer, dass er sich irrt. Schließlich zuckt er mit den Schultern, fragt dann, ob ich am Abend etwas trinken gehen wollen würde, und lässt mich dann in Ruhe, als ich auch dass verneine.

Ich bin dankbar darum, schaffe ich es doch gerade so, meine Arbeit zufriedenstellend zu erledigen. Ich habe eigentlich gar keinen Kopf für den ganzen Kram – aber das würde wohl keinen meiner Vorgesetzten interessieren.
 

So früh wie möglich mache ich an diesem Tag Feierabend. Ich sollte wirklich versuchen, einen kühlen Kopf zu bekommen. Ich packe meine Sachen zusammen, verabschiede mich von Timothy, und drehe mich erst an unserer Bürotür wieder um. Zögernd blicke ich ihn an, wie er da sitzt, über eine Akte vertieft.

„Gilt das Angebot, mit dem was Trinken gehen noch?“, frage ich zögernd, woraufhin er grinsend den Kopf hebt.

„Gib mir zehn Minuten, dann können wir los.“

„Alles klar“, nicke ich und lasse mich wieder auf meinem Stuhl nieder.

Ich beobachte Timothy, wie er ein paar Sachen in den Computer eingibt, und bin froh, diese Entscheidung getroffen zu haben. Wenn ich jetzt nach Hause fahren würde, würde mein restlicher Abend doch eh nur aus Nachdenken bestehen.

„Wollen wir noch Shawn und Ben fragen, ob sie mitkommen wollen?“, frage ich nach einer Weile, da ich mir sicher bin, dass mehr Leute gleich mehr Unterhaltung besser für mich wäre.

„Klar, wieso nicht?“

„Okay, ich geh sie fragen!“, stehe ich auf.
 

Der Abend wird ohne Frage... ablenkend, was aber eher daher rührt, dass Shawn irgendwann anfängt, über Sydney zu schwärmen, und danach auch Ben und Timothy ins Philosophieren über Frauen einsteigen. An mir ist es nun also, den guten Schein zu wahren, und mich unwohl zu fühlen – ganz so hatte ich mir den Abend nun auch nicht vorgestellt. Außerdem ist da dann noch das Problem, dass ich als einziger – aufgrund der Tatsache, dass ich noch fahren muss - keinen Alkohol trinken kann, und somit dem Ganzen vollkommen nüchtern ausgesetzt bin. Ben bietet mir zwar an, dass ich bei ihm schlafen könnte, aber ich lehne dankend ab, mit der Begründung, etwas für die morgige Arbeit zuhause liegen zu haben. In Wahrheit fühle ich mich einfach wohler dabei, schlaflose Nächte in meinen eigenen vier Wänden verbringen zu können.

Trotz des für mich nicht gerade passenden Hauptthemas bereue ich es nicht, mit den dreien weggegangen zu sein. Es hat mich zumindest auf andere Gedanken und den Abend ein ganzes Stück voran gebracht – eben genau das, was ich wollte. Und dennoch halten mich Zuhause noch bis ein Uhr meine Gedanken wach.
 

~ * ~
 

Der Mittwoch beginnt mit einem sehr beklemmten Gefühl meinerseits, und zwar, als ich Rachel auf dem Parkplatz der Firma treffe. Lächelnd begrüßt sie mich, gibt ihren augenrollenden Kommentar zum Umbau der Tiefgarage von sich, und fragt mich dann, ob ich heute mit ihr Mittagessen gehen wolle. Nicht wirklich wissend, welchen Grund ich vorbringen könnte, um abzulehnen, stimme ich zu.

„Schön! Wir treffen uns um Eins hier, okay?“ Sie deutet auf die Sitzgarnitur in der Lobby, wartet auf mein Nicken und verschwindet dann mit einem Abschiedgruß in einer anderen Richtung.

Nachdenklich betrete ich daraufhin den Aufzug. Das letzte Mal, das ich mit ihr geredet habe, hat sie Alec grüßen lassen... oh man, ich hab keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll, dass sie die Wahrheit kennt... Ob es besser wäre, das Thema anzusprechen oder es zu verschweigen?
 

Noch zu keiner Entscheidung gekommen, treffe ich fünf Stunden später auf eine gutgelaunte Frau. Auf dem Weg zu einem nahegelegenen Restaurant erzählt sie mir von ihrem Wochenende, welches sie mit Mann und Kind am Six Flags Vergnügungspark verbracht hat.

„Okay, Max hatte natürlich am meisten Spaß an dem ganzen, während wir uns am Ende eher die Beine in den Bauch gestanden haben, aber was macht man nicht alles...“ Sie zwinkert mir zu, als ich ihr die Tür zum Restaurant aufhalte.

„Und du?“, fragt sie schließlich, als wir bestellt und unser Getränk bekommen haben. „Was hast du am Wochenende gemacht?“

„Nachgedacht“, entweicht es mir zu schnell.

Eine ihrer Augenbrauen hebt sich. „Oh, das klingt nicht so amüsant...“, meint sie, mit einem Mal viel ernster, worauf es mir sofort Leid tut, die gute Stimmung beiseite gefegt zu haben. „Darf ich fragen... worüber?“, kommt es dann zögernd von ihr.

Ich nippe an meinem Wasser und sehe sie nachdenklich an. Wie weit will ich eigentlich über meine vergangenen Tage reden? Ich bin mir dessen eigentlich überhaupt nicht im Klaren.

„Ich habe... mich von Alec getrennt“, sage ich schließlich, nun auch die Entscheidung getroffen, das Thema selbst anzusprechen.

Ein überraschtes „Oh“ entfährt ihr, bevor sie nach ihrem Saft greift – wahrscheinlich weil sie nicht weiß, was sie sagen soll.

„Ja...“, versuche ich zögernd, ihr die Verlegenheit zu nehmen. „Es hat schon länger gekriselt und es kam immer öfter zum Streit... es war eigentlich nur eine Frage der Zeit...“

„Das tut mir leid.“

Ich schüttle den Kopf. „Muss es nicht.“

Zögernd sieht sie mich weiterhin an, sagt dann vorsichtig, dass er ihr am Telefon sehr sympathisch war. Ich kann ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Wahrscheinlich hat er sich insgeheim gefreut, mit jemandem von meinen Leuten zu reden.

Beide sind wir nicht wirklich sicher, was wir sagen sollen, weshalb wir es erleichtert zur Kenntnis nehmen, als unsere Bestellung gebracht wird. Schweigend beginnen wir zu essen, doch zunehmend wird mir die Situation unangenehm.

„Darf ich dich was fragen?“

„Klar.“ Neugierig sieht sie mich an, während ich noch hin und her wäge, ob ich es wirklich fragen kann.

„Warst du denn gar nicht... überrascht als du rausgefunden hast, dass ich... naja... einen Freund habe?“

Wann habe ich eigentlich das letzte Mal mit jemandem über das Thema gesprochen?

Ein belustigter Blick, dann schluckt sie ihren Bissen hinunter und schüttelt den Kopf. „Naja, vielleicht ein wenig weil du Japaner bist und so...“

„Was soll das bedeutet?“, frage ich kritisch.

Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ihr sollt recht konservativ sein und so... Gerüchte, nehme ich an.“

„Ich weiß nicht, wahrscheinlich eher nicht. Zumindest sollte man in Japan nicht unbedingt mit dem Thema hausieren gehen...“

„Echt nicht?“

Ich schüttle den Kopf.

„Ist doch dann auch ziemlich nervig, oder?“

„Man gewöhnt sich dran“, lächle ich verkniffen.

„Bist du denn schwul oder bi?“

„Ersteres würde ich sagen.“

„Nie was mit ner Frau gehabt?“

„Doch, ganz früher, aber heute kann ich mir das nicht mehr vorstellen.“

„Interessant“, grinst sie mich breit an. „Und dieser Baseballspieler, von dem ich dir die Adresse besorgt habe, hattest du was mit dem?“

Ich verschlucke mich an meinem Bissen und muss mich ziemlich zusammenreißen, nicht alles quer über den Tisch zu spucken. Von den Seiten spüre ich Blicke, aber vor allem spüre ich ihr belustigtes Gesicht auf mir.

„Schock mich nicht so!“, huste ich, schlage mir zwei Mal auf die Brust und schütte den Rest meines Wassers in mich hinein.

„Also ja?“, fragt sie mit großen Augen, als ich mich endlich wieder beruhigt habe.

„Nein!“, sage ich sofort ernst, versuche ihrem Blick standzuhalten und verdränge jegliche Gedanken aus meinem Kopf. „Nein, mit ihm war nichts. Er war nur ein Freund.“

„Echt jetzt?“ Ein prüfender, ungläubiger Blick.

„Echt. Er ist hetero und hat ne Freundin und ein Kind“, sage ich, um meine Lüge mit Wahrheiten zu unterstreichen.

„Ein Kind?“, werde ich jetzt noch überraschter angesehen. „Wo du’s sagst, dass er ne Freundin hatte, hab ich irgendwie schon mal gehört, aber ein Kind...“ Sie macht eine kurze Pause, sieht mich dann nur noch neugieriger an. „Warst du bei ihm?“ Ein triumphierender Blick.

„Ja, vorgestern.“

„Und? Wie war es?“

Ich zucke mit den Schultern, nicht sicher, wie ich da jetzt wieder herauskommen soll.

„Nicht so gut. Sag mal, können wir nicht das Thema wechseln?“

„Och, komm schon, nicht schon wieder, wenn es gerade interessant wird...“, sieht sie mich mit großen Augen an.

„Bitte Rachel, ich will nicht darüber reden.“

Ein Seufzen entweicht ihr, dann nickt sie zu ihrem Teller hinab. „In Ordnung, verstehe.“ Sie führt die Gabel zum Mund, kaut, schluckt, zwinkert mir dann zu. „Aber wenn du mal drüber reden willst, ich höre dir gerne zu.“

„Das glaub ich“, grinse ich. „Danke.“
 

Wie der Rest meines Tages verläuft? Damit, dass ich mir nicht sicher bin, ob es gut war, Rachel so viel zu erzählen. Okay, ich sehe sie zwar irgendwie als eine Freundin an, aber so eng sind wir ja nun eigentlich dann doch nicht...

Ich tröste mich damit, dass es nicht sehr viel war, was ich ihr erzählt habe, dass es hätte schlimmer sein können, und dass sie mir meine Lüge mit Sakuya ganz sicher geglaubt hat – auch wenn ich mir da eigentlich nicht sicher bin.
 

~ * ~
 

Den Donnerstag verbringe ich zum größten Teil außerhalb meines Büros, was daran liegt, dass ich mit allen möglichen Leuten verschiedene Sachen für unseren neusten Auftrag klären muss. Als ich am Nachmittag zurück ins Büro komme, liegt ein Zettel von Timothy auf meinem Tisch. Darauf steht, dass neben einem Kunden auch jemand namens Manson drei Mal bei mir angerufen hat. Fluchend verfrachte ich den Zettel in den Müll, frage mich nur kurz, was Alec wohl so dringend von mir wollte, und rufe dann den Kunden an.
 

Abends entschließe ich mich dazu, alleine ins Kino zu gehen. Alec wird bestimmt versuchen, mich Zuhause anzutreffen, weswegen es das Beste sein wird, mich eben nicht dort zu befinden. Weshalb ich vor ihm flüchte kann ich nicht mal genau sagen, aber ich habe einfach keine Lust, mit ihm zu reden und ihm vielleicht aufs Neue das Herz zu brechen.

Im Kino also sehe ich mir den neusten Actionstreifen an, ohne allerdings wirklich Gefallen daran zu finden. Die Handlung ist flach, ebenso wie die Charaktere, weshalb meine Gedanken abschweifen, ohne dass ich es ihnen erlaubt habe. Ich muss irgendwie daran denken, wie ich vor Jahren mit Junko im Kino saß, wie ich damals noch versuchte, mir einzureden, dass ich nichts von Sakuya will. Irgendwie hätte mir doch klar sein müssen, dass das eine ziemlich dämliche Idee war, ebenso wie die Sache, dass ich Junko mit zum Videoabend gebracht habe...

Ich starre die Leinwand an, sehe wie sich Mann und Frau näher kommen, sehe statt ihnen eine vergangene Szene mit Sakuya und Sam vor mir und höre gleichzeitig Worte von damals, wie sie Sakuya am Boden seines Zimmers zu mir sprach: „Sorry, wenn es dich verletzt hat.“. Danach hatte er mich geküsst.

Erschrocken über mich selbst springe ich auf, verschütte die Hälfte meiner noch vorhandenen Hälfte Popcorn und darf mir empörtes Zischen anhören. Nicht darauf achtend dränge ich mich aus meiner Reihe heraus und verlasse das Kino vor Ende des Films.

Bestimmt eine halbe Stunde laufe ich danach in der Gegend herum, einfach um einen klaren Kopf zu bekommen, was aber irgendwie nicht so ganz klappen will. Zwar ist die Szene der Vergangenheit wieder verschwunden, stattdessen muss ich jetzt wieder an das Gespräch mit Rachel denken, an ihre Fragen, ob ich was mit Sakuya gehabt habe, ob ich bei ihm war und wie es gewesen war.

Wie es war?

Ein vollkommener Reinfall... und daraus, dass ich noch nichts von ihm gehört habe, kann man wohl auch schon weitere Schlüsse ziehen.
 

~ * ~
 

Der Arbeitsteil des Freitags geht relativ normal von statten. Drei Mal ruft mich Alec an, wobei ich einmal nicht im Büro bin und die anderen Mal legt er auf, sobald ich abgenommen habe. Super kindisch, weshalb ich mir sicher bin, dass es nur er sein kann. Vielleicht sollte ich doch noch mal mit ihm reden – so kann es ja schließlich nicht weiter gehen!
 

Am Nachmittag dann Zuhause, wundert es mich, dass ich nicht direkt von ihm überfallen werde. Froh darüber, lasse ich mich im Wohnzimmer nieder, schalte durch die Kanäle und bleibe schließlich an einem Sportsender hängen. Es läuft ein Bericht über die vergangene Woche und ihre Baseballspiele. Auch wenn ich es zunächst will, schalte ich schließlich nicht weg, sondern lege die Fernbedienung zur Seite. Mit einem merkwürdigen Knurren im Magen höre ich mir an, was sie über die Giants erzählen, über die mir nichtssagenden Spieler, über Kevin und schließlich über Sakuya, welcher am Mittwoch einen merkwürdigen Patzer gehabt haben soll. Die Großaufnahme lässt mich für einen Moment den Atem anhalten und erst als mir das vor mir selbst peinlich bewusst wird, atme ich schnell aus. Ich greife nach der Fernbedienung, will umschalten... und tue es dann doch wieder nicht. Wieso ist es bloß so ein merkwürdiges Gefühl, ihn zu sehen?
 

Gerade als ich dabei bin, mir etwas zu Abendessen zu machen, klingelt es plötzlich an der Tür. Mich noch fragend, wer es sein kann, bin ich dennoch nicht überrascht, als ich Alec erblicke. Etwas mehr erschreckt mich seine fast schon elegante Kleidung. Bevor ich etwas dazu sagen kann, werden mir zwei Eintrittskarten vor die Nase gehalten.

„Was ist das?“

„Die Karten von Kathy... Du erinnerst dich doch.“

„Oh... ja. Das habe ich total vergessen“, dämmert es mir sofort. Verdammt!

„Ich nicht.“ Ein Zwinkern und er drängt sich an mir vorbei durch die Tür. „Gehen wir zusammen hin?“

„Und was soll das bringen?“, drehe ich mich zu ihm um.

Ein Schulternzucken. „Ich weiß nicht... einen schönen Abend vielleicht...“

Ich sehe ihn an, sehe die unverhohlene Hoffnung in seinem Blick und schüttle den Kopf.

„Das geht nicht Alec...“

„Wieso nicht?“

Vielsagend ziehe ich meine Augenbrauen in die Höhe. Er dreht sich um und verschwindet in der Küche.

„Warst du grad am Kochen?“

„Mhm“, folge ich ihm. „Alec, was soll das werden?“

„Was denn?“, dreht er sich mit unschuldigem Blick um und steckt sich ein Stück Paprika in den Mund.

„Das, was du hier versuchst.“ Ich sehe ihn weiterhin ernst an und sein Blick wird etwas trauriger.

„Können wir denn keine Freunde sein?“, fragt er schließlich leise.

Ich seufze, senke den Blick und sehe auf seine schwarzen Schuhe. Das quälende schlechte Gewissen kommt wieder in mir hoch – hört das denn nie auf?

„Alec“, zwinge ich mich dazu, zu sprechen, „was würde es dir bringen?“

„Ich könnte... bei dir sein...“, klingt es leise.

Zögernd gehe ich auf ihn zu, will die Hand nach seinem gesenkten Kopf ausstrecken, tue es dann doch nicht. Zärtlichkeit tut ihm nur noch mehr weh, erkläre ich mir selbst.

„Verstehst du denn nicht, dass es dir nur wehtun würde?“

„Wieso?“

„Weil nie mehr zwischen uns sein würde als einfache Gespräche...“

„Nie?“

„Nie“, sage ich, obwohl ich schon weiß, dass es keine Garantie darauf gäbe. Ich weiß nicht, ob ich ihm widerstehen könnte, wenn er versuchen würde, mich zu verführen.

Alec nickt langsam und fährt sich mit der Hand über die Augen – im nächsten Moment aber hebt er den Blick, grinst mich an und hält mir die Eintrittskarten entgegen.

„Alleine hab ich keine Lust. Vielleicht findest du ja wen, der kurzfristig Zeit hat. Einlass ist in einer Stunde.“

„Alec, das-“

„Nimm sie schon“, drückt er sie mir gegen die Brust. „und mach dir einen schönen Abend.“

Mit Tränen in den Augen geht er lächelnd an mir vorbei, was mir einen Kloß in der Kehle einbringt. Gerade als er sich löst und ich nach Alec rufen will, fällt die Türe ins Schloss.

Was hätte ich ihm sagen wollen?

Ich bleibe stehen, minutenlang, wie mir scheint, auf die Karten starrend. Als ich mich wieder aufgerafft habe, schmeiße ich die Karten in den Müll, zusammen mit dem geschnipselten Gemüse und schiebe mir eine Tiefkühlpizza in den Ofen.

Ich fühle mich scheiße – und wie immer bin ich mal wieder voll und ganz selbst Schuld daran.
 

Eine ganze Weile verbringe ich damit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, ob das mit mir und Alec vielleicht anders hätte laufen können. Ich esse die Hälfte einer verbrannten Pizza und komme zu keinem Ergebnis. Er ist lieb, er liebt mich, es war oft schön, ihn bei mir zu haben... und dennoch habe ich mich bei ihm nie wirklich fallen lassen können. Was ist bloß der Grund dafür? Die ganzen Streitereien alleine sind es ganz sicher nicht...
 

~ * ~
 

Mich am Abend unzufrieden über meine ganzen verschiedenen Situationen ins Bett begeben, schlafe ich schlecht und träume wirres Zeug. Am nächsten Morgen versuche ich Tatsuya anzurufen, doch nach dem zweiten Klingeln lege ich schon wieder auf – ich weiß nicht, was ich ihm hätte sagen wollen.

Zwei Stunden verkrieche ich mich danach in meinem Bett, bevor ich beschließe, zur Arbeit zu fahren – irgendwie komme ich wohl nie mehr davon los, mich einfach nur ablenken zu wollen.
 

~ * ~
 

Allgemein gesagt wird das Wochenende grässlich. Ich verbringe viel zu viel Zeit in meinen Gedanken, und das, obwohl ich die meiste mögliche Zeit unter Leuten verbringe. Worüber ich direkt nachdenke, kann ich noch nicht mal mehr so richtig sagen. Alec, Sakuya, wieder Alec, und immer noch Sakuya... sie drehen sich im Kreis um mich herum, und ich verfluche mich jeden Tag mehr für meine Entscheidung, damals nicht doch Boston gewählt zu haben. Wie viel einfacher mein Leben dann wohl wäre...
 

Der darauffolgende Montag vergeht ebenso grübelnd. Irgendwann versucht wohl noch mal Alec mich anzurufen, doch wieder legt er auf. Timothy tue ich diese Sache mit einem Lachen ab, sage, ich hätte keine Ahnung, wer das immer ist, vielleicht eine heimliche Verehrerin. Danach beschließen wir, gemeinsam Abendessen zu gehen.
 

Dies in die Tat umgesetzt, bereue ich es sofort wieder, als Timothy mich auf meine vergangene Woche anspricht, mich fragt, ob ich vielleicht krank werde, weil ich so unaufmerksam wirke. Ich verfluche mich daraufhin selbst, dass man mir meine Sorgen so gut anmerken kann – aber das war wohl auch schon immer so.

Erklären tue ich es schließlich damit, dass ich mich von meiner Freundin getrennt habe.

„Schade“, meint er daraufhin. „Du hättest sie mir mal vorstellen sollen, damit ich jetzt wüsste, auf was für Frauen du stehst.“

„Vielleicht nächstes Mal“, erwidere ich gezwungen, mir dabei selbst zum x-ten Mal schwörend, dass ich nicht noch mal eine Beziehung in Amerika anfangen werde. Jetzt gibt es nur noch die Arbeit, fertig aus!
 

Später im Bett komme ich zu dem Schluss, dass es so nicht weitergehen kann. Sakuya ist zwar hier, aber er hat kein Interesse mich zu sehen. Alec ist zwar noch hier, aber dies nur noch für etwas mehr als eine Woche. Dabei sollte es bleiben, fertig aus, Gedanken auf Reset, es ist alles nie geschehen!
 

~ * ~
 

Dass das natürlich nicht so einfach ist, sollte klar sein, doch ich zwinge mich am Dienstag mehr als an den Tagen davor dazu, nicht mehr an einen der beiden zu denken, vor allem nicht an ersteren. Ob es gut geht? Ich kann es nicht sagen. Vielleicht heute auch nur, weil wir wirklich ausgesprochen viel zu tun haben. Selbst als Timothy, Shawn und ich uns am Abend auf den Heimweg machen, wirbeln noch Gedanken an das vergangene Meeting in unseren Köpfen herum.

„Morgen setzen wir uns da dran!“, wiederholt Shawn zum dritten Mal.

„Jup, ich schwöre, die werden am Freitag Augen machen!“, stimmt Timothy mit ein.

Am Parkplatz angekommen, reißen wir uns nach weiteren drei bis vier Minuten voneinander los, mit den besten Aussichten auf den nächsten Tag.

Auch ich begebe mich in Richtung meines Autos.

Im Kopf noch mal die ganzen Ideen durchgehend, die uns gerade im Fahrstuhl gekommen sind, krame ich in meiner Tasche nach dem Autoschlüssel. Viel lieber hätte ich gerade einen PC vor mir. Ich sollte mir ein Diktiergerät kaufen... ob ich mir die Sachen bis nach Hause merken kann?

Ich beschleunige meinen Schritt, sehe Worte vor mir, Zahlen, und in meinen Fingern kribbelt es. Ich sollte das sofort aufschrei-

„Hey...“

Aus meinen Gedanken gerissen, begreife ich nicht sofort, woher die Stimme kommt. Ich drehe mich mit dem Schlüssel in der Hand und Worten der Erwiderung auf den Lippen um mich selbst – und kann dann nicht mehr, als nur die Augen aufzureißen.
 

Part 60 - Ende
 

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Part 61

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Sakuya (by littleblaze)
 

Im Schatten verborgen verfolge ich seine Schritte. Doch bin ich deswegen hier, um mich wie ein kleiner Schuljunge aufzuführen? Wozu denn? Warum verkrieche ich mich, vor wem… doch nicht etwa vor Ihm!

„HEY!“, trete ich aus den Schatten hervor. Ein lauter, eindringlicher Tonfall, welcher einem keine Wahl lässt als sich dem zuzuwenden. Als er dies tut, festigt sich der Gedanke einfach davonzurennen.

Seine dunklen Augen starren mich an. Am falschen Platz zu sein, nicht hier sein zu dürfen, könnte das Gefühl in mir drin ziemlich gut beschreiben. Doch nun bist du hier, also los!, sporne ich mich selbst an.

„Was willst du hier?“, schreie ich fast.

Warum so laut und unvernünftig? Ich hätte seine Verwirrtheit über mein Hiersein doch viel besser zu meinem Vorteil nutzen können, ihn schmoren lassen in der Ungewissheit. Doch stattdessen scheint die Irritation viel zu schnell von ihm abzublättern. Sein Blick wird ruhig, bevor er ihn sekundenlang abwendet, irgendwas in seine Aktentasche steckt und dann die Arme am Körper herabsinken lässt. Nun mich wieder ansehend, scheint es, als wäre er nicht mehr im Geringsten davon überrascht, mich vor sich zu sehen. Mit einer Lässigkeit, die mich rasend macht, öffnet er den Mund zum Sprechen.

„Sollte nicht eher ich diese Frage stellen?“

Ein wandernder Blick, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen, als würde er versuchen, mir anzusehen, wer ich bin. Ich komme mir nackt, durchschaubar vor. Alles, nur nicht selbstbewusst und stark, wie es eigentlich mein Vorhaben war.

Einige Schritte kommt er daraufhin auf mich zu, bleibt erst wieder stehen als ich selber entschieden habe, dass es genug sei, und zurückweiche. Was hat er vor?

„Du willst wissen, warum ich bei dir zu Hause war?“, stellt er meine Frage, immer noch mit einer vollkommenen, für mich unverständlichen Gelassenheit.

„Ist das so schwer zu verstehen?“, greift dafür meine Stimme ihn an.

Und während er weiterhin ruhig bleibt, fühle ich mich mit jeder Sekunde unwohler. Ich hätte gar nicht her kommen sollen!

„Ich wollte einfach nur mal vorbeischauen, mehr nicht.“

„Vorbeischauen?“ Sarkasmus in meiner Stimme.

„Ja.“

„Das war’s? Mehr nicht?“

„Mehr nicht“, sieht er mich immer noch fast gleichgültig an.

„Also… einfach nur einmal…“ Ich gestikuliere einige Ausrufungszeichen in die Luft. „…Hallo sagen?“

„Ja.“

Lüge, Ausrede, Irreführung!, schwirrt es in meinen Gedanken, doch sein fester Blick lässt mich davon überzeugt sein, dass es wohl wirklich nur diesen einen, einfachen Grund gegeben hat. Wahrscheinlich weiß er genau, welche Gedankengänge ich mit seinem Auftauchen verbinde. Was sollte ein vernünftiger Menschenverstand auch anderes annehmen?

„Na schön“, drehe ich mich weg.

Nur noch fort von hier. Ich mag seinen Blick nicht, sein Dasein. Es ist nicht richtig, er sollte doch ganz woanders sein, nicht hier.

„Warte“, werde ich an der Schulter gepackt. Übereifrig drehe ich mich, wehre mich gegen die gerade von ihm selber wieder fallen gelassene Berührung.

„Tut mir leid“, tritt er zurück. Gedanklich scheint er einige Momente an seiner Hand zu hängen, bevor er mich wieder ansieht. Jetzt wenigstens nicht mehr ganz so arglos. „Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.“

„Hast du nicht“, lüge ich und drehe mich erneut zum Gehen.

„Warte doch“, hält er mich nochmals auf. „Bist du wirklich nur deswegen her gekommen?“

„Weswegen sonst?“, wende ich mich ihm wieder zu.

„Ich weiß nicht, vielleicht-“

„Vielleicht was? Um wieder da anzufangen, wo DU es kaputt gemacht hast?“, fahre ich ihm ins Wort. „Auf welchen Planeten lebst du?“, fange ich innerlich an zu kochen und es streift mich das Gefühl, platzen zu müssen. „Denkst du, ich hatte nichts Besseres zu tun, als über sieben Jahre auf dich zu warten?“

So viele Sachen hatte es gegeben, welche ich ihn an den Kopf werfen wollte, die mich innerlich aufgefressen haben, doch waren sie jetzt, nach all der langen Zeit noch von Bedeutung…? irgendeines von ihnen…?

„Vergiss es“, winke ich ab und drehe mich zum dritten Mal um.

„Wenn es nur das ist, was dir Sorgen macht…“ Automatisch verweigern mir meine Beine den Dienst. „…Ich liebe dich nicht mehr…“

„Na, dann Herzlichen Glückwunsch“, drehe ich mich erneut, „zu dieser frühen Erkenntnis. Und nun können wir alle unsere Leben weiterführen, ohne uns deswegen Gedanken zu machen, nicht wahr?“

In mir brodelt es wieder auf. Seine Worte, auch wenn sie nicht mehr von Bedeutung sind, machen mich unglaublich wütend. Zu viele schlechte Erinnerungen sind damit verbunden, zu viel Schmerz, den ich erst nach so langer Zeit vergessen konnte…

Wieso hast du alles kaputt gemacht, mich verlassen? Liebtest du mich jemals wirklich? Was war passiert… ich konnte es einfach niemals verstehen, nicht die vielen Male, in denen ich alleine geweint habe, mir irgendetwas sagen wollte, dass mir Verständnis für deinen Entschluss bringt.

Warum hast du nicht an uns geglaubt, nicht an mich geglaubt? War ich es nicht wert, an mich zu glauben? Hatte ich irgendetwas falsch gemacht, etwas Falsches gesagt?

„…eigentlich nur fragen, ob wir vielleicht mal einen Kaffee oder so zusammen trinken könnten“, trete ich gedanklich zurück in die Gegenwart.

„Ich trinke keinen Kaffee“, ist meine patzige Antwort darauf.

Wie kann er nur die ganze Zeit über so verdammt still dastehen, alle Vorwürfe abwenden und mich dann noch um einen Kaffeeplausch bitten? Hatte er denn jegliche Art von Schuld in sich auslöschen können?

„Das wäre keine gute Idee“, weiche ich nun auch innerlich zurück. Versuche mir Worte zurechtzulegen um endlich seiner Gesellschaft zu entkommen.

„Ich kenne hier nicht gerade viele Leute…“

„Sorry, aber das ist nicht mein Problem.“

„Es wäre schön, mal mit Jemandem… normal reden zu können, so sein, wie ich bin.“

„Dann such dir doch einfach eine kleine Schwuchtel, welcher du deine Sorgen anheften kannst, und die immer schön ‚du bist der Beste’ schreit, wenn du sie in den Arsch fickst!“

Die Stille darauf ist beängstigend. Auf diesen mehr als billigen Satz hin… wirklich der perfekte Zeitpunkt das Weite zu suchen, kann ich nur wie festgefroren dastehen.

„Okay, wahrscheinlich habe ich das verdient. Ist in Ordnung“, winkt dieses Mal er ab und macht sich zum Gehen bereit.

„Warte“, spiele ich nun Stoppschild. „Das war nicht so gemeint.“

„Ich weiß“, dreht er sich wieder um. „Du musst dir wirklich keine Sorg-“

„Ich mache mir überhaupt keine Sorgen“, unterbreche ich ihn. Ich bin genervt. Ich wollte doch schon längst wieder weg sein, ihm eigentlich gar keine Möglichkeit geben, sich groß zu äußern. Er sollte meine Frage beantworten und fertig, mehr hatte ich nicht verlangt.

„Ich würde es wirklich schön finden, dich nicht sofort wieder aus den Augen zu verlieren“, sagt er dann ruhig, während das Kühle aus seinem Blick wieder langsam verschwindet. Er sieht mir in die Augen und scheint lächeln zu wollen. „Lass uns doch irgendwo was trinken gehen, ganz unverbindlich, nur als alte Bekannte, welche sich nach langer Zeit wieder gesehen haben.“

„Ich kann nicht.“ Alles sträubt sich gegen diesen Gedanken und ihn ansehen kann ich ihm auch nicht wirklich.

„Verstehe“, senkt er zu meiner Erleichterung den Blick. Endlich scheint er verstanden zu haben. „Aber, wenn du es dir morgen oder übermorgen vielleicht anders überlegt haben solltest, ruf mich an… ok?“

„Daraus wird ganz sicher nichts, ich bin die nächsten fünf Tage nicht in der Stadt, Auswärtsspiele“, erkläre ich und weiß nicht einmal warum ich es tue. Ich hatte doch gar nicht vor auf sein Angebot einzugehen, was sollte das auch bringen… zusammen was trinken gehen…
 

Auf den Weg nach Hause kann ich nicht wirklich begreifen warum dieses Gespräch solche Ausmaße angenommen hat und warum es eine solche Richtung einschlug. Ich hatte gehofft, mit der geholten Antwort endlich wieder Ruhe in meinen Gedanken eintreten lassen zu können, doch stattdessen beschäftigte mich jetzt eine noch viel größere Frage.
 

Daheim habe ich nicht gerade viel Zeit, um über irgendwas nachzudenken. Packen ist angesagt. In zwei Stunden geht die Abendmaschine nach Atlanta.

„Wo warst du denn so lange?“, werde ich schon ungeduldig erwartet.

„Bei Kida“, sehe ich keinen Grund zu lügen, doch meinen Blick traue ich mich nicht zu heben, suche Socken und Unterwäsche zusammen.

„Habt ihr euch endlich ausgesprochen?“

„Keine Ahnung, ob man das so nennen kann“, lasse ich abermals das Gespräch in meinem Kopf Revue passieren.

„Werdet ihr euch wiedersehen?“

„Ich weiß nicht“, wird mir die Fragestunde langsam dann doch unangenehm.

„Vielleicht bringst du ihn ja mal mit?“ Sie drückt sich von hinten an mich.

„Das denke ich nicht“, entweicht mir ein komisches Lachen.

„Na ja, Hauptsache du klärst die Sache für dich.“

Sie lässt wieder von mir ab und ich verschwinde ins Badezimmer, um Zahnbürste und andere Kleinigkeiten zu holen.

„Was machst du eigentlich die nächsten fünf Tage so ganz ohne mich“, frage ich als ich wieder ins Zimmer trete. Nur ja das Gespräch auf was anderes lecken. „Gerade einen nervigen Fall?“

„Nein“, grinst sie verschwörerisch.

Ich grinse ebenfalls, pirsche mich an sie heran. Die Arme gehoben, zum Auskitzeln bereit.

„Du verheimlichst mir etwas?“

„Ok, ok“, wehrt sie ab, als ihr der Kleiderschrank den Fluchtweg versperrt. „Ich lass die Treppe endlich versetzen, die Handwerker kommen morgen früh.“

Mit einem kleinen Kraftaufwand ziehe ich sie in meine Arme. Ich lasse ihr Haar nach hinten gleiten, streichle über die zarten Konturen.

„Mmhh, du riechst aber gut.“

„Neue Creme“, lässt sie sich nur zu gerne von mir beschnuppern. „Ach, da fällt mir noch ein: Wir hatten heute Babypost in unserem Mail-Account. Carol-Ann hat eine Videobotschaft mit Amber gemacht.“

„Wie geht es ihnen?“, küsse ich sie sanft auf die Lippen.

„Amber ging es wohl die ersten Tage nicht besonders. Sie hat viel geweint und kaum gegessen, aber mittlerweile geht es wieder besser. Der Arzt meinte, dass sie die Umstellung nicht ganz so gut gepackt hat.“

„Aber jetzt geht es ihr wieder gut, nicht wahr?“, schwirren meine Gedanken sofort zu dem kleinen Bündel.

„Ja.“

„Zum Glück…“

Mein Kopf drückt sich nach unten an ihren Körper, auch hier ist der angenehme Duft der Creme zu riechen. Langsam knöpfe ich ihre Bluse auf und küsse mich an die wohlgeformten Brustwarzen heran.

„Schatz… der Flug…“

„Ja, ich weiß… Ich liebe dich so sehr“, hauche ich auf ihre warme Haut.

Wir landen hektisch im Kleiderschrank. Viele der Bügel fallen mit einem dumpfen Aufprall zu Boden, meine Lippen lecken ihren Hals entlang und meine Finger schieben sich unter ihrem Rock nach oben. Schnell ist die Luft in dem kleinen Raum aufgeheizt und das Geräusch von weiteren hinunterfallenden Gegenständen scheint uns nur noch begieriger darauf zu machen, unseren Gefühlen freien Lauf zu lassen.
 

„Ich war heute bei Kida“, gebe ich ein weiteres Mal preis. Ich habe keine Ahnung wie Kevin zu der ganzen Sache steht, wie er überhaupt von ihm denkt. Ich weiß eigentlich nicht einmal wirklich, was er damals von ihm gehalten hat.

Ich drehe die Musik im Auto ein wenig hinunter.

„Und warum?“

„Ich wollte wissen, warum er gekommen ist… Er wollte anscheinend wirklich nur mal Hallo sagen.“

Wir fahren von Highway hinunter und einen anderen wieder hinauf.

„Und damit ist die Sache jetzt gegessen?“

„Verrückt“, lache ich auf „…aber er denkt tatsächlich, dass wir jetzt Freunde sein könnten.“

Eine gedrückte Stille. Ich weiß auch nicht wirklich, was ich erwartet habe. Was soll er mir auch sagen? Dass es doch ganz natürlich möglich wäre, mit einem Ex eine Freundschaft aufzubauen… oder dass er dies für die wohl bekloppteste Idee aller Zeiten hält?

Da er nichts darauf sagt, frage ich direkt nach: „Was denkst du?“

„Wozu?“

„Ach komm schon, du weiß was ich meine.“

„Es bringt nur Ärger“, wird beschleunigt, die Spur gewechselt und einige Autos überholt.

„Woher willst du das wissen?“

„Ich weiß es.“

„Woher?“

„Wenn du meine Meinung nicht ohne drei Mal nachzufragen akzeptieren kannst, dann frag mich nicht danach“, werde ich abgespeist.

„Denkst du er hat gelogen und ist aus… na, anderen Gründen hier?“

Er schaut mich kurz an.

„Ist das wichtig?“
 

„Nein.“

Nach einigen weiteren hundert Metern bekomme ich meine Antwort.

„Nein, ich denke nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.“

„Denkst du wir-“

Ein nervöser Hin und Herblicken lässt mich stocken. Der Wagen verlangsamt sich, bis wir auf dem Seitenstreifen halten. Was war los? Ein Unfall, was mit dem Wagen? Ich konnte nichts erkennen…

„Ich treffe mich mit Jemandem.“

„Das… ist… ja toll“, bin ich immer noch verwirrt über das verbotene Anhalten auf dem Seitenstreifen. „Wer ist es denn?“, versuche ich unbekümmert zu klingen.

„Ist das wichtig?“, durchbohrt mich sein Blick.

„Natürlich… irgendwie schon… oder?“

Ruckartig wird die Fahrt wieder aufgenommen.
 

Im Flieger scheint alles wieder vergessen zu sein. Auf das komische Verhalten, sowie auf Kida wird einfach nicht mehr eingegangen, und so wird das Miteinander wieder ziemlich angenehm. Natürlich bin ich neugierig, wer dieser neue Jemand in Kevins Leben ist. Ist es vielleicht gar nicht ein Neuer? Kenne ich ihn vielleicht schon? Hat er sich wieder mit Marc vertragen?

Und wenn ein Neuer… was ist er für ein Typ Mensch? Und wieso hat er bis jetzt ein Geheimnis aus ihm gemacht? Wie lange treffen sie sich schon? Vielleicht schon vor der Trennung von Marc, war dies der Grund für die Trennung?

Und wie sieht es bei mir jetzt aus?

Soll ich Kida wirklich wieder erlauben in mein Leben zu treten? Könnte es wirklich klappen, mit ihm einfach nur befreundet zu sein? Ist er nicht wie eine tickende Zeitbombe für mein jetziges Leben? Er ist der größte Geheimnisträger, sollte ich ihn wirklich die Chance darbieten, meine Vergangenheit auffliegen zu lassen?

Natürlich, es gibt da so vieles, was ich ihn gerne fragen würde… Wie es all den anderen ergangen ist, wie sein Leben so verlaufen ist... hat er sich groß verändert in all den Jahren?

Ich habe mich verändert, ziemlich sogar.

Der homosexuelle Teenager, das bin ich nicht mehr… Ich habe meine Zeit gehabt, habe sie freiwillig hinter mir gelassen. Niemand hat mich dazu gezwungen, niemand überredet. Ich habe so gewählt, weil ich mich verliebt habe.

Ich weiß, wer ich bin und ich weiß wohin ich will, was ich mir wünsche, was ich noch erreichen will: Diese Frau heiraten, viele Kinder bekommen und ein wirklich toller Dad werden. Und es gibt rein gar nichts, was mich davon abhalten könnte.
 

Part 61 - Ende
 

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Part 62

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Kida (by Stiffy)
 

Atmen, atmen, ruhig, tief durchatmen!, suggeriere ich mir selbst, während ich meinen Fingern das plötzlich einsetzende Zittern verbiete. Mein kompletter Körper scheint davon erfasst werden zu wollen, doch ich halte ihn davon ab, es zu zeigen... ich konzentriere mich darauf, während mein Blick noch immer wie gebannt an dem bekannten Gesicht vor mir hängt.

Jegliche anderen Gedanken sind vollkommen verflogen.

Mit derselben irgendwie befremdlichen Stimme wie zuvor fragt er mich, was ich hier wolle.

Er klingt gereizt... und auch so anders als früher, wenn auch ähnlich, erfüllt es meine Gedanken, während ich nach einer Antwort zu suchen versuche.

Ich will etwas sagen, doch ich weiß nicht was, weshalb ich den Mund geschlossen halte.

Ich versuche weiter, ruhig zu atmen, und vielleicht gelingt es mir sogar ein wenig, denn mein Herz hört langsam damit auf, aus meiner Brust springen zu wollen.

Um vollends wieder zur Fassung zu kommen, wende ich meine Aufmerksamkeit für viel zu kurze Sekunden meiner Hand zu, die noch immer verkrampft um den Schlüsselbund geklammert ist. Ich zwinge mich, sie zu entspannen, lassen den Schlüssel dann in meine Tasche zurück gleiten.

Atmen, einfach nur ruhig Atmen, dann wird das schon!, spreche ich erneut zu mir selbst, bevor ich kurz die Augen schließe, einmal tief Luft hole und dann den Blick wieder hebe.

Ob ich es schaffe, weniger verwirrt zu wirken, als zuvor? Ich glaube es nicht wirklich.

Ich frage mich, wie meine Stimme gleich wohl klingen wird, als ich es endlich schaffe, die Lippen aufzumachen und eine Gegenfrage zu stellen.

Sie klingt vollkommen normal, stelle ich mit Erleichterung fest.

Ich sehe ihn an, lasse meinen Blick fahren, um ihm nicht die gesamte Zeit ins Gesicht zu starren.

Warum um alles in der Welt ist er hier... warum so plötzlich? Wieso ausgerechnet an meinem Arbeitsplatz.

Als mir dies erstmalig bewusst wird, trete ich vor. Wie dämlich muss es aussehen, wir beide hier stehend, im riesigen Abstand? Also nähere ich mich ihm, was seine Augen ein winziges Stück größer werden lässt und dann tritt er in die entgegengesetzte Richtung. Ich bleibe stehen, nun nur noch ein ganz normales Stück von ihm getrennt.

Wie von selbst formuliert mein Kopf im nächsten Augenblick die nächste Frage, ehe ich mir eigentlich sicher bin, sie jetzt wirklich beantworten zu können. Wieso ich bei ihm war? Gibt es denn wirklich eine vernünftige Erklärung dafür?

Er fährt mich an, daraufhin, und während mein Herz wieder zu rasen beginnt, weiß ich, dass ich ruhig bleiben muss. Er hat wohl das Recht, zu fragen, hat auch das Recht, gereizt zu sein, ob ich es mag oder nicht.

In meinem Kopf suche ich noch immer nach der passenden Antwort.

„Ich wollte einfach nur mal vorbeischauen, mehr nicht“, sage ich schließlich.

„Vorbeischauen?“, kommt es zynisch, was ich ihm ja noch nicht mal verdenken kann.

Ich bejahe es, was ihn ungläubig stimmt.

„Mehr nicht“, bestätige ich ihm, woraufhin er noch ungläubiger wird, herumgestikuliert.

Würde mich die Situation nicht so unglaublich nervös machen, fände ich ihre Abstrusität wohl lustig. So aber versuche ich einfach weiter, meine Atmung gleichmäßig zu halten, während ich ihn ansehe. Eigentlich ist es doch genau eine solche Situation, wie ich sie zu erwarten gehabt hätte, als ich bei ihm auftauchte.

Schaffe ich es deshalb, nicht auszuflippen?

Außerdem bin ich wohl auch ein klein wenig froh, dass ich nicht der einzige bin, den die Tatsache unseres gemeinsamen Hierseins verwirrt. Wäre es ihm vollkommen egal, wäre es nicht hier aufgetaucht, nicht wahr?

Dem entgegenzusetzen ist die Tatsache, dass ich er sich plötzlich mit schulternzuckenden Worten zum Gehen dreht. Mit einer Sekunde auf die andere fällt meine steife Gelassenheit von mir ab.

„Warte“, halte ich ihn fest, ohne es zu wollen. Als es mir bewusst wird, kann ich ihn nur noch loslassen.

Mit einer Entschuldigung entferne ich mich wieder, verfluche mich selbst für diese überstürzte Tat, die nicht mit meiner gewollten Ruhe einherging. Es ist schwer, nun den Blick wieder zu heben.

„Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen“, versuche ich meiner Stimme wieder die Ruhe zurückzugeben.

„Hast du nicht“, dreht er sich daraufhin schon wieder um.

Erneut spüre ich den Instinkt, nach ihm zu greifen, schaffe es aber, ihn dieses Mal nur mit Worten am Gehen zu hindern. Hat er denn gar kein Interesse daran, noch ein wenig länger zu reden?

„Bist du wirklich nur deswegen her gekommen?“, spreche ich meine Frage aus.

„Weswegen sonst?“

„Ich weiß nicht, vielleicht-“

Ich werde unterbrochen, mit lauten, giftigen Worten, die er mir entgegenfeuert und die es schaffen, mich in mir selbst etwas zusammenschrumpfen zu lassen. Doch während sie auf mich einhämmern, wird mir ganz plötzlich auch klar, was ihm im Kopf herumfährt. Es ist etwas, an das ich zuvor gar nicht gedacht hatte. Aber er... bereitet ihm mein Auftauchen etwa deshalb Sorgen, denkt er wirklich, ich wäre deshalb...?

„Wenn es nur das ist, was dir Sorgen macht...“, halte ich ihn erneut vom Gehen auf. „...Ich liebe dich nicht mehr...“

Fast könnte ich lachen über meine eigene Unachtsamkeit. Wie konnte mir diese Fehldeutung meines eigenen Auftauchens nur entgehen? Doch nicht eine Sekunde lang war mir etwas Derartiges in den Kopf gekommen, sei es noch so naheliegend. Ich habe ihn einfach nur sehen wollen.

Meine Worte bewirken nicht das, was ich wollte. Statt ruhiger zu reagieren, fährt er mich wütend an.

Er steht da, mit aufgewühlten Augen und dennoch versteinertem Blick, die Hände zu Fäusten geballt. Ich gehe wieder einen Schritt auf ihn zu, suche nach Worten, die es schaffen könnten, ihn davon zu überzeugen, dass es schade wäre, wenn er jetzt gleich geht.

Fändest du es denn wirklich so grausam, noch ein paar Minuten länger mit mir zu verbringen? Ich würde doch so gerne mit dir reden... Mich mit dir irgendwo hinsetzen und versuchen, eine ganz normale Ebene zu finden. Ist das wirklich reines Wunschdenken?

Noch einen Schritt auf ihn zutretend, um den alten Abstand wieder herzustellen, fasse ich meinen Mut, ihm dieses Angebot zu unterbreiten, doch seine Antwort ist patzig, wie vielleicht erwartet. Langsam geht der Mut in mir zurück, doch aufgeben will ich noch nicht... Nach so vielen Jahren bietet sich die Möglichkeit, noch mal mit ihm zu reden. Ich will sie nicht einfach zu aufgeben!

„Ich kenne hier nicht gerade viele Leute...“, versuche ich es auf diese Weise, welche allerdings wohl auch nicht sonderlich schlau ist. Wieder werde ich zurückgewiesen. „Es wäre schön, mal mit Jemandem... normal reden zu können, so sein, wie ich bin“, spreche ich dennoch weiter. Ja, und wie schön es wäre...

Die nächsten seine Worte lassen mich zum ersten Mal richtig zusammenzucken. Er faucht sie mir ins Gesicht und in mir zieht sich alles zusammen, während mein Blick sekundenschnell herumfährt um festzustellen, ob wir noch immer alleine sind.

„...in den Arsch fickst!“

Wut kommt in mir auf, mit einem Mal, Wut und irgendwie auch Trauer. Ich bin es nun, der die Fäuste ballt. Ich umklammere den Griff meiner Aktentasche und tue schwer daran, sie nicht in der Gegend herumzufeuern.

Vielleicht ist klar, dass er nach all den Jahren noch immer Wut auf mich hat, und auch diese Worte sind dann vielleicht verständlich, aber trotzdem... Kann er uns denn nicht auch nur eine winzige Chance eines wirklichen Gespräches lassen?

Ich schlucke die Enttäuschung in mir herunter.

„Okay, wahrscheinlich habe ich das verdient“, schaffe ich es, sie nicht aus mir sprechen zu lassen. Mit einer kurzen Geste drehe ich mich um. „Ist in Ordnung.“ Scheinbar hat es wirklich keinen Sinn.

Diesmal ist zu all meiner Überraschung er es, der mich nicht gehen lässt... und er entschuldigt sich sogar für seine Worte.

„Ich weiß“, sehe ich ihn wieder an, will ihn beruhigen und das nun plötzlich in seinen Augen leuchtende schlechte Gewissen nehmen. Doch sogleich werde ich wieder unterbrochen.

Ich versuche, in seine Augen zu blicken und zu erkennen, was in ihm vorgeht. Die Verwirrtheit lässt ein klein wenig Hoffnung wieder in mir entflammen.

„Ich würde es wirklich schön finden, dich nicht sofort wieder aus den Augen zu verlieren“, versuche ich es ein letztes Mal, ihm klarzumachen, dass ich mich nicht einfach umdrehen und gehen will.
 

Einige Minuten später, als ich ins Auto steige, bin ich mir nicht sicher, ob es gewirkt hat. Das kurze „Tschüss“ am Ende hat aber eigentlich nicht wirklich für sich gesprochen.

Ich starte den Wagen, fahre ihn aus der Parkbucht heraus und folge den Pfeilen. Sollte er noch irgendwo stehen, soll er kein Zögern bemerken.

Im Kopf seine letzten Worte durchgehend, muss ich mir zugeben, in ihnen eine kleine Hoffnung zu erkennen. Zwar hat er gesagt, dass er sich wegen Auswärtsspielen nicht melden kann, aber ist es nicht genau das, was mich hoffen lassen kann? Er hätte meinen Versuch auch diesmal wieder komplett abblitzen lassen können.

Ich spüre den Funken Hoffnung in mir wachsen und versuche sogleich wieder, ihn zu unterdrücken. Du bist nur enttäuscht, wenn es nichts wird!, sage ich eindringlich zu mir selbst. Doch es hilft nicht vollkommen...
 

Die gesamte Fahrt über lasse ich mir unser Gespräch, wenn man es so nennen kann, durch den Kopf gehen. Ich frage mich, ob es logisch war, dass es so ablaufen würde. Er sauer, ich gezwungenermaßen ruhig. Hätte man mich vorher gefragt, hätte ich gesagt, dass die Nervosität mit Sicherheit durch meine Stimme verraten werden würde... ein Wunder, dass ich es geschafft habe, so ruhig zu bleiben.

Ob das die jahrelangen Kundengespräche bewirkt haben, vor denen man am liebsten jedes Mal im Boden versinken würde, es dann aber doch schafft, alles ganz souverän-

Mein Blick zuckt zur Seite, bei eben diesem Gedanken. Auf die Tasche sehend wird mir klar, was mir alles aus dem Kopf gewichen ist, als Sakuya vor mir stand.

Von wegen souverän!

„Mist!“, fluche ich und beschleunige das Auto auf der Überholspur.

Ich greife mir an den Kopf, reibe mir an der Stirn, als würde es helfen, mich an irgendwas zu erinnern. Doch da ist nichts außer purer Leere. Alle Ideen, die ich im Kopf hatte, sind verschwunden, haben sich in Luft aufgelöst, sind beim Anblick Sakuyas irgendwo hingeflüchtet.

Verdammt!
 

Endlich in meinem Appartement angekommen, hole ich sofort meinen Laptop und den Berg Blätter hervor. Ich verteile sie auf dem Bett, erinnere mich an ein paar Kleinigkeiten, die ich noch mit Shawn und Timothy im Fahrstuhl besprochen hatte, doch kein Fetzen meiner eigenen Ideen ist irgendwo zu finden. Ich weiß, dass sie gut waren, verdammt, ich weiß, dass ich sie sofort hatte niederschreiben wollen, damit ich sie bloß nicht vergesse, doch dann stand er vor mir. Klar, dass kein Platz mehr für die Ideen geblieben ist.

Resignierend sinke ich zwischen den Blättern auf mein Bett und starre sie an, greife nach einem, dann nach einem anderen, doch egal wie lange ich darauf starre, kommt mir nichts in den Sinn, nichts eigenes. Immer sehe ich nur Sakuya vor mir stehen, wie ich ihn wahrgenommen habe, nachdem ich mich zu dem „Hey“ umgedrehte.

Fluchend sammle ich die Blätter wieder auf und sortiere sie in ihre Mappe zurück, jedes einzelne davon genauestens betrachtend. Als ich das erledigt habe, ziehe ich meinen Laptop näher an mich heran, öffne Tabellenkalkulations- und Mindmapping-Programm.

Dann halt anders. Wenn ich es schon nicht schaffe, meine alten Ideen wiederzufinden, muss ich halt neue finden!
 

Fast eine Stunde lang sitze ich da, die Blätter durchgehend, in die Tasten hämmernd, und dabei immer wieder alles löschend.

Nur bescheuerte Dinge kommen mir in den Sinn und während ich versuche, mir das Endprodukt vor Augen zu halten, erkenne ich doch nur das ernste Gesicht mit den durchdringenden Augen. Darüber will ich mir jetzt Gedanken machen, nur darüber! Ich will mich fragen, was es zu bedeuten hatte, dass er mir das mit den Auswärtsspielen gesagt hat, will mich fragen, ob ich ihn wohl noch mal treffen werde... Ich habe keinen Bock auf Arbeit! Und doch weiß ich, dass ich sie tun muss, da ich meinen Kollegen morgen keinen plausiblen Grund nennen kann, weshalb ich überhaupt keine Ideen hatte, nachdem wir gestern so begeistert auseinandergegangen sind.
 

Nach einer weiteren Stunde gebe ich es auf. Nur ein paar Werte und Ideen in die Programme getippt, schließe ich sie mit einem unzufriedenen Gefühl und verstaue Laptop und Mappe wieder in meiner Tasche. Danach greife ich nach dem Telefon, um mir etwas zu Essen kommen zu lassen. Ich habe keine Nerven, etwas zu kochen, doch Tiefkühlessen spricht mich auch nicht gerade an.

Den restlichen Abend lasse mich vor dem Fernseher nieder, nach Unterhaltung suchend und Sportprogramme meidend. Im Kopf allerdings läuft das Programm, in dem das Gespräch mit Sakuya immer wieder vor- und rückwärts abgespielt wird.
 

~ * ~
 

Nicht gerade guter Laune mache ich mich am nächsten Tag auf den Weg zur Arbeit. Noch nach guten Ideen oder einer Ausrede suchend, brauche ich länger als gewöhnlich, um bei Toshiba anzukommen. Einen Parkplatz gefunden, begegnet mir dann auch direkt die erste Person.

„Morgen!“, grinst Shawn mich an und kommt zwischen den Autos zu mir hinüber.

Ich erwidere den Gruß und versuche ein Lächeln, was eher wie ein verkniffenes Grinsen wirken muss.

Tatsächlich beginnt Shawn direkt im Aufzug über unseren Auftrag zu reden, lässt mich zum Glück nur ab und zu nicken und wartet nicht, dass ich etwas dazu sage. Im Kopf formt sich mir derweil eine Ausrede.

„In fünfzehn Minuten in meinem Büro?“, nickt Shawn mir oben angekommen dann zu und ich husche direkt schnellen Schrittes zu meinem eigenen.

Zu meiner Erleichterung ist Timothy noch nicht da. Ich sinke seufzend auf meinen Stuhl und lasse den Computer hochfahrend. Gestern noch zu zerwühlt, um darüber zu reden, weiß ich heute, dass ich endlich mit jemandem darüber sprechen muss – mit jemandem, der die Situation vielleicht durch den Abstand besser einschätzen kann als ich, und wenn er mir nur sagt, dass ich es vergessen soll.

Der Computer endlich gestartet, öffne ich mein Mailprogramm. Die drei Kundenmails nicht beachtend, erstelle ich eine neue Mail und tippe nur ein paar kurze Worte an Tatsuya hinein.

Bist du heute (Mittwoch) Nachmittag zu erreichen? Muss dir da was erzählen...

Kaum die Mail abgeschickt und mich bereit gemacht, meinen Kopf der Arbeit zu widmen, beginnend mit den eingegangenen Mails, kommt Timothy herein.

„Guten Morgen!“, ist auch er super gut gelaunt, ähnlich wie ich es gestern nach der Arbeit auch erst noch war.

Ich nicke ihm zu, eine Kundenmail lesend, dann beschließend, dass ich sie auch später beantworten kann. Mein Blick fällt auf die Uhr.

„Ich hab mit Shawn abgemacht, dass wir um zehn nach in seinem Büro sind.“

„Kein Problem, ich bin für alle Schandtaten bereit!“ Grinsend wühlt er in seiner Tasche herum, holt ein paar Sachen hervor und sieht mich dann wartend an.

Ich nicke, stehe auf und mache mit mir selbst ab, dass ich nun der Arbeit Vorrang gebieten muss.
 

Wirklich gut klappt es wie erwarten nicht, da Shawn, Timothy und Walt vor Ideen sprühen und ich nur Kleinigkeiten vorbringen kann.

„Was ist denn los mit dir?“, werde ich nach einer Weile gefragt und von drei Augenpaaren fragend gemustert. Gestern sprühtest du noch vor Energie und Ideen, und heute?

Ich winke ab, meine Ausrede aufdeckend. „Stress mit meiner Ex“, zucke ich lügend mit den Schultern. „Sorry, das hat mich gestern viel Zeit gekostet.“

„Bittet sie um Rücknahme?“

„Eher um Umtauschrecht“, steige ich in das Grinsen mit ein, klopfe dann auf den Tisch. „Na kommt, das ist egal. Wo waren wir?“
 

Mit Kopfschmerzen den Tag überstanden, warte ich an Abend darauf, mein Telefonat tätigen zu können. Eine Mail als Antwort erhalten, dass ich ihn im Büro anrufen könne, wenn es wirklich wichtig wäre, fragte ich mich lange, wie wichtig es mir nun eigentlich wirklich ist. Sehr, habe ich mittlerweile beschlossen, während ich die Minuten zähle und mein Abendessen in mich hineinzwinge.

Ich sollte mir wirklich ein paar Freunde außerhalb der Arbeit suchen, damit diese einsamen Abende wieder weniger werden. Zugeben, das Problem hatte ich mit Alec an meiner Seite nie, da wollte ich eher mal alleine sein... Wie dich die Dinge doch ändern können.

Auf den Gedanken gekommen, schafft er es wenigstens kurz, mich in Anspruch zu nehmen. Nicht mehr lange, dann ist Alec weg von hier und ich werde ihm nicht mehr zufällig in der Lobby oder sonst wo begegnen. Sein trauriges Gesicht wird mich wohl dennoch ein wenig länger verfolgen.

Es war trotzdem eine gute Entscheidung, oder?
 

Um kurz nach halb Zehn greife ich schließlich nach dem Hörer. Zögernd nun wähle ich die japanische Nummer, mich fragend, ob ich es wirklich tun soll. Was bringt es mir eigentlich, mit ihm darüber zu reden? Wieso habe ich überhaupt ein Verlangen danach, darüber zu reden? Weil mir der Kopf platzt, weil ich mich auf nichts anderes konzentrieren kann? Ich weiß es nicht... aber vielleicht hilft es mir, meine Gedanken zu ordnen...

Ich drücke die grüne Taste und warte... höre das Tuten und frage mich noch mehr, ob ich einen Fehler mache. Aber wieso? Er ist immerhin mein bester Freund, wenn ich es noch nicht mal ihm erzählen kann...

„Mabuchi Motor, Okazaki?“

„Ich bin’s“, melde ich mich immer noch zögernd.

Fröhlich werde ich begrüßt. Er habe sich schon gefragt, wann ich endlich anrufen würde, lacht Tatsuya am anderen Ende und scheint mir ein kleines Stück Lockerheit herüberzutragen. Ich frage nach seinem bisherigen Arbeitstag, eigentlich noch gar nicht wirklich bereit, zu erzählen, doch er fasst sich nur in kurze Worte.

>„Deswegen rufst du immerhin nicht an!“, höre ich das Grinsen. „Also schieß mal los!“

Ich schweige.

Ich habe einfach keine Ahnung, wie ich anfangen soll. Jahrelang haben wir nicht mehr über das Thema gesprochen, war es doch beendet, versiegelt, abgehakt... und nun plötzlich, einfach so, werfe ich es wieder auf den Tisch...

„Hallo? Bist du tot umgefallen?“

„Nein...“, sage ich seufzend.

„Okay... Was ist denn los? Das klingt wirklich ernst.“

„Ja.“

„Geht es um Alec? Ich dachte die Sache-“

„Es geht um Sakuya.“

Es ist raus... Stille.

Ich habe das Gefühl, auflegen zu wollen. Dabei will ich doch hören, was er dazu sagt... und will gleichzeitig all diese Gedanken nur aus meinem Kopf verbannen. Ich sinke tiefe in meinen Sessel hinein.

Ein ziemlich lautes „Wie bitte?“ unterbricht meine Zweifel.

„Du hast dich nicht verhört“, schiebe ich die Worte zwischen meinen Zähnen hervor.

„Okay, langsam. Ich komm nicht mit! Was hast du plötzlich wieder mit Sakuya am Hut?“ Er betont den Namen auf eine merkwürdige Weise, als wäre es ein vollkommen fremder... zumindest kommt es mir sekundenlang so vor.

„Er wohnt in San Francisco.“

„Wie bitte?“, kommt es erneut, diesmal etwas leiser.

Ich seufze, setze zur Erklärung an, wie ich sein Bild in der Zeitschrift gesehen habe... weiter komme ich nicht.

„So was hältst du mir vor?“

„Ich wusste nicht... wie ich damit umgehen soll.“

„Du hättest mich fragen können!“

„Hättest du mir helfen können?“

„Ich... nein. Aber trotzdem, nur weil du jetzt in Amerika wohnst, will ich solche Neuigkeiten doch trotzdem wissen!“ Diese Worte lassen mich an eines unserer letzten Gespräche vor meinem Abflug denken. Sie lassen ein fast schlechtes Gewissen aufkommen, auch wenn ich weiß, dass das Unsinn ist.

„Sorry“, sage ich, „Ich wusste nur selbst nicht, was ich tun sollte.“

Wieder beginne ich zu erzählen, berichte in kurzen Worten, wie hin- und hergerissen ich mich gefühlt habe... Auf die Worte, dass ich schließlich bei ihm war, erhalte ich die erwartete Reaktion: Ein vollkommen resignierendes Seufzen und die Worte, dass ich es doch auch einfach nicht sein lassen könne. Ich kann förmlich vor mir sehen, wie er den Kopf schüttelt. In dem Augenblick tut es mir mit einem Mal irgendwie leid, es ihm gesagt zu haben.

„Was soll ich denn auch sonst tun?! Ich kann doch nicht einfach so tun, als wisse ich es nicht!“, verteidige ich mich.

„Okay, klar, aber trotzdem!... Du musst doch nicht...“ Nochmals ein tiefes Seufzen „Wie hat er denn reagiert?“

Ich antworte, die Situation fast vor mir sehend, Sakuyas schockiertes Gesicht, die ernsten Augen von Kevin... das Gefühl, einer Aussichtslosigkeit, wie ich es die letzten Tage verspürt habe, kommt wieder in mir hoch.

Schließlich gelange ich zum gestrigen Treffen.

„Hätt’ ich nicht gedacht.“

„Was?“

„Dass er noch mal auftaucht. Er war sauer, oder?“

„Ja... Er hat mich gefragt, was ich wollte und wollte dann auch sofort wieder abhauen...“

„Verständlich“, knallt mir die Ehrlichkeit Tatsuyas förmlich vor den Kopf. Das wollt ich nun wirklich nicht hören!

„Du fällst mir in den Rücken!“, protestiere ich.

„Tu ich nicht, ich kann ihn nur einfach verstehen.“

„Aber...“

„Schau mal, Kida... Bei Yamada würdest du doch ähnlich reagieren...“

„Das ist... was anderes...“, spüre ich irgendwie ganz tief in mir wieder das drückende Gefühl der damaligen Einsamkeit.

„Naja, du würdest ihn auch nicht gerade mit Kusshand empfangen.“

„Das verlange ich ja auch gar nicht! Ich will doch nur... mit Sakuya reden...“

„Und worüber?“

„Über... alles halt... sein Leben, die letzten Jahre...“ Ich zucke die Schultern, verstumme.

„Ihr habt nichts mehr miteinander zu tun... Eigentlich sollte es dich nicht mal interessieren.“

„Ich weiß... aber... ich kann halt nicht so tun, als wäre er nicht hier!“

Einen Moment lang sagt Tatsuya nichts. Dann höre ich auf seiner Seite ein Klopfen und ein „Moment“ wird in den Hörer geraunt. Die dumpfen Stimmen vernehmend, frage ich mich, wie ich ihm bloß erklären soll, dass da dennoch ein gewisses Interesse in mir wohnt. Ich weiß, dass es nicht da sein sollte... aber es ist da.

„Sag mal Kida...“, ist er wieder am Apparat, „kann es sein, dass du noch immer ein schlechtes Gewissen hast, wegen damals?“

„Nein!“, reagiere ich sofort, werde aber bei meinen folgenden Worten immer leiser. „Das ist doch Quatsch...“

„Ach ja? Ist es das? Ich fände das gar nicht so unnormal...“

Ich schweige, habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Ein schlechtes Gewissen? Ehrlich gesagt habe ich darüber noch gar nicht nachgedacht...

„Du kannst es nicht mehr gut machen. Du hast ihm damals das Herz gebrochen, damit musst du leben, wie er es musste. Außerdem hat er doch jetzt ein neues Leben, einen neuen Freund und-“

„Freundin“, unterbreche ich.

„Hä?“

„Er hat ne Freundin... und ein Kind.“

„Wow...“ Es klingt ähnlich erstaunt, wie wohl auch ich in dem Moment reagiert habe.

„Naja“, spreche ich sofort weiter, „das mit der Freundin weiß ich nicht hundertprozentig... aber er hat ein Kind.“

„Okay... noch irgendwas, was ich wissen sollte?“

„Nein... ich glaub nicht... Ich weiß eigentlich auch nur das mit den Giants, mehr nicht...“

Auch wenn mir das schon die ganze Zeit bewusst war, ist es fast etwas komisch, das auszusprechen. Ich habe wirklich überhaupt keine Ahnung von dem heutigen Sakuya...

„Merkst du da was?“

„Was denn?“, frage ich, noch immer an dem kalten Gefühl in meinem Magen hängend.

„Er hat ein neues Leben. Ich denke nicht, dass er erwartet, dass du deinen Fehler von damals irgendwie gutmachst. Was hätte er denn auch davon? Er wird genauso wenig noch an dir hängen, wie du an ihm...“ Einen Moment hält er inne, bevor er fragt: „Wie seid ihr gestern denn verblieben?“

„Ich habe... ihn gebeten, mich anzurufen, wenn er will“, gebe ich kleinlaut zu. „Er hat gesagt, er habe die nächsten Tage keine Zeit... das war alles...“

„Du weißt also nicht, ob ihr euch noch mal wiederseht?“

„Ja. Aber ich... ich hoffe es...“

„Und wenn nicht?“

„Ich... weiß nicht...“, sage ich zögernd, wissend, dass er aber genau meine Stimme deuten kann. „Ich fände es schade...“, gebe ich deshalb zu.

„Das klingt nicht gut, Kida...“

„Wieso? Ich will doch nur... ich weiß nicht... mich mit ihm anfreunden?“

Ein leises Lachen. „Oh Mann, du hast echt ein schlechtes Gewissen, was? Ich glaub’s nicht, nach all den Jahren!“

„Was erzählst du mir schon von Jahren?“, fahre ich ihn an, sitze plötzlich senkrecht in meinem Sessel. „Du müssest doch bestens wissen, dass man manche Dinge einfach nicht vergisst!“

Sekundenlang ist es still und ich frage mich, ob ich das nicht hätte sagen sollen. Aber eigentlich stimmt es doch... Nur zu gut erinnere ich mich an das, was er mir vor Jahren gebeichtet hat...

„Da hast du wohl recht“, kommt es schließlich. „Ach Kida, ich will doch nur nicht, dass du zu enttäuscht bist, wenn er keine Freundschaft mit dir aufbauen will.“

„Ich werd versuchen, es nicht zu sein.“

„Na gut...“ Er grinst deutlich. „Halt mich auf dem Laufenden, ja?“

„Ja...“, antworte ich zögernd, vernehme ich selben Moment irgendein komisches Geräusch durch den Hörer.

„Tut mir leid, Kida, aber ich muss zurück an die Arbeit...“

„Klar! Sorry, dass ich so lang-“

„Quatsch nicht, du weißt, dass das kein Problem ist.“

„Danke.“ Ich lächle. „Grüß Sai, ja?“

„Wenn ich ihn sehe...“, klingt es verkniffen.

„So schlimm?“

„Schlimmer. Aber das erzähl ich dir nächstes Mal. Ich werd ihn grüßen.“

„Gut. Bis dann!“

„Bis dann... und mach dir nicht zu viele Gedanken, okay?“

„Ich werd’s versuchen“, lache ich, verabschiede mich noch mal und lege dann auf.

Den schweigenden Hörer in der Hand stehe ich auf, bringe ihn zurück zur Ladestation. Dabei am Gardarobenspiegel vorbeikommend, werfe ich einen Blick hinein. Ich sehe so blass aus, wie ich mich fühle... Ich sollte schlafen gehen.
 

Gesagt getan liege ich nach einer kurzen Dusche in meinem Bett und wälze mich herum. Viele von Tatsuyas Worten gehen mir nicht aus dem Kopf, vieles was er gesagt hat, hängt sich fest, am meisten natürlich die Sache mit dem schlechten Gewissen...

Ich drehe mich auf den Rücken und starre vor mich hin.

Ein schlechtes Gewissen...

Schon damals, als ich den Brief geschrieben und abgeschickt hatte, hatte ich dieses schreckliche Gefühl im Magen. Ich war mir zwar sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, aber dennoch wurde ich das Gefühl monatelang nicht los. Immer mal wieder holte mich die Frage ein, was wäre, wenn ich durchgehalten hätte... oder wenn ich es anders getan hätte... irgendwie so, dass es für ihn vielleicht verständlicher gewesen wäre... denn dass er mich verstanden hatte, daran zweifelte ich schnell. Heute weiß ich sogar, dass ich es an seiner Stelle wohl selbst nicht verstanden hätte.

Zum Glück verblassten diese Gedanken mit der Zeit und ich vergaß sie... Und ich kann sagen, dass sie mir nicht mal da bewusst waren, als ich die Zeitschrift sah. Nein, eigentlich waren sie mir selbst vor einer Stunde noch nicht bewusst...

Und jetzt?

Es stimmt schon, dass mich die Frage quält, ob ich falsch gehandelt habe. Es ist nicht mal wirklich die Frage, wie es wohl mit unserer Beziehung weitergegangen wäre, sondern eher die Frage, wie es ihm wohl ergangen ist. Hat er sehr gelitten? Hat er noch viel geweint? Hat er mich verflucht? Hat er mich gehasst? Hasst er mich... noch immer?

Fluchend drehe ich mich zur Seite, vergrabe mich unter der Decke, bevor ich sie Sekunden später aus einem Hitzeanfall heraus wieder von mir trete.

Rede ich mir etwa ein, dass es mir um eine Freundschaft geht?

Ist es ein Vorwand vor mir selbst, dass ich gerne wissen würde, was er heute für ein Mensch ist?

Erhoffe ich vielleicht tatsächlich, irgendwann die Worte „Ich verzeihe dir“ zu hören, damit sie mein Gewissen endlich beruhigen?

Bin ich wirklich so billig?
 

Mit diesen und weiteren Selbstvorwürfen falle ich irgendwann in einen unruhigen Schlaf, in dem ich von riesigen Elefanten träume und von Mäusen, einem Flugzeugabsturz, dem Streit mit Alec und ganz tief irgendwo auch von Sakuya...

Wiedergeben, was ich von ihm geträumt habe, kann ich am nächsten Morgen allerdings nicht.
 

Part 62 - Ende
 

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Part 63

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Matthew Dylan Curtis (by littleblaze)
 

Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass ohne unser Zutun, ohne auch nur daran glauben zu müssen, eine verlässliche, kosmische Ordnung über uns alle wacht. Eine Ordnung, welche sich dadurch auszeichnet, dass auf jeden Regen bald wieder Sonnenschein folgt.

Im meteorologischen Sinne mag das vielleicht stimmen, aber was gerade mich betrifft, so bin ich der felsenfesten Überzeugung, dass diese kosmische Ordnung nicht nur ein Mal den richtigen Weg verpasst hat.
 

„Ist das etwa alles?“, werde ich zurückgezogen nach dem Versuch, ihm auszuweichen.

„Ja, was hast du erwartet nachdem du erst gestern Zweihundert mitgenommen hast?“

Daraufhin lässt er von mir ab, seine Gier lässt ihn eher mit anderem beschäftigt sein. Immer tiefer graben sich seine Finger durch meine Wäsche, schmeißen Bücher auf den Boden, während ich nur abwartend daneben stehe.

Mich blicktechnisch weggedreht, setze ich mich aufs Bett und hoffe nur, dass er bald aufgibt, verschwindet. Warum habe ich ihm eigentlich wieder den Zutritt gewährt?

„Komm mit!“ Seine Finger legen sich um mein Handgelenk, nicht gerade sanft.

Ankotzen sollte mich diese Berührung… wenigstens ein bisschen, oder nicht? Doch sehne ich mich geradezu danach, wie seine Hände mich streicheln, mich fordern und mir für einen Moment das Gefühl geben können, doch nicht so alleine zu sein.

Ich drücke mich gegen die Wand, als er erneut von mir ablässt. Die Durchsuchung steigt ihrem Höhepunkt entgegen. Couchkissen werden durch das Zimmer gepfeffert und noch mehr Bücher aus ihren Regalen gerissen. Ich schwenke zur Deckenlampe. Kreditkarten und Geld liegen sicher in der Fassung verborgen, die Zweihundert von gestern sind nur ein blöder Zufall gewesen. Ich hatte einfach nicht mit seinem Kommen gerechnet.

„Vielleicht sollte ich einfach diese scheiß Dinger nehmen.“

Mein Atem stockt als er eine der Schneekugeln in die Luft wirft und gerade noch so wieder auffängt. Außer einem verachteten Blick schenke ich ihm nichts darauf. Sein Lächeln verschwindet überraschenderweise und für Sekunden tritt das Gesicht hervor, welches mich das alles eigentlich nur mitmachen lässt.

Nach der sechsten Flasche Bier oder dem vierten Whisky ist es meistens so weit. Wenn ich den Eindruck bekomme, er könnte vielleicht doch mehr in mir sehen als nur ein Nutzobjekt, einen Geldsafe, jemanden, der ihm die nächsten Flaschen finanzieren kann. Dass ich wenigstens auf ein wenig ehrliche Zuneigung hoffen könnte. Ich frage mich, welches Verhalten denn nun seinem wahren Ich entspricht, was ist Fassade und was die Wirklichkeit? Gibt es da etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt?

Blöd und naiv könnte man jetzt sagen, merkt gar nicht, dass er nur ausgenutzt wird. Doch, zu meinem Leidwesen muss ich zugeben, dass ich mir äußerst bewusst darüber bin. Aber ich habe in den Jahren dazu gelernt, auf manche Art sogar durch ziemlich erschreckende Dinge. Mein Körper und mein Aussehen waren schon immer mein größtes Kapital gewesen, als Hilfsobjekte degradiert auf der Suche nach Liebe, Zuneigung und Partnerschaft.

Oft denke ich mir, dass es mit ein bisschen weniger Schönheit vielleicht ganz leicht wäre, den Mann fürs Leben zu finden. Ich erschrecke oft selber vor mir, wenn die Rasierklinge wieder mal einen ungewöhnlichen Halt über meiner Wange macht… würde ich es tun, wenn mir das die Lösung garantieren würde?

Eine gute halbe Stunde später gibt er endlich auf und geht. Zurück bleibe ich mit 24 Dollar weniger in der Tasche, ein leichtes Übel. Ich fange an, das Chaos zu bereinigen. In der Küche finde ich eines der Kondome der letzten Nacht. Mit gleichgültiger Routine hebe ich den kleinen Gummifetzen mit dem angetrockneten Inhalt auf und werfe ihn in die Mülltonne. Die Schneekugel platziere ich daraufhin penibel genau wieder an ihren Platz.

Eine leichte Berührung am Bein lässt mich in die Hocke gehen.

„Ja, er ist wieder weg“, streichle ich Katze der Länge nach. Ein angenehmes Schnurren gibt sie mir als Antwort, woraufhin ich sie hochnehme.
 

~ * ~
 

Wenn ich kurz noch einmal über dieses Regen-Sonnen-Ding nachdenke, würde ich mich wohl so beschreiben, dass ich die meiste Zeit meines Lebens in einem trüben, verregneten Herbst verbracht habe, wo sich ab und an mal ein kleiner Sonnenstrahl durch die Wolken drängte.

Schon meine Kindheit war nicht gerade von Happyness umringt gewesen. Wir waren eine ziemlich ruhige Familie. Kaum Verwandte in der Nähe, keine gesellschaftlichen Verpflichtungen, eben der ganz normale Trott.

Mein Dad arbeitete bei einer Versicherungsgesellschaft von 9 bis 17 Uhr, Montag bis Freitag und ohne jemals einen Tag gefehlt zu haben. Meine Mom tat wohl das, was eine Mom so den ganzen Tag tut. Abgesehen vom Haushalt hatte sie eine Schwäche für Kochsendungen und Pralinen aus dem teuren Laden an der Ecke. Und dann gab es da noch meinen Bruder Shaun. Shaun ist fünf Jahre älter als ich und während er gegen alles und jeden rebelliert hatte, war ich ein ziemlich ruhiges Kind.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals in den Kindergarten gegangen war oder vor der Schulzeit mit irgendeinem anderen Kind in meinem Alter gesprochen hatte. Das erste, an was ich mich noch erinnern kann, ist, als ich mit ca. 4 Jahren am Küchentisch saß und Dad wieder einmal darüber meckerte, dass ich ein komisches Kind sei. Raus gehen sollte ich, was Ordentliches spielen und nicht nur immer dasitzen und Bilder malen.

„Kann der Junge überhaupt sprechen?“, setzte er noch mit einem verächtlichen Blick auf mich hinzu. Mit was darauf geantwortet wurde, weiß ich nicht mehr, nur dass es in einen Streit ausartete.

Stocksteif saß ich am Küchentisch, traute mich nicht zu rühren. Shaun war es, der mich sanft hinaus manövrierte. In solchen Situationen durfte ich in seinem Zimmer sein, obwohl er es mir sonst verbat. Er setzte mich auf den Teppich, legte mir Kopfhörer an und ließ mich Rockmusik hören, während ich weiter meine Bilder malte.

Es gab nicht viel, das mich vom Malen abhielt. Beim Essen und Baden, sowie beim Schlafen, galt es irgendwie als unausweichlich, die Stifte beiseite zu legen, nichtsdestotrotz durchstreiften mich vor dem Einschlafen die vielen verschiedenen Dinge, welche ich am nächsten Tag zu Papier bringen könnte.

In der Schule war natürlich Kunst mein Lieblingsfach, doch auch im Schreiben, was sich vom Malen nicht groß unterschied, war ich ziemlich top. Die Lehrer waren von meinem künstlerischen Talent schier begeistert. Persönlich hatte ich keine Ahnung, was sie an meinen Bildern so faszinierte. Ich versuchte einfach nur alles was mich bewegte in Farben und Formen auszudrücken, doch ein wirklicher Plan steckte hinter keinem meiner Bilder.

In der zweiten Klasse legte ich zum ersten Mal die Stifte für eine längere Zeit beiseite. Ich hatte etwas entdeckt, was mich genauso… na ja, wahrscheinlich doch ein bisschen weniger, aber immerhin noch ziemlich stark faszinierte: Tanzen!

Es waren nur ein paar einfache Ballettschritte für eine kleine Theateraufführung unserer Klasse, doch verliebte ich mich sofort in diese neue Ausdrucksform.

Zuhause allerdings stieß ich nicht gerade auf große Begeisterung, als man mir wieder einmal zu verstehen gab, was für ein komisches Kind ich doch sei.

„Jetzt wird er auch noch eine kleine Schwuchtel“, waren die ersten Worte, als mein Dad uns dabei zusah, wie mir Mom das Kostüm kürzte.

Die Tanzlehrerin war so von mir begeistert, dass sie Mom nach der Schulaufführung überredete mich in die Ballettschule gehen zu lassen. Ich musste versprechen, es Dad niemals zu verraten.
 

~ * ~
 

Mit Sechzehn riss Shaun das erste Mal von Zuhause aus. Ihn kotzte so gut wie alles an und nach einem weiteren Streit mit unseren Eltern lief er einfach davon. 34 Tage war er weg, die bis dahin schlimmsten 34 Tage meines Lebens.

Nach der Schule und dem Ballett wollte ich gar nicht erst nach Hause gehen, was mich dort nach 17 Uhr erwartete ließ auch mich, mit meinen jungen elf Jahren darüber nachdenken, ob es nicht ebenfalls besser war, einfach wegzulaufen.

Die meiste Zeit verbrachte ich im Park, auf irgendeiner Bank einer Hauptstraße oder am Wasser. Mein farbenfrohes Malen wich in den Jahren und ging zu detaillierten, feinen Schwarzweißzeichnungen über. Ich liebte es, nur mit Bleistift zu arbeiten, was anderes hatte ich in den letzten fünfzehn Monaten nicht angerührt. Menschen, Gebäude, die Golden Gate, ich zeichnete alles, was es meiner Meinung nach irgendwie wert war, aufs Papier zu gelangen.
 

Einige Monate später, Shaun war mittlerweile das dritte Mal ausgerissen und wieder daheim, und mein zwölfter Geburtstag lag drei Wochen zurück, starb unsere Mutter.

Herzinfarkt. Mitten in einem Streit war sie einfach zusammengebrochen. In dem Streit ging es um die jahrelangen Ballettstunden, um die Verlogenheit gegenüber meiner Mom zu ihrem Mann und über mich, den Nichtsnutz, dem komischen Kind, der kleinen Schwuchtel, zu der man mich anscheinend zu erziehen versuchte.

Wie er von den Ballettstunden erfahren hatte, ist mir bis heute nicht bekannt, doch sah er hier, bei mir den Grund für den Tod seiner Frau. Dass sie auch meine Mutter war, ich ebenfalls ein Recht auf Trauer hatte, dass es nicht meine Schuld war, wollte er nicht sehen, nicht anerkennen. Ich war für ihn der Kern allen Übels, ich, die kleine Schwuchtel, wie er mich nun tagtäglich nannte. Mit hasserfülltem Blick schaute er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf mich hinab. Er gab mir immer wieder zu verstehen, wer seiner Meinung nach für unser Leid die Schuld trug.

Dass ich nicht schon viel früher darunter zusammenbrach, verdankte ich allein meinem Bruder. Letztendlich passierte es als sich ihr erster Todestag näherte.

Die Ballettstunden waren natürlich schon lange gestrichen worden, und gezeichnet hatte ich seit Monaten nicht mehr. Die psychologische Betreuung in der Schule brachte mir so rein gar nichts. War ich auch nur ein klein wenig dadurch aufgebaut, erwartete mich Zuhause wieder Verachtung und ein tiefes Loch, welches nur darauf wartete, mich zu verschlingen. Ich lechzte regelrecht nach irgendeiner Form von Zuneigung, über jedes Gespräch, sei es auch nur mit dem Postboten, war ich mehr als dankbar. Wirkliche Freunde hat es zu dieser Zeit kaum gegeben. Mit den Mädchen aus der Ballettklasse hatte ich mich natürlich super verstanden, aber sie gehörten nun auch nicht mehr zu meinem Leben. Die Jungen in der Schule hatten schon immer einen Bogen um mich gemacht, auch sie fanden es eigenartig, mit welcher Begeisterung ich an meinen Bildern hing, und auch von Ihnen hatte ich öfters das Wort „Schwuchtel“ zu hören bekommen, als ich noch dem Ballett nachging. Es ist schon erstaunlich, dass sogar Jungen im Kindergartenalter zu wissen schienen, was eine Schwuchtel war, darüber hinaus aber nicht einmal in der Lage sind, ihren Namen zu schreiben.

Damals, als die Welt eigentlich noch relativ in Ordnung war, hatte mich dieses Wort kaum gestört. Für mich hatten schöne Bilder und Ballett rein gar nichts mit dem Schwulsein zu tun. Ich wollte einfach nur in Ruhe das tun dürfen, was mich glücklich machte. Als mir all das genommen wurde, gab es keinen Grund mehr für mich, glücklich zu sein. Das teilte ich auch dem Schulpsychologen mit, der daraufhin einige noch weitaus längere Gespräche als schon zuvor mit mir führte und zu der Überzeugung kam, dass ich unter starken Depressionen litt. Ich wäre eine Gefahr für mich selber und müsse sofort aus meinem jetzigen Umfeld entfernt werden. Leichter gesagt als getan, dachte ich mir, doch schneller als geglaubt fand man eine Lösung und mein Dad hatte rein gar nichts dagegen, meine Erziehung in andere Hände abzugeben.

Meine Grandma väterlicher Seite hatte ich bis dato nicht ein Mal zu Gesicht bekommen. Irgendwie hatte ich immer angenommen, dass sie gar nicht mehr existierte, da nie ein Kontakt zu ihr bestanden hatte.

Mit ziemlich großer Angst, schlottrigen Beinen und einem harten Antidepressiva-Mittel in der Tasche kam ich in meinem neuen Zuhause an. Dass ich gerade mit ihr meine Liebe für Kunst teilen konnte, überraschte mich natürlich sehr, immerhin war sie die Mutter meines Vaters, welcher Kunst bis aufs Mark verabscheute.

Grandma redete nie über Dad und auch ich ließ das Thema niemals aufkommen, für mich war dieser Mann mit meinem Auszug gestorben.

Zusammen besuchten wir verschiedene Kunstmuseen und Galerien. Sie gab mir eine eigene Ecke in ihrem Atelier und erzählte mir viel über die größten Künstler unserer Zeit. Und obwohl sie sich so anstrengte mir alles zu geben, was ich brauchte um glücklich zu sein, schaffte ich es nicht, auch nur einen einzigen Strich aufs Papier zu bringen. Das Thema gehörte für mich ebenfalls nicht mehr zu meinem Leben. Ich hatte keine Lust, Bilder mit Traurigkeit und Verachtung zu malen, könnte mir nicht vorstellen, irgendetwas Schönes finden zu können, was mich dazu bringen könnte, wieder zu malen.

„Kunst hat ihre ganz eigene Zeit“, waren ihre Worte, wenn ich wieder einmal für länger auf die Staffelei vor mir starrte, doch in mir drin schaffte ich es nicht den Gedanken an ein Bild zu halten.
 

Dass es meiner Grandma nicht gerade gut ging, war mir ziemlich schnell bewusst, doch trotz ihre vielen Medikamenten, ihren kleinen und großen Gebrechen, ließ sie sich die Lebensfreude nicht nehmen. Ich war so froh darüber, dass ich einen Platz in ihrem Leben gefunden hatte, dass mich zu Anfang übermäßig die Angst zerfraß, sie bald wieder zu verlieren.

Ihr bei der Gartenarbeit zu helfen war in dieser Zeit einer meiner Lieblingsbeschäftigungen. Wenn ich sie in der strahlenden Sonne mit ihren Blumen sprechen sah, schmunzelte ich vor mich hin. Frei fühlte ich mich in dieser Zeit, als hätte ich die ganzen Jahre in einer dunklen Gefängniszelle gesessen. Wenn wir so dasaßen und nach getaner Arbeit unseren Eistee tranken, sprach sie ziemlich oft von einem Gartenpavillon, den sie sich immer habe bauen lassen wollen, aber irgendwie nie wirklich die Zeit dazu gefunden hatte. Auf der Hollywoodschaukel sitzend erzählte sie mir bis ins kleinste Detail, wie sie sich den Pavillon vorstellte. Ein Traum, der wohl irgendwie niemals in Erfüllung gehen würde.
 

Die nächsten Jahre waren die wohl glücklichsten meines Lebens. Nicht das irgendetwas besonderes passierte in dieser Zeit, doch ein Leben in Frieden, mit Jemanden, der für dich da ist, der dich lobt, wenn du etwas gut gemacht hast, und der dir zeigt, dass du ihm etwas bedeutest, war viel mehr als ich nach dem Tod meiner Mom hätte zu träumen gewagt.

Mädchen trugen nicht gerade zu diesem Glück bei. Einige kurzweilige Beziehungen waren mir zwar nicht vorenthalten geblieben, doch schreckten viele meiner Highschoolmitschülerinnen schon beim Gedanken zurück, dass ich ein ziemlich gutes Verhältnis zu meiner Grandma hatte. Man konnte einfach nicht verstehen, wie man so viel Zeit, dazu noch freiwillig, mir seiner Grandma verbringen konnte. Sie bezeichneten dies als unnormal.

Die, die sich davon nicht beirren ließen, fanden andere Gründe, nicht mit mir zusammen sein zu wollen: Ich würde zu anhänglich sein, zu besitzergreifend und ich wäre zwar total süß, aber irgendwie hätte ich ne Schraube locker, waren die meistgehörten Kritikpunkte.
 

Als ich aufs College wechselte, diese Leute hinter mir lassen und eigentlich noch einmal ganz von vorne anfangen konnte, traf mich die schreckliche Tatsache, dass meine Grandma nicht mehr lange bei mir sein würde. Die Ärzte gaben ihr nicht mehr viel Zeit, wunderten sich sowieso, wie sie noch so lange hatte durchhalten können. Als sie alleine nicht mehr aufstehen konnte und ihre Gesichtzüge immer mehr einfielen, sah ich es als meine Pflicht an, sie noch ein Mal richtig glücklich zu machen. Mich dafür zu bedanken, dass sie mir einen glücklichen Lebensabschnitt geschenkt hatte.

Zwei Tage verbrachte ich daraufhin im Atelier. Den ersten starrte ich nur nachdenklich auf das große Stück Papier und ging in meinem Kopf eine Linie nach der anderen durch. Am zweiten legte ich den Stift nicht mehr aus der Hand, bis ich fertig war mit meinem Vorhaben. Niedergelegt, schaute ich perplex auf den Stift hinab. Es fühlte sich an, als wäre ich von tonnenschweren Fesseln befreit worden, als würde ich endlich wieder Luft zum Atmen bekommen.

Von meinem Gesparten ließ ich den Pavillon daraufhin nach meinen Skizzen bauen. Jeder noch so kleine Winkel war sorgfältig ausgerechnet, alles passte perfekt.

Meine Grandma starb an einem Nachmittag mit lächelndem Gesichtsausdruck friedlich in dem Gartenpavillon ihrer Träume.
 

~ * ~
 

Dass ich nun wieder ganz alleine war, und die damit verbundene Panik, setze ich erst einmal aus. Ich musste mich jetzt zusammen reißen. Ich organisierte die Beerdigung, bei der ich meinem Erzeuger fast in die Arme rannte, ich verkaufte Haus und Möbel, welche meine Grandma mir hinterlassen hatte, und ich stellte auf Rat des Anwaltes einen Antrag, mich für volljährig erklären zu lassen. Ich behielt nur die Bilder und die Schneekugelsammlung. Die Bilder gaben mir das Gefühl, dass sie immer noch bei mir war, und die Schneekugeln waren ihr ganzer Stolz gewesen, aus allen Teilen der Welt zusammengetragen. Oft waren wir über alte Märkte gelaufen, um weitere Stücke zu finden.

Für den Erlös des Hauses kaufte ich mir eine Eigentumswohnung. Mein Bruder half mir beim Umzug und als kleine Gegenleistung erlaubte ich ihm ein Musikvideo mit seiner Band im Haus zu drehen. Obwohl er mich in den Jahren einige Male besuchen gekommen war, hatte er es nie geschafft, einen richtigen Kontakt zu Grandma aufzubauen. Ich denke, dass er abgesehen von mir schon immer kein großes Interesse an unserer Familie gebaht hatte.

Meine neue Wohnung war ziemlich groß. Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer mit Küchenanbau, ein Atelier, ein Badezimmer und einen Raum, für den ich erst ca. ein Jahr später eine Verwendung fand. Kurz nach meinem Umzug wurde meinem Antrag, nach Überprüfung der Familienverhältnisse und meiner Versicherung, dass ich es schaffen würde, selber für meinen Lebensunterhalt aufzukommen, stattgegeben. Ich war dem Gesetz nach volljährig, hatte somit alle Rechte und Pflichten eines Erwachsenen.

Auf dem College wandelte ich in Richtung Architektur. Schnell wurde mir aber klar, dass das Collegeleben nicht das Richtige für mich war. Ich wollte arbeiten, Herausforderungen angehen, mich verwirklichen und nicht die Schulbank drücken und über Philosophie der Bauwerke quatschen oder das Leben ihrer Erbauer auswendig lernen. Dass ich dann doch diesem Leben treu blieb, hatte wohl was mit der Anwesenheit von Frank zu tun.

Frank war ein deutscher Austauschschüler. Frank war gutaussehend und intelligent. Frank war schwul.

Ob es sein Lächeln war oder die kleinen Berührungen, die er immer gab… keine Ahnung. Vor, mich in ihn zu verlieben, hatte ich nicht. Ich kann nicht einmal mehr nachempfinden, was an diesem dritten Tag auf dem Weg zur Bibliothek in mir vorging, als ich ihn einfach küsste. Es war mein allererster richtiger Kuss und mir war es ziemlich peinlich, dass er dies erriet. Ich musste mich wirklich grottenschlecht dabei angestellt haben. Doch er stellte mir keine Fragen über die Gründe und ich musste keine Antworten geben, welche ich eh nicht gefunden hätte.

Mir machten die Blicke anderer, wenn sie uns gemeinsam sahen, nichts aus. Dass in ihren Gesichtern „Schwuchtel“ geschrieben stand und es manche auch aussprachen, störte mich nicht. Damit war ich schon mein ganzes Leben konfrontiert gewesen, obwohl ich bis zu diesem Kuss nicht einmal wusste, dass ich für einen Jungen so empfinden könnte. Ich denke einfach, dass ich mich nicht in einen Jungen, sondern in Frank verliebt hatte. In seine Art, wie er mit mir sprach und in die Wärme seiner Hände. Er hätte lila und ein Außerirdischer vom Planeten P30 sein können, verändert hätte dies nichts.

Drei Monate lang war ich der glücklichste Mensch der Welt, dies behaupte ich jetzt einfach mal so. Drei Monate, dann ging Frank zurück nach Deutschland.

Das Loch, welches mich nun erwartete, war noch größer als jemals zuvor in meinem Leben. Wirkliche Zuneigung, Vertrautheit, Liebe, einfach ein vollkommenes Dasein hatte ich in dieser Zeit empfunden und mit einem Schlag war mir das alles wieder genommen worden. Ich verkroch mich daraufhin wochenlang in meiner Wohnung, abgeschottet vom Rest der Welt. Einige Male versuchte Shaun zu mir durchzudringen, aber ich wollte nicht seine aufbauenden Worte hören. Ich wollte jemanden… der zu mir gehört, jemanden, der bei mir ist, mich liebt, mich zu einem Ganzen machte. Ich fühlte mich plötzlich nutzlos, kränklich und nicht mehr wichtig für diese Welt.

Irgendwie schaffte es Shaun dann doch, mich nach draußen zu schleifen. Er lud mich zu seinem ersten Live-Auftritt in einem kleinen Club ein. Hier lernte ich Simon kennen. Simon war ein Freund von Kenny, dem Gitaristen der Band, und schwul. Natürlich war ich nicht total doof und wusste genau, dass dieses Treffen auf Shauns Mist gewachsen war. Simon redete lange mit mir und versicherte mir, dass ich mit meinem Aussehen und mit meiner ziemlich süßen Art doch keine Probleme hätte, jemanden kennenzulernen. Ich müsse halt nur die Initiative ergreifen.

Die Initiative ergriffen, verbrachte ich mit Simon eine unvergessliche Nacht. Natürlich fiel es mir unheimlich schwer, ihn am Morgen darauf wieder gehen zu lassen. Ich bettelte ihn regelrecht an, dass wir es doch miteinander versuchen könnten, fragte ihn, ob sein Gerede nur Geschwätz gewesen sei, denn immerhin schien ich ja doch nicht so toll zu sein, wenn er mich nicht haben wollte. Er sagte mir, dass er nicht auf Beziehungen stünde, und verließ nach weiteren Überredungsversuchen meinerseits kopfschüttelnd meine Wohnung.

Ich weinte bis zum Nachmittag, wegen Frank, wegen Simon und wegen meiner Einsamkeit. Am Abend ging ich in den nächstbesten Schwulenclub, den ich im Internet finden konnte und versuchte erneut mein Glück.

Von damals bis jetzt, also in gut neun Jahren, sind so, wenn ich niemanden vergessen habe, 236 verschiedene Sexpartner zusammen gekommen. Einige von ihnen blieben länger, wenige konnte man eine Beziehung nennen, doch die meisten waren einfach nur One-Night-Stands.

Wenn mich jemand fragen würde, wie es zu dieser Anzahl gekommen ist, würde ich wohl erst einmal nur leicht mit dem Kopf schütteln. Dann einen Ausdruck aufsetzen als durchlaufe ich gerade diese Erlebnisse noch einmal und schließlich mit leicht bedrückter Stimme sagen: „Ich denke, ich bin beziehungsgestört.“

„Aha“, würde dann wohl als Antwort kommen. „Dir fällt es also schwer, dich wirklich zu binden?“ Worauf dann allerdings meine Erwiderung wäre, dass eher das Gegenteil mein Problem sei. Ob man es glaubt oder nicht, so bin ich in jedem der 236 Fälle von einer hoffentlich glücklichen Beziehung ausgegangen. Doch ich machte es immer wieder falsch und ich wusste, dass ich es immer falsch machte. Es zu ändern, schaffte ich nie. Wegen der Angst vor Ablehnung kam es eigentlich immer am ersten Abend zum Geschlechtsverkehr, eine nicht gerade gute Strategie für eine feste Beziehung. Dr. Kelfyn, meine damalige Therapeutin, sprach von einem krankhaften Verlangen nach Zuneigung. Ich denke, wenn sie nicht schon meine Therapeutin gewesen wäre, hätte sie mir wohl zu einer Therapie geraten, denn ich vermute, dass sie genau wie ich selber nicht wirklich eine Lösung für mich wusste. Mir sagen, dass ich dieses Verlangen besser unter Kontrolle halten musste, konnte ich mir selber, dafür musste ich nicht 150 Dollar die Woche bezahlen. Aber schon alleine diese Sitzungen halfen mir unheimlich viel vor der Angst allein zu sein.

Freunde? Ja, natürlich hatte es ein paar in den Jahren gegeben, doch auch bei ihnen viel es mir schwer, mein Verlangen zu unterdrücken, und umso besser ich mich mit ihnen verstand, umso sicherer war ich, dass man es vielleicht doch mal mit einer Beziehung probieren könnte. Auf diese Weise hatte ich natürlich so gut wie sämtliche Leute in meinem Umfeld vergrault.

Die Schuld für alles gab Dr. Kelfyn natürlich meinem Vater, der sich nicht überwinden konnte, mich zu lieben, wie man ein Kind nun einmal lieben sollte, dem frühen Tod meiner Mutter und dem Tod meiner Grandma. Jeder war Schuld an meinen Problemen, nur ich selber nicht… laut Dr. Kelfyn. Ich persönlich gab mir jedoch einen großen Prozentsatz daran.

Zu direkt, zu schnell und zu aufdringlich. Ich klettete, verlangte schon ziemlich schnell Liebeseingeständnisse und würde am liebsten gestern als heute jemanden einen Ring an den Finger stecken. Ich rief pausenlos an, wenn die Person nicht bei mir war, krankhafte Eifersucht brachte mich zu den verrücktesten Taten. Aber das Unglaublichste: Ich verliebte mich jedes Mal.

Ich brauchte gar nicht viel dafür. Ein sanftes Lächeln, ein zärtlicher Blick, einer dieser Küsse, bei denen man dahin schmilzt, und schwups, war es geschehen, oder vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, dass es geschieht. Aber auch wenn es nur Einbildung ist, fühlt es sich immer verdammt echt an.
 

Mein Leben steuerte ich, abgesehen von der Liebe, nach meinen Vorstellungen und mit größter Genauigkeit voran. Ich beendete das College mit Bestnoten und bekam einen Job beim Architekturbüro meiner Wahl. Endlich eigenes Geld zu verdienen war höchste Zeit. Die Lebensversicherung von Grandma war für die Studiengebühren vorgesehen gewesen, und mit dem Rest der Erbschaft und einem kleinen Nebenjob hatte ich mich die Jahre über Wasser gehalten. Aber mittlerweile waren meine Reserven so gut wie verbraucht.

Ich tanzte wieder. Nicht ausschließlich Ballett, sondern alles querbeet. Lernte alle gängigen Tänze und richtete mir das noch leerstehende Zimmer als einen mit Paket und Spiegel ausgestatteten Trainingsraum ein. Eigentlich lief mein Leben richtig gut, wenn es da nicht immer noch den Punkt Liebe geben würde.

Mit beinahe 27 habe ich einen guten Job, eine eigene Wohnung und lebe ein ehrliches Leben. Dass Männer in mein Leben gehören, daraus mache ich kein Geheimnis, und überall akzeptiert man dies. Für den 236. Griff ins Klo gebe ich natürlich nur mir selber die Schuld. Ich kann Georg jederzeit verlassen, irgendwie habe ich das eigentlich auch schon… ich bin nur zu schwach gewesen und habe ihn wieder reingelassen, ließ zu, dass er mich für seine Zwecke ausnutzt wie so viele andere zuvor. Die Angst alleine zu sein, kann ich immer noch nicht überwinden, und so ist es mir jeder Dreck wert, an meiner Seite zu sein, solange nur überhaupt jemand da ist.
 

~ * ~
 

Abgesehen vom Tanzen liebe ich es zu laufen. Mir vorzustellen, dass man mit jedem Schritt vor seinen Problemen davonlaufen kann, ist ein tolles Gefühl, solange man nur in die gegensätzliche Richtung läuft. Dreht man um, ist dieses Gefühl schon wieder passé.

In San Francisco gibt es Unmengen an Jogger und Gesundheitsfanatikern. Eine Stelle zu finden, wo man weitgehend alleine sein kann, seinen Gedanken so richtig freien Lauf zu lassen, ist schwer, doch ich hatte ihn für mich gefunden. Durch die Arbeit, einem eher kleinen Umbau, lernte ich eines der Vorstandsmitglieder von AT&T kennen. Wir kamen ins Gespräch über viele Dinge und selbst hier hatte ich das Gefühl, zu flirten, obwohl nur unweit von uns seine Kinder spielten. Wie dem auch sei, bekam ich Zugang zum AT&T Ballpark, einem Baseballstadion hier in der Stadt. Da man die Rasenflächen nicht betreten darf, jogge ich meisten im inneren, ziemlich weitläufigen System des Komplexes, und zum Schluss nehme ich noch ein paar der unzähligen Stufen der Tribünen mit. Manchmal setze ich mich nach der Arbeit auch einfach nur irgendwo hin, versuche den tollen Ausblick übers Wasser aufs Papier zu bringen, zeichne unzählige Stufen oder einzelne Spielerposen beim Training der hiesigen Baseballmannschaft. Ich nehme mir immer vor, mal zu einem richtigen Spiel zu gehen, die Atmosphäre muss einfach atemberaubend sein, aber mein Interesse an Baseball ist genauso groß wie die eines Kaugummis unter meinem Schuh.

Abrupt bleibe ich stehen und fische mein Handy aus der viel zu engen Hosentasche. Kurz überlege ich, ob ich wirklich mit der Person, dessen Name in leuchtenden Buchstaben auf dem Display blinkt, reden will.

„Ja?“

>„Wo bist du?“

„Laufen, wieso?“, schraube ich meinen beschleunigten Atem hinunter.

>„Komm nach Hause, sofort!“

„Warum?“

>„Weil ich sonst die Tür eintrete, um reinzukommen… also?“

„Ich komme.“

Ziemlich genervt lege ich wieder auf. Diese Art von Drohungen habe ich nicht zum ersten Mal bekommen und irgendwie würde mich schon interessieren, ob er es wirklich tun würde, wenn ich ihm mitteilen würde, dass er mich mal sonst wo kann. Im Dauerlauf durchstreife ich die Gänge. Da das Training schon eine Weile zu ende ist, nehme ich den kürzeren Weg durch die Kabinen. Stimmen dringen an mein Ohr, bevor ich sie allerdings richtig orten kann, ist es auch schon zu spät. Ich laufe direkt in die Quelle hinein. Der darauf erwartete Sturz bleibt aber aus, feste umschließen Hände meine Oberarme, ziehen mich hoch.

„Pass doch auf.“

„Entschuldigung“, gebe ich immer noch perplex von mir.

„Alles in Ordnung?“ Die Berührung lockert sich, bleibt aber bestehen. Ich ringe mich dazu durch, die Person vor mir anzusehen.

„Ja, ja ich denke schon.“

„Pass das nächste Mal einfach besser auf“, streifen seine Hände leicht meine Arme entlang ehe sie sich entfernen.

Sein Blick gibt eine Art Lächeln zum Besten. Würde es jetzt total blöd kommen, wenn ich denke würde, mich in diesem Augenblick zu verlieben? Ich lächle, würde am liebsten irgendwas von mir geben… irgendwas, natürlich sollte es einen gewissen Grad an Charme und Witz haben. Wäre da nur nicht noch ein zweites Gesicht in mein Blickfeld getreten, weshalb ich es für besser empfinde, einfach nur zu verschwinden.
 

Einen üblichen Abend mit Georg verbracht, hinterlasse ich ihn wie ein Baby schlafend und volltrunken in meinem Bett. Das Internet ist eine tolle Sache, blitzschnell hat man die Chance, an Information zu gelangen und Bilder zu erhalten. So auch in diesem Fall: Kevin Wyans! Spieler der Giants, ledig, keine Kinder, Autogrammadresse und noch eine Vielzahl von weiteren, für mich eher unwichtige Informationen, die sein Können beim Baseball aufzählen. Seine warmen Hände kann ich immer noch auf meiner Haut spüren, seine Augen vor mir sehen. Ich will ihn wiedersehen.
 

~*~
 

Am Wochenende verbringe ich viel Zeit im Stadion, hier liegt natürlich die größte Chance auf ein baldiges Wiedersehen. Doch was will ich ihm sagen oder tun, wenn es soweit ist? Wollte ich ihn einfach nur aus der Ferne angaffen, Situationen schaffen und hoffe, dass er vielleicht auf mich zugeht? Doch weshalb sollte er dies tun? Weil ich es mir wünsche?

Wenigstens kennt er meinen Namen. Er und dieser andere Typ müssen es einfach gewesen sein, die meine verloren gegangene Sicherheitskarte bei der Security abgeben haben. Sonst war doch niemand da gewesen.

Ich kann mich bei ihm dafür bedanken, kann so zu einem Gespräch mit ihm kommen. Eine Chance ihn zu sehen, mir sein Gesicht einmal genau anzusehen, nicht über ein Foto. Ihn vielleicht sogar zu berühren, indem ich ihm die Hand reiche und mich ihm richtig vorstelle. Schon allein der Gedanke daran lässt meinen Körper leicht kribbeln.

Und trotz dieser vielen Vorstellung bekomme ich an diesem Wochenende nicht einmal die Chance, einen einzelnen, realen Blick auf ihn zu werfen.
 

Am Montag hält zunächst die Arbeit mich davon ab, ins Stadion zu gehen. Den Gedanken, die Arbeit sausen zu lassen, verwerfe ich ganz schnell wieder. Laut Spielplan würde es heute kein Spiel geben, weder hier, noch auswärts. Überrascht über das einsame Auftreten eines Spielers bin ich daraufhin schon. Ich erkenne ihn trotz der weiten Entfernung sofort, so viele blonde Spieler gibt es nicht im Team. Mitten auf dem Feld bleibt er stehen. Schaut hinauf…

„HASST DU MICH DENN WIRKLICH SO SEHR?“

Sein Aufschrei lässt mich innehalten. Neugierig schaue ich mich um. Redet er zu jemandem, vielleicht sogar zu ihm, oder nur mit sich selbst? Als er mich schließlich bemerkt, laufe ich ein wenig näher an das Geländer heran.

„Alles in Ordnung?“, frage ich nach, da ich sonst keine weitere Person ausmachen kann. „Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“

„Ja…“, kommt es zurück. „Kümmere dich um deinen eigenen Dreck!“

Okay, das war deutlich. Ich drehe mich weg und beschließe es für heute gut sein zu lassen.

„WARUM?“, dringt es noch einmal an mein Ohr, bevor ich ins Innere flüchte.
 

~ * ~
 

Am Mittwoch sehe ich die erste wirkliche Chance eines Aufeinandertreffens, würde dieses verflixte Heimspiel nicht ausgerechnet in den Mittagsstunden stattfinden. Mit Kopfhörern lausche ich bei der Arbeit das erste Mal in meinem Leben freiwillig einer Baseballübertragung. In meinem Kopf stelle ich mir unterdessen Arme und Muskeln vor. Wie sie sich spannen, wieder locker werden… wie sein Blick konzentriert auf seinem Gegner liegt. Dinge, bei denen ich mich ermahnen muss, gedanklich bei der Arbeit zu bleiben.
 

Nach Feierabend versuche ich mein Glück. Mich gerade zum Hintereingang des Stadions gewandt, bleibt mein Blick auf einer Person liegen, die den Komplex durch den normalen Haupteingang verlässt. Eher ungewöhnlich, da das Spiel schon vor gut einer Stunde geendet hat. Körpergröße und die Form des Kopfes passen zweifelsfrei überein, doch am Ende verraten ihn die einzelnen blonden, unter dem Kopftuch hervorschauenden Strähnen. Die Sonnenbrille verdeckt seine Augen, doch ich folge ihm trotzdem, da ich mir ziemlich sicher bin.

Er bleibt einige Male stehen, scheint den Luftzug des Wassers zu genießen, wirft einen Blick über die angebundenen Yachten. Schließlich geht es stadteinwärts, einige große und kleine Straßenzüge entlang. Niemand scheint von ihm Notiz zu nehmen. Schaufenster erregen seine Aufmerksamkeit, er bleibt stehen, kauft sich einen Hot Dog und geht anschließend in eine kleine Bar in einer mir bis dahin unbekannten Seitenstraße. Ich wechsle auf die andere Straßenseite und gehe an den Fenstern vorbei. Zu meiner Missgunst sind sie undurchschaubar. Erneut die Straßenseite gewechselt nehme ich ein wenig Abstand, schau auf die Uhr.

Einige Zeit später noch einmal. Knappe 20 Minuten ist er nun schon im Inneren verschwunden. Schließlich entscheide ich mich dafür, ebenfalls hineinzugehen. Was kann schon passieren, es ist mir ja schließlich nicht verboten.

Das typische gedämpfte Licht empfängt mich, ein angenehmer Geruch liegt im Raum. Ich überfliege die Bar, dann den restlichen Raum und finde ihn an einem der hinteren Nischentische. Der Mann an der Bar mustert mich. Als ich auf ihn zugehe, um irgendwas aus der Tarnung heraus zu bestellen, schwenkt sein Kopf ab.

„Da drüben.“

Verwirrt folge ich seinem Blick und lande an genau diesem Tisch. Im Moment wird mir nur der Rücken preisgegeben und das schwarze Kopftuch mit dem weißen Druck. Unentschlossen vergehen die nächsten Sekunden, setze ich dann aber doch einen Fuß vor den anderen und trete an den Tisch heran.

„Du hast ziemlich lange gebraucht. Mittlerweile sind die Eiswürfel geschmolzen.“ Er deutet auf ein Glas ihm gegenüber. Seine andere Hand spielt mit einigen Zahnstochern, setzt sie zu einem Bild auf der Tischplatte zusammen.

„Mir war nicht bewusst, dass du... Sie-“

„Nicht merken würde, dass mich jemand verfolgt?“, unterbricht er mich. Sein Bild erweitert sich um einen Zahnstocher.

„Na ja, ich-“

„Hör zu!“ Die Brille wird abgenommen und seine Augen strahlen mir in kühlem Blau entgegen. „Dieses Getränk da drüben sollte nur beweisen, dass ich nicht total blöd bin, verstanden? Ich brauche keine durchgeknallten Fans, die mir durch die Straßen folgen und mir auf den Zeiger gehen und-“

„Ich bin gar kein Fan“, unterbreche nun ich. „Wenigstens nicht in dem Sinne, wie Sie sich das vorstellst…“ Während ich spreche, setze ich mich wie ferngesteuert ihm gegenüber. „…Eigentlich hasse ich sogar Baseball. Was heißt hassen, es ist mir nur einfach vollkommen egal.“ Ein blödes Grinsen umschließt meine Mundwinkel.

„Was verdammt noch mal dann? Einer dieser kleinen Schmierenreporter, Privatdetektiv?“

„Nichts dergleichen. Ich bin… einfach nur ein Fan von Ihnen, also von Ihrer Person.“

„Na super, was braucht der Mensch mehr“, steckt eine gehörige Portion Sarkasmus in seiner Stimme. Trotzdem scheint er eher gelangweilt, versucht ein neues Bild zu formen. Kurz bin ich gebannt, produziert mein Kopf unzählige an Möglichkeiten auf die Tischplatte.

Leicht schüttele ich mich im Inneren.

„Darf ich etwas fragen?“

„Wenn mich das weiterbringt, dass sie endlich wieder verschwinden.“

Ich beuge mich ein wenig vor, was ihn ein wenig zurückweichen lässt. Irritiert schaut er mich an.

„Sagen Sie, sind Sie schwul?“

Mit einer abwendenden Reaktion habe ich gerechnet, vielleicht sogar ein kleiner Wutausbruch, mit dem vielen es versuchen zu verstecken, aber nicht mit dieser bleibenden Ruhe, nicht mit diesem eindringenden Blick.

„Wie kommen Sie auf diese Idee?“, ist sein Blick starr auf mich gerichtet.

„Erinnern Sie sich eigentlich an mich? An unseren Zusammenprall in der Stadionkabine?“

„Mein Gedächtnis funktioniert ganz hervorragend. Ihr Name ist Matthew Dylan Curtis.“

„Genau, schön dass Sie sich erinnern! Ach, und danke für die abgegebene Sicherheitskarte.“

„Gern geschehen. Und worauf wollten Sie jetzt hinaus?“

„Oh, Verzeihung. Bei diesem Zusammenstoß also haben Sie mich festgehalten. Natürlich nur um zu verhindern, dass ich fallen würde, aber wie Ihnen wahrscheinlich selber bewusst sein sollte, stehen hetero Männer nicht so sehr auf Körperkontakt zu anderen, ihnen total fremden Männern. Ihnen war der Körperkontakt nicht einmal peinlich. Ich vermute sogar, dass Sie es nicht einmal wirklich gemerkt haben, nicht wahr? Ich könnte mich irren, aber das denke ich nicht.“

Dieses Mal ist er es, der sich auf mich zu bewegt. Ich steuere ihm entgegen. Mit immer noch gleichbleibendem Blick wendet sich sein Kopf an meinem vorbei und bleibt in Höhe meines Ohres stehen. „Verraten Sie es keinen.“

Wieder in seiner Stuhllehne versunken, fegt er die einzelnen Zahnstocher zu einem Haufen zusammen und lässt sie in dem dafür bereitstehenden Gefäß verschwinden.

„Trinken sie Sinen mit mir?“

„Gerne.“

„Etwas Bestimmtes?“

„Ich schließe mich an.“

„Nennen Sie mich ruhig beim Vornamen, wenn Sie sich schon so viel Mühe geben, mein Leben zu analysieren.“ Seine Hand erhebt sich und signalisiert den Barkeeper, dass er Zwei von was auch immer haben möchte. Nur Sekunden später werden zwei Bourbon eingeschenkt.

„Lass die Flasche gleich da, Keith.“

„Zum Wohlsein.“

Er erhebt sein Glas. „Also…“

„Matt, nenn mich Matt.“

„Also Matthew! Auf die kleinen Geheimnisse des Lebens!“
 

Mich nicht daran erinnern zu können, ob ich überhaupt jemals so betrunken war wie an diesem Abend, heißt schon einiges. Unsere Gespräche liefen mehr in Richtung Allgemeines, doch bildete wenigstens ich mir ein, eine ziemlich intensive Spannung in der Luft zu spüren. Dass ich meine Augen nicht von ihm lassen konnte, seine Lippen anstarrte und seinen Blick versuchte einzufangen, wäre wohl auch einem blinden Huhn aufgefallen. Ich gab ihm durch meine Gestik unmissverständlich zu verstehen, dass ich mit ihm flirtete.

Irgendwann gab es dann eine Art Filmriss… ein Taxi und irgendetwas mit meinen Schuhen, aber wirklich zusammen bekomme ich es nicht. Nun stehe ich nackt mit dem Gefühl, mir die Eingeweide rauskotzen zu können, unter der Dusche. Mein Spiegelbild kann ich nicht einmal richtig wahrnehmen, die Müdigkeit lässt mich alles nur noch verschwommen sehen. Ein Klopfen an der Tür schreckt mich auf.

„Kann ich reinkommen?“

„Ja“, drehe ich das Wasser aus und greife nach dem Bademantel.

„Ich hoffe das ist ok?“ Er deutet auf Shirt und Hose.

„Sicher“, schäme ich mich für die Unannehmlichkeiten, welche ich ihn bereitet habe.

„Warte…“ Er hilft mir mit dem Bademantel und hält mich fest, als ich aus der Dusche steige. „Geht’s?“

„Ja… ich will nur ins Bett.“

Langsam vorwärts kommend, stoppe ich in der Mitte des Raums.

„Alles in Ordnung?“

„Ich denke nic-“, schaffe ich es, die Toilette im letzten Moment zu erreichen.

Auf elendeste Weise würge ich alles aus mir hinaus. Kraftlos schaffe ich es nicht einmal mir noch ein klein wenig Würde zu bewahren. Kühle Lappen werden mir auf Nacken und Stirn gelegt.
 

Diese peinliche Vorstellung hinter mir gelassen, umhüllt mich nun endlich die Wärme meines Bettes.

„Du verträgst echt eine Menge.“

„Das glaubst auch nur du… Wenn ich ehrlich bin, habe ich kaum was getrunken.“

„Wie meinst du das?“, kämpfe ich damit, die Augen offen zu lassen.

„Die Pflanze neben mir hat heute einiges wegstecken müssen.“

„Du Schwein.“

„Ja…“

Eine Bewegung hält mich nochmals davon ab, ins Traumland zu entschwinden.

„Wo gehst du hin?“

„Ich muss los.“

„Bleib…“

„Ich habe morgen ein Spiel, ich muss nach Hause.“

„Nur bis ich eingeschlaf…“
 

~ * ~
 

Die Wärme, die meinen Körper festhält, lässt mich die Augen aufschlagen. Ich verlasse nicht wie sonst zügig das Bett, sondern bleibe weiterhin still liegen. Meine Position traue ich mich nicht zu verändern. Die ersten Sonnenstrahlen erhellen den Raum. Ich drehe meinen Kopf zum Wecker, woraufhin mich erneut die Übelkeit übermannt. Kurz nach Sechs lese ich ab.

Ich versuche meine Gedanken ein wenig zu ordnen. Obwohl mir die momentane Situation mehr als angenehm erscheint, habe ich keine Ahnung, wie ich dies alles deuten soll. Warum ist er immer noch hier? Nicht, dass ich es nicht wollte, aber ich dachte, er wollte es nicht.

Plötzliche Bewegungen stoppen meine Gedanken. Seine Nase stupst leicht hinter mein Ohr und streift einige Zentimeter der Haut entlang. Daraufhin ein Aufreißen der Augen, schnelles Erheben. Irritiert scheint er sich kurz orientieren zu müssen.

„Sorry, ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es?“

„Kurz nach Sechs.“

„Gott sei Dank.“ Sein Gewicht presst sich zurück in die Kissen.

Sein Arm gleitet nach hinten, kratzt sich leicht im Nacken. Eine helle Hautstelle, die den Sitz einer Uhr verrät, ist zu erkennen, wo sie wohl sein mag? Hatte er sie gestern an oder ist sie schon länger nicht mehr da? Abgesehen von dieser kleinen Stelle, schimmert seine Haut in einem samtigen Braun.

Ich liege weiterhin ganz still auf meiner Seite des Bettes und horche nach den Lauten, die mich von der anderen her erreichen. Ein kurzes Gähnen, ein Kratzen und der leise Atem, der auf seinem Wege leicht über seine Lippen hinweg streift... schon der Gedanke daran, macht mich ganz kribbelig. Und überhaupt, erwartete er jetzt eigentlich irgendwas? Vielleicht sollte ich...?

Ich drehe mich ein wenig. Das Gefühl der Übelkeit unterdrücke ich erfolgreich und mein Kopf hört auch sofort wieder auf zu hämmern, nachdem ich ruhig liege. Ich hebe meine Bettdecke an und lasse sie über ihn gleiten. Sofort spüre ich die Wärme, die sein Körper abgibt.

Ich lehne mich gegen seinen Rücken, komme mir wie ein unerwünschter Gast vor. Der Duft seiner Haut dringt an meine Nase, und ich ziehe ihn ganz leicht ein, damit er es nicht merkt. Ich spüre die ausgeprägte Muskulatur unter der Kleidung. Den Drang, mehr von ihm zu spüren, mehr berühren zu können, kann ich nicht länger halten.

Meine rechte Hand wandert hinauf, streichelt über den Nacken hinweg, berührt einzelne, blonden Haare. Den Dingen seinen Lauf gebend, wandert die Hand wieder hinab, seitlich immer tiefer. Meine Lippen legen sich in den Nacken und liebkosen sanft die wenige Haut, welche mir zur Verfügung steht. Vorsichtig ziehe ich den Körper näher an mich heran, meine Hand gleitet nach vorne und trifft dort auf die Seine. Meine Hand fest umschlungen wird sie daraufhin angehoben.

„Ich sollte jetzt gehen.“

Er gibt mich frei und steht auf. Mit schnellen Schritten verlässt er das Zimmer. Mühevoll gelingt es mir, ihm zu folgen, das Schwindelgefühl wechselt sich mit dem Brechreiz ab.

„Kevin?“

„Lass gut sein.“

„Sorry, ich habe da wohl was missverstanden. Ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten. Ich... na ja... eigentlich dachte ich, dass du... du...“ Meine Stimme zeichnet sich leise, mit Gefühlen von Angst und Unsicherheit ab, ich hasse mich dafür.

„Natürlich wollte ich zuerst mit dir schlafen, aber mehr auch nicht.“ Ich schaue ihm dabei zu, wie er meine Kleidung durch seine eigene, wieder trockene ersetzt.

„Warum denkst du, dass ich das nicht auch wollte?“

„Weil du ziemlich viel redest, wenn du betrunken bist.“

Seine Aussage trifft mich wie ein Schlag. Was habe ich alles preisgegeben? Das bedrückende Gefühl der Machtlosigkeit steigt in mir hoch, verkrampft meine Hände. Er geht in Richtung Tür. Jeder kleine Schritt von ihm lässt mich... ja was? Innerlich aufschreien, verkrampfen, kaum noch Luft erhalten? Ich will es nicht, ich will nicht, dass er geht.

Ich sehe, wie sich seine Hand leicht zu einem Abschiedsgruß hebt, wie sie danach beiläufig einige blonde Strähnen hinter sein Ohr streift und dann in der Hosentasche verschwindet...

„Ich liebe dich!“

....und wie sein ganzer Körper in eine Starre gebannt wird.

„Du kennst mich doch gar nicht“, wird seine Stimme von einem leichten Lachen versetzt.

In diesem Moment ist mir zu vielem zumute, zum Schreien, zum Weinen, ja sogar zum Sterben, aber noch will ich das nicht tun, noch will ich nicht kapitulieren. Sobald sich diese Tür hinter ihm schließt, kann ich mich all diesen Verzweiflungstaten hingeben, aber nicht jetzt, nicht solange er noch in so greifbarer Nähe ist.

Ich gehe auf die Knie, was er aus dem Augenwinkeln beobachtet.

„Bitte, geht nicht.“

„Was soll der Quatsch, mach dich nicht zum Narren“, dreht er sich zu mir um.

„WARUM NICHT?“, schreie ich, er tritt einen Schritt zurück. „Warum darf ich mich nicht zum Narren machen?

Mir ist es egal, ob du nur hier bleibst, um deinen Spaß zu haben, oder nur aus Mitleid, weil ich gerade diese Show hier abziehe. ES IST MIR EGAL, hörst du, egal!“

Meine Hände sind zu Fäusten geballt, stützen sich auf dem Boden ab. Ich will weitersprechen, verschlucke mich aber und breche in einen Hustenanfall aus. Tränen schießen hervor.

„Nichts“, kommt es stockend. „Ich verlange nichts von dir. Ich will nur nicht mehr alleine sein.“

„Damit verlangst du aber schon mehr als ich geben kann.“

Und für den Moment gehen mir die Argumente aus. Was kann ich auch vorbringen, um ihn zu überzeugen? Eigentlich kenne ich ihn doch gar nicht, ich weiß absolut nichts von ihm.

„Steh auf!“

Wacklig auf den Beinen, aber ich stehe auf. Mein Blick ist auf seine Brust gerichtet, da er nicht merken soll, dass ich verzweifelt nach irgendeiner Lösung in mir fahnde.

„Mach schon, sieh mich an.“

Ohne zu zögern tue ich dies.

„Ich gehe jetzt. denn es ist besser so.“

„Für dich?“

„Für uns beide.“

„Das denkst du vielleicht.“

„Lass gut sein, ich will nicht’s hören.“

„Ich bitte dich, geh nicht.“

„Sei doch vernünftig, ich wollte nur meinen Spaß haben, mehr nicht. Es wäre nicht richtig dir irgendwelche Hoffnungen zu machen, wo keine sind. Es tut mir leid, aber soviel Anstand habe selbst ich noch.“

„Scheiß auf deinen Anstand“, rutscht mir unerwartet die Hand aus und landet mitten in seinem Gesicht. „Warum kannst du nicht einfach das tun, wozu du hergekommen bist?“
 

Nachdem Kevin ohne ein weiteres Wort gegangen war und ich meine erste von vielen weiteren Heulattacken hinter mir hatte, meldete ich mich bei der Arbeit krank.

Der Ablauf des morgendlichen Szenarios ist mir eigentlich nicht gerade unbekannt, nur dass ich mir normalerweise zwei bis fünf Tage Zeit dafür lasse. Wieso ich es gerade hier so eilig hatte, alles zu verderben, ist mir selber ein Rätsel. Er ist so schnell gegangen, dass ich mich nicht einmal für den Schlag entschuldigen konnte. Verstehen kann ich mein Handeln erst recht nicht, bis jetzt bin ich noch niemals einer Person gegenüber handgreiflich geworden. Und dass ich nicht aufhören kann daran zu denken, raubt mir noch mehr den Verstand. Würde ich ihn wiedersehen?
 

Besagte Frage schafft es dann doch, mich am Nachmittag aus dem Bett zu hieven. Mit Unmengen an Tabletten im Körper mache ich mich auf den Weg zum Stadion. Die Mannschaften sind gerade aufs Feld raus, die Kabine verlassen. Auf einen Zettel kritzele ich schnell die Worte: „Es tut mir wirklich leid. Du kannst jederzeit vorbei kommen. Würde mich freuen. M.“ Den Zettel vergrabe ich geschickt in seiner Kleidung.

Ich trete auf die mittlere Zuschauertribüne hinaus und gebe mich erst einmal meiner Erschöpfung geschlagen. Die Sonne brennt vom Himmel, lässt meinen Kopf noch kräftiger pulsieren. Ich gewähre den nächsten zwei Tabletten Einlass in meinem Blutkreislauf.

Als er mich zum ersten Mal bemerkt, hebe ich leicht meine Hand zum Gruß, und beim nächsten Mal als er in meine Richtung schaut, winke ich sogar ein wenig. Irgendwie kann ich einfach nicht anders als mich bemerkbar zu machen sobald er zu mir schaut, und da ich genau gegenüber des Abwurfshügel sitze, kommt dies ziemlich oft vor. Als die gegnerische Mannschaft den Platz für sich in Anspruch nimmt und sich das Stadion langsam anfängt zu füllen, finde ich es an der Zeit nach Hause zu gehen.
 

Vor dem Aufzug treffe ich auf Shaun.

„Hey, ich wollte gerade wieder abdüsen.“

„Du bist wieder mal in der Stadt?“, krame ich nach der Karte.

„Carry hat irgendwas mit ihren Eltern, da haben wir einen kurzen Zwischenstopp eingelegt.“

„Warum hast du sie nicht mitgebracht?“

„Damit ihr euch wieder an die Gurgel gehen könnt?“

„Hättest dir eben eine anständige Frau aussuchen sollen.“

„Sie ist anständig, sie kann dich bloß nicht leiden.“

„Möchtest du etwas trinken?“

„Ein Bier, wenn du hast.“

Leiden kann ich Carry auch nicht besonders. Sie hält sich für etwas besseres, obwohl sie aus der untersten Gosse kommt. Wahrscheinlich hat sie so eine Art Höhenflug geerntet, nachdem es feststand, dass es mit der Band auf Tournee gehen sollte.

Wir setzen uns ins Wohnzimmer. Die Flasche Wasser trinke ich fast auf einmal aus.

„Und, wieder mal verliebt?“

„Dieses Mal ist es anders“, setze ich die Flasche ab und schließe die Augen.

„War es das nicht immer?“

„Warum fragst du, wenn du doch nur auf Zickerei aus bist?“

„Ich zicke nicht, ich mache mir nur Sorgen.“

„Zeitverschwendung.“ Langsam kann ich es nicht mehr hören.

„Ich weiß, aber es ist nun einmal meine Pflicht als großer Bruder.“

Ich ziehe eines der Kissen zu mir herüber und versuche eine gemütliche Lage zu finden.

„Ok, sag schon. Was ist an ihm so anders? Warum er und nicht einer der ganzen Typen vor ihm? Oder ist es vielleicht dies Mal sogar eine Frau? Vielleicht solltest du echt mal darüber nachdenken, dich mal wieder auf das weibliche Geschlecht einzulassen. Vielleicht bringt’s?“

„Es ist ein Kerl.“

„Und, ist er gut im Bett?“ Ein glucksendes Lachen.

„Natürlich“, rutsch mein Kopf vom Kissen, ich grinse blöd und schau ihn direkt an. „Er besorgt es mir so richtig hart, immer wieder und genau so wie ich es brauche“, gebe ich ziemlich übertrieben zurück.

„Genau das wollte ich hören.“

„Idiot.“ Ich werfe das Kissen nach ihm und stehe auf. Dass er es in keiner Weise böse meint, weiß ich. Ich bin nur gerade einfach nicht für seine Art zu haben. „Möchtest du was essen… ich hab heute noch gar nichts zwischen die Zähne bekommen.“

„Nein danke, ich muss auch schon wieder los. Aber du solltest ein bisschen besser auf dich achten.“ Er strubbelt mir durchs Haar. „Du siehst echt scheiße aus. Du nimmst doch keine Drogen oder so?“

„Ich doch nicht. Du kennst doch mein Suchtmittel.“

Sein Blick bleibt kurz auf mir ruhen. „Ich hab dich lieb.“ Er zieht mich zu sich und küsst mich auf die Stirn. „Ich ruf dich an.“

Schneller als ich noch irgendwas erwidern kann, ist er auch schon wieder weg. Noch nie habe ich es geschafft, ein wirklich ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen, und in den letzten Jahren habe ich den Versuch dazu aufgegeben. Ich hätte ihm gerne einmal gesagt, dass ich ihm für nichts die Schuld gebe, dass es nichts gibt, womit er mir hätte helfen können… Ich weiß genau, dass er sich, sobald er in meine Nähe kommt, Vorwürfe macht. Er denkt, er hätte mir in unserer Kindheit nicht genügend geholfen, mich nicht unterstützt und mich hilflos in der Höhle des Löwen zurückgelassen, wenn er mal wieder ausgerissen ist.

Mit Witzen und Blödeleien wird deswegen die wenige Zeit, die er es schafft, in meiner Nähe zu sein, überspielt. Es ist seine Art, mit der Vergangenheit klar zu kommen, aber ich wünsche mir einfach nur einen Bruder, mit dem ich über alles reden kann.
 

~ * ~
 

Am Freitag stehe ich wieder aufrecht im Büro. Die Nachwirkungen des Alkohols sind endlich abgeklungen, wo nun aber die Müdigkeit ihr Revier markiert. Die halbe Nacht habe ich mir mit einer blöden Frage nach der anderen den Kopf zermartert. Allen voran natürlich die Frage, ob ich Kevin unter anderen Umständen als ihn zu stalken noch einmal wiedersehen werde.

Ein neues Projekt lenkt mich zeitweise ab, doch irgendwann ist die Arbeit getan, und außer der Vorahnung, dass Georg heute wahrscheinlich auftauchen wird, gibt es nichts, was irgendwie für Ablenkung sorgen könnte.

Zur Arbeit gehe ich im Gegensatz zu so vielen anderen gerne. Nicht nur, dass ich hier das tun kann, was ich gerne mache, sondern gibt es in diesen Räumen einen ganz anderen Matthew Dylan Curtis. Einen, den die Welt da draußen nicht kennt.

Hier bin ich ein respektierter und talentierter junger Architekt. Ich werde ernst genommen und man fragt mich gerne und oft nach Rat. Mein überdurchschnittliches, künstlerisches Talent und mein ausgeprägter Ideenreichtum lassen mich zu einem wichtigen Mitglied der Gesellschaft werden. Man kennt mich als ausgeglichenen, fleißigen Mitarbeiter. Niemand würde auf die Idee kommen, dass ich größtenteils mit meinem Leben nicht zu Recht komme.

Mit meinen Mitarbeitern komme ich super zurecht, dass liegt vor allem daran, dass ich mich nicht zu sehr mit ihnen einlasse. Im Büro bin ich freundlich und hilfsbereit, außerhalb diesem finde ich aber immer irgendwelche Ausreden, um ihnen nur nicht die Gelegenheit zu geben, mich wirklich kennenzulernen.

Oft allerdings frage ich mich, was denn nun mein wahres Ich ist. Der talentierte Architekt, der sein Leben bis ins kleinste im Griff zu haben scheint, oder der naiv wirkende, seelisch verkrüppelte, junge Mann, der Angst vorm Alleinsein hat? Liegt es vielleicht nur in meiner Hand, mir ein Leben auszusuchen?
 

Am Abend ignoriere ich das Klingen des Telefons und das Klopfen gegen die Tür. Ich gebe mich lieber meiner Erinnerungen hin, indem ich dutzende von kleinen Kevin-Skizzen aufs Papier bringe. Den krönenden Abschluss gibt ein zwei Fuß großes Portrait.
 

~ * ~
 

Geweckt werde ich am nächsten Tag von der Türklingel. Da ich es für unwahrscheinlich halte, dass Georg um diese Zeit schon unterwegs ist, traue ich mich an die Gegensprechanlage.

Keine Antwort, ein Klopfen gegen die Tür. Ich öffne.

„Hey!“

„Ja, auch hey…“

„Ich habe deinen Zettel bekommen.“

Zweifelsfrei merkt man mir an, dass ich total baff über sein Erscheinen bin.

„Darf ich reinkommen?“

„Natürlich“, trete ich beiseite. Ich folge ihm „Ähm, hast du schon gefrühstückt“, frage ich, da mir nichts anderes einfällt.

„Nein, aber ich habe auch keinen großen Hunger im Moment.“

„Gut... äh… Gib mir ne Minute, ok?“

„Klar.“

Ich verschwinde nach hinten, um mich anzuziehen. Innerlich kann ich mein Glück kaum fassen, er ist wieder gekommen, ganz ohne mein Zutun.

Als ich wieder ins Wohnzimmer trete, inspiziert er gerade das vollgestopfte Bücherregal.

„Was Interessantes dabei?“, trete ich näher heran.

„Wenn du so tolle Werke wie ‚Ratgeber für das Alleinsein’, ‚14 Schritte zum Glück’ oder ‚Was mache ich falsch?’ meinst, dann eine ganze Menge.“

Sein Unterton lässt ein wenig Scham hinaufsteigen.

„Du liest diese ganzen Dinger doch nicht etwa. Das müssen an die…“ Sein Blick schweift. „…50 sein?“

„63“, gebe ich noch mehr beschämt zu. „Ich habe sie alle gelesen.“

„Wozu tut man sich das an?“

„Um glücklich zu sein“, klingt meine Stimme unabsichtlich etwas gekränkt. „Kann ich dir irgendwas anbieten?“

„Nichts im Moment, danke und… Entschuldigung! Ich habe kein Recht, über dich zu urteilen.“

Verdutzt schaue ich ihn an, als hätte sich in meinem ganzen Leben noch niemals jemand die Mühe gemacht, sich bei mir zu entschuldigen.

„Können wir uns setzten?“, weist er hinüber zur Couch.

Wir setzten uns. Er streift sein Haar zurück, greift beim Hinunterlassen der Hand nach dem Kugelschreiber auf den Tisch. Einige Male lässt er ihn klicken. Sein Blick ist gesenkt.

„In meinem Leben ging einiges schief. Im Moment geht es mir aus einigen Gründen nicht so besonders gut“, eröffnet er mir. „Zuhause kotzt mich alles an, ich könnte dort gerade jedem an die Gurgel springen, der mich nur schief anschaut…“

Stopp mal, warum habe ich eigentlich nicht vorher daran gedacht? Klar, er ist ledig, aber ist er auch ungebunden? Vielleicht steckt er in einer Beziehung, hat einen Freund… warum ist mir dieser Gedanke nicht schon längst gekommen?

„…und dann habe ich mich gerade erst von Marc getrennt und-“

„Du hast dich getrennt?“

„Ja, scheiße…“ Er schaut mich an, als wisse er genau, was in meinem Kopf gerade vorgeht. Höchstwahrscheinlich weiß er es auch.

„Ich will dir nur klar machen, dass ich das im Moment nicht gebrauchen kann. Ich habe kein Verlangen danach, mich mit Problemen anderer zu beschäftigen. Und dieses Winke-Winke-Spiel beim Training, was sollte der Scheiß? So was kann ich schon mal gar nicht gebrauchen. Dann kann ich mir auch direkt einen Zettel auf die Stirn kleben und der Welt bekannt geben, dass ich schwul bin.“

Gott, ich habe total vergessen, nachzudenken. Dass ihm das Probleme bereiten könnte, daran habe ich gar nicht gedacht.

„Ich kann das jetzt nicht… das ist mir einfach zu viel im Moment.“ Der Kugelschreiber fällt auf den Tisch zurück. „Ich dreh durch, verdammt noch mal, und du scheinst irgendwie nicht zu verstehen, dass nicht alles so laufen kann, wie du es möchtest.“ Er steht auf und ich tue es ihm gleich. Seine Hände scheinen eine Beschäftigung zu suchen, als er keine findet legt er sie in den Nacken.

Er schaut mich an, als erhoffte er sich irgendeine Art von Antwort von mir, eine Lösung für sich selbst.

„Ich habe Hunger, lass uns erstmal was essen.“
 

Nach dem verspäteten Frühstück sitzen wir gemeinsam vor dem Fernseher und schauen eine Quizshow.

„Du langweilst dich, stimmst?“

Ich schrecke auf, nicht nur über die plötzliche Frage, auch über die Richtigkeit, dass er dies erraten hat.

„Ich, nein! Ich bin nur ein wenig müde, und...“ Sein Blick versucht weiterhin mich zu analysieren. „..ok, du hast recht, es langweilt mich.“

„Keine Sorge, es ist gleich vorbei.“

Während er wieder die Kandidaten im Fernseher beobachtet, beobachte ich ihn. Ich versuche mir alle Kleinigkeiten seines Gesichtes einzuprägen, und sofort erkenne ich meine gezeichneten Fehler.

„Was ist?“, fragt er, sein Blick weiterhin zum Fernseher gerichtet.

„Nichts, ich schau nur.“

„Und was glaubst du, was du siehst?“

„Ich weiß nicht“, gebe ich zu, da ich nicht weiß, mit welcher Antwort er sich zufrieden gegeben hätte.

„Eine gute Antwort.“ Ein lautes Klatschen erklingt, und sofort wendet sich seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu. Das Bild wird schwarz, die Stimmen verklingen. „Was machst du sonst um diese Uhrzeit?“

„Ich zeige es dir.“

Wir gehen in mein Arbeitszimmer, wo es von Skizzen, kleineren Modellen und Unmengen von Büchern wimmelt. Während ich mich an meinen Schreibtisch setze, schaut er sich in den Bücherregalen um.

„Architektur, mh?“

„Ja, ich liebe es.“

„Um einiges besser als dein anderes Bücherregal.“

Er nimmt einige Bücher hervor, legt sie wieder zurück und wendet sich dann den Bildern an der Wand zu.

„Sind die alle von dir?“

„Nein, alle an der hinteren Wand sind von meiner Grandma.“

„Sie hat wirklich Talent.“

„Sie hatte“, senke ich den Blick, um nicht in Gefahr zu gehen, dass sich unsere Blicke kreuzen.

„Das tut mir leid.“

„Danke… und was liebst du so?“

Sein Interesse scheint urplötzlich von allem abzufallen. Er scheint zu überlegen, aber ich bin mir dessen nicht wirklich sicher.

„Was ich liebe?“

„Ja“, schaue ich neugierig herüber.

„Lass uns das Thema wechseln.“
 

Am Abend lassen wir uns was vom Chinesen kommen und hocken uns auf den Wohnzimmerteppich zum Essen. Kurz darauf scheint sich alles in Luft auflösen zu wollen.

„Es war ein wirklich schöner Tag.“

„Warum willst du ihn dann beenden?“, versuche ich es zu verhindern.

An seinem Blick spüre ich sofort sein Unwohlsein auf mein Gedränge.

„Hast du nicht ver-“

„Doch, aber das muss doch kein Grund für dich sein, zu gehen. Wenn dich alles so ankotzt zu Hause, dann bleib doch einfach hier.“

„Das ist nicht gut.“

„Komm schon. Es ist eh spät. Wir gehen einfach schlafen und fertig.“
 

Zwanzig Minuten später liegt er tatsächlich neben mir im Bett.

„Gute Nacht.“

„Nacht.“

Irgendein Gespräch zu beginnen wäre absoluter Quatsch. Über was sollten wir auch in so einer Situation reden? Dass ich nicht so einfach einschlafen kann, meine Absicht durchsetzen, nichts zu tun, einfach brav neben ihm zu liegen lässt mein innerer Schweinehund nicht zu.

Ich kuschele mich einfach an ihn. Gegen ein wenig Zuwendung hat doch niemand was, oder? Einige Zeit liege ich so Haut an Haut mit ihm zusammen, ohne ein Wort des Missfallens. Meinen Kopf sachte angehoben, bemerke die leichte Spur von Schweiß, die sich zwischen uns gebildet hat. Ohne darüber nachzudenken legen sich meine Lippen auf die warme Haut und nehmen den salzigen Geschmack auf. Es ist so ein schönes Gefühl, ihn berühren zu können. Ich taste einige weitere Stellen mit meinem Mund ab. Unerwartet dreht er sich um. Die Dunkelheit ist im Zimmer nicht ganz gegeben und so kann ich seine Augen ein wenig erkennen. Zuerst denke ich, ich bin zu weit gegangen, er will es nicht, lässt mich sein anhaltender Blick aber dann doch etwas anderes vermuten.

„Darf ich dich küssen?“, ist auch deshalb meine Frage.

Weiter Stille. Denkt er angestrengt über die Antwort nach oder will er mich einfach nur zappeln lassen? Dann Bewegungen, als hätte er eine Entscheidung getroffen, als wolle er etwas mitteilen. Irgendwie mit sich selber ringend. Ich richte mich ebenfalls leicht auf, mein Kopf ist an die Wand gelehnt.

„Darf ich?“, frage ich abermals nach, um die Situation nicht zu gespenstig zu gestalten.

Statt Antwort oder einfach einem Kuss, spüre ich nur einen kleinen Luftzug an mich vorbei rasen, höre wie seine Hand direkt neben meinem Gesicht auf die Wand trifft. Ich zucke zusammen.

„Hast du mir denn gar nicht zugehört?“, erhöht sich die Lautstärke seiner Stimme ein wenig. So als wollte sie fragen: Wie blöd bist du eigentlich? „Ich wusste es war ein Fehler zu bleiben. Was ist eigentlich los mit dir, schaffst du es nicht deine Finger bei dir zu lassen?“

Und um dem ganzen die Krönung aufzusetzen, stürze ich vor und presse unsere Lippen zusammen. Sanft hatte ich mir den ersten Kuss von ihm vorgestellt, etwas Unvergessliches. Na ja, es wird sicher unvergesslich für mich bleiben, wie ich mal wieder voll daneben gehandelt habe.

Ein Zittern liegt auf seinen Lippen und lässt mich dies schnell wieder stoppen. Doch damit nicht genug, presse ich ihn daraufhin einfach an mich.

Ich finde diese ganze Situation einfach nur schrecklich. Alles wieder einmal total falsch angegangen. Wieder einer, der es nicht erwarten kann, meiner Nähe zu entrinnen.

„Bitte lass mich los.“

Meine Arme schrecken auseinander, ich bleibe aber weiterhin auf gleicher Höhe mit ihm.

„Das hätte jetzt echt nicht sein müssen.“

„Es tut mir leid.“

„Wahrscheinlich besser, als ein Schlag ins Gesicht.“

„Entschuldige“, habe ich diese peinliche Sache schon längst vergessen.

„Und jetzt lass uns bitte nur schlafen“, berührt er mich leicht auf der Wange.
 

~ * ~
 

Am Morgen dann der Schock: Ich bin alleine. Ich springe aus dem Bett, stolpere über irgendwas auf dem Fußboden, knalle gegen das Fenster und reiße den Vorhang aus seiner Halterung.

„Verdammte Scheiße“, fluche ich laut und knalle dabei mit dem Knie gegen den Bettrahmen.

Leicht humpelnd entfliehe ich schließlich dem teuflischen Schlafzimmer und stürme ins Wohnzimmer. Nichts. Im Bad dasselbe Bild, keine Spur von ihm. Vor Schmerzen und Verzweiflung den Tränen nahe, stolpere ich auf das Arbeitszimmer zu und bleibe erleichtert im Türrahmen stehen.

Er sitzt am Schreibtisch, den großen Arbeitsblock aufgeschlagen. Als er mich bemerkt, dreht er sich leicht um.

„Sehe ich wirklich so aus?“

Ich humple ins Zimmer hinein. „Du scheinst ein ziemlich nachdenklicher Mensch zu sein“, versuche ich meine Zeichnung zu erklären. Und während ich mit meinem Instinkt gegen meinen Kopf argumentieren, ob es jetzt ratsam wäre, ihn zu berühren, fängt er an zu erzählen Über sich, die Beziehung zu Marc, Japan, Kida und Sakuya. Gegen ende habe ich das Gefühl, sein ganzes Leben zu kennen.
 

~ * ~
 

Wann ich endlich eingeschlafen bin, weiß ich nicht mehr. Irgendwann hatte ich einfach aufgehört auf die Uhr zu schauen und mir seine Erzählungen immer wieder ins Gedächtnis zurückzurufen.

Ich liege alleine in meinem Bett und mich beschleicht das Gefühl, dass ich auch in der Wohnung allein sein werde.

Der gestrige Tag hat mir vieles offenbart, Dinge, die ich lieber nicht erfahren hätte. Auf einmal stelle ich mir Fragen, an die ich vorher niemals gedacht habe. Ich habe immer von einer Beziehung geträumt, sie ist zu meiner größten Herausforderung geworden. Und nun? Nachdem ich ihm stundenlang zugehört habe… Bin ich denn eigentlich bereit dafür zu kämpfen?

Bin ich bereit, diese ganze Palette von Gefühlen zu durchleben? Würde ich es schaffen, für jemand anderen da zu sein, seinen Kummer, Ängste und auch Freude zu teilen?

Plötzlich sah ich alles in einem ganz anderen Licht. Es sollte das Größte sein, verliebt zu sein, mit jemandem im Friede-Freude-Eierkuchen das Leben zu verbringen und mich nur von seiner Liebe zu ernähren… Alles andere habe ich gar nicht erkannt. Nicht gesehen, was man vielleicht aufgeben und bereit sein muss zu geben, um jemand anderen glücklich zu machen. Doch kann ich dies überhaupt? Bin ich dazu in der Lage, die Bedürfnisse eines anderen über meine eigenen zu stellen? Bin ich nicht eigentlich ein sehr ichbezogener Mensch?

Bilde ich mir das Gefühl von Liebe wirklich nur jedes Mal ein, ist es vielleicht einfach nur eine Art von starkem Verlangen?

Minuten später stehe ich dann endlich auf und erschrecke vor dem Bild, das mir der Spiegel preisgibt. Ich sehe aus wie ein zugekiffter Junkie. Mein erstes Ziel ist das Bad.

Das Zweite, die Küche, ist verlassen. Auf dem Wohnzimmertisch stapeln sich die Hüllen der DVDs, welche wir uns gestern eine nach der anderen angesehen haben. Nur nicht miteinander reden müssen war mein einzige Gedanke nach den stundenlangen Gesprächen.

Das leichte Wehen der Gardine lässt mich in Richtung Verandatür schauen. Knapp hinter der Türschwelle sitzt er auf einem Kissen.

Ein kleiner Kampf, den ich verspüre, nicht gerade den Drang, zu ihm zu gehen. Die Aussichten auf ein Gespräch machen mir auch jetzt noch Angst. Nichtsdestotrotz ist da wieder dieses Gefühl. Aber was ist es? Verlangen, Anziehungskraft, Liebe oder vielleicht einfach nur Mitleid? Zu verstehen, dass es auch anderen schlecht gehen kann, zu sehen, wie viel Schmerz es geben kann, obwohl man so aufrichtig liebt?

Ich schließe meine Augen, ich bin müde, und habe ehrlich gesagt keine Lust mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wenigstens jetzt nicht. Wie spät ist es eigentlich? Ich muss gleich zur Arbeit. Mir ist kalt.

„Endlich wach?“

„Und du, immer noch hier?“

„Sieht ganz danach aus.“

„Wie lange bist du schon wach?“, setzte ich mich nahe bei der Tür auf den Boden.

„Schlafen ist eine schlechte Angewohnheit“, lächelt er. „Ich habe übrigens deine Katze kennengelernt… wie heißt sie denn?“

„Katze!“

„Bitte?... Das ist ja wirklich mal sehr originell… Matthew?“

„Mmh?“ Ich will nicht reden, warum können wir nicht einfach nur hier sitzen, mehr nicht.

„Entschuldige, dass ich dich so voll gequatscht habe.“

„Schon okay“, lüge ich.

„Ich denke ich brauchte das einfach mal… bis jetzt habe ich noch nie so viel von mir preisgegeben.“

„Wem sollte ich es auch erzählen?“

„Der Times? Dem Chronicle? Ich denke, dass eine Menge Leute ganz scharf auf die Story währen.“

„Du hast Recht, ich könnte Millionen machen“, scherze ich.

Dann ist es wieder eine Weile still zwischen uns. Nervös schaue ich auf die Uhr.

„Und, was glaubst du jetzt, ist es, was du siehst?“

„Hatten wir das nicht schon mal?“

„Mmhh…“

„Ich denke, wir zwei sind ziemlich kaputt.“

Ein Schmunzeln. „Das denke ich auch.“
 

Nicht nur weil ich ansonsten zu spät zur Arbeit kommen würde, fällt der Abschied relativ kurz aus. Irgendwie hängt mir gerade zu viel im Kopf herum und mich beschleicht das Gefühl, mich neu ordnen zu müssen.

„Sehen wir uns?“

„Ich weiß nicht, ich muss erst mal-“

„Schon gut, du musst keine Entschuldigungen suchen.“

Erneut gleiten seine Finger über meine Wange. Es ist keine wirklich zärtliche Berührung.

„Ich werde bis Samstagabend nicht in der Stadt sein.“

„Am Sonntag habe ich Geburtstag“, durchschießt es meine Gedanken.

„Wie alt wirst du?“

„27.“

„Happy Birthday…“ Er küsst mich auf die Wange.
 

~ * ~
 

Am Freitag habe ich vier Portraitzeichnungen fertig gestellt. Zuerst hatte ich es mit glücklichen Ausdrücken versucht, doch diese wollten mir nicht gelingen. Es sind traurige und sogar verzweifelte Bilder. Gesichter, vor denen man stehen bleibt und kurz darüber nachzudenken versucht, was der Person auf dem Bild bloß so viel Kummer bereiten könnte.

Die Anrufe von Georg ignoriere ich weiterhin. Nicht, dass ich mir nicht Gesellschaft herbeisehne, doch so ist es seine ganz sicher nicht. Schon ganze vier Tage habe ich es geschafft, mich mit Arbeit und dem Zeichnen abzulenken, ein richtiger Meilenstein. Jeder Psychiater wäre stolz auf mich. Vielleicht sollte ich wieder in Therapie gehen, nur um davon berichten zu können?

Eventuell half es mir auch einfach nur, dass ich ihn unentwegt anstarren konnte. Wieder und wieder verbesserte ich kleine Feinheiten auf den Bildern.

Die realistische Möglichkeit, ihn nicht wiederzusehen lässt meine Nase wie verrückt kribbeln und ich spüre Tränen, welche sich versuchen, hochzuarbeiten. Sofort unterdrücke ich aber dieses Gefühl, versuche nur von Minute zu Minute einfach weiterzumachen.
 

Am Samstag springe ich für meine frühere Ballettlehrerin ein, indem ich die Kinderklasse unterrichte. Ab und an kommt es vor, dass sie mich darum bittet, wenn sie einen anderen wichtigen Termin hat oder, wie dieses Mal. in der Jury eines Ballettwettbewerbs sitzt.

Das Unterrichten macht mir Spaß, aber ein richtiges Arrangement will ich nicht in dieser Richtung eingehen. Für eine Kinderklasse würde es zwar gerade noch reichen, aber dann würde ich an meine Grenzen stoßen und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren würde.

Am Ende der Stunde spendiere ich den Mädchen noch ein Eis im unteren Stockwerk des Gebäudes. Danach habe ich im Grunde vor, nach Hause zu gehen. Jedoch tragen mich meine Füße die Stufen zur BART-Station hinunter. Ich löse ein Ticket zu 6,20 Dollar und steige in den Zug Richtung Colma. Die Fahrt dauert knapp 22 Minuten und zu Fuß bin ich dann auch noch einmal gut 35 Minuten unterwegs, bevor ich vor dem Grab meiner Grandma zum Stehen komme. Meine Mom würde ich hier nicht finden, ihre Grabstelle ist in Seattle, bei ihrer Familie.

Angst vor Friedhöfen habe ich nicht, obwohl hier der Inbegriff der Einsamkeit zu wohnen scheint. An diesem Ort ist mein Kopf meistens leer… nicht unangenehm leer, sondern so, als würde er endlich einmal zur Ruhe kommen.

Einen weiteren Stopp lege ich im nahegelegenen Sizzler ein. Einer der wenigen Orte, wo man gut und billig was zu essen bekommt. Erst gegen Abend bin ich wieder daheim, wo die Uhr viertel nach Sechs anzeigt.

In knapp sechs Stunden habe ich Geburtstag und außer mit einem Anruf von Shaun rechne ich mit nichts. Die Kollegen auf der Arbeit werden mich zweifelsfrei mit einem Kuchen und kleinen Präsenten am Montag überraschen. Witzige kleine Hütchen werden sie tragen und strahlend ein Ständchen zum Besten geben. Voller tief empfundener Freude werde ich mich daraufhin bei jedem einzelnen von ihnen bedanken, um mir Sekunden danach doch wieder bewusst zu werden, dass wieder ein Jahr vergangen ist, in dem ich es nicht geschafft habe. Und das soll dann schon wirklich alles sein?
 

Sonntag! Natürlich habe ich versucht, mich nicht darauf einzustellen, dass er wirklich kommen wird, umso aufgeregter bin ich, als die Türklingel zu mir durchdringt. Meine Freude darüber ein wenig zu unterdrücken versuchend, sprinte ich auf das wenig Holz zu, was mich von ihm trennt. Ein Klopfen, kurz bevor ich die Klinke in der Hand halte. Ich reiße die Tür auf… trete einen Schritt zurück… Zu spät sie wieder ins Schloss zu werfen, er tritt bereits durch die Öffnung.

„Wo zum Teufel hast du dich die letzten Tage rumgetrieben?“ Weiter zurück folgt er mir auf dem Fuß. Die Tür fällt hinter ihm zu. „Ich rede mit dir“, schnüren mir seine Finger die Luft ab. Der Versuch, ihn von mir zu stoßen, misslingt. Bevor mir jedoch die Luft ausgeht, lockern sich seine Finger und sein Mund verschlingt gierig meine Lippen.

„Hör auf“, sträube ich mich.

„Komm schon, du willst es, ich weiß es“, nimmt er meinen Widerstand nicht einen Moment lang ernst. Wahrscheinlich interpretiert er es als aufgeilendes Rollenspiel anstatt wirklich von ernstem Protest auszugehen.

„Nein, ich will nicht“, versuche ich seine Finger vom Eindringen in meine Hose abzuhalten. Was soll dieser ganze Quatsch auch? Er wäre niemals bereit für mich irgendetwas zu opfern und für mich da zu sein. Er ist nur ein erbärmliches Hindernis in meinem Leben.

„Jetzt zier dich verdammt noch mal nicht so“, drückt sich sein Unterarm gegen meine Kehle. Meine Zehenspitzen berühren gerade noch den Boden. „Sei jetzt einfach brav und gib mir was ich haben will.“ Seine Zunge gleitet über Mund und Nase.

„Nein“, bäume ich mich ein weiteres Mal auf und trete ihm gegen das Schienbein. Nur einen Atemzug lang lässt er von mir ab, bis mich als nächstes ein gekonnt erliegender Schlag ins Gesicht trifft. Ich gehe sofort zu Boden, pralle hart mit dem Kopf auf. Das folgende erlebe ich nur noch in einer Art Traumzustand, als habe ich meinen Körper verlassen und würde auf andere, mir völlig fremde Personen hinabblicken:

Die etwas größere Person greift nach der am Boden liegenden, zieht sie zu sich hoch und brüllt ihr etwas ins Gesicht. Halb schleifend, wankend wird sie zum Tisch gezogen und ohne große Vorsicht hinaufgedrückt. Eine ekelhafte Kulisse. Gewalt, gezwungener Sex und immer wieder beleidigende und demütigende Worte. Aber irgendwann ist mir nicht mehr die Gnade zu Teil, als Außenstehender nur zusehen zu dürfen, und ich spüre all dies am eigenen Körper.
 

Der folgenden Durchsuchung meiner Wohnung, nach Geld oder anderem für ihn interessanten Dingen, schaue ich dieses Mal mit wenig Hingabe zu. Nackt hocke ich neben dem Wohnzimmertisch auf dem Boden. Das Blut an meinem Mundwinkel ist noch nicht ganz versiebt, der Geschmack ist ekelhaft, die Schmerzen sind erträglich.

Unerwartet ein Läuten. Ängstlich schaue ich von der Tür zu Georg, der meinen Blick sofort richtig deutet.

„Was ist? Etwa dein neuer Stecher?“ Er zieht mich hoch und schubst mich vorwärts. „Los, mach schon“, deutet er auf die Gegensprechanlage.

„J~a?“

>„Ich bin es, Kevin.“

„Na, lass ihn schon rein“, wird mir ins Ohr geflüstert. Doch schließlich muss er selber den Türdrücker betätigen. „Und jetzt brav zuhören.“ Er packt mich feste im Genick und zieht mich zu sich heran. „Werd den Typen ja wieder los. Ansonsten… werde ich auch ihm wehtun.“ Er schubst mich von sich.

„Ich komme später wieder, also tue was ich dir sage, sonst…“ Er gestikuliert eine Klinge unter der Kehle und fährt an der Haut entlang.

Mit weichen Knien verfolge ich das Öffnen der Tür und das Hinausgehen auf den Flur. Zur selben Zeit erklingt der kleine Ton des Fahrstuhls. Von Panik geflutet versuche ich die nächsten Augenblicke zu überstehen. Kevin tritt in die immer noch offene Tür und aus seinem Gesicht verschwindet blitzartig das kleine Lächeln. Erst jetzt werde ich mir wieder über mein Erscheinungsbild bewusst. Vor Scham knicke ich ein, verstecke mich in hockender Lage. Ein Tumult aus dem Flur erreicht mein Ohr und kurz darauf das Schließen der Wohnungstür.

Schritte kommen auf mich zu und ich presse mich noch weiter zusammen. Ferner dann wieder Geräusche und anschließend eine vorsichtige Berührung, die mich zuerst zusammenzucken lässt. Eine weiche Woge wird über mich ausgebreitet und mein Körper schafft es, sich so weit zu entspannen, um behutsam wieder auf die Beine zu kommen.

„Er wird nicht wieder kommen“, dringt es leise zu mir durch. Auf die Couch werde ich hinuntergedrückt und weiterhin von seinen Armen gehalten. Den Schmerzen trotzend, drücke ich mein Gesicht gegen seine Brust und ohne es zu wollen, fange ich an zu weinen. Ich hatte so eine scheiß Angst und ich bin so froh, dass er da ist.
 

Nachdem ich ihm einiges zu Georg erzählt und mich weitgehend beruhigt habe, bringen wir mich und die Wohnung wieder auf Vordermann.

Im nächsten ruhigen, schon beinahe peinlichen Moment gratuliert er mir zum Geburtstag. An ihn zu denken habe ich schon wieder ganz vergessen. Nicht einmal ein Stück Kuchen habe ich da, um es ihm anzubieten.

„Hier, ich hab was für dich“, streckt er mir ein kleines Schächtelchen hin.

„Für mich?“

„Hab ich doch gesagt.“

„Das hättest du echt nicht tun müssen“, nehme ich es entgegen. „Ich meine, Geld für mich auszugeben.“

„So viel Geld war es gar nicht. Nur ein paar Materialien, den Rest habe ich selber zusammengeschustert.“ Sein Lächeln wird ein wenig größer.

„Du hast es selbst gemacht? Mit deinen eigenen Händen“, schaue ich ihn fragend an und versuche den Grad der prozentualen Verwirrung zu errechnen.

„Nein, mit meinen Füßen…“, presst er meine Hände näher an mich. „Nun mach schon auf.“

Wenn er nicht anwesend gewesen wäre, hätte ich möglicherweise stundenlang nur glücklich hinaufgestarrt. Behutsam entferne ich den Deckel und staune auf die gläserne Kuppel hinab.

„Du hast mir eine Schneekugel gemacht?“ Bedacht lasse ich sie aus der Schachtel auf meine Hand gleiten.

„Du scheinst ja auf diese Dinger zu stehen und es ist gar nicht so schwer“, ertönt ein wenig Stolz in seiner Stimme. „Die fertigen, leeren Kugeln bekommst du im Bastelgeschäft. Dann noch ein wenig Kunstschnee, Klebstoff, Silikon und Wasser. Ach ja, und natürlich das, was man drin haben will.“

Faszinierend schaue ich weiterhin auf mein Geschenk. Natürlich sieht man, dass es eine selbstgemachte Schneekugel ist, obgleich sie mir jetzt schon die liebste von allen ist.

„Und was ist es genau, das da drin?“, schaue ich suchend nach der Antwort in das klare Wasser, versuche den Sinn in einer kleinen wachsartigen Tafel zu finden.

„Sagt dir der Begriff ‚Tabula rasa’ etwas?“

„Nein“, brauche ich nicht lange zum Überlegen.

„Wörtlich bedeutet es so viel wie unbeschriebene Tafel. In der Antike setzte man Vergleichsweise eine Wachstafel, da diese immer wieder neu beschrieben werden konnte, mit dem ursprünglichen Zustand der Seele gleich. Einfach alle Fehler des Lebens wegwischen und noch einmal ganz von vorne anfangen. Ich dachte, das passt wunderbar zu dir.“

Ich lächle verlegen und unsere Blicke bleiben aneinander haften. Ist dies wieder nur ein Gefühl von mir oder kann er es dieses Mal auch spüren?

„Ich würde dich jetzt sehr gerne küssen“, kommt es in ruhigem, aber dennoch ernstzunehmendem Tonfall.

Mein Herz fängt sofort an, auf Hochtouren zu klopfen, lauter als die Gedanken, die in meinem Kopf wirbeln. Steht die Zeit auf einmal still?

Und dann, ist er da, ganz nahe an meinem Gesicht, und ich bekomme tatsächlich schwitzige Hände.

„Ich würde es so gerne“, umschmeicheln seine Finger wieder die schon bekannten Stellen. Sein Blick wird mit jedem Augenblick sanfter, mein Mund erreicht eine unerklärliche Dürreperiode und das Schlucken fällt mir zunehmend schwerer.

„Dann… tue es doch“, setzt sich mein warmer Atem schon beinahe auf seinen Lippen ab.

„Es geht nicht, du blutest.“ Seine Anwesenheit bleibt bestehen, die Finger gleiten mehr nach hinten.

Verdammt noch mal, daran habe ich gar nicht gedacht. Ich bin mir zwar relativ sicher, dass ich gesund bin, obwohl Georg es zwei Mal geschafft hat, ohne Kondom mit mir zu schlafen, aber ausschließen kann man so etwas ja nie. Nur ein wenig Blut, eine kleine Reizung am Zahnfleisch des anderen und schon kann es geschehen sein.

Geschehen… und es passiert ganz zart und vorsichtig, kaum eines Windhauchs gleich. Meine Augen schließen sich, obwohl ich mir vorgenommen hatte, sie geöffnet zu lassen, um ja nichts zu verpassen.

Seine feuchten Lippen wandern meine Wangenknochen hinauf, am Ohr vorbei und am Hals wieder hinab.

Ich überwinde den letzten Funken Zurückhaltung und berühre ihn an den Armem. Dieses Mal ist es okay, nicht wahr?
 

Part 63 - Ende
 

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~ AT&T

~ BART

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Part 64

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Sakuya (by littleblaze)
 

Ich schrecke hoch, zwinge meine Augen sich an das fastdunkle zu gewöhnen. Neben mir leer, nicht mein Bett. Falsche Bilder, andere Farben… ein Hotelzimmer. Ich streife die verschwitzen Strähnen nach hinten und versuche die Ziffern auf dem Wecker zu erkennen, doch meine Augen wollen noch nicht so wirklich und geben mir nur etwas Verschwommenes preis.

Ich stehe auf. Angenehm weich fühlt sich der Teppich unter meinen Füßen an. Das Fenster zieht mich in seinen Bann. Ich komme am zweiten Bett im Raum vorbei. Er schläft.

Die erhellten Lichter der Stadt scheinen unzählbar zu sein. Wie auf der Erde lebende Sterne, nur in vielen verschiedenen Farben. Still liegt meine Hand auf der Scheibe, spürt die Kälte, welche von der anderen Seite kommt.

„Was tust du da?“, verschwindet der Lichterzauber.

„Ich habe nur irgendeinen scheiß geträumt.“ Ich drehe mich um.

„Schlaf weiter“, wird mir halbgähnend empfohlen. Doch gerade kann ich nicht einmal sagen, ob ich dies überhaupt will.

„Komm schon, ich kann nicht schlafen, wenn du da blöde rum stehst.“

„Entschuldige.“ Ich treffe erneut auf den Ausblick.

„Gott, so war das nicht gemeint“, wird die Decke zurückgeschlagen und sich mühsam in die Aufrechte gezwängt. Er kommt auf mich zu.

„Willst du darüber reden oder… sollen wir vielleicht etwas tun, was dich wieder müde macht“, grinst er. Und seine Worte noch gar nicht richtig analysiert, legt sich eine Hand bereits in meinen Nacken und zieht mich näher heran.

„Wir sollten das nicht tun.“

„Schhht... sag jetzt nichts.“

Und das tue ich nicht, denn als ich seine Lippen auf meinen spüre, bin ich wirklich sprachlos. Erst will ich darüber nachdenken, weshalb es jetzt dazu kommt, aber nach einer, vielleicht zwei Sekunden gebe ich mich ganz diesem Gefühl in mir hin.

Es schmeckt so anders, irgendwie fremd, doch trotz allem scheine ich es zu genießen.

Er lässt mir kaum noch Luft zum Atmen und ich bekomme von Sekunde zu Sekunde immer mehr Lust dazu, mich dem einfach hinzugeben. Den Gedanken, dass ich es vielleicht gar nicht will, dass es so was von falsch ist, schiebe ich schnell beiseite, denn im Moment scheint dies alles nicht wichtig.

Bereit es geschehen zu lassen, lässt Kevin unerwartet von meinen Lippen ab. Erst rechne ich damit, dass er sich von mir zurückzieht, dass es nur ein Ausrutscher war, doch stattdessen beginnt er zärtlich meinen Hals zu küssen.

Ich kralle mich in seinen Haaren fest, als er anfängt seine Hände über meinen Oberkörper streifen zu lassen. Wir schauen uns kurz an, als wir wieder den Kontakt zwischen unseren Lippen herstellen. Zaghaft wie noch vor ein paar Minuten bin ich nicht mehr, eher im Gegenteil. Ich will ihn mit all meinen Sinnen aufnehmen, und ihm geht es da nicht anders.

Seine Hand gleitet hinunter, bis zu meinem Hosenbund und gleitet vorsichtig hinein. Ich halte den Atem an, als er mich berührt, sanft hinweg gleitet. Innerlich explodiere ich in diesem Tun, ich dränge mich ihm entgegen und wir fallen aufs Bett. Und diese animalische Wildheit, die nun zwischen uns und unseren Bewegungen herrscht, ist einfach nicht lange auszuhalten. Sie schreit nur nach einem, nach Erlösung.

Lippen formen etwas, doch was kann ich nicht verstehen. Immer noch versucht mein Atem mit meinen Bewegungen mitzuhalten.

„Er darf es niemals erfahren“, raunt es an mein Ohr.

„Was?… Wer darf was nicht erfahren?“, gleitet es heiser über meine Lippen. Mit einem stockenden Aufstöhnen nehme ich ihn in mich auf.

„Sakuya… er darf es niemals erfahren.“

In meinem Kopf scheint sich auf einmal alles zu drehen und die Umrisse sich aufzulösen. Sein sich bewegender, stöhnender Körper über mir, drehe ich meinen Kopf zur anderen Seite und treffe in der Fensterscheibe auf mein Spiegelbild…
 

Ich schrecke auf, presse die Hände auf mein Gesicht. Versuche irgendetwas zu finden, was nicht dorthin gehört. Nicht mein Bett, alleine darin, Hotelzimmer… ja genau, ein Hotelzimmer. Streife mir die verschwitzen Strähnen nach hinten. Der Wecker zeigt 3.51 Uhr an.

Ich stehe auf. Der Teppich ist weich, ich gehe ins Bad. Aus dem Spiegel heraus schaut mich mein, mein ganz eigenes Gesicht an…. was hatte ich auch erwartet zu sehen?

Wieder zurück, klebt mein Blick regelrecht am Fenster, vielleicht sollte ich besser nicht darauf zugehend. Kevin schläft.

Meine Hand berührt nicht die Scheibe.

„Was ist?“, bin ich dieses Mal nicht dazu gekommen, mir über die Lichter der Stadt Gedanken zu machen.

„Ich hab geträumt.“ Ich ziehe es vor, mich nicht umzudrehen.

„Geh wieder ins Bett.“

Die Lichter strahlen trotzdem genauso hell, wie in meinem Traum. Bunt und irgendwie warm, in einer der vielen Städte, die mittlerweile zu meinem Leben dazu gehört. Warum träume ich nur so etwas?

„Du stehst ja immer noch da“, wird die Decke zurückgeschlagen. Viel später als zuvor wird sich aufgemüht und auf mich zugekommen.

„Wenn du jetzt mit dem Vorschlag kommst, dass wir ja etwas zu meiner Ermüdung tun könnten und mich küsst, dann kannst du was erleben““

„Ok… sonst geht es dir aber noch gut, oder?“

Ich lächle. „Ich habe echt so einen Scheiß geträumt.“

„Na gut“, scheint er immer noch verwirrt. „Da ich nun schon mal wach bin, kannst du es mir auch ebenso gut erzählen… Und los“, zieht er mich zum Bett und setzt sich darauf.

Bedenklich schaue ich auf die zerwühlte Bettdecke. „Ach, lass mal“, versuche ich abzuwiegen.

„Jetzt keinen Rückzieher“, zieht er mich hinunter.

„Es ist total verrückt, nicht der Rede wert. Die Sache mit Kida macht mich gerade ziemlich wirr im Kopf.“

„Also hat es was mit ihm zu tun?“ Wissensdurstig schaut er mich an. „Ahhh, jetzt versteh ich. Du hast es mir ihm getan, im Traum mein ich.“

„Nein“, werde ich trotz der falschen Annahme rot. „Du warst es.“ Dass ich zuerst angenommen habe, ich wäre ich, wird verheimlicht. Die ganze Sache war auch so schon peinlich genug.

„Ich? Wie kommst du denn darauf?“, überschlägt sich beinahe seine Stimme und er versucht zweifelsohne, nicht in Gelächter auszubrechen.

„Ich sag doch, dass ist verrückt. Aber lach ruhig“, stehe ich auf und gehe zu meinem eigenen Bett hinüber. „Aber komm mir jetzt ja nicht mit dieser allgemeinen Annahme, dass Träume, Wünsche oder Ängste unseres Lebens sind, die wir uns nur nicht eingestehen wollen“, woraufhin er sein Lachen nicht mehr halten kann. Geduldig warte ich ab, bis es sich wieder legt.

„Gott, da kann ich gut verstehen, dass du nicht wieder einschlafen willst.“

„Ha ha… aber mal im Ernst, was soll der Scheiß?“

„Woher soll ich das denn wissen? Bin ich seit neusten als Sandmännchen aktiv?“

„Danke, sehr hilfreich!“, lande ich auf dem Kissen und ziehe die Decke über mich. Und als wäre plötzlich gar nichts Peinliches an der Sache dran, fange ich an, ihm den Traum von vorne bis hinten zu erzählen. Jede Kleinigkeit, an welche ich mich noch erinnern kann.

„Wenn du mich fragst, ist diese Nummer, dieser Traum nur aus deiner damaligen Enttäuschung heraus entstanden. Du hast dich damals hintergangen und verraten gefühlt… wahrscheinlich, hat dein Kopf sich jetzt nur einen neuen Verrat an dich zusammengesponnen… Jetzt, wo er ohne jede Vorwarnung wieder aufgetaucht ist..“

„Glaubst du?“

„Was ich glaube ist hier eigentlich nicht relevant. Aber ich denke mal, dass du gerade ziemlich mit dir haderst, ob du einen freundschaftlichen Kontakt zwischen euch haben möchtest oder ob dir sein Hiersein einfach am Sack vorbei gehen sollte… Dein Kopf hat dir halt in diesem schon reichlich verrückten Traum nur noch mal dargelegt, wie wenig du ihm vertrauen kannst… oder so etwas in der Art. Denke ich, rein persönliche Meinung. Am Ende muss du selber wissen, ob da was Wahres dran ist.“

Kurz ist es still.

„Fändest du es total irre, wenn ich es zulassen würde?“

„Es bringt nur Ärger, dass habe ich dir schon gesagt.“

„Warum bist du dir da so sicher?“

„Weil er er und du du bist!“
 

~ * ~
 

„Wo bist du nach der Besprechung hin?“ Die Hotelzimmertür fällt ins Schloss und eine vollgepackte Einkaufstüte landet auf dem Tisch.

„Hast du was leckeres mitgebracht?“, greife ich nach der Tüte.

„Da ist nichts für dich drin.“ Schuhe werden abgestreift, Uhr und Handy nehmen auf dem Nachttisch seinen Platz ein.

„Sieht auch nicht gerade zum Anbeißen aus…Was ist das? Sieht aus wie… so eine Schüttelkugel…“

„Soll es auch sein“, wird mir das Plastik aus der Hand genommen und der gesamte Inhalt der Tüte vorsichtig auf den Tisch verteilt.

„Ok…“, schaue ich der Sortierung der einzelnen Materialien skeptisch zu. „…hast du zu viel Zeit oder warum diese plötzliche Basteleuphorie?“

„Was ist so falsch daran mal etwas selber machen zu wollen?“

„Nichts“, lasse ich mich auf den Stuhl hinter mir fallen. „Ich kann mich nur nicht daran erinnern, dich seit dem Kindergarten jemals basteln gesehen zu haben.“

„Vielleicht hast du nur nicht richtig hingeschaut.“

„Vielleicht… aber denkst du, dass Cat sich darüber freuen wird?“ Flüchtig schaut er mich an. „Sie ist immerhin erst fünf. Noch ein Alter, wo man sich durchaus über was selbstgemachtes freuen kann.“

„Ich wusste nicht, dass es dafür ein Zeitlimit gibt.“ Der Blickkontakt entfällt, aber auch so ist die Ironie gut zu erkennen.

„Also ist es nicht für Cat?“

„Nein, und jetzt hör auf zu bohren.“
 

Der Fernseher und die Jungs lenken mich kurz ab. Natürlich hätte mich das Footballspiel jetzt leicht von Kida und auch Kevins komischen Verhalten ablenken können, nichtsdestotrotz bevorzugte ich es, im Hotelzimmer zu bleiben und meinem Mitbewohner bei seinem Werken zu beobachten.

Indessen versucht er seit einer halben Stunde etwas zu befestigen, was ihm aber nicht richtig zu gelingen scheint. Nach dem achten leisen Dahinfluchen schalte ich den Fernseher aus und stehe vom Bett auf.

„Sag doch einfach, wenn ich dir helfen soll“, trete ich hinter ihn.

„Ich schaff das schon.“

Wieder vergehen ein paar Minuten, ich sitze ihm jetzt gegenüber.

„Komm schon, du benimmst dich wie ein stures Kind. Lass mich dir doch einfach helfen.“

„Gib mir deinen Finger.“

Ich strecke meine Hand aus und er greift sofort nach ihm. Vorsichtig wird dieser gegen den kleinen gelblichen Gegenstand gedrückt.

„Nicht zu fest“, haucht sein Atem gegen eben diesen Finger, während sein prüfender Blick nach dem Rechten schaut.

Unerwartet überkommen mich wieder einige Szenen aus meinem Traum. Ich spüre die Hitze durch mein Gesicht fahren und kann nur hoffen, dass er weiterhin den kleinen Gegenstand zwischen der Platte und einer Art kleinem, selbst gebastelten Ständer fixiert. Irgendwie bekommt es langsam Ähnlichkeit mit einem aufgeschlagenen Buch.

„Verrätst du es mir jetzt?“

„Halt still.“

Mein Finger fängt an zu pochen. Eine Art Krampf, dieses Gefühl wobei man sich am liebsten von dem schmerzenden Gegenstand trennen möchte, nur damit es wieder aufhört..

Seine Konzentration ist unglaublich hoch… für wen gibt er sich solche Mühe?

„Ich treffe mich mit jemanden, schon vergessen?“, haucht sein Atem erneut gegen meine Hand.

„Nein.“

„Es dauert nicht mehr lange.“

„Werde ich ihn denn mal kennenlernen?“, erhalte ich das Thema aufrecht.

„Wahrscheinlich… aber wenn es soweit ist…“ Er nimmt vorsichtig meinen Finger weg. „…dann sei bitte so nett und komm nicht mit einem beknackten Satz wie: ‚Also für dich musste ich stundenlang meinen Finger entbehren’ oder so was in der Art.“

Leicht streichelt er über meine Fingerkuppe hinweg, um einige der Wachsreste zu entfernen. Er lässt mich los und auf einmal breitet sich ein Gefühl von Verlust in mir aus.
 

~ * ~
 

Den gesamten Rückflug am Samstagabend verbringe ich damit, mir alle Wenn und Abers der letzten fünf Tage noch einmal ins Gedächtnis zurufen. Kann ich einfach so tun, als wäre er niemals da gewesen? Als hätte es diese erneute Begegnung nicht gegeben?

„Ich kenne hier nicht gerade viele Leute...Es wäre schön, mal mit Jemandem... normal reden zu können, so sein, wie ich bin.“

Habe ich so etwas wie Mitleid für ihn entwickelt?

Persönlich kann ich mich noch ziemlich gut daran erinnern, wie für mich die ersten Wochen in Japan waren, getrennt von meinen Freunden und meiner normalen Umgebung und niemanden weit und breit, der mich kannte, dem ich irgendwie vertrauen konnte.

Und womit habe ich ihm voller Gehässigkeit darauf geantwortet?

„Dann such dir doch einfach eine kleine Schwuchtel, welcher du deine Sorgen anheften kannst, und die immer schön ‚du bist der Beste’ schreit, wenn du sie in den Arsch fickst!“

Ja, ganz super gemacht, Sakuya.

Aber reicht dieses Mitleid wirklich aus, um alles andere ungeschehen zu machen? Können wir wirklich nur Freunde sein?

Kann ich mir wirklich sicher sein, dass es nur das ist, was er will? Obgleich dies nicht einmal mein einziges Problem ist.

Was, wenn alles rauskommen würde? Wenn Charize von meiner Vergangenheit erfahren würde, dass es etwas gibt, was ich absichtlich all die Zeit über verschwieg… was dann? Würde alles enden, wäre alles vorbei? All meine Träume plötzlich… puff, wie eine Seifenblase und das nur, weil er nicht einfach auf der anderen Seite der Welt hatte bleiben können?
 

Zuhause angekommen lenkt uns erst einmal die Umgestaltung des Hauses ab.

„Schatz, du hast die Dampfdusche wieder rausgeschmissen.“ Voller Dankbarkeit presse ich sie in meine Arme und lasse sie durch den Raum wirbeln.

„Sie hat dich nicht glücklich gemacht.“

„Dafür machst du es umso mehr.“ Ich küsse sie überschwänglich auf die vollen Lippen.

Wir begutachten die neue Treppe und das Ankleidezimmer. Ein Luxus, welchen ich eigentlich nicht brauche, aber solange es mein Glück glücklich macht, ist mir alles recht. Vollends verschwinden die Gedanken an Kida, als sich warme Haut an mich drängt und wir uns der puren Sinnlichkeit hergeben.
 

Ziemlich zeitig verschwindet Kevin am nächsten Tag aus dem Haus. Die selbstgemachte Schneekugel begleitet ihn. Der Instinkt, ihm einfach zu folgen, rauszufinden, wer der Unbekannte ist, lässt meine Finger kribbeln. Natürlich bin ich ganz brav und verbringe den Tag mir Charize, Nessa und Billy und mit einem Besuch in einem neuen Jazzclub.
 

Zunächst beginnt der Montag mit seinem ganz normalen Gang: Aufstehen, Frühstücken, Charize geht zur Arbeit und Brenda kommt zu der ihren. Beim Joggen allerdings bin ich allein und auch bei den Stunden bis zum Spiel, schleicht sich die Zeit in trister Einsamkeit dahin.

Später versuche ich mich mit neugierigen Fragen zurückzuhalten. Kevins Laune hat sich sichtlich verbessert; Keine sarkastischen Antworten mehr und sein Gesichtsausdruck hat zwar keine Grinsekatzeformen angenommen, doch ist der in letzten Zeit negative Ausdruck daraus verschwunden. Die Schneekugel scheint wohl ein voller Erfolg gewesen zu sein.

Am Donnerstag entscheide ich mich endlich. Ganz spontan kommt sie, als ich mir bewusst darüber bin, dass ich gerade in seiner Nähe bin. Es ist keine Ja oder Nein Entscheidung, sondern lediglich der Entschluss, dass ich wenigstens einmal mit ihm reden sollte.

Ich musste mir sicher sein, dass da wirklich nichts anderes im Spiel ist. Ich muss wissen, dass es nicht der größte Fehler meines Leben sein wird, wenn ich ihn erlaube, in dieses zu treten. Es darf nicht der kleinste Zweifel da sein, keine Aussage, kein Tun, was mich oder mein Leben in Gefahr bringen, es zerstören könnte.

Für mehr habe ich mich nicht entschieden.

Es ist nicht mal ein komisches Gefühlt, ihn drei Meilen von seiner Haustür entfernt anzurufen. Schon seit Tagen lag seine Visitenkarte im Auto und dank Charizes Neugier bin ich auch Wissender seines Aufenthaltsortes. Vorbeugend habe ich bei Charize schon einmal durchsickern lassen, dass ich darüber grübeln würde, mich mit Kida zu treffen. Wenn sie alles wissen würde, wäre sie wohl nicht so begeistert davon gewesen.

Natürlich scheint er überrascht zu sein, als meine Frage ertönt, ob er gerade Zeit hätte und ich kurz mal vorbei kommen könne. Aber da ein erwartendes Ja auf diese Antwort fällt, parke ich kurze Zeit später vor seiner Haustür.

Ein Apartmenthaus, ordentlichen Zustand. Eine etwas zu schmale Frau lässt mich durch die Tür schlüpfen. Sie scheint so verträumt an meinen Wagen zu hängen, dass sie dies nicht einmal mitbekommt. Der kleine Empfang ist leer. Ich studiere die Bewohnerliste und finde den Namen Takahama im vierten Stock. Der Aufzug ist leer, im ersten Stock ändert sich dies aber. Ein junger Mann tritt herein und sieht mich direkt an. Ein Lächeln umringt unvermittelt sein Gesicht und schon bevor er es ausspricht, weiß ich, dass er mich erkannt hat.

„Ich kenne Sie. Sie sind Sakuya Michael Ryan von den Giants.“ Ich lächle nur leicht und nicke zaghaft. Der Ausdruck der mitten im Satz von ihm Besitz ergriffen hat, gefällt mir nicht.

„Ah, der vierte Stock“, registriert er. „Denken Sie wirklich, dass es klug ist, hier zu sein? Ich meine, die Presse, das Image… sollte ma-“

„Vielleicht sollten Sie sich lieber um Ihren Job kümmern…“, fixiere ich Handfeger und Kehlblech in seiner Hand. „…und halten sich aus dem Leben Ihnen fremder Menschen heraus“, ertönt das Fahrstuhlklingeln und ich setze mich in Bewegung.

„Würde ich ja gerne tun, wenn Kida ein mir fremder Mensch wäre.“ Ein kleines Zucken durchströmt zwar meinen Körper doch schaffe ich es, mir nichts anmerken zu lassen, und gehe geradewegs weiter zur nächstbesten Tür. Der Fahrstuhl schließt sich hinter mir.

Hier nun überkommt mich doch ein nervöses Gefühl. Nicht wegen dieses komischen Typs aus dem Fahrstuhl oder dem, was er gesagt hat. Eher ein Verlangen von unsagbarer Neugier und Wissensdurst. Was wird mich hinter dieser Tür erwarten? Antworten oder nur weitere Fragen? Neue Enttäuschungen oder vielleicht sogar Freundschaft? Aber… will ich es wirklich wissen?
 

Part 64 - Ende
 

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Part 65

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Sakuya (by littleblaze)
 

Peinliche und starrende Augenblicke später werde ich endlich über die Türschwelle gebeten.

„Ach übrigens“, drehe ich mich nach dem Geräusch der sich schließenden Tür um. „Ich habe da so einen Typen im Fahrstuhl getroffen.“ Sein fragender Blick lässt mich weiterhin auf der Stelle stehen, ausführlicher werden. „Komisches Haar, Kehrblech und Handfeger… meinte den Hiobsbotschafter raushängen lassen zu müssen“, hänge ich noch an, obwohl die Erkennung bereits stattgefunden hat.

„Alec? Was wollte er?“

„Er hat sich mir nicht vorgestellt, aber er schien wohl ziemlich angepisst zu sein, dass ich hier bin. Er wusste wer ich bin und meinte nur, ob es denn wirklich gut für mein Image wäre hier zu sei-“

„Er ist nur gerade ein wenig zickig drauf. Er meint es nicht so. Lass dich von ihm nicht ärgern.“ Ein verkniffenes Lächeln soll mich wohl beruhigen.

„Ihr kennt euch also?“, hake ich nach, obwohl ich lieber dazu Stellung genommen hätte, dass so ein kleiner Punk mir doch keine Angst einjagt.

„Er ist mein Ex. Wir haben uns vor kurzen getrennt.“

„Scheint als wäre es nicht gerade in beidseitigem Einverständnis gewesen.“

„Nicht wirklich.“

Und mir spuken die Worte „vor kurzem“ im Kopf herum. Hatte es vielleicht etwas mit mir zu tun? War ich doch geradewegs in die Falle getappt?

„Sollen wir uns setzen?“

„Was denn… nichts zu trinken?“, schiele ich in die kleine Küche zu meiner linken.

„Möchtest du etwas?“

Ja, wahrscheinlich ein mit irgendeiner Droge versetztem Getränk, damit er ohne Probleme über mich herfallen kann. „Ein Wasser wäre toll.“

„Ok“, schiebt er sich im Flur an mir vorbei.

In der Küchentür bleibe ich stehen und schaue ihm zu. Sauber, ordentlich und amerikanisch. Wahrscheinlich war das Apartment zum größten Teil schon eingerichtet. Hier gibt es nichts, was auf wirklich Persönliches hinweist, oder ist dies schlichte, unpersönliche vielleicht gerade seine Person?

„Bitte“, hält er mir ein Glas hin.

„Danke“, schaffe ich es, ohne ihn zu berühren, das Glas entgegenzunehmen. Ich nippe daran.

„Sollen wir uns jetzt setzten?“, weist er in den Durchgang hinter mir.

Mir gegenüber ein weiteres Zimmer, sein Schlafzimmer. Schnell wende ich mich wieder dem anderen Raum zu und bleibe zwischen Couch und Sessel stehen. Aber ist es wirklich von Bedeutung wo ich mich hinsetze? So wenig Platz, er hat es mit dieser kleinen Punkfrisur wahrscheinlich schon überall getan, zu jeder sich bietenden Gelegenheit…

Kida setzt sich auf den Sessel und so wende ich mich schließlich der Couch zu. Wieder dieses unpersönliche Gefühl. Nicht schlecht oder hässlich, aber einfach nicht wie ein eigenes Leben. Jedes Möbelstück sieht so aus, als würde es genau dort hingehören.

„Nicht mit deinem Zuhause zu vergleichen, was?“

„Nein“, beende ich meinen Rundblick.

„Vielleicht hätte ich doch mehr mit dir Baseball spielen sollen.“

„Das hätte dir auch nicht geholfen“, entweicht mir ein Lächeln.

„Wahrscheinlich nicht…“

Ich warte, ob dem Gesprochenen noch etwas folgt, und wie ich ihn so anschaue, werden mir auf einmal die vielen Veränderungen an uns bewusst. Frisuren, helle gegen gebräunte Haut, sein eher konservativer Kleidungsstil, wobei sich meiner kaum verändert hat, und diese Ruhe, welche er zu verkörpern versucht. Doch genau wie ich, ist ihm gerade nicht wirklich wohl in seiner Haut. Die starke Angewohnheit, über seine Finger zu streifen, wenn er nervös ist, hat er bis heute nicht ablegen können.

Und was tue ich, ohne es zu merken? Mache ich auch etwas, das ihm zeigt, dass ich mich nicht gerade wohl fühle? Ich schaue an mir herab, kann mich gerade aber nicht bei irgendetwas verräterischen erwischen.

„Ich kann es noch immer nicht fassen, dass du es wirklich geschafft hast…“

Ich blicke wieder auf.

„Reich und berühmt zu sein, wer träumt nicht davon?“

„Berühmt sein wird mit der Zeit ziemlich lästig…“, stelle ich mein Glas ab. “…aber Reich sein ist toll, obwohl beides seine nervigen Seiten hat. Plötzlich wollen dir alle einreden, wie sehr du dich verändert hast, wie das Geld jemand anderen aus dir gemacht haben soll. Was ist bitteschön falsch daran, wenn ich den super Sportwagen fahren möchte, von dem jeder kleine Junge geträumt hat? Ist es wirklich so schlimm, dass ich meine Wäsche nicht selber waschen möchte oder dass ich mir lieber die besten Nudeln der Stadt bei Vinotti bestelle als mir eine Dose Fertigfutter zu öffnen? Du wirst auf einmal in eine Sparte geschoben, musst bei allem, was du tust aufpassen, dass nicht gerade ein verrückter Paparazzo hinter dir klebt, und kannst dir nicht einmal ohne Sonnenbrille eine Kinokarte kaufen. Und dann musst du natürlich auch immer schön lächeln, wenn wieder einmal eine Kamera auf dich gerichtet ist.“ Erschreckender Weise wird mir meine Leichtigkeit bewusst. Deswegen bin ich doch nicht hier! „Ob dir danach ist oder nicht. Und wie hat es dich so getroffen?“

„Ähm…“

„Komm schon“, scheint er verwirrt von meinem Wechsel zu sein. „Warum ausgerechnet San Francisco? Warum nicht jeden anderen beschissenen Ort auf der Welt? Ist es wegen mir? Kam nun die große Erkenntnis, dass du vielleicht doch einen Fehler gemacht hast?“, lehne ich mich ziemlich weit aus dem Fenster.

„Ich habe mir schon gedacht, dass du deswegen gekommen bist.“

„Was meinst du?“

„Ich kann sagen was ich will, nicht wahr? Du denkst, dass ich nur wegen dir hier bin. Habe ich recht?“

„Ja!“, platzt es heraus. „Was soll ich auch anderes denken? Auch wenn ich nur versuche, es irgendwie anders zu biegen, finde ich doch keine Richtung, welche mir einen anderen Weg zei-“

„Warte!“ Er steht auf und verlässt den Raum. Einige Sekunden später kommt er zurück und hält mir eine Broschüre vor die Augen. „Siehst du die Karte? Die einzigen zwei Orte in Amerika wo es eine Toshiba-Hauptzweigstelle gibt?“

„Boston und San Francisco“, lese ich die zwei Namen vor.

„Und natürlich ist meine Wenigkeit nicht nach Boston gegangen, weil ich geglaubt hatte, du lebtest dort. Natürlich wollte ich dir aus dem Weg gehen und war auch nicht auf irgendein Zusammentreffen aus, und nun stell dir mal meine Überraschung vor, als mir klar wurde, dass du hier, hier in San Francisco bist….“ Er bricht ab. „Ich glaube, ich brauche jetzt auch etwas zu trinken“, verlässt er abermals das Zimmer.

Ich sehe auf die Broschüre, die ich nun in den Händen halte. Er ist also eigentlich hier, um mir nicht zu begegnen? Aber warum hat er dann trotzdem vor meiner Tür gestanden? Das widerspricht sich dann doch wieder.

Ich stehe auf und stehe kurz darauf wieder im Türrahmen der Küche. Seine Arme drücken sich auf die Ränder des Spülbeckens ab.

„Was ist?“, frage ich, nachdem ich es nicht geschafft habe, ihn mit seinem Namen anzusprechen.

„Ich kann verstehen, was jetzt alles in deinem Kopf herumgeistern muss, aber glaub mir, so ist es nicht“, sagt er nach einer kurzen Pause. Er dreht sich um. „Ich bin nun nur doch so froh, dich noch einmal wiedersehen zu können.“ Er durchläuft die Küche. „Ich hätte nie gedacht, dass es noch einmal dazu kommen würde und ehrlich gesagt bin ich jetzt auch total perplex darüber, wie mich das gerade mitnimmt.“

Ich senke den Blick, da es mir unangenehm wird, ihn weiterhin anzuschauen. Und als er den nächsten Schritt tut, ich gerade noch das kleine Hindernis auf den Küchenboden erkennen kann, ist es auch schon geschehen.

Purer Reflex ließ mich die Arme ausstrecken und einen Schritt vorwärts gehen. Nicht darüber nachgedacht, was es bedeuten würde, es zu tun. Doch nun liegt er an mich gedrückt gegen meine Brust.

„Sorry, das brauchten wir jetzt echt nicht“, verschwindet die Berührung auch fast im gleichen Moment wieder.

„Nein, das war jetzt nicht gerade produktiv.“

Er beginnt ziemlich schnell wieder zu sprechen. „Es ist nichts Sexuelles, auch bin ich nicht hier, um dein Leben durcheinander zu bringen oder meine Gefühle für dich wieder aufleben zu lassen. Ich… freu mich einfach nur dich zu sehen…“

„Ich-“

„Es ist so verrückt, jetzt wirklich noch einmal vor dir zu stehen, mit dir reden zu können. Ich konnte einfach nicht anders, ich wollte dich wiedersehen. Ich wünschte nur, es gäbe nicht so viel, was zwischen uns steht, dass alles, was dich irgendwie an meinen Absichten zweifeln lässt, einfach wegzuwischen ist und wir noch einmal… als Freunde, ganz von vorne anfangen könnten.“

Ich hebe den Blick, sehe ihn an.

„Ich freu mich auch, dich wiederzusehen“, komme ich da endlich dazu, einen Satz auszusprechen.

„Wirklich?“

Ich strecke ihm die Hand entgegen.

„Hi, mein Name ist Sakuya Michael Ryan. Ich bin 24 Jahre alt, verdiene mit einem Spiel eine Menge Geld. Ich fotografiere gerne und liebe es, mich in rasantem Tempo fortzubewegen. Ein guter Freund von mir behauptet, dass ich im Moment ziemlich kurzsichtig bin und nicht immer verstehe, was um mich herum geschieht… Und du bist?“
 

Part 65 - Ende
 

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Part 66

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Kida (by Stiffy)
 

Vier Tage sind seit dem kurzen Parkplatztreffen mit Sakuya vergangen… drei seit dem Telefonat mit Tatsuya… und wie habe ich seither meine Tage verbracht? Wenig produktiv… mit sehr vielen unnötigen Gedanken…

Zum Beispiel habe ich mir immer wieder dieselbe Frage gestellt: Handele ich nur aus einem schlechten Gewissen heraus?

Ob ich in den letzten Tagen zu einem Ergebnis gekommen bin?

Teilweise vielleicht.

Ich bin mir so weit sicher, dass es nicht nur das schlechte Gewissen ist. Ich muss mir zwar eingestehen, dass es tatsächlich noch irgendwo tief in mir mit Sicherheit ein winziges Gefühls gibt, aber mehr als das hab ich einfach den Wunsch, Sakuya kennenzulernen.

Was das bringen soll?

Ich weiß es nicht so recht. Vielleicht rührt das noch aus jener Zeit her, in der ich mir gewünscht habe, nicht in Sakuya verliebt zu sein, in der ich mir erhofft hatte, eine Freundschaft mit ihm aufbauen zu können, wie sie Kyo oder Kevin hatte. Vielleicht ist dieser Wunsch nie ganz verloren gegangen. Oder er ist jetzt einfach neu entstanden.

Ob ich daran glaube, dass es möglich ist, eine Freundschaft aufzubauen?

Sagen wir, ich glaube nicht nicht daran, aber ich bin auch nicht wirklich zuversichtlich.

Ich weiß, dass Sakuya und ich schon immer sehr verschieden waren. Wir hatten immer schon unterschiedliche Interessen und zum größten Teil auch unterschiedliche Freunde. In manchem Punkten hatten wir dieselben Ansichten, in anderen wiederum waren wir vollkommen anderer Meinung.

Solange wir ein Paar waren, passten diese Unterschiede. Sie ließen uns die nötigen Freiheiten und veranlassten gleichzeitig, dass wir uns nacheinander sehnten. Ob es damals aber für eine Freundschaft gereicht hätte?

Ich habe in den letzten Tagen sehr genau darüber nachgedacht und habe festgestellt, dass es sehr, sehr schwierig gewesen wäre, eine Freundschaft aufzubauen...

Ob sich das heute geändert hat? Gibt es für uns wirklich die Möglichkeit, Freunde zu sein, wenn es nicht mal mehr die Liebe gibt, die uns verbindet?

Eine Antwort darauf zu finden ist im Moment schier unmöglich. Ich weiß nicht, was für ein Mensch Sakuya heute ist, wie er sich verändert hat oder ob er in manchen Punkten noch derselbe ist. Ich habe mich sehr verändert was Ansichten oder vielleicht auch Interessen angeht… das ist wohl normal, in den entscheidenden Jahren, in denen man von Teenager zum Erwachsenen wird, es ist logisch, dass sich viel verändert, manches sich ausprägt und einiges verschwindet… und deshalb ist es wahrscheinlich, dass Sakuya sich so stark verändert hat, dass ich ihn kaum wiedererkennen werde. Wahrscheinlich ist er zum größten Teil ein ganz anderer Mensch als damals… Es stellt sich also nicht wirklich die Frage, ob wir, wie wir früher waren, heute Freunde sein könnten, sondern viel mehr die, ob wir uns in entgegen gesetzte oder in die gleiche Richtung entwickelt haben und so nun Freunde werden können.
 

Mittlerweile ist es Sonntag. Ich weiß, dass Sakuya wieder zurück ist… zwar weiß ich nicht, ob seit gestern oder seit heute, aber ich weiß, dass ich das Gefühl habe, auf glühenden Kohlen zu sitzen… und ich frage mich ständig, ob er wohl anrufen wird.

Es gibt nur wenig was meine Gedanken in positive Richtung lenkt, doch viel mehr ist da ein Gefühl, das jegliche Zuversicht vernichten will. Ich habe mittlerweile keine Ahnung mehr, ob es überhaupt eine kleine Chance darauf gibt, noch einmal etwas von ihm zu hören oder ob ich vollkommen umsonst hoffe.

Und ja, ich hoffe. Zwar habe ich mich in den letzten Tagen auch gefragt, ob ich nicht wirklich abschließen soll mit der Sache und es ignorieren, dass er hier ist, doch können tue ich das nicht. Ich wünsche mir, ihn zu sehen und mit im zu sprechen.

Ich weiß nicht wieso, aber ich hoffe einfach, dass es passieren wird, dass er mich angrinsen wird, mir seine Freundin und sein Kind vorstellt, mich fragt, ob ich einen Freund habe, den ich ihm vorstellen will und mir dann sagt, dass es schön wäre, sich mal öfter mit uns zu treffen... Ich erhoffe mir, dass wir vielleicht dann und wann etwas zusammen trinken gehen können, ins Kino oder einfach ein wenig herum spazieren... Ich erhoffe mir, mit ihm vielleicht irgendwann über unsere Vergangenheit lachen zu können, über unsere ehemaligen Freunde und Klassenkameraden... Ich erhoffe mir, einfach eine freundschaftliche Ebene mit ihm zu finden.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wünsche ich mir genau das... aber desto mehr weiß ich auch, dass ich vollkommen naiv sein muss, mir so viel überhaupt zu wünschen.
 

Ich komme nicht darum herum, mir im Laufe des heutigen Sonntags einzugestehen, dass ich wirklich vollkommen dämlich bin. Immer wieder starre ich mein Telefon an, habe das Gefühl, ständig überprüfen zu wollen, ob es überhaupt am Netz ist. Ich wünsche mir, dass es klingelt.

Es klingt nicht. Am Morgen nicht, am Mittag nicht und auch nicht am Nachmittag. Erst viel später, als ich gerade dabei bin, meine Wäsche zu falten, lässt mich ein schrilles Geräusch zum Apparat stürzen.

Kurz vor dem Hörer halten meine Finger inne. Ich atme durch, ein Mal, zwei Mal... bloß nicht aufgeregt klingen.

Mich beruhigt, greife ich den Hörer, führe ihm zum Ohr... und sehe dabei die Nummer auf dem Display.

Jegliche Anspannung ist sofort verschwunden.

„Ja?“, melde ich mich und lasse mich in den nebenstehenden Sessel sinken.

„Huch... Stör ich?“, kommt die erwartete Stimme aus der Leitung.

„Nein. Ich war am Aufräumen, mehr nicht...“

„Und wiese klingst du dann so komisch?“, fragt sie skeptisch.

„Ich warte auf einen Anruf“, seufze ich.

„Was Wichtiges? Soll ich auflegen?“

Kurz bin ich tatsächlich gewillt, zu bejahen, halte mich dann aber doch davor zurück. Was würde es bringen? Er versucht es garantiert nicht gerade jetzt!

„Nein, Quatsch, ist in Ordnung“, sage ich deshalb. „Rufst du aus einem bestimmten Grund an?“

„Ich wollte nur mit dir reden, Darling...“

„Hach, wenn da doch nicht diese Ironie in der Stimme wäre, würde ich dahin schmelzen…“

„Ironie? Nein, das war ganz ernst, Honey~“

„Brrr!“, mache ich.

„Nicht gut?“

„Nee, das erinnert mich zu sehr an Alec… Der hat mich ständig so genannt…“

„Ehrlich? Das ist ja süß…“ Sie lacht.

„Naja… Themenwechsel bitte…“

„Na gut. Ich wollte eigentlich fragen, ob du mir die Broschüren morgen mitbringen kannst, die Shawn dir letzte Woche gegeben hat… Er sagte, da stehen ein paar Sachen drin, die ich für meinen Auftrag gebrauchen könnte… Oder brauchst du sie noch?“

„Im Moment nicht. Hab schon alle Infos, die ich wollte…“, sage ich… und lüge damit zumindest ein bisschen. Ich habe zwar am Mittwoch, als er mir den Stapel Broschüren gab, angefangen, sie durchzusehen, sie dann aber viel zu schnell wieder beiseite gelegt. Danach habe ich sie ganz vergessen.

„Sehr schön!“, sagt Rachel am anderen Ende der Leitung. „Treffen wir uns morgen zum Mittagessen, dann kannst du sie mir geben…?“

„Gern. Um Eins?“

„Ja, das passt! Dann leg ich dich jetzt auch wieder auf, damit du deinen Anruf nicht verpasst… Bis morgen!“

„Äh… gut… bis morgen!“

Wir legen auf. Ich lasse den Hörer in meinen Schoß fallen und lehne mich im Sessel zurück. Verdammt, jetzt muss ich das heute auch noch machen…

Naja, vielleicht sollte es mich freuen, so habe ich wenigstens was zu tun.

Zu dem Entschluss gekommen, stehe ich auf, doch kaum habe ich einen Schritt zurück zur Ladestation gemacht, bleibt mein Herz erneut stehen, als das Ding in meiner Hand anfängt zu klingeln.

Doch… es ist nur dieselbe Nummer wie zuvor.

„Ja?“, frage ich erneut in die Leitung.

„Sorry, ich noch mal…“ Ein Lachen. „Mir ist grad eingefallen, dass ich morgen um Zwölf ne Besprechung hab. Kann also etwas später werden… Ich hol dich einfach im Büro ab, okay?“

„Geht klar.“

Nach einem kurzen Wortwechsel legen wir erneut auf.

Diesmal landet der Telefonhörer auf meinem Bett, während mich mein Weg zum Schreibtisch führt. Mitten auf ihm prangt der Stapel, den Shawn mir in die Hände gedrückt hat. Irgendwie habe ich ihn geflissentlich ignoriert.

Nun meine Wäsche ignorierend, schnappe ich mir den Stapel und begebe mich aufs Bett, fische nach einem Block und dem Stift auf meinem Nachtschränkchen, wobei das Bild von Lynn umfällt. Ich stelle es wieder auf, werfe einen Blick auf den Wecker.

Sieben Uhr… er wird heute mit Sicherheit nicht mehr anrufen.

Jegliche Enttäuschung unterdrückend, lasse ich den Kugelschreiber klicken und widme mich den sehr oft nervigen Dingen des Lebens: der Arbeit.

Das Telefon klingelt an diesem Abend nicht mehr,
 

~ * ~
 

Am nächsten Tag auf dem Weg zur Arbeit frage ich mich zum ersten Mal, welche Visitenkarte ich Sakuya beziehungsweise Kevin eigentlich gegeben habe. Zwar bin ich mir ziemlich sicher, dass es eine von denen mit meiner Privatnummer war, doch was, wenn ich doch danebengegriffen habe?

Im Fahrstuhl kann es mir daher nicht schnell genug gehen, hinauf zu kommen, und Timothy sieht mich mehr als nur etwas komisch an, als ich schnurstracks zum Telefon stürze.

„Guten Morgen erstmal! Das Telefon hat heut noch nicht geklingelt. Wartest du auf nen Anruf?“, fragt er, während sich in mir die Enttäuschung niederschlägt. Nur drei Anrufe, ein unbekannter von Freitag und zwei Kunden am Samstag…

„Nicht wirklich“, seufze ich und lasse mich auf meinen Stuhl fallen.

„Nicht wirklich sieht bei dir irgendwie komisch aus“, grinst mein Kollege mir zu.

Ich zucke die Schultern. „Kann sein“, richte ich mich auf und schalte den Computer an. Trübsal blasen kommt jetzt gar nicht gut! Ich sehe Timothy an. „Aber apropos, du sagst es hat noch keiner angerufen… wollte Mr. Cenith sich nicht heute Morgen melden?“

„Ja. Hast du die Infos dabei?“

„Hab ich.“ Ich schließe für einen Moment die Augen und fasse mir in den Nacken. „Denk einfach nicht dran…“, murmle ich leise zu mir selbst.

„Wie bitte?“

„Nichts“, öffne ich die Augen wieder. „Warte ich geb’ sie dir.“
 

Beim Mittagessen mit Rachel mache ich einen ziemlich großen Bogen um jegliche privaten Themen. Ich bin mir sicher, dass Rachel das merkt, aber glücklicherweise geht sie darauf ein ohne zu fragen. Sie erzählt mir stattdessen von ihrem neusten Auftrag, während mir mal wieder die Frage durch den Kopf geht, ob Sakuya heute im Laufe des Tages wohl versuchen wird, mich zu erreichen. Wenn ich nicht da bin… wird er es noch mal versuchen?
 

Das Telefon verrät mir am Abend schon aus der Ferne, dass ich keinen Anruf bekommen habe. Seufzend trage ich es von meinem Nachtschrank zu seinem eigentlichen Platz der Ladestation, die kleine Leuchtdiode anstarrend, welche blinken würde, wenn er es versucht hätte. Aber eigentlich ist es gut so, er hätte mich ja eh nicht erreicht…

Nachdem ich mir etwas Schnelles zu essen gemacht habe, verziehe ich mich ins Wohnzimmer. Hier den Fernseher anstarrend, schiele ich doch immer wieder zum Telefon hinüber. Bitte klingle doch… ist es denn so schwer?

Ich sinke mit der Zeit tiefer ins Sofa hinein und zwinge mich, nicht daran zu denken. Es ist doch ohnehin total Schwachsinn, dass ich die gesamte Zeit nur darauf warte, dass er mich anrufen wird. Es gibt so viele Dinge, über die ich mir stattdessen Gedanken machen könnte, aber nein, was tue ich? Ich sollte das ganze echt etwas gelassener angehen. Er wird schon anrufen, ganz bestimmt! Er muss es ja nun wirklich nicht als erste Handlung tun, nachdem er wieder zurück ist… also lass ihm einfach Zeit, Kida, und denk an etwas anderes…

Mir entweicht ein Gähnen, das nicht von Müdigkeit herrührt. Ich stehe auf und bringe meinen Teller zurück in die Küche. Hier bleibe ich einen Moment lang stehen.

Was könnte ich sonst tun, außer warten? Gibt es da nicht eigentlich eine ganze Menge Dinge?

Zögernd wieder zurückgehend, fällt mir nicht wirklich etwas ein.

Wenn ich so darüber nachdenke, hatte fast alles, was ich abends nach der Arbeit getan habe, mit Alec zu tun. Ich habe ihn schnell kennengelernt und deshalb nie wirklich alleine irgendwelche Bars besucht oder so… Die meisten Leute, die ich hier in San Francisco kenne, kenn ich durch ihn, ebenso wie Ort, an die man gehen könnte. Einzig Rachel, Timothy und vielleicht noch Shawn zählen nicht dazu, doch sie sehe ich fast jeden Tag bei der Arbeit…

Ein raues Lachen entweicht mir, als mir bewusst wird, dass das, was ich zu Sakuya gesagt habe, doch gar nicht so gelogen war, wie es mir im ersten Moment erschien. Tatsächlich, ich kenne wirklich kaum Leute hier…

Kopfschüttelnd lasse ich mich zurück ins Sofa fallen, greife nach der Fernbedienung und wechsle den Kanal. Ich sollte definitiv damit anfangen, die Treffen, die meine Kollegen vorschlagen, nicht immer auszuschlagen, immerhin habe ich jetzt keinen Alec mehr, der auf mich wartet und mir einen Vortrag hält, weshalb es schon wieder so spät geworden ist. Ich sollte anfangen, ein paar andere Freunde zu finden, immerhin muss ich es hier noch gut acht Monate aushalten…
 

~ * ~
 

Den guten Vorsatz genommen, ziehe ich ihn doch bereits am Dienstag nicht durch. Zwar merkt Yosuke nur nebenbei an, dass man am Abend vielleicht etwas zusammen trinken gehen könne, doch ich verspüre nicht im Ansatz das Bedürfnis, darauf einzugehen. Das liegt nicht an ihm oder an den Leuten, die mit kommen würden, sondern einfach daran, dass ich noch immer einen Anruf erwarte. Ich weiß, dass das ziemlich dumm von mir ist. Ich kann nicht meinen Tagesablauf danach richten, ob er anrufen wird… wie lange gedenke ich das zu tun? Immerhin gibt es irgendwann wohl wirklich keine Hoffnung mehr.

Am Dienstagabend jedoch ist sie noch da, selbst wenn sie langsam beginnt, zu verblassen. Ich beginne mich mit dem Gedanken zu beschäftigen, dass Sakuya nicht anrufen wird. Ich kann dem etwas Gutes abempfinden, ja, das kann ich wirklich, weiß ich doch, dass man seiner Vergangenheit manchmal einfach nicht hinterherlaufen sollte. Außerdem wenn ich Sakuya nun treffen würde, als jemand vollkommen fremden, hätte ich dann tatsächlich immer noch das Bedürfnis, ihn kennenlernen zu wollen?

Diese Frage beantworte ich mir nicht bewusst, denn irgendwie deprimiert sie mich. Dafür beginne ich mir andere Fragen zu stellen, die es zu beantworten gibt, zum Beispiel die, ob ich noch irgendetwas versuchen werde, wenn er sich nicht meldet.
 

Der Mittwoch geht ebenso dahin, die Abendsstunden schleichen und ich erwische mich noch immer dabei, zu oft zum Telefon zu gucken. Man kann es nicht einmal mehr Hoffnung nennen, welche ich damit verbinde, denn mittlerweile bin ich mir fast schon sicher, dass sie umsonst ist. Stattdessen ist es Enttäuschung und ich frage mich, wieso nur ich das Bedürfnis verspüre, noch einmal etwas mit ihm zu tun zu haben. Ist er denn gar nicht neugierig? Oder ist diese Neugierde allgemein schon etwas Unnormales? Ist es so ungewöhnlich, einen Menschen, der einem früher so viel bedeutet hat, Jahre später erneut zu einer wichtigen Person zu machen? Was heißt wichtig… aber zumindest nicht so gleichgültig wie all die anderen Menschen auf der Straße…
 

Am Donnerstagvormittag schreibe ich eine Mail. Sie richtet sich an Sai, warum, weiß ich auch nicht so genau. Ich musste einfach daran denken, wie er mir einmal von der Zeit erzählt hat, in der Tatsuya und er keinen Kontakt hatten… Er war damals in einer ähnlichen Position wie ich gewesen, hat damals den Kontakt beendet… was hat ihn am Ende dazu gebracht, den Kontakt doch wieder entstehen zu lassen?

Nachdem ich die Zeilen mit meinen Fragen gefüllt habe, starre ich sie eine Weile lang an. Ich lese sie, ändere sie… das genau zwei Mal… und dann kommen sie mir noch blöder vor als zuvor.

Ich lösche die eMail, schließe das Programm und stehe auf, um zu der Besprechung zu gehen, die in fünf Minuten beginnen soll.

Es ist quatsch, ihm diese Fragen zu stellen, denn seine Situation war anders als meine. Tatsuya wollte den Kontakt auch… nur Sakuya will ihn nicht.
 

Zunächst scheint der Donnerstagabend kein anderer Abend zu werden als die Tage zuvor, abgesehen davon vielleicht, dass ich langsam nicht mehr zu hoffen wage und stattdessen versuche, endlich wieder an andere Dinge zu denken. Als dann, knapp eine Stunde nachdem ich von der Arbeit zurück bin, das Telefon klingelt, denke ich noch nicht mal wirklich, dass es etwas besonderes sein könnte, da Timothy heute Mittag noch zu mir meinte, er würde mich wegen einer Party am Wochenende wahrscheinlich mal anrufen. So bleibt mein Herz also diesmal erst in dem Moment stehen, als die Stimme aus der Leitung dringt.

„Hallo…“, kommt es zu mir durch und doch habe ich für einen Moment nicht das Gefühl, es wirklich begreifen zu können.

„Hallo“, erwidere ich deshalb nur, völlig steif, und bleibe wie versteinert stehen.

In meinem Kopf wirbelt alles herum, vor allem ein Gefühl der Ungläubigkeit, das auch nicht verschwindet, als wir wieder aufgelegt haben. Ich begreife kaum, was das soeben war.

Er kommt vorbei, hat er gesagt… jetzt… JETZT?

Ich zucke zusammen. Meine Augen fahren in meinem Wohnzimmer herum, in der Küche. Unordnung schlägt mir entgegen… keine große, aber mehr, als ich definitiv vorweisen will!

So also knallt der Hörer zurück auf die Ladestation und ich verstaue die Lebensmittel, die ich mir zuvor zum Kochen herausgenommen habe, wieder im Kühlschrank. Dann befreie ich den Wohnzimmertisch von unnötigen Dingen, mache mein Bett und statte dem Bad einen kritischen Besuch ab. Gerade in der Küche mit einem Lappen in der Hand erwischt mich die Türklingel.

Schon da?

Ich lasse den Lappen ins Spülbecken fallen und bewege mich vorwärts. Für einen Moment habe ich das Gefühl, dies ziemlich mechanisch zu tun, dann, im nächsten zwinge ich mich selbst zur Lockerheit. Das Gespräch wird wahrscheinlich schon steif genug, da muss ich es nicht noch zusätzlich sein.

Natürlich hilft dieser gute Vorsatz wenig, und als ich die Tür öffne und Sakuya mir gegenüber steht, wird mir von der einen auf die andere Sekunde klar, dass ich vollkommen überfordert bin.

„Darf ich auch reinkommen?“

Ich springe zur Seite. Keine Ahnung wie lange ich ihn nur blöd angesehen habe.

„Natürlich! Komm rein!“, wage ich in der nächsten Sekunde nicht, Augenkontakt aufzunehmen.

Ich schließe die Tür wieder hinter ihm.

Ich sollte ruhig bleiben…

Wahrscheinlich ist das leichter gesagt als getan, als er mich auch schon im nächsten Augenblick auf das peinliche Verhalten meines Exfreundes hinweist. Was ich dazu sagen soll, weiß ich nicht wirklich, ich habe nur das Gefühl, Alec das nächste Mal an die Gurgel zu gehen, wenn ich ihn noch mal sehe, denn einen besseren Anfang als diesen hier hätte ich mir hundertmal vorstellen können.

Ich frage, ob wir uns setzen wollen, um der unangenehmen Situation zu entgehen, und stiefle damit direkt in die nächste Hinein, da mir vollkommen entfallen ist, ihm etwas zu trinken anzubieten. Allerdings bin ich für einen Moment fast froh darüber, ihm ganz kurz den Rücken zudrehen zu können, als ich ein Glas mit Wasser fülle. Ich spüre, dass er mich beobachtet und ich fühle mich merkwürdig dabei. Wieso ist es bloß so schwer, eine normale Stimmung aufzubauen?

Aber naja, ich habe ja nicht wirklich mit etwas anderen gerechnet…

Ihm das Glas gegeben, geht es weiter ins Wohnzimmer, weiter zu nächsten Situation, die deutlich macht, dass wir definitiv nicht auf dem Weg zu einer lockeren Stimmung sind. Das Zögern Sakuyas ist offensichtlich und eigentlich verstehe ich es ja irgendwie…

Ich setze mich also hin, in den Sessel, und Sakuya tut es mir gleich, setzt sich aufs Sofa. Ich sehe seine Augen herumwandern.

Was kann ich nur sagen, um etwas Lässigkeit hinzuzugewinnen? Geht das überhaupt?

Ein kurzer Vergleich unserer Lebenssituation lässt ihn wenigstens für eine Sekunde lächeln, doch schnell ist das Gesicht, welches sich so verändert hat, wieder ernst. Das Bedürfnis zu reden verstirbt kläglich.

Ich sehe weg, lasse meinerseits meinen Blick eine Sekunde lang durch mein Wohnzimmer gleiten, bevor ich ihn doch wieder ansehe.

Einfach weiterreden, Kida… schweigen macht das ganze doch nicht besser.

„Ich kann es noch immer nicht fassen, dass du es wirklich geschafft hast“, beginne ich deshalb erneut mit einem Gesprächsversuch. „Reich und berührt zu sein, wer träumt nicht davon?“

Er geht darauf ein… und wie er darauf eingeht. Es ist für einen Moment pure Erleichterung, die mich durchströmt, als er endlich mehr als nur ein paar Worte spricht, als er fast schon anfängt, mir etwas aus seinem jetzigen Leben zu erzählen. Und während er es tut und ich ihn einfach ansehe, ihm zuhöre, wird mir ganz langsam etwas bewusst, was seit dem kurzen Telefonat auf sich hat warten lassen: Die ganzen Tage habe ich mir ein Treffen gewünscht, die ganzen Tage habe ich auf seinen Anruf gewartet… und nun, da es soweit ist, fällt es mir so schwer, das überhaupt zu realisieren. Dabei sollte ich mich jetzt einfach freuen, nicht wahr?

„Und wie hat es dich so getroffen?“, reißen seine Worte mich in die verkniffene Realität zurück.

„Ähm…“, mache ich nur, verwirrt, gar nicht wissend, was ich sagen soll…

Doch er nimmt es mir ab und führt das Gespräch in eine andere Richtung. Seine Worte sind hart und seine Stimme ist leicht unterkühlt, während er mir die Frage stellt, weshalb San Francisco, und mir wird bewusst, was er wahrscheinlich schon die ganzen Zeit gedacht hat… was er in einer solchen Situation wahrscheinlich schon fast denken musste. Ich entscheide mich dazu, darauf einzugehen, auf die Richtung, in die er mich schiebt.

„Ich kann sagen was ich will, nicht wahr? Du denkst, dass ich nur wegen dir hier bin. Habe ich recht?“, sage ich und die Antwort folgt sofort. „Warte“, stehe ich auf.

Mein Weg führt ins Schlafzimmer, zum Schreibtisch. Ich bin froh, dass ich die Broschüre direkt da vorfinde, wo ich sie erwartet habe. Ich sehe hinauf und kann mir ein sarkastisches Lächeln nicht verkneifen. Noch immer ist es eigentlich viel zu unwirklich, um wahr zu sein…

Ihm die Karte vor die Nase haltend, zeige ich ihm so, welche anderen Möglichkeiten ich gehabt hätte. Ich stehe vor ihm und weiß nur, dass ich es ihm klar machen muss. Ich denke, es ist wichtig, dass er mir glaubt, dass er versteht, weshalb es San Francisco geworden ist… weshalb ich wohl genauso doof geguckt habe wie er, als ich von seinem Hier sein erfuhr…. Und während ich all das sage, bin ich überrascht darüber, wie ruhig meine Stimme klingt, denn eigentlich habe ich das Bedürfnis, zu schreien.

„Ich glaub, ich brauch jetzt auch etwas zu trinken“, drehe ich mich um, als ich merke, dass ich tatsächlich kurz davor bin, zu laut zu werden.

Mein Herz rast wie wild, als ich die Küche betrete. Ich stütze mich bei der Spüle ab, schließe hier nach einem drängenden Bedürfnis die Augen. Beruhige dich, so darf das Gespräch nicht laufen, nicht auf diese Art… ich muss ruhig bleiben! Wenn das so weiter geht, ist er viel zu schnell wieder verschwunden… und dabei ist er doch jetzt endlich hier!

„Was ist?“, lässt seine Stimme mich zusammenzucken.

Das Gefühl, ertappt worden zu sein, holt mich ein. Hätte er mich nicht einfach noch für ein paar Sekunden länger alleine lassen können? Einfach, damit ich mich sammeln kann, damit ich die richtigen Worte finde, damit ich dich davon überzeugen kann, dass ich nicht deshalb hier bin… damit ich dir einfach sagen kann, wie es wirklich ist.

Ich versuche tief zu atmen und habe doch das Gefühl, meine Lungen würden sich nicht mit Luft füllen wollen.

„Ich kann verstehen, was jetzt alles in deinem Kopf herumgeistern muss, aber glaub mir, so ist es nicht“, schaffe ich es schließlich, etwas zu sagen. Ich atme nochmals tief durch und drehe mich um. Ein scharfer Blick scheint mich zu begutachten, während ich noch immer nach den richtigen Worten Ausschau halte.

Ich finde sie nicht!

„Ich bin nun nur doch so froh, dich noch einmal wiedersehen zu können“, höre ich meine Stimme, wieder klingt sie überraschend fest. „Ich hätte nie gedacht, dass es noch einmal dazu kommen würde und ehrlich gesagt bin ich jetzt auch total perplex darüber, wie mich das gerade mitnimmt.“

Bei meinen Worten nähere ich mich ihm, sehe seine Augen mir ausweichen und habe dadurch nur noch mehr das Bedürfnis, ihm doch einfach alles klar zu machen. Es kann doch nicht so schwer-

Die nächste Sekunde vergeht schnell… und in der übernächsten spüre ich eine Berührung, die mich zur Salzsäule gefrieren lässt.

Oh verdammt!, schreit es in mir. Kann man denn wirklich so dermaßen alles falsch machen?

Schnell mich entschuldigend, stelle ich mich wieder auf meine eigenen Beine. Ich will mich nochmals entschuldigen, doch ich entscheide mich sogleich dagegen. Bloß nicht die Sache noch wichtiger machen, als sie war!

Deshalb spreche ich weiter… anders vielleicht, als ich es zuvor wollte, aber so, wie es mir in diesem Augenblick in den Kopf kommt. Sag ihm doch einfach, was dich bewegt… was hast du schon zu verlieren? Also tue ich genau das, sage ihm in knappen Worten, was mir in den letzten Tagen so tausend Mal durch den Kopf gegangen ist… sage ihm, dass ich mir doch eigentlich nichts weiter wünsche, als eine Freundschaft, und bete innerlich, dass er mich bloß nicht weiter so kalt anblickt.

Das schiefe Lächeln, welches dem folgt, begreife ich kaum… und dann die Worte, dass auch er sich gefreut hat, mich wiederzusehen.

„Wirklich?“, frage ich nach, mir irgendwie sicher, dass das eigentlich gar nicht sein kann.

Ich bin auf ein kleines Statement gefasst, doch nicht auf das, welches folgt, da nämlich, als er mir die Hand hinstreckt und ich das Gefühl habe, acht Jahre zurückkatapultiert zu werden. Zwar weiß ich seinen Wortlaut von damals nicht mehr so genau, doch ich kann mich noch so gut an die Situation erinnern. Sie war der Beginn von wirklich schönen Monaten…

Heute, acht Jahre älter, lässt es mich lächeln.

Ich ergreife seine Hand und ich sehe ihn an, wie er nun vor mir steht. Eigentlich sieht er noch immer aus wie früher… nur völlig anders.

„Meinst du, es ist schlau, so wie damals zu beginnen?“, frage ich grinsend und tatsächlich lächelt er zurück.

„Keine Ahnung“, zuckt er mit den Schultern, sieht mich dann sehr erwartungsvoll an.

Also spiele ich das Spiel mit.

„Hallo! Mein Name ist Kida Takahama. Ich komme aus Japan und bin für ein Jahr zum Arbeiten in Amerika. Man sagt mir oft, dass ich viel zu lockerer wirke, obwohl ich es gar nicht bin… und ich liebe es Zuckertütchen zu sammeln, obwohl ich noch nicht mal Kaffee trinke… aber verrat es keinem, ja?“ Ich zwinkere… doch im nächsten Moment, als jegliche Reaktion ausbleibt, frage ich mich schon wieder, ob das zu viel des Guten war… bis Sekunden später ein Lachen Sakuyas Züge lockert.

„Im Ernst?“, fragt er.

„Ja.“ Wahrscheinlich werde ich etwas rot, weil mir bewusst wird, dass ich noch immer seine Hand halte. Ich lasse sie los.

„Lass uns wieder rübergehen…“, sage ich und deute aufs Wohnzimmer.

Sakuya nickt, dreht sich um und geht mir die paar Schritte voraus. Wenn ich es mir nicht nur einbilde, würde ich sagen, dass seine Schultern nicht mehr ganz so steif sind.
 

Danach, auch wenn man es glaube könnte, ist das Eis nicht gebrochen. Kaum sitzen wir uns wieder gegenüber, kehrt meine Unbeholfenheit zurück, und ein bisschen seine Kälte.

„Na gut…“, lehnt er sich im Sofa zurück, sieht mich nachdenklich an. „Erzähl mal, wie lange bist du schon hier?“

„Seit Anfang Mai…“

„Vier Monate also… Seit wann weißt du denn, dass ich hier lebe?“, fragt er dann und sein Blick wird wieder etwas neugieriger.

„Seit knapp vier Wochen… Ich habe es in einer von Alecs Zeitschrift gesehen…“

„Ihr wart da noch zusammen?“, kommt es direkt.

„Ja“, sage ich, mir bewusst, wie doof es sich anfühlt, jedes Wort mit Bedacht zu wählen. Zumindest heute noch, heute ist das wichtig…

„Warum habt ihr euch getrennt?“

„Er hat viel geklammert und war schnell eifersüchtig, damit kam ich nicht klar… Ich hab es erst gar nicht glauben können“, setze ich nun wieder bei unserem eigentlichen Thema an, um von Alec wegzukommen. „Ich meine… da bin ich nicht in Boston und dennoch bist du hier... das ist schon ziemlich unwahrscheinlich.“

„Ja, das ist es wirklich“, nickt er. „Du hättest wahrscheinlich auch erstmal anrufen können, als mir den Schreck meines Lebens einzujagen…“

„Ja, das hätt ich vielleicht tun sollen…“

„Ich hätte wohl aufgelegt“, erwidert er sehr schnell, was mich etwas zusammenzucken lässt.

„Wäre wahrscheinlich verständlich…“ Ich lasse den Blick sinken, plötzlich etwas entmutigt... und mit einem Mal habe ich das Bedürfnis, mich zu entschuldigen. „Ich-“

„Aber wer weiß das schon“, unterbricht Sakuya mich. „Vielleicht hätte ich ja doch mit dir geredet…“, greift er nach seinem Glas auf dem Tisch, trinkt es leer… und als er es wieder abstellt, geht ein aufstehendes Zucken durch seinen Körper.

„Möchtest du noch was?“, frage ich schnell, mir nicht sicher, wie ich die Bewegung deuten soll. Will er etwa schon wieder-

„Nein danke“, schüttelt er den Kopf. „Ich sollte jetzt gehen, zuhause wartet man sicher auf mich…“

Er steht auf, wendet den Blick ab. Ein winziges Lächeln streift seine Lippen, als er sich in Bewegung setzt.

Viel zu schnell ist er die paar Schritte bis zur Tür gelaufen. Er greift nach der Türklinke und für einen Moment habe ich das Bedürfnis, ihn von ihr zurückzureißen.

„Es freut mich, dass du hier warst!“, spreche ich stattdessen, wissend, wie energisch es klingt.

„Ja.“ Er lässt die Türklinke wieder los, dreht sich um, sieht mich an. „Mich freut es auch.“

„Können wir… treffen wir uns wieder? Du könntest mir deine Freundin vorstellen und dein-“

Sein nachdenklicher Blick lässt mich nicht weitersprechen.

„Mal schauen…“

„Wann?“ Ich weiß, dass ich wahrscheinlich etwas zu aufdringlich bin, doch ich will nicht schon wieder so auf glühenden Kohlen sitzen müssen, und mich fragen, ob wir uns noch mal wiedersehen…

Ich sehe ihn an, er antwortet nicht… und in seinem Gesicht ist zu lesen, wie unbehaglich ihm meine Frage ist.

„Aber du meldest dich?“, sage ich deshalb nun, versuchend, die Situation zu entschärfen. Bitte, ich will, dass das heute endlich ein Schritt in die richtige Richtung war! Auch sollte ich ihn wenigstens mal nach seiner Telefonnummer fragen…

„Ich melde mich“, sagt er nach einer kurzen Pause. „Versprochen.“
 

Die ersten Minuten, nachdem Sakuya gegangen ist, vergehen damit, dass ich im Flur stehe und die Tür anstarre. Ich spüre mein Herz klopfen, spüre, wie es sich nun langsam zu beruhigen scheint…

Ich drehe mich um und gehe in die Küche… Auf dem Boden entdecke ich meine Arbeitstasche.

„Verfluchtest Ding“, hebe ich sie auf.

Ich stelle sie auf einen Stuhl, lehne mich dann gegen die Arbeitsplatte und schließe für einen kurzen Augenblick die Augen.

Fast ist das Treffen so unwahr, als habe es nie stattgefunden… Kommt das, weil es so kurz war?

Ein enttäuschtes Gefühl holt mich ein und ich könnte mich dafür verfluchen. Warum ist man eigentlich nie zufrieden, warum will man immer mehr? Ich sollte mich freuen, dass er überhaupt hier war, und mich nicht darüber beschwerden, dass er so schnell wieder gegangen ist… Außerdem hat er gesagt, dass er sich noch mal meldet.

Ich öffne die Augen wieder, gehe zum Kühlschrank hinüber.

Mir ist schlecht. Ich sollte was essen…

Gerade die Tür aufgemacht, lässt mich ein schrilles Klingeln zusammenfahren.

Wer…

Schnell drehe ich mich um, einen Moment lang den vielleicht verständlichen Gedanken im Kopf, dass es noch mal Sakuya sein könnte, doch als ich dann die Tür aufreiße, sehe ich nicht blonde sondern bunte Haare… und braune Augen sehen mich scharf an.

„Ha… Hallo“, spreche ich verwirrt.

„Hi.“ Er tritt vor, macht klar, dass er reinkommen will.

Ich bleibe stehen.

„Was willst du?“, frage ich, mich wieder daran erinnernd, was Sakuya mir erzählt hat. Ein Funken Wut leuchtet auf.

„Lässt du mich erst rein?“

„Wieso sollte ich?“

„Weil ich sonst den Flur zusammen schreie.“

„Schon gut, komm rein!“ Ich trete zur Seite, das triumphierende Grinsen sehend. Ich habe wirklich das Bedürfnis, ihm an die Gurgel zu gehen.

Er begibt sich ohne Aufforderung ins Wohnzimmer, setzt sich aufs Sofa und sieht mich immer noch grinsend an. Ich atme tief durch, setze mich ihm gegenüber. Er greift nach Sakuyas Glas.

„Und?“, kommt es dann, als er es einen Augenblick begutachtet hat. Seine Stimme säuselt. „War es schön?“ Er stellt das Glas wieder ab, beugt sich vor. „Habt ihr euer Wiedersehen gebührend gefeiert? Oder hat es ihm nicht gefallen, weil er so schnell wieder gegangen ist…“

„Alec.“

„Ach, das würde bestimmt eine Menge Leute interessieren… Ihr Star besucht einen Schwulen… Ja, das würde-“

„ALEC!“, unterbricht mein lautes Wort ihn scharf.

„Ja?“, sieht er mit einem Engelsblick zu mir hoch.

„Lass es besser sein!“ Ich fixiere ihn.

„Willst du mir drohen?“

„Nein. Aber ich sage dir, dass du es sein lassen sollst! Das Ganze geht dich nichts an!“

„Geht es nicht?“ Er springt auf, tritt auf mich zu. „Bist du dir da sicher? Du hast mich wegen ihm verlassen… denkst du nicht, dass es mich auch-“

„Ich habe dich nicht wegen ihm verlassen!“, fauche ich.

„Ach nein?“ Er ist nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.

„Nein! Mach es dir nicht so einfach, Alec! Dass Ganze hat nur was mit uns zu tun!“

„Na klar…“ Ironie pur. „Aber ist ja egal, es gibt dennoch eine Menge Leute, die das interessieren würde, meinst du nicht?“

Ich packe ihn am Kragen. „Bist du wirklich so doof, und denkst, dass ich darauf reinfalle? Ich lass mich nicht erpressen, Alec!“

„Und was, wenn ich es sage?“

„Glaub mir, das wirst du nicht!“ Mein Griff wird fester.

„Willst du mir doch drohen?“

Ich fixiere ihn, habe für einen Moment tatsächlich das Bedürfnis, ihm alle möglichen Dinge vorauszusagen… doch ich halte mich zurück, obwohl ich vor Wut zittere. Das ist nicht mein Niveau. Ich sollte nicht…

„Geh jetzt“, lasse ich ihn los und trete zurück, wende den Blick ab.

„Aber…“, holt er den Minimalabstand zurück. Plötzlich sind seine Augen wieder mit Tränen gefüllt. „Bitte Kida… ich will doch nur… Ich will…“ Er küsst mich, überschwänglich, fest. Es lässt mich zurückstolpern, nur mit Mühe auf den Beinen bleiben. Sekunden später stoße ich ihn von mir.

„Es reicht! Hör endlich auf, dich wie ein Kind zu benehmen, das nicht bekommt, was es will!“, schreie ich, während es mir schwer fällt, ihn anzusehen. Der Schmerz in seinem Gesicht ist so stark…

„Bitte… Kida…“ Es kommt ganz flehend. „Ich bleibe auch hier, wenn du willst… Ich kündige und wir können-“

„Hör auf damit!“ Ich packe seine Schultern, sehe ihm in die flehenden Augen. „Bitte hör endlich auf!“

Er hebt die Hand, streicht mir durchs Haar, während sein Blick bettelt. Es macht mich wütend auf mich selbst, da meine Wut auf Alec so schnell schon wieder verfliegt…

Ich senke meine Augen und schüttle den Kopf. Ich will noch etwas sagen, doch ich weiß nicht was… stattdessen lasse ich meine Arme sinken und bin froh, als er dies auch tut.

„Ab Montag bin ich in Oakland…“, spricht er leise. „Kommst du mich mal besuchen?“

„Ich glaube, das ist keine gute Idee…“ Ich sehe wieder etwas hoch, wenn auch nicht direkt in seine Augen.

„Ich verstehe…“, bricht seine Stimme. „Kann ich denn wenigsten am Sonntag… noch mal kommen?“ Ich zögere… und er merkt das, spricht deshalb weiter. „Nur zum Tschüss sagen… bitte Kida…“

Ich schließe die Augen, öffne sie wieder, sehe ihn an. Ich kann dieses trauriger Bitten in seiner Stimme kaum ertragen, weshalb ich schließlich nicke.

„Nur zum Tschüss sagen“, wiederhole ich.

„Ja“, lächelt er und wischt sich übers Gesicht. „Ich liebe-“

Ich berühre ihn am Arm, was ihn stocken lässt, schüttle den Kopf.

„Geh jetzt, bitte…“, klinge nun ich ziemlich bittend… und ich bin unglaublich erleichtert, als er dem nachgibt.
 

Nachdem die Tür ein weiteres Mal ins Schloss gefallen ist, ich mich aufraffe und mir endlich etwas zu essen mache, und ich mich dann mit meinem Teller aufs Sofa fallen lasse, habe ich zum ersten Mal an diesem Tag das Gefühl, frei durchatmen zu können. Wie erfolgreich der Tag wirklich war, kann ich nicht sagen, aber das ist egal… es geht vorwärts, in langsamen Schritten. Alec ist bald weg, Sakuya scheint sich langsam an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich wieder hier bin, und ich… Ja, was ist mit mir?

Ich lasse die Gabel sinken und starre die Toshiba-Broschüre auf dem Wohnzimmertisch an. Für eine Sekunde muss ich daran denken, wie ich vor Monaten vor der Entscheidung stand… Was wäre wohl gewesen, wenn ich mich für Boston entschieden hätte?

Ich wende den Blick wieder ab, kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Aber ist das nicht egal? Es kommt schon alles so, wie es kommen soll… und jetzt bin ich in San Francisco… wir sind in San Francisco, und wie es aussieht kann das, was auch immer wir haben werden, nun wirklich von vorne beginnen.
 

Part 66 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 67

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Sakuya (by littleblaze)
 

Im Auto angekommen, verweile ich noch einige Momente.

Warum habe ich ihm eigentlich so schnell einen Neuanfang angeboten? Deswegen bin ich nicht gekommen, dafür bin ich im Grunde noch nicht bereit gewesen. Er hat mir leid getan, alleine zu sein, niemanden zu haben, und irgendwie konnte ich mich schon in die Freude unseres unerwarteten Wiedersehens hineinversetzen, aber…direkt auf null schalten, das habe ich nicht vorgehabt.

Und dann dieses gezwungene Weiterkommen. Selber hatte ich gar kein Bedürfnis, irgendjemanden aus seinen Umfeld kennenzulernen…Warum musste er also direkt versuchen, sich in mein Leben zu drängen?

Ein komisches Gefühl lässt mich wieder in Richtung Haustür schauen und ich treffe auf die direkt hinter dem Glas stehende Figur dieses kleinen Punks. Ich schenke ihm ein dreckiges Grinsen, bevor ich den ersten Gang einlege und davonfahre.

Doch den ganzen Heimweg kann ich nicht davon ab, mir die Frage zu stellen, ob mir das alles nicht wirklich viel zu schnell geht. Ich habe gerade nicht einmal genügend Zeit für mein Leben, wo bitteschön denkt er sich, dass ich ihn da noch einbauen soll, und dies nach seinen Wünschen wahrscheinlich noch so schnell wie nur irgend möglich…

Ich bediene den kleinen Schalter der Fernbedienung, mit der ich das Tor auf, und nach meinem Durchfahren wieder zu gehen lasse.

Besuch? Ich parke neben dem kleinen, mir nichts sagendem Wagen und steige aus.

Gerade die Tür ins Schloss fallengelassen, taucht Kevin hinter dem Wagen auf.

„Und, wie findest du ihn?“, blickt er mich an.

„Was soll das sein?“ Ich trete näher heran.

„Ein Auto“, grinst er.

„Was hast du damit vor?“, frage ich ernsthaft nach.

„Ihn fahren, was denkst du?“

„Ihn zur nächsten Autopresse kutschieren?“, ist meine ehrliche Antwort darauf. „Der Wert des Hauses hat sich schon nur mit seine Anwesenheit um ein Viertel verringert.“

„Komm schon, gib dem Kleinen eine Chance.“ Er lächelt weiterhin und reibt fürsorglich mit einem Lappen über die Motorhaube.

„Nun sag schon… was hast du wirklich damit vor?“ Mein Augenmerk fällt ins Innere des Wagens, welches nicht gerade besonders einladend wirkt.

„Im ernst, ich will ihn fahren.“

Ich schaue mich um. „Wo ist dein Wagen? Ich meine deinen richtigen Wagen. Das elegante Fahrzeug mit glänzendem Emblem vorne drauf, bequemen Sportsitzen, das dich gut 180.000 Dollar gekostet hat?“

„In der Garage“, will das Lächeln auf seinen Lippen nicht weichen.

„Ich geb’s auf“, lehne ich mich gegen meinen Bentley.

„Ich wollte einfach nur einen Wagen haben, der nicht an jeder Ampel die Aufmerksamkeit auf sich zieht.“

„Du meinst inkognito zu deinem Lover fahren?“, scheine ich nun endlich zu verstehen.

„So in etwa“, folgt ein weiteres Lächeln. „Fertig, lass uns reingehen“, stupst er leicht gegen meine Schulter.
 

„Ich denke es ist Zeit, die Auffahrt ein wenig auszubauen. Bei nun fünf Wagen und zwei Motorrädern wird der Platz langsam ein wenig eng. Wir parken uns ja selber zu.“

„Ich dachte auch schon daran“, pflichtet Kevin Charize bei. „Wir sollten ein Stück neben der Garage betonieren lassen. Damit hätten wir mehr Platz zum Parken und endlich eine Wendemöglichkeit, ohne die Hälfte des Rasen mitzunehmen.“

„Der Gärtner würde sich freuen“, stimme ich mit ein. „Was hältst du von unserer neusten Errungenschaft, Schatz?“, hoffe ich inständig auf ein wenig Zustimmung.

„Die Farbe ist potthässlich. Aber ansonsten finde ich die Idee gar nicht mal so schlecht… wann lernen wir den Unbekannten den endlich mal kennen?“

Auch ich blicke nun vom Essen auf und warte gespannt auf Antwort. Es geistert nur immer eine schemenhafte Gestalt in meiner Phantasie herum. Wieso macht er so ein Geheimnis daraus, ist da etwas, das wir nicht wissen sollen?

„Bald.“

„Was heißt denn bald?“, dränge ich.
 

„Er will ihn eben noch für sich allein haben“, strahlt Charize ihn an. „Er macht ihn glücklich, siehst du das denn nicht?“ Ein verliebter Ausdruck liegt auf ihren Zügen.

„Ich sehr nur, dass ich ihn meistens nicht sehe.“ Ich lasse die Gabel sinken. Bei dem Thema vergeht mir der Appetit.

„Aber die wenige Zeit, die er im Moment hier ist, lächelt er mehr als in den letzten zwei Monaten zusammen“, wird ihr Grinsen noch um einiges breiter und sie schafft es tatsächlich, Kevin einen kleinen Rotschimmer ins Gesicht zu zaubern.

„Übertreib nicht“, steht er auf und räumt seinen Teller weg.

„Sie hat recht“, stehe ich ebenfalls auf. „Ich habe dich schon lange nicht mehr soooo glücklich gesehen… schon sehr lange nicht mehr“, könnte man es beinahe wie einen Vorwurf auffassen. War es vielleicht sogar als dies gedacht? Ich starre auf seinen Nacken, während er die Reste seines Essens in den Ausguss befördert und seinen Teller in die Spülmaschine stellt.

„Ich war heute bei Kida“, füge ich hinzu.

„Das freut mich aber… War es schön?“ Eine Berührung lässt mich kurz herumfahren und Charize ihren Teller abnehmen.

„Ja, das war es“, wende ich mich wieder Kevin zu, der sich jetzt mir zuwendet und mir die Teller aus den Händen nimmt.

„Ihn würde ich natürlich auch gerne mal kennenlernen. Es wäre bestimmt schön, die ein oder andere Geschichte aus deiner Jugend zu hören.“

„Ja, das wäre bestimmt schön“, stimmt Kevin ihr sarkastisch zu.
 

Später natürlich das Unausweichliche: „Was sollte diese plumpe Provokation?“

Ich stehe in seinem Zimmer und schau ihm beim Packen einiger Kleidungsstücke zu.

„Gehst du schon wieder zu ihm?“, übergehe ich seine Frage.

„Ja, warum soll ich hier alleine rumhocken?“

„Ich weiß auch nicht“, fange ich an. Ich schnappe mir einen Baseball vom Regal und lasse ihn zwischen meinen Händen hin und her springen. Ich bin nervös. „Du bist in letzter Zeit nur noch weg und irgendwie habe ich das Gefühl, dass… wie soll ich es sagen… diese Verbindung, die immer zwischen uns war… plötzlich nachlässt.“

Er hört auf mit seiner Tätigkeit und schaut mich an. „Ist das wirklich alles? Oder hat es vielleicht doch etwas mit ihm zu tun?“

„Was meinst du?“, fühle mich angegriffen. Natürlich ist mir sofort klar, welcher Gedankengang ihn lenkt, aber dies hier hat rein gar nichts mit Kida zu tun. Warum wird das jetzt wieder zum Thema gemacht?

„Du weißt genau was ich meine“, verschränken sich seine Arme vor der Brust.

„Nein, es hat nichts mit ihm zu tun, jedenfalls nicht das, was du jetzt vielleicht denken magst.“

„Ehrlich gesagt, versuche ich gerade gar nicht in deine Richtung zu denken. Ich will mal nur an mich denken, an mich und meine Probleme… aber ich kann einfach nicht verstehen, warum du ihn wieder in dein… nein, in unser Leben holst. Weshalb willst du das Risiko eingehen, dass er Ärger macht, dass alles auffliegt und dass unser Leben hier total aus dem Ruder läuft? Warum Sakuya?“, wird er gegen Ende tatsächlich lauter.

Machte er sich wirklich so viele Gedanken darum?

„Das wird nicht geschehen.“

„Bist du dir da sicher?“

„Ja! Außerdem bist du doch der, der im Moment alles verändert.“

„Ich darf also niemanden haben, der mich glücklich macht?“

„So meine ich das nicht“, scheint gerade alles zwischen uns missverstanden zu werden. „Aber du bist kaum noch hier und wir streiten fast nur noch über Themen, die ich eigentlich gar nicht haben will.“

„Das ist bestimmt nicht nur meine Schuld.“

„Das habe ich auch nicht gesagt. Ich weiß nur, dass es mich ankotzt und ich es nicht brauche.“

„Und ich lechze also regelrecht danach, oder was?“

„Ach leck mich doch sonst wo, mir wird das alles gerade zu bl-“

Meine Flucht wird abrupt gestoppt als er mich in seine Arme zieht, der Baseball fällt mit einem dumpfen Laut zu Boden.

„Nicht so, Sakuya…“

Stillstand, völliger Stopp setzt bei mir ein. Sogleich überkommt mich ein Gefühl von Leere, das ich nicht erklären kann. Die Feststellung von Schuld, welche ich nicht haben möchte. Immer wieder Streit, welchen Sinn soll das haben?

„…Lass mich hier nicht so stehen und mich den ganzen Tag fragen müssen, was wieder einmal schief gegangen ist.“

Meine Finger greifen in sein Shirt.

„Warum kann nicht alles wieder so sein wie früher…“ Mein Kopf legt sich auf seiner Schulter ab. Sein Griff wird fester. „Ich hasse es wenn wir streiten, früher haben wir nie gestritten. Und jetzt gehe ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf dich lo-“

„Es ist nicht nur deine Schuld.“

„Doch das ist es. Ich will nicht, dass sich alles verändert. Ich war glücklich wie es ist. Du warst immer für mich da. Ich konnte mir dir über alles reden. Aber jetzt, selbst wenn du sagst, dass dich das Thema Kida anstinkt… du wärst nicht einmal da, um mit dir reden zu können. Du bist nur noch bei ihm und ich, ich habe einfach nur Angst, dich wieder zu verlier-“

„Du wirst mich niemals verlieren…“ Er drückt sich ein wenig von mir ab und schaut mich an. Seine Finger legen sich an meine Wangen. „Hörst du, niemals.“ Seine Lippen berühren mich leicht, nur für eine Sekunde. „Ich verspreche es dir. Was auch immer geschieht, ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst. Immer. Habe ich dir das nicht schon so oft gesagt?“ Er lächelt mich an, das schönste Lächeln seit langem.

„Aber denkt doch mal wie es bei dir war. Wolltest du nicht auch so viel Zeit wie möglich mit dem Menschen verbringen, in den du dich gerade verliebst?“

„Es ist dir also wirklich ernst?“, scheine ich ihn kurzzeitig aus dem Konzept zu bringen, und ich weiß nicht, wie ich mich gerade fühlen soll.

„Ich weiß es noch nicht genau, aber… es fühlt sich so an.“

„Was für ein Idiot ich doch bin… schau mich nur an, ein erwachsener Mann, der seine Eifersucht nicht unter Kontrolle hat. Der lieber jemanden von seinem Glück wegziehen will, als selber einen minimalen Verlust einzugehen. Ich sollte mich ganz schön schämen, nicht wahr?“

Mittlerweile hat sich der Abstand zwischen uns vergrößert, nur noch unsere Hände berühren sich.

„Nur weil wir erwachsenen sind, heißt das noch lange nicht, dass wir gut mit Gefühlen umgehen können.“ Er zwinkert mir zu, streicht noch einmal über meinen Handrücken hinweg und lässt mich dann los.

Er widmet sich wieder seinem Rucksack. Ich setze mich daneben.

„Um noch einmal auf das leidige Thema zurückzukommen…“

„OK…“, stoppen seine Bewegungen ehe er sich neben mich auf das Bett setzt. „...rede.“

„Ich denke wirklich nicht, dass er irgendein Interesse an mir hat. Er sucht wahrscheinlich nur Zugehörigkeit, ein paar Freunde mit de-“

„Ehrlich gesagt Sakuya, ist es mir langsam schnurz piep egal, was der Kerl sucht oder nicht vorhat. Ich habe dir meine Meinung dazu gesagt: Es wird Ärger bringen. Aber am Ende muss du für dich alleine entscheiden, ob du dich wieder auf ihn einlassen willst oder nicht. Er war nicht mein Freund, soll es nicht werden und ich denke zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht, dass er es jemals sein wird. Aber da du gerade versuchst, für ihn einzustehen, mich von seinen nichtvorhandenen Absichten zu überzeugen, liegt die Annahme doch ziemlich nahe, dass du es doch gerne versuchen würdest. Tu es, mach wonach immer dir gerade ist, aber komm nachher nicht zu mir gekrochen, wenn die Sache schief läuft.“ Er will sich wieder abwenden, ändert seine Meinung aber und sieht mich noch einmal direkt an. „Vergiss das letzte… ich versprach dir ja, immer für dich da zu sein.“
 

Mich meiner Eifersucht auf Kevins neues Glück immer noch schämend, setze ich mich ins Bad und beobachte Charize beim Duschen, schaue dem weißen Schaum hinterher, der sich an weiche Schokoladenhaut schmiegt, und auf einmal muss ich lächeln. Vor meinem inneren Auge flackert eine Szenerie auf, in der ich mir sehnlichst ein Duschgel als Waffe herbei wünschte.

Dass ich über diese peinliche Situation jemals lachen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten.

„Geht’s dir wieder besser?“

„Ja.“

„Ich hätte Lust auf einen Film“, greift sie nach der Bodylotion. „So mit Popcorn, Tacos und wir drei, das hatten wir schon lange nicht mehr.“

„Kevin ist schon wieder weg“, muss ich sie enttäuschen.

„Na ja, wir finden bestimmt auch etwas Nettes zu zweit“, lächelt sie mir zu. „Cremest du mit den Rücken ein?“

Ich gehe hinüber. Schon jetzt erhebt sich ein Kribbeln in meinem Körper. Ich nehme ihr die Bodylotion ab, lasse einen großzügigen Klecks auf meine Handfläche laufen. Natürlich könnte ich ihr einfach nur den Rücken eincremen, aber… wer von uns will das schon?

Meine Hände streifen daher nicht über ihren Rücken, sondern kommen unter energischen Berührungen anderweitig zum Einsatz. Mein Körper reagiert sofort auf mein Tun, fordert nur noch den ersehnten Kampf der Gelüste. Während sie mir die Sachen vom Körper streift, greife ich erneut zur Bodylotion. Es ist gleichzeitig belustigend und erregend, wie sich unsere Körper nun gegeneinander reiben, nicht wirklich halten können und doch so leicht zueinander.
 

Wieder ließ mich die Erscheinung Kida nicht einschlafen. Langsam wurde dies lästig. Andauernd ging mir das heutige Gespräch durch den Kopf, ich wog ab, was ich davon glauben konnte und fragte mich zum Abschluss wieder einmal, ob es tatsächlich eine gute Entscheidung war, ihm zu vertrauen. Denn hier liegt das größte meiner Probleme: Vertrauen.

Wenn es nur irgendwie funktionieren soll, muss ich dies bedingungslos tun. Ihm das Gesagte zu glauben, nicht ständig in Angst leben zu müssen, dass etwas Unvorbereitetes passiert, und auf seine Verschwiegenheit zählen können.

Ein Neuanfang! Alles hinter einem lassen… vergessen, verzeihen… kann ich? Einfach so?

Ich stehe auf, auf Schlaf ist mal wieder nicht zu hoffen. Der Weg zum Arbeitzimmer kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Dieses Haus ist wahrlich nicht für zwei Leute geschaffen.

Ich gebe die Kombination in den Safe ein, krame den Umschlag hervor. Dieses Mal öffne ich ihn ohne groß darüber nachzudenken, ohne gestört zu werden. Ich schütte den Inhalt auf meinen Schreibtisch.

Als erstes greife ich nach den CDs. Sie beinhalten Fotos. Erinnerungen, die ich nicht mehr brauche, die ich nicht haben will. Nichts daran wird mich irgendwann glücklich machen können, immer werde ich bei ihrem Anblick einen bitteren Nachgeschmack verspüren.

Ich gehe um die Tischgruppe herum und bleibe kurz unentschlossen vor dem CD-Schredder stehen. Das durchdringende Knistern der Zerstörung lässt mich kurz schaudern, aber nicht aus Wehmut heraus, sondern eher als ein Akt, endlich eine Last von mir genommen zu haben. Ich trete erneut an den Schreibtisch heran.

Kinokarten und sonstiges Kleinzeug aus Papier wandern ebenfalls in den Schredder. Beim T-Shirt überlege ich kurz, greife dann zur Schere und mache dem unnützen Stück Stoff ein schnelles Ende. Daraufhin liegen nur noch drei Gegenstände vor mir: Der Ohrring, das Originalplättchen vom Armband und der Brief… mein Brief.

Zuerst greife ich nach dem Ohrring, begutachte die Form. Ziemlich kitschig kommt mir als erstes in den Sinn. So etwas würde ich heute nicht mehr tragen. Würde mir wahrscheinlich gar nicht stehen, oder?

Schnellen Schrittes betrete ich das untere Badezimmer. Es dauert eine Weile, bis ich den Ohrring durch das schon wieder zugewachsene Loch hindurch geschoben habe. Wann habe ich eigentlich zuletzt einen Ohrring getragen und war es dieser gewesen oder ein anderer? Ich begutachte mich im Spiegel. Nicht ganz so schlecht wie vermutet aber trotzdem nicht mehr so ganz mein Stil. Ich nehme ihn wieder heraus und lasse ihn beim Abstecher zum Kühlschrank in den Mülleimer gleiten.

Mit einem Saft bewaffnet stelle ich mich meiner Unentschlossenheit erneut: Brief oder Plättchen? Ich hebe den immer noch verschlossenen Umschlag hoch. Warum habe ich ihn überhaupt aufbewahrt?

Er war für niemanden bestimmt, keiner sollte ihn jemals lesen. Weshalb ist er also immer noch da und weshalb lässt er in mir so viel Zögern zu? Kurz entschlossen gehe ich abermals um die Tische herum und bleibe vor dem Schredder stehen.

Dieser Brief ist voll von Trauer. Voll von Kummer und Sehnsucht eines Siebzehnjährigen, eines Menschen, der ich nicht mehr bin. Bitten und Flehen, die niemals in Erfüllung gegangen sind und ein Hass, der schon fast mit der empfundenen Liebe gleichgestellt werden konnte. Es gibt nichts Schönes in diesen Zeilen, nichts, dass es wert ist, aufgehoben zu werden. Meine Hand stößt vor und drückt den Brief beinahe schon gewalttätig in das Gerät.

Es dauert eine Weile bis ich mich wieder dem Tisch zuwenden kann, das letzte Überbleibsel einer Liebe, die nicht dafür geschaffen war, zu überleben. Ich empfinde keine Trauer darüber, aber irgendwas in mir stachelt abermals die Wut auf die vergangenen Ereignisse an. Schon mit wilder Entschlossenheit nehme ich das Plättchen von seinem Platz, steuere noch einmal zurück, um auch die Saftflasche aus dem Raum, welchen ich verlassen wollte mitzunehmen.

Für mich steht es fest, ich brauche keine Andenken mehr an diese Zeit. Sie ist vorbei, vergessen und verschwendet gewesen. Mit dem letzten Entsorgen würde ich es schaffen können, alles hinter mir zu lassen, auch die Wut, die mich immer noch gefangen nehmen kann. Ich werde versuchen, von vorne anzufangen, eine, wenn auch bestimmt nicht perfekte Freundschaft zu Kida aufbauen. Ich werde mein Leben so leben wie ich es für richtig halte.

Ich bleibe vor dem Mülleimer in der Küche stehen.

Nichts würde sich mir in den Weg stellen, gar nichts. Und würde es sich irgendetwas wagen, würde es einfach wie dieses Ding in meiner Hand entsorg-

„Was tust du da?“

Ich zucke so heftig zusammen, dass die Flasche zu Boden fällt.

„Schatz! Bleib stehen, ich hole was zum aufwischen.“

„Nichts…“, stehe ich im Scherbenhaufen, Saftreste laufen meine Zehen entlang und ich spreche eigentlich nur, um mich selber zu beruhigen. „…ich wollte nur etwas trinken“, deute ich auf den Boden.

„Du machst Sachen“, hebt sie die Scherben rings um mich herum auf.

„Pass bitte auf“, flehe ich schon beinahe, kann nicht einmal hinsehen, denn in mir erwacht eine weit zurückliegende Szene, die ebenfalls mit zerbrochenen Flaschen zu tun und mir eine Narbe am Bein beschert hat.

„So, schon fertig. Du kannst jetzt weggehen.“

Vorsichtig trete ich von der Unglücksstelle hinfort. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, Fingernägel graben sich ins Fleisch und inmitten der einen Hand verweilt immer noch das Relikt der Vergangenheit.
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen ist wieder einmal Aufbruchstimmung angesagt. Auswärtsspiele.

Die meiste Zeit, abgesehen natürlich vom Training und den Spielen, verbringen Kevin und ich damit, uns mal wieder vernünftig miteinander zu unterhalten.

Auch weit weg von Zuhause kann Kevin seinen Zustand nicht verbergen. Nicht nur mir fällt es auf, dass er mehr lächelt, ungezwungener ist, einfach mehr Freude ausstrahlt. Doch wer die neue Herzensdame an der Seite ihres Teamkameraden ist, bleibt allen anderen natürlich auch weiterhin ein Geheimnis. Am liebsten würde ich ihm das Telefon aus der Hand reißen und fragen wer zum Teufel an der anderen Seite der Leitung hängt, wenn er mal wieder mit dieser ganz besonderen Stimmlage in den Höher raunt.
 

~ * ~
 

Am Mittwochmittag wieder in der Stadt fackle ich erst gar nicht lange herum und greife zum Telefon, nachdem ich mir die Nummer von Toshiba im Internet geholt habe.

„Toshiba-Zentrale, Guten Tag! Mit wem darf ich sie verbinden?“

„Hallo! Ich würde gerne mit Kida Takahama sprechen.

Mit wem spreche ich?“

„Oh, Verzeihung. Ryan, Sakuya Ryan.“

Einen Moment bitte, ich verbinde Sie. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.“

„Danke“, will ich noch in den Hörer sprechen, doch erklingt schon eine sanfte Melodie daraus. Ich nehme mir ein Blatt Papier vom Stapel und fange an, kleine Streifen davon abzureißen.

„Takahama.“

„Hi, ich bin’s. Sakuya“, füge ich noch hinzu, falls er meine Stimme nicht sofort erkennen sollte. „Ich bin wieder in der Stadt und wollte fragen, was du heute noch so vorhast.“ Die einzelnen Streifen werden zu Kügelchen geformt.

„Wo warst du denn?“

„Auswärtsspiele.“

„Ach so… mmhh, heute? Eigentlich nichts weiter.“

„Ich wollte heute noch einer Leidenschaft von mir nachgehen. Ich dachte, du hast vielleicht Lust mitzukommen.“ Eines der Kügelchen landet galant im Papierkorb.

„Verrätst du mir auch, um was es sich dabei handelt?“

„Nein“, lache ich leicht. „Lass dich überraschen. Also… Interesse?“

„Was mich nicht umbringt macht mich stark, nicht wahr?“

„Genau… also, so gegen sechs heute Abend? Ich hol dich ab?“

„Ok, bis später dann.“

„Bye“, lege ich auf.

Das war doch gar nicht so schwer, oder? Ich habe mich ruhig und gelassen angehört, obwohl mein Herz vor Nervosität schon ein wenig schneller schlug. Ich fege die Papierschnipsel zusammen und gehe duschen.
 

Pünktlich um 18.00 Uhr komme ich vor dem Gebäude an, Kida steht bereits draußen und wartet auf mich. Ich komme vor ihm zum Stehen.

„Das ist nicht dein Ernst“, entgegnet er mir, nachdem ich den Motor ausgestellt habe.

„Schon mal gefahren?“, streife ich mir die Sonnenbrille aufs Haar.

„Nein, und hatte es eigentlich auch nicht vor.“

„Es ist toll, du wirst sehen, und keine Angst, ich fahre schon eine Weile.“

„Wo soll es denn hingehen? Du willst doch nicht nur einfach lahm durch die Stadt dümpeln?“

„Nicht doch. Wir fahren zu einer kleinen Rennstrecke raus, die einem Motorclub angehört, in dem ich Mitglied bin. Da lässt es sich spitze fahren“, grinse ich. „Helm oder Brille?“

„Helm. Auf jeden Fall einen Helm!“

Ich reiche ihm den extra mitgebrachten Schutz, den er auch sogleich über streift.

„Und… passt er?“

„Ja schon, aber wie atmet man mit dem Ding?“ Sein beschleunigter Atem setzt sich gegen das Plastik.

„Ganz normal… du kannst aber auch das Visier ein wenig hochschieben“, helfe ich ihm dabei.

„Gott, nein… das ist nichts für mich“, zwängt er sich wieder aus dem Helm hinaus. „Da bekommt man ja Platzangst.“

Wir tauschen Helm gegen Brille.

„Brille auf und Mund soweit es geht geschlossen halten“, weise ich ihn an. „Wenn wir erst einmal aus der Stadt raus sind und schneller fahren, kommt uns ganz schön viel Getier entgegen. Wenn du also keine Fliegen und Mücken zum Abendessen willst… Mund zu.“

„Super Aussichten.“

„Und wenn ich in eine Kurve gehe, geh mit deinem Körper bitte nicht in die Entgegengesetzte. Wäre nicht so praktisch, und bitte strecke keine Hände oder Füße weg, in dem Glauben, du müsstest dich irgendwie abstützen. Dies ist nicht der Fall. Halt dich einfach fest und bleib an mir kleben. Geh einfach mit mir mit und wir werden keine Probleme kriegen.“

„Du machst mir Mut.“

Ich lächle aufmunternd. „Du schaffst das schon… bereit?“

„Nicht wirklich“, setzt er die Sonnenbrille auf.

Ich lasse die Maschine an, klappe die Bügel für seine Füße heraus und nehme Platz. Nur zögernd folgt er mir.

„Wo muss ich mich festhalten?“

„Am besten hier“, greife ich nach hinten und ziehe seine Arme um meinen Körper. „Rutsch ein wenig näher, sonst liegst du unten, wenn ich Gas gebe… Halt dich ruhig richtig fest. Und wie gesagt, einfach nichts tun und an mir kleben bleiben.“

„Ok!“

„Los geht’s“, rolle ich vorsichtig vor und fahre den Bordstein hinunter. Ein kleiner Blick bevor ich Gas gebe und in den Verkehr eintauche.
 

Da Kida sich mit dem Helm nicht anfreunden kann, fahre ich alleine die Rennstrecke entlang. Für einen kurzen Moment kann man bei diesem Tempo alles vergessen, nur die Geschwindigkeit zählt in diesem Moment… nur der Wille, weiterzuleben, lässt einen immer wieder in die nächste Kurve einschwenken und nicht einfach geradeaus weiterfahren.

Vom Geschwindigkeitsrausch genug gehen wir in das kleine Restaurant des Clubs.

„Für mich ist das nichts.“

„So schlimm“, stelle ich die zwei Getränke auf dem Tisch ab. Wir setzen uns.

„Nein, die Fahrt hierher war klasse, aber mit so einem Affenzahn über die Piste fahren… das wäre so gar nicht mein Ding.“

„Ich liebe es.“

„Das sieht man dir an.“

Mein Kopf schwenkt in Richtung Glas. Ich begutachte kurz das Können anderer Fahrer auf der Strecke. Manche von ihnen waren einmal Profis. Ob das auch ein Weg wäre, den ich mir vorstellen könnte?

„Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das wirklich klappt“, schwenke ich zurück, fixiere ihn.

„Du meinst das hier?“, verrät mich wohl mein intensiver Blick.

„Ja.“ Ich greife nach einer Serviette, reiße sie in kleine Streifen.

„Ich kann dir nur nochmals versichern, dass ich nur mit dir befreundet sein möchte, mehr nicht“, lässt er mich nach kurzer Stille auf Japanisch wissen. Mein Blick hängt auf seine Lippen gerichtet, während ich die Worte für mich entziffere. Zu lange habe ich diese Sprache nicht mehr gesprochen.

„Das glaube ich dir sogar.“

„Ich habe mich auf jeden Fall sehr gefreut, dass du angerufen hast“, fährt er in seiner Muttersprache fort. Ich schaue wieder aus dem Fenster hinaus. Seine Stimme klingt jetzt so viel vertrauter.

„Hast du am Sonntag schon etwas vor?“, fege ich die Papierstreifen zusammen.

„Ich denke nicht, wieso?“

„Wir geben ein Barbecue mit ein paar wenigen Freunden. Vielleicht möchtest du auch kommen?“

„Ich würde mich freuen.“

Ich lächle ihn an und gebe ihm zu verstehen, dass ich den Raum verlassen möchte.

„Kevin will uns seinen neuen Freund vorstellen“, erkläre ich, nachdem wir alleine bei meiner Maschine stehen und ich nicht mehr darauf achten muss, dass uns andere vielleicht hören könnten.

„Er ist also immer noch-“

„Schwul? Ja!“, beende ich seinen Gedanken. „Wir haben es aber nicht an die große Glocke gehängt, schon alleine nicht wegen des Sports. Außer Charize, also meiner Freundin, weiß es keiner hier und so soll es auch bleiben.“

„Kein Problem“, kommt es prompt.

„Und es wäre auch besser, wenn niemand etwas von deinem Schwulsein wüsste.“

Mir kommt es vor als wolle er mir an den Kopf werfen, dass ich nicht über sein Leben zu bestimmen hätte, doch verändert sich sein Gesicht.

„Kein Problem, ich halte es eh geheim… schon wegen der Arbeit.“

Ich krame nach meinen Schlüssel und stecke ihn in die Zündung.

„Es gibt da noch eine Kleinigkeit“, hadere ich kurz mit mir selbst. Für einen Moment schaffe ich es nicht, den Blickkontakt aufzubauen. Plötzlich kommt mir meine Ausrede ziemlich bescheuert und peinlich vor.

„Charize… sie weiß nichts von uns.“

„Ehrlich gesagt, habe ich damit auch nicht gerechnet.“

„Sie weiß überhaupt nichts“, hebe ich nun den Blick. „Nicht von dir, nichts von uns, vom Schwulsein an sich, nichts…“

„Und was denkt sie, wie ich in die Geschichte hineinpasse?“

Ich kicke einen kleinen Stein gegen die gegenüberliegende Wand, ziehe meinen Nierengurt zurecht und atme hörbar ein.

„Sie denkt, dass du ein alter Freund aus Japan bist, der meine Freundin auf den Gewissen hat.“

„Bitte was?“

In den folgenden Minuten erkläre ich ihm die ganze Geschichte und das mir in der Eile einfach keine bessere Lüge eingefallen ist, die meine Reaktion auf sein Auftauchen erklärt hätte. Ob er versteht, warum ich überhaupt gelogen habe, meine Vergangenheit geheim halte und auch eigentlich nicht in der Zukunft vorhabe, mir der Wahrheit herauszukommen, weiß ich nicht. Aber eigentlich ist mir das auch egal. Wenn er eine Freundschaft mit mir aufbauen will, hat er sich an diese Geschichte zu halten, mich dabei zu unterstützen, dass in meinem Leben keine Probleme auftauchen.

„Keine Sorge, sie denkt überhaupt nicht schlecht von dir“, versuche ich die Situation zu entschärfen. „Sie hat mir sogar geraten, mit dir zu reden und alles wieder ins Reine zu bringen.“

„Trotzdem, das ist schon ganz schön heftig.“

„Ich weiß und es tut mir auch leid aber… es ist leider nichts mehr daran zu ändern. Die Story steht.“

Da keiner nun wirklich zu wissen scheint, was er als nächstes von sich geben soll, schlage ich vor zurückzufahren.
 

„Es war ein wirklich schöner Tag“, nehme ich meine Sonnenbrille entgegen.

„Ja, mal etwas anderes.“

Wieder ist es still und irgendwie rechne ich schon beinahe damit, dass Mr. Punkfrisur gleich hinter der Tür auftauchen wird.

„Also… wegen Sonntag?“

„Ja… ich komme gerne.“

„Wäre dir halb vier Uhr recht? Ich habe gegen halb zwölf noch ein Spiel… Könnte auch vier werden, wenn es etwas länger dauert.“

„Passt mir prima… Soll ich irgendetwas beisteuern?“

„Nein“, lächle ich. „Nicht nötig… gibt es irgendetwas, das du gerne magst?“

„Ich finde bestimmt schon etwas.“

„Ok, also Sonntag“, gehe ich einen kleinen Schritt zurück.

„Ja, halb vier…“

„Genau“, lasse ich die Maschine an. „Wir sehen uns“, winke ich kurz zurück bevor ich den Bordstein herunterfahre und in den Verkehr eintauche.
 

~ * ~
 

Den Donnerstag verbringt das gesamte Team in den Räumen einer großen Sportzeitschrift. Eine neue Serie soll die Teams der MLB in einem neuen Licht erstrahlen lassen. Interviews und stundenlange Fotoshootings stehen uns deshalb bevor.
 

Von Freitag bis Sonntag sind Heimspiele angesagt. Zwei Niederlagen und ein Sieg pflastern unseren Weg. Dass es dieses Jahr wahrscheinlich nicht für die Playoffs reichen wird, stört mich zurzeit reichlich wenig.

Um kurz nach drei komme ich bei Kida am Sonntag an. Ich gebe ihm per Handy bescheid, dass ich schon angekommen bin, da ich keinen freien Parkplatz finden kann. Fünf Minuten später sind wir auf den Weg zu mir nach Hause. Die ersten Minuten ergreift die Stille von uns Besitz. Wir schenken dem Radio wahrscheinlich beide ein wenig zu viel gespielter Aufmerksamkeit. Ob es immer so sein wird, dieses anfängliche, komische Gefühl?

„Und… wie war deine restliche Woche so“, schwenke ich in die Post-Street ein und habe wahrscheinlich nur das Wort ergriffen, weil ich den nun spielenden Song im Radio auf den Tod nicht ausstehen kann.

„Nicht viel aufregender als der Anfang“, streift er sich durchs Gesicht. Mein kurzer Blick darauf verrät mir, dass es müde und angespannt wirkt. „Ich habe da so ein neues Projekt. Nimmt ziemlich viel Zeit in Anspruch, nervige Sache. Und selbst?“

„Ach, wir mussten uns für so ein blödes Fotoshooting in schicke Anzüge werfen. Nicht, dass ich was gegen Anzüge habe, ich sehe toll darin aus“, grinse ich, frage mich aber sofort, ob diese Bemerkung wirklich passend war. „Aber bei der Hitze eine echte Nervenfolter… Stehen sie bitte so, den Arm noch ein bisschen hoch, den Kopf noch ein wenig nach links… Schrecklich sag ich dir“, warte ich bis zur vollständigen Öffnung des Tores.

„Und da sind wir auch schon. Nervös?“

„Ein wenig.“

„Musst du nicht sein, es sind alles wirklich liebe Menschen. Ein wenig verrückt vielleicht aber lieb.“ Ich parke auf dem neuem Stück betonierten Boden. Kevins Auto ist nicht zu sehen. Außer Charize scheint bis jetzt nur Nessa anwesend zu sein.

„Ehrlich gesagt bin ich ziemlich nervös“, atme ich an der Tür noch einmal tief durch.

„Das musst du nicht, ich habe meinen Text gelernt“, schafft es aber auch diese Aussage nicht, mich innerlich zu beruhigen.

Es ist ja auch nicht nur die Vergangenheit… die Gegenwart, Zukunft, alles wird sich ein klein wenig ändern, wenn er erst einmal diese Tür durchschreitet… und es wird nicht wieder rückgängig zu machen sein. Ich trete durch die Hintertür zuerst ins Haus und als mich der Blick der beiden Frauen in der Küche trifft, muss ich ziemlich damit kämpfen, uns nicht wieder zurückzudrängen.

„Hey Baby“, kommt Charize sofort auf uns zu, doch ihre Augen liegen nicht auf mir. Ich gehe ein wenig zur Seite und sie kommt vor Kida zum Stehen. „Herzlich Willkommen in unserem Haus, Takahama-san“, heißt sie ihn auf Japanisch willkommen und verbeugt sich vor ihm. Anscheinend bin ich der einzige, dem das peinlich ist.

„Frag mich nicht“, trifft mich Kidas Blick. „Sie tickt manchmal nicht richtig“, gehe ich zu ihr hinüber und greife ihr unter die Arme, ziehe sie wieder hoch.

„Ich wusste, dass ihn das aufregt“, lächelt sie Kida an und gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Hallo“, ergreift sie daraufhin seine Hand. „Ich bin Charize…“, sie zieht ihn mit sich. „…und das ist eine gute Freundin. Vanessa, aber wir nennen sie alle nur Nessa.“

„Freut mich“, ergreift er die nächste Hand. „Und danke für den freundlichen Empfang“, wendet er sich wieder Charize zu. „Ihr Japanisch war ohne jeden Fehler in der Aussprache… Sakuya scheint sie viel gelehrt zu haben.“

„Ach iwo… abgesehen von Ja, Nein, Wie spät ist es und Ich liebe dich“, strahlt sie in meine Richtung, „ist es das einzige, was ich in ihrer Sprache sprechen kann. Aber genug von mir. Wie geht es ihnen? Gefällt ihnen Amerika?“

Ich schaue dem Beisammensein erst einmal mit einer gewissen Aufmerksamkeit zu. Leichte allgemeine Fragen sind schnell ausgetauscht und eine angenehme Stimmung scheint sich aufzubauen. Während sich Kida der Neugierde meiner Freundin stellt, kümmere ich mich mit Nessa um den Salat.

„Er ist niedlich, ist er noch frei?“

„Soweit ich weiß schon“, nehme ich eine weitere Tomate aus der Schüssel und teile sie in Stücke. „Versuch dein Glück“, muntere ich sie lächelnd auf. Sekunden später werden wir durch weitere Neuankömmlinge unterbrochen.

Nachdem Tor und Auffahrt passiert sind, stehen wir wieder einmal einer von Bills Eroberungen gegenüber.

„Der 53. Versuch, mich eifersüchtig zu machen“, tritt Nessa beiseite.

„Hey Leute, macht euch doch nichts aus, dass ich noch jeman-“

„Ahhh“, werden die Hände vor dem Gesicht zusammen geschlagen.

„Nein…“, lässt mich mein Instinkt mich kurz abwenden. Jedoch kehre ich sofort wieder in meine Ausgangsposition zurück, dem zu entkommen habe ich ja doch keine Chance, immerhin ist sie im Haus. Ich nehme mir ernsthaft vor, Bill nach diesem Abend umzubringen.

„Bill“, zupft sie am Hemd ihres Begleiters. „Du hast mir nicht gesagt, dass er hier sein wird.“

„Überraschung!“, strahlt dieser, als hätte er sie gerade zur Millionären gemacht.

„Sa… kuya Michael Ryan... Mr. Ryan”, löst sie sich aus ihrer Starre und kommt auf mich zu. Ich möchte nur wegrennen. Ihre Hände gleiten hinunter zu ihrem Herzen. „Ich bin ihr größter Fan.“

„Ist das so?“, versuche ich sie mit Worten von mir fernzuhalten. Sie nickt, viel zu oft und viel zu schnell wenn man mich fragt. „Ich weiß gar nicht, was ich jetzt tun soll…“

„Hallo, ich bin Mrs. Sakuya Michael Ryan. Willkommen in unserem Haus“, ergreift Charize unerwartet die leicht zitternde Hand des Mädchens.

„Oh… oh, das wusste ich nicht.“

„Als der größte Fan sollten sie das aber, Kindchen“, tätschelt Charize nun auf ihren Fingern herum.

„Ja… Verzeihung. Ich war nur so hin und her gerissen.“

„Das kann ich gut nachvollziehen“, gibt sie sie wieder frei. „Er ist auch einfach ein Traummann“, zieht mich Charize in einen aufreißenden Kuss.
 

Eine halbe Stunde später treffen auch endlich Kevin und Mr. Unbekannt ein. Sofort versucht mein Gedächtnis zu erforschen, woher er das Gesicht kennt, doch zuvor werden wir alle wieder von der „Ich bin ihr größter Fan“-Hysterie abgelenkt. Leider hat Kevin keine weibliche Unterstützung, welche ihm aus dieser Falle hinaus hilft. Seine Begleitung scheint das Ganze gelassen zu nehmen, ein breites Grinsen liegt auf seinen Lippen. Als mir nun endlich einfällt, woher ich ihn kenne, gehe ich auf die drei zu.

„Sorry, wir wurden aufgehalten“, ergreift zuerst Kevin das Wort, ist aber doch ziemlich in der Gewalt seines größten Fans gefangen.

Ich bleibe vor seinem neuen Freund stehen.

„Sag nichts… Matthew, nicht wahr?“

„Ja“, lächelt mich dieser an.

„Wer hätte das gedacht“, fixiere ich ihn auf eine freundliche Weise.

„Ehrlich gesagt… ich nicht.“

Als das anhaltende Lächeln langsam zu blöd wird und Kevin immer noch ein wenig zu freundlich ist, um Larissa, seinem größten Fan Einhalt zu gebieten, führe ich Matthew durch die Küche und stelle ihm die anderen im Raum vor. Während er mit ihnen spricht, analysiere ich ihn ganz automatisch.

Er ist niedlich. Schöne Augen, weiche Lippen, reine Haut. Seine Frisur passt perfekt zu seinem fast schon makellosen Gesicht und die Stimme hat einen angenehmen Klang. Irritierenderweise stört es mich schon beinahe, dass ich nicht den kleinsten Fehler an ihm finden kann… Vielleicht sabbert er ja beim Schlafen oder macht beim Sex komische Geräusche…

„Sakuya?“

„Mmmh.“

„Lass uns anfangen die Sachen raus zu bringen. Nimmst du das Fleisch mit?“

„Mach ich“, löse ich mich aus meinen Gedanken und erst jetzt fällt mir auf, dass Matthew nicht mehr neben mir steht.
 

Der Abend verläuft um ein weites angenehmer als ich gedacht habe. Die einzige fröstelnde Stimmung, die ich wahrnehmen kann, zeichnet sich zwischen Kida und Kevin ab, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, da sie bis jetzt noch nicht ins Gespräch gekommen sind.

Ich persönlich bin an diesem Abend ziemlich unentschlossen. Einerseits versuche ich immer mit halben Ohr bei Kida und seinen Gesprächen zu verweilen und auf der anderen Seite interessiert mich aber auch Matthews Geschichte. Besonders wenn gerade keiner auf ihn und Kevin achtet und sie kurz ihre Köpfe zusammen stecken, versuche ich riesige Ohren zu bekommen. Und dazwischen, muss ich natürlich versuchen, der ganz normale, spaßige, aufgeschlossene und meistens gutgelaunte Gastgeber zu sein, und mich darüber hinaus noch gewissenhaft um meine bessere Hälfte kümmern. Ziemlich schwer für nur zwei Ohren und einen Mund.

„…auch ruhig hier schlafen“, werde ich abgelenkt. Kida und mein Blick treffen sich, doch schnell schaue ich wieder woanders hin.

„Wir haben genügend Platz“, fährt Charize fort.

„Nein, nein… ich muss morgen früh raus“, lehnt Kida ihr Angebot ab.

Ein erleichterndes Gefühl steigt in mir hoch.

„Ob du es glaubst oder nicht, wir haben auch ein paar Dinge in unserem Haus, welche sich Wecker schimpfen“, versucht sie es erneut.

„Lass den Mann doch endlich in Ruhe“, kommt es dann von einer bis jetzt ziemlich stillen Ecke in Bezug auf Kidas Angelegenheiten. „Er muss nun einmal früh raus“, fügt Kevin noch mit einem kleinen Lächeln hinzu.

„Ja, genau“, stimmt Kida ihm zu.

Ob er spürt, was mir gerade klar wird? Ist es doch nicht nur der Fall, dass sie bis jetzt nicht dazu kamen, sich miteinander zu unterhalten? Kevin ist nicht gerade von ihm begeistert, das hat er mir schon klar gemacht. Aber so offensichtlich gegen ihn zu sprechen, ist überhaupt nicht seine Art. Ich schaue mich um, Bill und Nessa legen wieder ihre üblichen kleinen Neckereien an den Tag und Larissa verbrennt sich gerade die Finger an einem Stück Fleisch. Um die Situation ein wenig zu entschärfen, trenne ich die Parteien.

„Du kennst noch gar nicht das Haus, Kida. Soll ich es dir mal zeigen?“, befreie ich mich aus der Umarmung und stehe auf.

„Gerne“, folgt er mir ins Haus.

„Entschuldige ihn… er kann gerade nicht anders“, versuche ich, an der Verandatür angekommen, zu schlichten.

„Schon okay“, versucht er mich zu beruhigen und ich belasse es dabei. Wir gehen durch die einzelnen Räume des Hauses, ich zeige ihm jedes Zimmer und anschließend das Poolhaus. Vom Musikraum scheint am meisten fasziniert zu sein.

„Ich habe schon so lange nicht mehr gespielt“, legt sich seine Hand vorsichtig auf das Schlagzeug.

„Tu dir keinen Zwang an“, nehme ich auf einen der Hocker platz.

„Jetzt?“

„Warum nicht, der Raum ist schalldicht.“

Einen Moment zögert er. „Ein anderes Mal vielleicht.“
 

Gegen Ende des Abends kommt es zu der Situation, dass Matthew und ich alleine in der Küche sind. Ich nutze die Gelegenheit.

„Es ist schön ihn wieder glücklich zu sehen.“

„Ist er das?“, schaut er mich tatsächlich fragend an.

„Ja, kannst du das nicht sehen?“

„Ich bin mir da nicht so sicher… Immerhin kenn ich keine Vergleichsmöglichkeiten. Ich kannte ihn vorher ja nicht.“ Er verpackt die Salatreste in eine Plastikdose, welche ich ihm gereicht habe. Nachdenklich wirkt er.

„Er ist es, glaub mir.“

Ein Lächeln streift sein Gesicht.

„Danke dafür“, strecke ich ihm die Hand hin. Warum ich das tue, kann ich nicht erklären.

„Nichts zu danken“, erwidert er meinen Druck.

„Aber…“ füge ich noch hinzu, ehe ich seine Hand loslasse. „…ab und an, werde ich ihn brauchen…“

„Das hat er schon erwähnt.“

„Wirklich?“

„Ja!“

„Er erzählt dir anscheinend ziemlich viel?“

„Alles!“

„Na dann, willkommen in der Familie“, überspiele ich meinen doch kleinen Anflug von erneuter Eifersucht.

„Ich hoffe, wir können Freunde werden.“

„Ja.“

Wir lassen voneinander ab. Ich bin müde.
 

Part 67 - Ende
 

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~ Nierengurt

~ Playoffs
 

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Part 68

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Kida (by Stiffy)
 

Dass Alec am Sonntag wie geplant zum Verabschieden kommen würde, daran hegte ich nicht den geringsten Zweifel, auch nicht, dass sein Gesicht wie auf einer Beerdigung aussehen würde… dass dies mich allerdings schon morgens um acht Uhr anblicken würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, öffne ich ihm dennoch die Tür… mich einen Moment später fragend, weshalb ich sie nicht einfach zugelassen habe. Vielleicht wäre er ja wieder gegangen.

„Ja.“ Er sieht mich auffordernd an, ich trete zur Seite. „Ich dachte, wir frühstücken zusammen…“, höre ich seine bittende Stimme, während ich nun auch die Tüte in seiner Hand sehe.

Ich schließe die Tür wieder und sehe ihm hinterher, wie er in der Küche verschwindet. Ich kann mir ein Gähnen nicht verkneifen und wünsche mich zurück in mein Bett.

„Bin gleich da…“, murmle ich und verschwinde im Bad.

Hier schließe ich die Tür ab… man weiß ja nie, was er vor hat. Wahrscheinlich sieht er dieses Treffen als seine letzte Chance an…

Schnell unterziehe ich mich einer Katzenwäsche. Im Spiegel blickt mich ein ziemlich müdes Gesicht an. Ich hätte mich gestern nicht erst um zwei Uhr auf den Heimweg von Timothys Party machen sollen…

Ich lasse mir einen Schwall kalten Wassers übers Gesicht laufen, streiche mir die feuchten Haarsträhnen zurück und gähne erneut herzhaft.

Bett!! Wieso habe ich diese verdammte Tür geöffnet?

Mich endlich dazu aufgerafft, mir die Zähne zu putzen, schlüpfe ich anschließend in einen Bademantel, um mich gleich schnell im Schlafzimmer anzuziehen. Halb nackt muss ich mich Alec nun wirklich nicht präsentieren.

Ich verlasse das Bad endlich und will eigentlich nur schnell am Flur vorbeihuschen, als mein Blick in die Küche fällt. Hier sehe ich nichts… doch dafür treffen meine Augen ihn im Wohnzimmer an. Stocksteif bleibe ich stehen. Mit einem Mal bin ich hellwach.

Alec steht dort, nur mit einer knappen, fast zu engen Shorts bekleidet, während auf dem Wohnzimmertisch zwischen dem Frühstück Kerzen stehen. Zwei davon brennen bereits. Ein kalter Schauer fährt mir den Rücken hinab. In mir schrillen sämtliche Alarmglocken.

Als ich mich noch immer keinen Millimeter rühre, lächelt Alec plötzlich. Zu schnell ist er bei mir, die Hüften zu weiblich schwingend und seinen nackten Oberkörper präsentierend. Ich halte ihn auf Armlänge von mir fern.

„Stopp!“, schüttle ich den Kopf. Ich sehe an ihm vorbei, schüttle meinen Kopf erneut.

Warum bloß glaubt er, dass ich meine Meinung durch so etwas ändere?

„Gefällt es dir nicht?“, klimpert er mit den Augen, streckt die Hand aus.

„Nein!“, schüttle ich schon wieder den Kopf.

Finger streichen im nächsten Moment meine Wange entlang, ich ziehe den Kopf zurück, was aber nicht wirklich etwas bringt. Sie gleiten meinen Hals hinab in den Ausschnitt des Bademantels.

Scheiße! Ich hätte mir sofort Klamotten ins Bad mitnehmen sollen!

„Alec!“, sage ich scharf, während ich ihn noch immer an den Schultern halte.

Ich mache einen Schritt rückwärts, er kommt ihn hinterher.

„Ich habe gedacht du freust dich…“, betteln seine Augen.

„Versteh doch…“ Meine Stimme ist vorsichtig, mein Kopf sucht… es muss doch irgendetwas geben, das ihn verstehen lässt… „Ich habe-“

Meine Beine stoßen gegen etwas. Erschrocken knicke ich ein. Ich hatte es definitiv noch nicht erwartet, sonst wäre ich längst in eine andere Richtung gegangen.

Es nun aber zu spät erkannt, handelt Alec schneller. Er drückt meinen Oberkörper zurück und dann seine Lippen auf meine. Sein leichter Körper wiegt plötzlich schwer über mir.

Sekundenlang lasse ich zu, dass er mich küsst. Ich habe eine davon sogar den Instinkt, den Kuss zu erwidern, doch stattdessen versuche ich meinen Kopf, zum Denken zu animieren. Egal was ich tue, es würde so oder so in Tränen enden.

Mein Bademantel ist schon längst geöffnet und seine Finger streicheln meine Haut. Eine Gänsehaut zieht sich hinüber… ich schließe meine Augen.

Und wenn ich es einfach trotzdem zuließe?

Seine Lippen lassen von meinen ab, küssen mein Kinn, meinen Hals. Er saugt daran, während Finger an meinen Lenden ankommen. Sie streifen sanft hinüber, während er sich leicht gegen mein Bein drückt, seine Erregung dabei deutlich spürbar ist. Eine Hand löst sich und streift mein Bein hinab… in einer unglaublich verführerischen Langsamkeit.

Ich seufze tief. Es fühlt sich gut an… Natürlich tut es das.

„Alec…“, versuche ich einen neuen Widerstand, doch er reagiert nicht, hängt noch immer an meinem Hals… und sein Finger finden den Eingang meiner Shorts.

Ich stöhne ohne es zu wollen… und ich reiße die Augen auf. Eine Sekunde später stoße ich ihn von mir.

„Verdammt, Alec!“, bewahre ich ihn davor, vom Bett zu fallen.

Ich meinerseits stehe auf, drücke ihn aufs Bett hinunter. Schnell habe ich den Bademantel wieder geschlossen.

Alec zieht die Beine nach oben, vergräbt den Kopf dahinter. Ich greife mir an die Schläfen, schließe einen Moment die Augen. Es ist wie ein nicht aufhörenwollendes Spiel, das sich an manchen Stellen immer wieder wiederholt. Muss ich schon wieder dieselben Worte gebrauchen? Muss ich ihm wirklich schon wieder sagen, dass es endgültig vorbei ist? Wieso versteht er es bloß nicht endlich?

„Alec…“, fährt sein Kopf sofort in die Höhe.

Tränen funkeln mir entgegen… und ich lasse mich neben ihn aufs Bett sinken.

Ich versuche es noch ein letztes Mal…
 

Es dauert fast eine Dreiviertelstunde bis ich Alec dazu bewegen kann, zu gehen. Ich begleite ihn zur Tür. Er lehnt sich gegen den Rahmen, noch immer mit geröteten Augen. Wenn er strahlen würde und nicht weinen, sähe er fast aus wie damals, als er das erste Mal um ein Treffen mit mir bat. Die schrecklich quitschigen Klamotten waren beinahe dieselben.

„Vergiss mich nicht“, bittet er.

Ich schüttle den Kopf, vermeide es zu sagen, dass man einen so verrückten Menschen sicher nie vergessen wird. Gerade zurück in Japan werde ich so jemandem sicher nie wieder begegnen, wenn ich nicht gerade entsprechende Orte aufsuche.

„Geh jetzt“, fordere ich ihn auf.

„Ich ruf dich an.“

„Lass es besser…“, frage ich mich schon jetzt wieder, ob das Gespräch auf dem Bett überhaupt irgendwas gebracht hat. Für einen Moment lange hatte ich eigentlich schon das Gefühl…

„Dann nehm wenigstens die hier…“, hält er mir einen kleinen Zettel hin. Ich erkenne eine Telefonnummer darauf.

„Alec…“ Ich schüttle mit bittendem Blick den Kopf.

„Aber…“ Er hält die Hand weiterhin hoch. „Falls du mal… anrufen willst… mit mir reden… ich meine…“ Seine Stimme bricht.

Ich zögere, atme tief… weiß nicht, was ich tun soll. Im Endeffekt greife ich doch nach dem Zettel.

„Rechne aber nicht damit.“

„Nein, tue ich nicht“, verrät sein Blick zu sehr das Gegenteil.

„Geh jetzt“, sage ich erneut, nachdrücklicher.

Er nickt endlich, stößt sich vom Türrahmen ab.

„Tschüss…“, kommt es todtraurig.

Ich nicke und erwidere es. Dann schließe ich die Tür, da ich weiß, dass er es sonst nie schaffen würde, zu gehen.

Ich seufze und lasse mich dagegen sinken. Tatsächlich muss ich für eine Sekunde daran denken, wie ihn das erste Mal in mein Appartement gelassen habe. Eine halbe Ewigkeit scheint es schon her zu sein…
 

Der restliche Sonntag vergeht ansonsten eigentlich sehr ruhig. Irgendwann auf dem Sofa eingeschlafen, werde ich erst gegen Mittag wieder wach. Ziemlich gerädert stehe ich auf und frage mich, was das da war, was ich geträumt habe. Ich glaube, es hatte irgendwas mit Sakuya zu tun…

Ich schmiere mir einen von Alecs mitgebrachten Bageln und setze mich vor den Fernseher. Hier verbringe ich lange meine Zeit und den Abend bereite ich ein paar Sachen für die Arbeit vor, da morgen ein wichtiges Kundenmeeting bevorsteht.

Der große Schock kommt erst später als ich nach dem Duschen das erste Mal einen richtigen Blick in den Spiegel werfe.

„Oh Scheiße!“, greife ich mir erschrocken an den Hals.

Alec, du Idiot!

Vorsichtig betaste ich den bläulich, roten Fleck, der nahe meiner Halsschlagader prangt. Schon während unserer Beziehung hatte ich Alec davon abhalten müssen. Ich verstand nicht, weshalb er sich ständig an mir festsaugen wollte… wohl um sein Revier zu markieren. Auf jeden Fall fand ich es unglaublich kindisch. Dass er es nun doch noch gemacht hat, ist noch umso kindischer.

Und jetzt?

Innerlich meine Wut beruhigend, versuche ich klar zu denken. So kann ich morgen definitiv nicht bei dem Gespräch auftauchen!

Fluchend sinke ich aufs Sofa. Mein Blick fällt auf die Uhr. Kurz nach Zehn… Keine Ahnung wo ich um diese Uhrzeit noch etwas dagegen herbekommen soll… und morgen früh wird es auch nicht viel einfacher werden…

Aber was habe ich sonst für Möglichkeiten?

Den Minutenzeiger anstarrend, sehe ich ihn sich zwei Mal fortbewegen, dann fällt mir eine andere Lösung ein. Ich fixiere die gesamte Uhr.

Ob ich sie noch…

Ich greife nach dem Hörer. Ihn in der Hand wiegend, ratschlage ich mit mir.

Es ist zu spät, sie jetzt noch anzurufen, oder?

Aber was, wenn sie morgen früh schon weg ist? Dabei hat einen kürzeren Arbeitsweg als ich…

Letztendlich entschließe ich mich gegen den Anruf und stelle stattdessen meinen Wecker vorsichtshalber um eine halbe Stunde früher als sonst.
 

~ * ~
 

> „Huch? Was beehrst du mich denn so früh?“, grüßt mich am nächsten Tag eine für die Uhrzeit viel zu fröhliche Stimme aus der Leitung.

„Guten Morgen“, lächle ich verkniffen. „Ich hab ein kleines Problem.“

> „Okay… und ich kann dir helfen?“

„Das hoffe ich doch.“ Ich greife mir automatisch an die Stelle am Hals, die ich am vergangenen Abend noch viel zu lang begutachtet habe.

> „Na, dann schieß mal los…“

„Könntest du mir… etwas Make-up mitbringen?“

> „Make-up?“ Ein Lachen. „Wofür brauchst du das denn?“

„Für nen Knutschfleck“, spreche ich ziemlich leise.

> „Wie bitte?“, scheint sie entweder wirklich nicht verstanden zu haben… oder es nicht glauben zu können.

„Für einen Knutschfleck“, spreche ich deutlicher und werde wahrscheinlich mehr als nur tiefrot.

Wie peinlich! Aus diesem Teenyalter sind wir ja nun wirklich raus!

> „Du hast nen Knutschfleck?“, schallt es lachend durch die Leitung.

„Ja“, seufze ich. „Frag nicht…“ Ich verdrehe die Augen mit dem Gefühl, Alec erwürgen zu wollen.

> „War das Alec oder jemand Neues?“, fragt sie natürlich trotzdem.

„Alec…“, gestehe ich.

> „Also bist du wieder mit ihm-“

„Nein, um Himmels Willen! Aber genau deshalb hat er’s gemacht…“

> „Rache?“, klingt sie noch immer belustigt.

„Keine Ahnung… oder Eifersucht…“

> „Wieso? Auf wen muss er denn eifersüchtig sein?“, wird die Stimme nun neugieriger, schlägt aber schnell wieder um. „Wenn ich fragen darf, natürlich…“

„Er glaubt, er müsse auf Sakuya eifersüchtig sein…“

> „Sakuya?“ Sie wird hellhörig. „Hast du dich etwa noch mal mit ihm getroffen?“

„Ja“, gebe ich zu.

> „Aber er ist doch nicht schwul, oder?“

„Das hab ich Alec auch gesagt, aber er war schon immer grundlos eifersüchtig… Aber lass uns jetzt nicht drüber reden, okay?“

> „Spielverderber…“, kommt es schmollend. „Aber meinetwegen, zurück zum Thema. Ich hoffe, ich hab überhaupt eine so helle Farbe… Wo wollen wir uns denn treffen?“

„Auf dem Parkplatz?“

> „Verstehe… du willst nicht damit gesehen werden.“

„Bloß nicht!“, schüttle ich den Kopf.

Sie lacht und nennt dann eine Uhrzeit. Anschließend legen auf und ich bin unglaublich froh, diese Lösung gefunden zu haben. Den Hörer weglegend, gehe ich in die Küche und greife nach einem trockenen Bagel.
 

Knapp eine Stunde später sitze ich in meinem Auto, darauf wartend, dass Rachels kleiner Blauer auf den Parkplatz getrollt kommt. Als es soweit ist, steige ich aus. Sie parkt in der Lücke zwei Autos von mir entfernt und kommt anschließend grinsend zu mir hinüber, ein Döschen in der Hand in die Höhe haltend.

„Tadaa!“, präsentiert sie. „Blass in Tube hatte ich leider nicht. Dies ist der hellste Ton, den ich finden konnte. Hoffe es reicht… Wo haben wir denn den Unruhestifter?“ Sie legt den Kopf schief. „Ah! Ich seh schon!“

Während sie näher an mich tritt, sehe ich mich um. Nichts wäre peinlicher, als wenn das jetzt jemand sehen würde…

Sie öffnet das Döschen.

„Leider ist das Make-up weder wasser- noch wirklich wischfest. Du solltest also aufpassen und dich nicht am Hals kratzen…“

„Das sollte ich hinkriegen.“

Ihre Finger streifen über die Stelle hinweg. „Nun verrate es schon deiner Retterin… du hast dich mit Sakuya getroffen?“
 

Ich will sie ansehen, doch sie hält meinen Kopf weiterhin etwas zur Seite gedrückt.

„Ja…“, sage ich. „Ein Mal bisher…“

„Das hört sich gut an! Oder nicht?“

„Naja, zumindest nicht schlecht... Ich hoffe jetzt nur, dass er sich wieder meldet…“, schüttle ich leicht den Kopf.

„Also sitzt du auf glühenden Kohlen?“

„So ungefähr…“

„Na super…“ Ihre Finger verschwinden. „Fertig!“, strahlt sie. „Die Farbe passt nahezu perfekt, es ist nichts mehr zu sehen…“

Ich will mir automatisch an die Stelle fassen, doch ihr mahnender Blick hält mich auf.

„Nicht anfassen…“ Sie hält mir das Döschen hin. „Da, falls was abgeht… und für die nächsten Tage…“ Sie grinst breit. „Da konnte er dich aber noch mal sehr schön ärgern…“

Ich verdrehe die Augen beim Gedanken an Alec. „Ja, leider…“

„Was lässt du ihn auch an deinen Hals? Abschiedssex?“

Von der Aussage überrascht, werde ich leicht rot.

„Nicht ganz“, sage ich nur und stecke das Döschen dann weg. „Ich danke dir, Rachel. Und jetzt los, ich hab gleich ein Meeting.“
 

Das Meeting wird ein voller Erfolg… was aber auch bedeutet, dass es ab jetzt heißt: Überstunden machen.

Den anderen Auftrag noch nicht fertig, reden wir gar nicht erst darüber, wie wir uns das vorstellen. Drei Wochen Zeit… viel zu kurz, und dennoch müssen wir es irgendwie schaffen.

Trotzdem merkt man am restlichen Montag noch nicht wirklich viel von dem Stress, der uns bevorsteht, auch wenn der Abend, als wir uns kurz zusammensetzen, um einen Plan für den nächsten Tag auszuarbeiten, verspricht dieser, viel zu voll zu werden.

„Mann… Cathy wird sich freuen…“, murrt Shawn.

„Cathy?“, blickt Timothy von dem Plan auf. „War das nicht diese Kleine von Samstag?“

„Jup.“ Ein breites Grinsen. „Hatte eigentlich vor, morgen Abend mit ihr essen zu gehen… nur woher soll ich jetzt die Zeit nehmen?“

„Ach, das klappt schon!“ Timothy klopft ihm auf die Schulter. „Meint ihr nicht? Wir schaffen es schon, dass er morgen früher gehen kann?“

Ich zucke die Schultern, versuche ein Grinsen, keine Lust auf dies Thema, da ich eigentlich nur heim will.

„Ich denke, das sollte sich machen lassen…“, sage ich trotzdem.

Auch Yosuke nickt nur, schreibt irgendwas auf.

„Siehst du!“ Timothy nickt. „Alles eine Frage der Planung! Du machst einfach Mittwoch etwas länger oder so…“

„Klasse!“ Shawn grinst breit. Er klopft die Blätter in seinen Händen zusammen. „Also, was steht jetzt noch an?“

„Jemand müsste morgen früh bei dieser Adresse vorbei fahren…“, zückt Yosuke, der die ganze Zeit in seinen Unterlagen vertieft war, einen Zettel.

„Das krieg ich hin…“, greift Timothy danach. „Liegt bei mir auf dem Weg… Sonst noch was?“

Wir schütteln einstimmig die Köpfe.

„Na herrlich!“ Shawn steht auf. „Dann kann ich ja heut auch noch zu Cathy!“.

„Wie lange gedenkst du es, mit ihr auszuhalten?“, grinst Yosuke. „Oder fragen wir anders… für wann soll ich den Kasten Bier kaltstellen, damit du Komasaufen betreiben kannst?“

„Idiot!“ Shawn nimmt ihn in den Schwitzkasten. „Ich hab vor, sie erstmal zu halten. Sie ist echt süß!“

„Na dann viel Erfolg!“ Timothy lacht, deutet mir dann mit dem Kopf zur Tür. „Kommst du mit runter?“

„Ja, Sekunde!“, setze auch ich mich nun in Bewegung.
 

Nach einem kurzen Abstecher zu unserem Büro betreten wir wenig später den Fahrstuhl. Timothy drückt den Knopf zum Erdgeschoss.

„Boah, bin ich fertig…“, lehnt er sich gegen die Fahrstuhlwand.

Ich nicke nur, stelle mich neben ihn.

Einen Moment lang ist es still, bis ich seinen Blick auf mir spüre. Er grinst.

„Was ist?“

„War das die kleine Brünette von Samstag?“, sehe ich seinen Finger auf meinen Hals deuten.

Erschrocken greife ich nach gezeigter Stelle. Scheiße, ich hab ganz vergessen, darauf zu achten!

Ich werde knallrot, da bin ich mir sicher.

Ich schüttle den Kopf, peinlich berührt, die Ausrede eigentlich gerne angenommen. Aber das Risiko ist zu groß, dass herauskommt, dass ich ihr eine ziemlich direkte Abfuhr erteilt habe. Eigentlich hatte nur noch der Satz gefehlt, dass ich nicht auf Frauen stehe…

„War meine Ex…“, sage ich nun also, bin froh, als der Aufzug unten ankommt.

„Schön hartnäckiger Abschiedsgruß.“

„Kann man wohl sagen…“ Ich suche den Schlüssel aus meiner Tasche heraus. „Wir sehen uns morgen!“

„Jup, bis morgen!“, hebt Timothy am Parkplatz die Hand.

Damit schlagen wir verschiedene Richtungen ein… ich wahrscheinlich noch immer mit hochrotem Kopf. Wie lange hat man den Fleck wohl schon sehen können? Wie unglaublich peinlich…

Während ich ins Auto steige, schwöre ich mir, am nächsten Tag tausendmal meinen Hals zu kontrollieren.
 

~ * ~
 

Tatsächlich bin ich am Dienstag darauf bedacht, Alecs peinliches Überbleibsel zu verbergen. Aber die meiste Zeit dreht sich mein Kopf nur um unser Projekt. Irgendwann dazwischen, beim Mittagessen, wird mir bewusst, dass es mich auch so ziemlich von allen anderen Gedanken abhält. Ohnehin fällt es mir gerade verblüffend einfach, mich auf die Arbeit zu konzentrieren… Dabei hatte ich noch am Donnerstag, als Sakuya ging, das Gefühl, wieder schreckliche Tage vor mir zu haben… Wieso ist dem nun nicht so? Woher kommt dieses kleine Gefühl der Sicherheit in mir, das mir sagt, dass er sich schon melden wird? Nur weil er es versprochen hat?

Aber vielleicht will ich mich auch gerade einfach nicht immer wieder nur mit negativen Gedanken beschäftigen…
 

Der Mittwoch beginnt schon ziemlich früh, da Timothy und ich beschlossen haben, uns schon um Sieben zu treffen. Es gibt noch so viele Dinge am ersten Projekt zu erledigen und die Zwischenpräsentation für Freitag will auch noch vorbereitet sein. So schaffe ich es schon wieder, an nichts außer die Arbeit zu denken… bis es irgendwann plötzlich klingelt.

Dass es Sakuya am anderen Ende der Leitung ist, lässt mich im Stand zur Salzsäule gefrieren. Ich lasse zum Glück nur den Stift fallen, mit dem ich eigentlich gerade etwas auf Whiteboard schreiben wollte, und nicht den Telefonhörer. Dennoch spüre ich brennend den Blick Timothys im Rücken. Sofort bücke ich mich wieder nach dem Stift. Und während ich darauf bedacht bin, mir weder in Stimme noch Haltung irgendwas komischen anmerken zu lassen, gebe ich auf Sakuyas Frage die vollkommen falsche Antwort.

Natürlich hab ich heute noch was vor! Ich Vollidiot!

Ich lasse mich zurück auf meinen Stuhl sinken. Natürlich kann ich meine Entscheidung nicht rückgängig machen… und ich will es ja eigentlich auch gar nicht. Sakuya will mir etwas zeigen, was ihm gefällt… wie kann ich dem widerstehen wollen? Ich will doch mehr über ihn erfahren…

Genau meinen engen Terminplan im Kopf, sage ich also zu, als er sechs Uhr vorschlägt.

Wir legen auf.

Ich habe das Gefühl, Timothys Blick immer noch genau im Rücken zu spüren, doch als ich mich zu ihm umdrehen will, um mich zu entschuldigen, sehe ich ihn über dem Terminplan kleben.

„Wann musst du weg?“, grinst er, als ich zu ihm an den Tisch trete.

„Kurz vor halb sechs“, erwidere ich fast etwas kleinlaut.

„In Ordnung. Dann mache ich mit Yosuke heute länger.“

„Sorry, eigentlich hätte ich-“

„Kein Ding. Es hörte sich wichtig an.“

Er grinst und ich spüre mal wieder Hitze in meine Wangen schießen.

Wichtig? Ja, eigentlich ist es mir das… aber konnte man mir das wirklich so leicht anmerken?
 

Schon ab viertel vor Fünf bin ich nicht mehr wirklich für etwas zu gebrauchen. So gut ich es geschafft habe, die ganzen Stunden nicht darüber nachzudenken, was Sakuya wohl vor hat, so schlecht schaffe ich es jetzt. Außerdem holt mich die übertriebene Freude ein, dass er eine seiner Leidenschaften, wie er es nannte, mit mir teilen will. Es ist wohl nichts besonderes… aber trotzdem! Es zeigt doch, dass er bereit ist, mich wieder in sein Leben zu lassen… Es zeigt, dass ich auf dem langen Weg in die richtige Richtung bin, oder nicht?

„Leute, ich hau ab!“, verkünde ich, als es endlich zwanzig nach Fünf ist.

Ich halte es nicht aus, auch nur eine Minute länger auf meinem Stuhl sitzen zu bleiben und so zu tun, als würde ich mich mit dem Projekt beschäftigen

„In Ordnung, bis morgen!“

„Viel Spaß!“ Timothy grinst mich an.

„Den werde ich habe!“, nicke ich und verlasse dann den Raum. Irgendwie bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass ich den haben werde…

Im Fahrtstuhl stehend, frage ich mich, weshalb das so ist. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt… ich weiß nicht, ob es wieder so ein gezwungenes Gespräch werden wird, ich weiß nicht, ob ich es wirklich so locker zu sein schaffe, wie ich es hoffe… Eigentlich weiß ich gar nichts, und dennoch freue ich mich so sehr darauf, dass ich mir sicher bin, dass es gar nicht schlecht werden kann.

Bescheuert, oder?
 

Ich fahre nach Hause… etwas zu schnell für die Geschwindigkeitsbegrenzungen, aber irgendwie habe ich Angst, zu spät zu kommen… obwohl ich natürlich viel zu früh ankomme. Um zwanzig vor Sechs parke ich meinen Wagen.

Mein Blick fährt herum. Natürlich ist von Sakuya noch nicht eine Spur zu sehen. Also beschließe ich, meine Sachen erstmal nach oben zu bringen, das Make-up zu kontrollieren und mich umzuziehen… in aller Ruhe, immerhin hab ich ja noch so viel Zeit.

Um Zehn vor Sechs stehe ich wieder unten. Während mich leichte Unpünktlichkeit bei anderen nicht stört, hasse ich es, selbst unpünktlich zu sein… außerdem bin ich gerade ziemlich ungeduldig und habe das Gefühl, es nicht aushalten zu können, bis er hier ist. Ich weiß nicht, weshalb das so ist… ich freue mich einfach, ihn gleich zu sehen… ich freue mich, dass er sich tatsächlich gemeldet hat. Und es ist gut, dass ich doch für heute zugesagt habe, wer weiß, wann er das nächste Mal Zeit gehabt hätte…

Ich lächle in mich hinein.

Es ist schon komisch, wie sehr die Situation an damals erinnert. Ebenso wie damals warte ich darauf, von Sakuya positive Signale zu erhalten… und selbst wenn es dieses Mal nur freundschaftliche sind, so scheinen sich doch manche Dinge nie wirklich zu ändern. Warum ist das bloß so? Warum will ich so unbedingt Kontakt mit diesem Menschen haben?
 

Ich erkenne das blonde Haar sofort, als das Motorrad auf mich zurollt, und innerlich zucke ich zusammen. Soll ich etwa…? Das meint er doch nicht ernst, oder?

Allerdings tut er genau das… und ich habe das Gefühl, keinen Ausweg zu haben. Ich habe nie, aber auch noch wirklich niemals über das Motorradfahren nachgedacht. Irgendwie war mir immer klar, dass das einfach nichts für mich ist… und nun entscheide ich mich viel zu schnell dafür, es dennoch zu versuchen. Es ist wohl, weil er es gerne möchte, weil er es gerne tut… wie könnte ich da ablehnen und den kleinen Schritt, den er auf mich zugekommen ist, wieder zurück gehen?

Also versuche ich es… doch es ist nicht gerade ein förderliches Gefühl, dass mir der Helm förmlich die Luft zum Atmen nimmt. Platzangst nie gehabt, frage ich mich nun, ob sich das wohl so ähnlich anfühlen mag. So schnell es geht, versuche ich das Ding wieder loszuwerden.

Die Brille ist natürlich viel angenehmer, doch als ich mich mit ihr als einzigem Schutz und Sakuyas irgendwie nicht wirklich ermunternden Anweisungen auf das Motorrad begebe, wird mir schon ein bisschen anders. Mein Magen tanzt und ich habe eigentlich nicht das Gefühl, mental bereit zu sein.

„Wo muss ich mich festhalten?“, schaue ich mich nach einen Griff oder etwas Ähnlichem um.

Ich habe zwar eine wage Ahnung, aber… Sie bestätigt sich, als er meine Arme ergreift. Ich werde an ihn herangezogen und vor seinem Körper verschränken sich meine Arme. Mein Herz schlägt… und ich habe für einen Moment das Gefühl, jetzt erst recht umzukippen. Es ist vertraut und dennoch komisch… und noch schlimmer wird es, als ich eine Sekunde lang das Bedürfnis verspüre, meinen Kopf gegen seinen zu lehnen.

Fast bin ich froh darüber, dass wir im selben Moment losfahren.
 

Die Fahrt vergeht schnell… rasant… rasend. Die Landschaft saust an uns vorbei und ich klammere mich fest. Zunächst ist es ungewohnt, als wir uns in die Kurven legen, als wir der Straße näher kommen, doch interessanter Weise gewöhnt ich mich recht schnell daran.

Meine Finger klammern sich fest und ich halte den Kopf etwas an seinem vorbei gestreckt, um auch auf den Weg, der vor uns liegt, gucken zu können. Dies beides gibt mir zumindest ein bisschen ein Gefühl von Sicherheit.

Ehe ich allerdings all die Eindrücke wirklich begreifen kann, bringt Sakuya uns zum Stehen. Erst begreife ich kaum, dass ich meine Hände zurücknehmen sollte.

„Wir sind da“, meint Sakuya und blickt etwas zu mir nach hinten.

Ich lasse ihn los, vielleicht etwas zu schnell, dann steige ich ab.

„Wow, Vorsicht!“, greift eine Hand nach meinem Arm.

Kurz hatte ich das unsichere Gefühl, als würden meine Beine nachgeben. Ich sehe Sakuya an, der seine stützende Hand nun wieder zurücknimmt.

„Geht’s?“, fragt er lächelnd.

„Ja.“ Irgendwie ist es mir peinlich, ihn anzusehen. Ich gucke mich um. „Das ist also die Rennstrecke?“

„Ja. Leider ist da Helmpflicht. Fährst du trotzdem mit?“

„Ich glaube nicht“, schüttle ich den Kopf, den ich kurz danach recke, um durch den Eingangsbereich besser ins Innere, zur Rennstrecke blicken zu können. „Erstens der Helm… und wenn ich sehe, wie die da rumflitzen…“

„Es ist der Wahnsinn!“, sehe ich Sakuya lächeln.

„Das glaub ich schon… aber ich denke, ich verzichte…“

„Wie du meinst“, zuckt er mit den Schultern und holt eine Mitgliedskarte hervor, mit der er Zutritt zum Gebäude erhält. „Vielleicht überlegst du es dir ja irgendwann mal anders.“

„Vielleicht“, zweifle ich irgendwie sehr daran.
 

Während Sakuya umgezogen in Richtung Rennstrecke fährt, nehme ich auf einer der Tribünen platz. Ich lasse meinen Blick schwenken, schaue ihm nach. Er gibt Gas…

Ein Gähnen entweicht mir, als ich mich gegen die Rückenlehne lehne und kurz die Augen schließe. Erst jetzt, in diesem Augenblick schlägt ein bisschen die Müdigkeit des Tages über mir zusammen. Sonnenwärme legt sich auf mein Gesicht und ich spüre einen leichten Windhauch. Es fühlt sich gut an, angenehm… Ich ziehe die Luft ein, sie riecht nach Abgasen und Reifenabrieb… komischerweise empfinde ich den Geruch gerade fast als angenehm.

Ich öffne meine Augen wieder. Zwei Motorräder rasen an meinem Blickfeld vorbei – nicht Sakuyas. Ich drehe den Kopf ein wenig, halte nach ihm Ausschau, während ich versuche, ein erneutes Gähnen zu unterdrücken.

Vielleicht ist es ein Stückchen Zufriedenheit, das mich gerade einholt… dabei könnte ich das noch nicht mal wirklich beschreiben. Es ist einfach so, dass es sich gut anfühlt, hier zu sein… und es hat sich gut angefühlt, mit ihm auf diesem Motorrad zu sitzen. Ein ganz bisschen habe ich das Gefühl, ihm dadurch nähergekommen zu sein, wobei ich schon weiß, wie schwachsinnig dieser Gedanke eigentlich ist, immerhin hat unser Neuanfang gerade erst begonnen… Ich habe keine Ahnung, wie die Zukunft aussehen wird, wie er es sich vorstellt… oder gar wie ich es mir vorstelle. Ich bin einfach nur zufrieden, dass es irgendwie anzufangen scheint.
 

Als Sakuya zu mir zurückkommt, glänzen seine Augen. Sie strahlen mich an, als er fragt, ob wir etwas trinken gehen wollen, dann setzt er sich in Bewegung und meine Sicht auf seine Augen verschwindet, obwohl ich gerne noch eine Sekunde länger das Glänzen gesehen hätte. Ich mochte es schon früher, wenn er vom Baseball kam und genau diesen Blick in den Augen trug… doch heute ist es irgendwie noch intensiver, deutlicher… schöner.

Wir setzen uns.

„Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das wirklich klappt“, folgt ein ernster Blick zuvor so locker gesprochenen Worten.

Dieser Wandel überrascht mich und ich vergesse, woran ich gerade dachte.

„Du meinst das hier?“, frage ich nach und fühle mich unwohl. Dabei war es wohl nur vorhersehbar, dass es wieder zu dem Thema kommen würde…

Sakuya bejaht meine Frage. Mehr sagt er nicht dazu… und ich frage mich, was ich wohl sagen soll. Welche Sicherheit kann ich ihm geben, was sagen, damit er mir glaubt?

Ich sehe von Sakuyas Fingern, die mit einer Serviette spielen, auf und blicke mich leicht im Raum um. Nur drei andere Tische sind etwas weiter von uns entfernt besetzt und dennoch entscheide ich mich in diesem Augenblick dagegen, weiter auf Englisch zu sprechen. Ich sage ihm, was ich denke… dass ich nur Freundschaft will… und kurz darauf füge ich hinzu, dass ich mich über seinen Anruf gefreut habe…

Es folgt ein erneuter Stimmungswechsel, der wieder überraschend für mich kommt. Eine Einladung, mit der ich irgendwie noch gar nicht gerechnet hatte… eine Einladung zu ihm nach Hause… doch kann ich mich nicht wirklich lange darüber freuen, denn schnell wird das Thema wieder ernst.

Ob man sagen kann, dass mich die Offenbahrung, dass Sakuya sich seiner Freundin nicht offenbart hat, überrascht, ist das eine… doch viel zu schnell folgt darauf Sakuyas Erklärung.

„Sie denkt, dass du ein alter Freund aus Japan bist, der meine Freundin auf dem Gewissen hat.“

Dem Gefühl, in irgendeinem schlechten Film zustecken, kommt das, was ich in jenem Augenblick verspüre wohl schon ziemlich nahe. Erst begreife ich es kaum… Mein Kopf dreht sich und ich habe für eine Millisekunde das Bedürfnis, meine Faust in sein schönes Gesicht zu rammen. Stattdessen drehe ich mich um, da ich Sakuya nicht ansehen kann. Ich laufe einen kleinen Bogen um das Motorrad herum.

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, frage ich, als er seine Lüge kleinlaut wiederholt hat. „Ich bin ein Mörder?“

„Nein! Natürlich nicht!“, kommt es schnell.

Ich bleibe stehen, sehe an ihm vorbei.

„Wie meintest du es dann?“, frage ich, noch immer mit einem Kopf, der sich dreht.

Wie kann er denn so etwas sagen? Ich meine… ich würde doch nicht…

Ich setze mich wieder in Bewegung. Ich kann gerade einfach nicht stillstehen.

„Es war ein Unfall!“

„Was? Dass du es gesagt hast?“

Ein Kopfschütteln. „Das, was damals passiert ist…“

„Was passiert ist?“, frage ich etwas gereizt nach. „Was ist denn passiert?“ Nun sehe ich ihn doch an, während mich meine Füße noch immer hin und her tragen.

„Naja…“ Er macht eine kleine ausholende Geste, seufzt tief… und dann erklärt er es mir.

Ob ich es verstehe? Nein und Ja, sollte man vielleicht sagen… Natürlich, ich verstehe schon irgendwie, dass er ihr nicht die Wahrheit sagen konnte, wenn er ihr nie von uns erzählt hat… doch musste seine Lüge wirklich derartig krass ausfallen? Ich meine… okay, ich bin in der Version vielleicht nicht wirklich ein Mörder, aber einen Menschen fahrlässig auf dem Gewissen zu haben, ist auch nicht wirklich ein angenehmer Gedanke.

Dennoch einigermaßen gezügelt, bleibe ich endlich wieder ruhig vor Sakuya stehen. Er sieht mich an und scheint auf eine Reaktion zu warten… und ich weiß nicht wirklich, welche ich geben soll. Am liebsten würde ich fragen, weshalb er ihr nicht einfach von Anfang an die Wahrheit gesagt hat… aber das gehört nicht hier her, das geht mich nichts an, auch wenn er mich so zu einem bestimmten Teil aus seinem Leben entfernt hat…

Ich wende den Blick ab und seufze.

In Sakuyas jetzigem Leben hat es uns nie gegeben.

„Wie soll ich ihr denn jetzt gegenübertreten?“, frage ich mehr rhetorisch… eher um auf einen anderen Gedanken zu kommen, um den winzigen Stich in meiner Bauchgegend loszuwerden.

Sakuya erklärt mir, dass sie nicht schlecht von mir denkt… und nochmals, dass ihm leid tut. Mir bringen diese Worte gerade nicht sehr viel. Ich will für den Moment einfach nur weg von ihm.
 

Die Fahrt zu mir nach Hause vergeht sehr schnell und mir bleibt nicht viel Zeit, mir wirklich Gedanken zu machen, denn für Minuten schwirren andere Dinge in meinem Verstand herum. So ist es zum Beispiel komisch, ihn nach dieser Eröffnung anzufassen, mich während der Fahrt an ihm festzuhalten. Plötzlich tue ich dies mit einem merkwürdigen Gefühl im Magen, fast so, als wäre es etwas Schlimmes. Zuvor habe ich gar nicht wirklich darüber nachgedacht und nun ist da der Gedanke, wie ich Sakuya berühren würde, wenn es diese Vergangenheit wirklich gäbe.

Ich kann es mir nicht vorstellen. Ohnehin kann ich mir die ganze Situation noch so gar nicht vorstellen… und in die soll ich mich nun hineindenken?

Ich schließe für einen Moment die Augen und versuche mich auf den Fahrtwind zu konzentrieren, der mein Gesicht trifft. Es funktioniert nicht wirklich, habe ich doch das Gefühl, meine Finger in Sakuyas Jacke krallen zu wollen.

Ihn festhalten… obwohl ich gerade gar nicht bei ihm sein will… Woher kommt dies Gefühl?
 

Als wir bei mir angekommen sind, habe ich es nicht wirklich geschafft, meine Gedanken zu ordnen. Zwar schaffe ich es zu lächeln, als Sakuya mich nach Sonntag fragt, doch einfach ist es nicht. Ich habe das Bedürfnis, ihm so viele Fragen zu stellen.

Natürlich tue ich es nicht… und so ist Sakuya bald weg. Für einen Moment bleibe ich danach einfach stehen und starre in den dunkler werdenden Himmel hinein.

Ich versuche in mich zu horchen, meinem Magengrummeln einen Namen zu geben, doch das geht nicht so einfach, wie ich es mir wünsche… Es sind zu viele Gefühle und Gedanken, die plötzlich auf mich getroffen sind. Doch warum habe ich das Gefühl, nicht darüber nachdenken zu wollen?
 

Als ich den kalten Wind wahrnehme, entschließe ich mich dazu, reinzugehen. Ich hole meine Post vom Empfang und steige danach schnell in den Aufzug, meinen Schlüssel suchend. Ihn gefunden, stehe ich kurz darauf vor meiner Appartementtür. Ich schließe sie zunächst nicht auf, sondern betrachte den Schlüssel im Schloss. Ich höre förmlich die Stille, in die ich gleich treten werde… und plötzlich habe ich das Bedürfnis, ihr zu entfliehen.

Ein winziger Gedanke an Alec holt mich ein, über den ich nun aber auch ganz und gar nicht nachdenken will, also schließe ich endlich die Tür auf, trete hindurch und schließe sie wieder. Danach stehe ich vor der Anlage will sie anschalten… doch ich entscheide mich dagegen. Ich nehme mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank und lasse mich auf mein Bett sinken in einem dunklen Schlafzimmer, das nur noch durch das wenige Licht durch die Fenster erhellt wird.

Ich löffle den Joghurt in mich hinein und starre die dünnen Vorhänge an… und ich höre Sakuyas Worte… die Erklärung, die er seiner Freundin und nun mir geliefert hat. Natürlich, es ist klar, dass er ihr die Wahrheit nicht sagen konnte… Natürlich, es musste etwas Schlimmes sein… Natürlich… aber musste er mich denn wirklich von vornherein derart aus seiner Vergangenheit löschen?

Ich springe auf. Der halbgegessene Joghurt landet auf dem Nachttisch und ich schalte das Licht an. Schnellen Schrittes gehe ich ins Bad, schalte nun hier das Radio an und kurz darauf das Duschwasser. Ich sehe mich im Spiegel an und sehe schnell wieder weg, den Ausdruck in meinem Gesicht nicht deuten wollend.

Nein, ich will es wirklich nicht, ich will nicht darüber nachdenken, nicht jetzt… am besten gar nicht, auch morgen nicht… Es bringt ja doch nichts. Wie Sakuya gesagt hat: Die Story steht, sie kann jetzt nicht mehr geändert werden. Fertig, aus, so einfach ist das!

Ich schleudere meine Shorts in die Wäschekiste und trete unter das warme Wasser. Dann versuche ich, auf die Musik zu hören… doch es ist nicht so einfach. Wieso denn nicht? Wieso fühle ich mich so komisch? Wieso lässt mich dieses eine Gefühl nicht los?

Wieso bin ich enttäuscht?
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen bin ich schon um fünf Uhr wach. Ich schaffe es nicht, ein Auge zuzutun, weshalb ich lange Zeit einfach nur daliege. Sakuyas Worte lassen mich nicht los… doch weshalb das so ist, kann ich nicht sagen. Ich wusste, dass Sakuya ein neues Leben mit Freundin und Kind hat… und dass ich ebenso zu seiner Vergangenheit gehöre, wie er zu meiner. Die Tage damals sind vorbei, nahezu vergessen. Sie haben vielleicht Kleinigkeiten beeinflusst, doch folgten ihnen noch andere, vielleicht wichtigere Tage. Ich habe seit Jahren nicht mehr daran gedacht und auch ich war mit Sicherheit aus seinem Kopf verschwunden. Genau so ist es und ich weiß das, immerhin ist es im Laufe des Lebens meistens so… und dennoch ist der Gedanke, dass unsere Vergangenheit so in seinem Leben nicht existiert etwas, das mir fast eine schlaflose Nacht beschert hat.

Ich stehe auf, gehe ins Bad und mache mich fertig. Um fünf vor halb Sechs stehe ich vor dem Kühlschrank, um fünf nach im Aufzug.

Auf dem Weg zur Arbeit versuche ich auch nur an diese zu denken. Es bringt nichts, überhaupt gar nichts, wenn ich weiter über diese spezielle Tatsache nachdenke!

Kurz muss ich warten, dann wird um Punkt Sechs das Gebäude geöffnet. Wann bin ich eigentlich das letzte Mal freiwillig so früh zur Arbeit gegangen?

Im richtigen Stockwerk angekommen, herrscht Stille. Nur einzelne Rechner geben ihr ruhiges Rauschen von sich. Ich betrete mein Büro und bleibe für einen kurzen Moment unschlüssig stehen.

Als ich mich losreiße, öffne ich zunächst das Fenster, schalte dann meinen Computer an und begebe mich zu Timothys Schreibtisch, um den Plan für die nächsten Tage an mich zu nehmen. Ihn studierend, greife ich nach einem Stift und mache ein paar Notizen. Den Plan weglegend, öffne ich am Computer mein Mailprogramm. Eine Kundenmail, zwei von einem Kollegen und eine von Tatsuya. Sie öffne ich zuerst.

Es ist nur ein kurzer Text mit der Frage, wie es mir geht und ein paar Kleinigkeiten, was er so gemacht hat in den letzten Tagen. Außerdem die Erklärung, weshalb er am Samstag, als ich angerufen habe, nicht da war, auch wenn Sai, mit dem ich stattdessen ein bisschen geredet habe, es mir schon erklärt hat.

Nun antworte ich ebenso kurz, da es mir immer schon schwer fiel, meine Gedanken aufzuschreiben. Ich ende damit, dass ich am Sonntag zum Barbeque bei Sakuya eingeladen bin. Von Sakuyas Lüge schreibe ich nichts.
 

Timothy ist ziemlich überrascht, als er mich um halb Acht im Büro antrifft, wie ich das Whiteboard vollkritzle.

„Du bist schon da?“, lässt er seine Tasche auf den Schreibtisch sinken.

Ich nicke, hebe die Hand, um ihm zu signalisieren, dass ich gleich fertig bin. Dann drehe ich mich kurz danach um.

„Wie lange bist du denn schon hier?“, deutet er auf mein Geschriebenes.

„Seit kurz nach Sechs…“, habe ich das Gefühl, dass ich an dieser Stelle gähnen sollte. Ich tue es nicht, da ich keine Müdigkeit verspüre.

„Hast du sonst keine Hobbys?“ Er lacht, greift nach einem Stift und ergänzt meine Notizen.

„Das ist nur ne vorübergehende Beschäftigungstherapie“, erkläre ich und gehe zu meinem Schreibtisch. „Mr. Kynes hat geschrieben. Er hätte die ersten Ergebnisse gerne bis heute Abend.“

„Sollte machbar sein“, nimmt er das Blatt entgegen, dass ich ihm hinhalte.

„Ja, denke ich auch.“

Damit gehe ich zurück zum Whiteboard und nehme meine Gedankengänge wieder auf. In den letzten eineinhalb Stunden hat es ziemlich gut geklappt, um nicht weiter denken zu müssen…
 

~ * ~
 

Während der Donnerstag irgendwie vergeht, wird mir am Freitag bewusst, dass der Sonntag sehr schnell näher rückt. Am Samstag habe ich dies Gefühl noch mehr und bin froh, dass Shawn vorgeschlagen hat, am Projekt weiterzuarbeiten.

Hier vergehen die Stunden ziemlich schnell. Die einzige wirkliche Unterbrechung huscht in Form von Rachel um die Mittagszeit in den Besprechungsraum. Ein kleines Päckchen wird vor mir abgelegt, dann lehnt sie sich gegen meine Schulter.

„Da ich bis Mittwoch nicht da bin, dachte ich, ich bring es dir jetzt…“, lächelt sie.

„Rachel, du musst mir doch nichts schenken.“

„Natürlich muss ich!“ Ein schnelles Nicken, sie streicht mir fahrig über den Rücken, stellt sich dann wieder richtig hin. „Erst dachte ich daran, dir Abdeckpuder zu kaufen, doch dann-“

„Rachel!“, zische ich, im Augenwinkel sehend, wie auf Timothys Gesicht ein wissendes Grinsen entsteht.

„Ich weiß, blöde Idee.“ Sie zwinkert. „Aber ich muss auch wieder los! Nozomi wartet.“

Sie dreht sich zum Gehen, bleibt stehen, dreht sich wieder um. Alles so schnell, dass ich gar nichts erwidern kann.

„Nicht vor Dienstag aufmachen!“, hält sie mahnend ihren Zeigefinger in die Höhe.

Ich erwidere ihr Lächeln. „Versprochen.“

„Gut! Wir sehen uns Donnerstag!“ Sie nickt mir zu und blickt dann in die Runde. „Entschuldigung wegen der Störung! Euch noch viel Spaß!“

Damit ist sie auch schon wieder verschwunden.

Lächelnd sehe ich noch eine Sekunde zur Tür, bis ich meinen Kopf zu dem kleinen Päckchen drehe.

„Hast du Geburtstag?“, fragt Shawn, der mir gegenüber sitzt und das alles beobachtet hat.

„Am Dienstag“, erkläre ich, greife nach dem Päckchen. Ich lasse es in meiner Aktentasche verschwinden.

„Wie alt?“

„Fünfundzwanzig.“ Ich stehe auf mit ein paar Blättern in der Hand.

„Jungspund!“ grinst nun Timothy, obwohl er gerade mal 4 Jahre älter ist als ich.

„Gibt’s ne Party mit geilen Schnecken?“, fragt Shawn schon weiter.

„Hatte ich nicht vor.“ Ich wende mich dem Whiteboard zu und wische ein paar Daten weg.

Ehrlich gesagt hatte ich noch nicht mal ansatzweise über den Tag nachgedacht…
 

Der restliche Samstag vergeht damit, dass ich um 17 Uhr nach Hause fahre und mich danach mit ein paar Spareribs vor den Fernseher haue. Hier holt mich ein Gedanke wieder ein, den ich den gesamten Tag vor mich hergeschoben habe… und zwar das morgige Barbeque und das damit verbundene, erste Treffen mit Charize – der Frau, die denkt, dass ich Sakuyas frühere Freundin auf dem Gewissen habe.

Wie soll ich ihr gegenübertreten? Okay, Sakuya hat gesagt, dass sie nicht schlecht von mir denkt… und ansprechen wird sie mich darauf auch nicht, aber trotzdem… wie soll ich sie anlächeln, mit diesem Gedanken im Hinterkopf? Was soll ich sagen, falls doch Fragen zu meiner Vergangenheit kommen? Wie um Himmels Willen soll ich mich verhalten?

Ich bringe den leeren Teller weg, wachse mir die Hände und schalte zurück im Wohnzimmer den Fernseher aus, da er mich gerade irgendwie vollkommen irre macht. Dann sinke ich erneut aufs Sofa und bedecke meine Augen mit den Händen.

Vielleicht sollte ich andererseits auch froh sein…Wenn es wirklich so wäre, wenn sie es wüsste… dann würde ich dem Treffen wahrscheinlich ganz anders gegenüberstehen – denn wer weiß, ob sie mich als Konkurrenz sehen würde? Wie sollte ich sie dann davon überzeugen, dass ich es nicht bin?

Und überhaupt… wenn sie es wüsste, ob Sakuya mich dann überhaupt auf diese Weise in sein neues Leben lassen würde?

Ich reibe mir die Augen und öffne sie gegen die fahle Beleuchtung. Zur Deckenleuchte starrend, bin ich mir in diesem Augenblick gar nicht mehr sicher, wie ich denken soll.

Soll ich jetzt etwa froh sein, dass sie die Wahrheit nicht kennt?
 

~ * ~
 

Ob ich nervös bin?

Um ehrlich zu sein nicht nur ein wenig sondern ganz schön stark. Sagen tue ich dies nicht, sondern versuche es herunterzuspielen, ebenso wie ich innerlich versuche, mich tatsächlich zu beruhigen.

Womit ich rechne? Ich weiß nicht… mit einem Desaster vielleicht… und andererseits sagt mir mein Verstand, dass es soweit definitiv nicht kommen wird. Wieso sollte es auch? Charize scheint mir wohlgesinnt und ich bin es mehr als nur gewohnt, den Hetero zu mimen. Außerdem freue ich mich darauf, Charize kennenzulernen… und fast noch neugieriger bin ich auf das Kind, welches ich nur flüchtig gesehen habe. Ob es auch grüne Augen hat?
 

Aus Sakuyas Auto steigend, lasse ich meinen Blick herumschweifen. Ich war schon mal hier… und dennoch ist es ein wenig so, als wäre ich es noch nie gewesen. Vielleicht, weil ich zu dem Zeitpunkt nicht wirklich einen Kopf dafür hatte, wie alles aussieht. Ich habe nur daran gedacht, ob ich klingeln soll.

Jetzt tue ich das natürlich nicht und folge Sakuya auch nicht zur Eingangstür sondern an einem anderen Eingang. Er öffnet die Tür und mein Blick fällt in einen großen Raum. Dann sehe ich sofort zwei Frauen und Sakuya stockt auf halbem Weg.

Die Frau, welche sich in Bewegung setzt, lächelt sie mich an und bevor ich weiß, was ich tun soll, verbeugt sie sich plötzlich vor mir.

Wieso mir erst in dem Moment klar wird, dass dies wohl Sakuyas Freundin sein wird, weiß ich nicht. Unterbewusst hatte ich wohl mit der Blondine von der ersten Begegnung gerechnet und nicht mit der Farbigen.

Nach ihren freundlichen, bedächtig gesprochenen Worten bleibt sie noch immer in der Verbeugung stehen. Ich fühle mich überrumpelt… keinen blassen Schimmer, was ich machen soll. Mein Instinkt sagt mir, die Verbeugung zu erwidern, doch dann fällt mein hilfloser Blick auf Sakuya.

„Frag mich nicht. Sie tickt manchmal nicht richtig.“ Er hilft ihr wieder in die Höhe… und irgendwie ist mir der Moment peinlich.

Dann stellt Charize sich mir vor und ebenso ihre Freundin, die mir vollkommen fremde Frau. Ich finde meine Sprache wieder und zum Glück zieht Charize mich nach dieser kurzen Begrüßungszeremonie schnell in ein Gespräch, weshalb ich meine Sprache auch nicht wieder vergesse.

„Wie geht es Ihnen? Gefällt Ihnen Amerika?“, fragt sie und deutet mir, ihr zur Küchenzeile zu folgen.

„Ja, sehr“, antworte ich lächelnd. „Am Anfang war es ein wenig ungewohnt, aber man gewöhnt sich schnell daran…“

„An was denn zum Beispiel?“

„Allein schon die Menschen. Sie sind viel lockerer und vielleicht auch freundlicher. Mir ist vorher nie aufgefallen, dass gerade im japanischen Geschäftsbereich alles ziemlich steif ist.“

„Man ist einfach daran gewöhnt, nicht wahr?“

„Eben. Und dann wundert man sich, wenn es woanders nicht so ist.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

Die junge Frau lächelt mich an, reicht mir dann ein Messer und deutet auf zwei Standen Baguette. Ich nicke und beginne mit der Arbeit, froh, helfen zu können.

„Gewöhnt man sich denn an die Menschen oder gefällt es Ihnen in Japan besser?“

„Ich weiß nicht. Ich bin halt da aufgewachsen, ich kann nicht sagen, dass ich das Leben in Japan schlechter finde oder die Kommunikation mit Menschen. Ich kannte es nicht anders und ich würde nicht sagen, dass es mir nicht gefällt. Aber natürlich merkt man schnell, dass es hier viel einfacher ist, Kontakte zu knüpfen und sich mit jemandem anzufreunden. Auch fällt es leichter, zu diskutieren, da es nicht diese starke hierarchische Ordnung gibt. Mir gefällt das schon sehr… es wird schwer sein, sich zurück in Japan wieder umzugewöhnen.“ Ich befördere das geschnittene Baguette in seine Schale, schiele zu Sakuya und Vanessa hinüber. „Entschuldige, dass ich so viel rede“, wende ich mich wieder Charize zu.

„Quatsch! Ich sag schon bescheid, wenn ich mich langweile. Außerdem habe ich doch gefragt!“, zwinkert sie mir zu, reicht mir noch zwei Stangen Baguette, wobei mein Blick auf etwas Glitzerndes an ihrem Arm fällt. „Wann geht es denn wieder nach Japan zurück?“

„Nächsten April“, erkläre ich, das Baguette schneidend. „Eigentlich ist das noch eine Weile, aber wenn ich überleg, wie schnell die letzten Monate vergangen sind.“ Mein Blick fällt erneut aus ihrem Arm, dieses Mal bleibt er hängen, als ich etwas erkenne, dass mir erschreckend bekannt vorkommt. „Die Zeit vergeht… viel zu schnell…“, füge ich stockend hinzu.

„Ja, das ist richtig…“ Ihr Blick wendet sich mir zu. „Stimmt etwas nicht?“

Ich zucke zusammen, gar nicht bemerkt, wie ich das Messer habe sinken lassen. Meine Augen hängen noch immer an dem Schmuckstück und ich merke, wie mir der Atem schwer durch die Lungen strömt.

„Nein, alles klar.“

Ich hebe das Messer wieder und wende meinen Blick ab. Ich sehe zu Sakuya hinüber, der sich lachend mit Vanessa unterhält. Mein Magen dreht sich.

„Manchmal denke ich-“

Unterbrochen werde ich durch das Öffnen einer Tür. Froh darüber, sehe ich zu dem Geräusch und den zwei eintretenden Personen.

„Nicht schon wieder“, kommt es neben mir.

Irritiert sehe ich sie an. Sie verdreht grinsend die Augen.

„Und Action!“, schlägt sie fast im selben Augenblick die Hände vor dem Gesicht zusammen.

Das erfreute, überrascht, erschrockene und hyperventilierende „Ahhh“, das ich ein Stück neben mir höre, spiegelt nun auch ihr Gesicht wieder. Dann zupft sie an irgendwas imaginären, während ich sehe, wie die mir fremde Person an dem Hemd ihres Begleiters zupft. Charizes Lippen passen sich ihren an beim Sprechen, sie vollführt den fast gleichen, hingerissenen Blick… scheint den Namen ebenso hervorzustottern. Sie kommt auf mich zu und schlägt die Hände ans Herz, erschreckend synchron zu dieser Frau. Ich weiß nicht, zu welcher Szene ich eigentlich blicken sollte, während ich auch immer noch das Armband an ihrem Handgelenk glitzern sehe.

Charize nimmt die Hände hinunter und grinst mich breit an… dann zwinkert sie und setzt sich in Bewegung an mir vorbei, auf Sakuya und diese merkwürdige Frau zu.

„Hallo, ich bin Mrs. Sakuya Michael Ryan. Willkommen in unserem Haus.“
 

Als sich die Aufregung, welche durch das Auftauchen von Bill und Larissa, wie ich mittlerweile gelernt habe, wieder etwas gelöst hat, helfe ich Charize bei den Saucen. Ich starre das Gemüse an, welches ich dafür schneide, und in meinem Geist spukt noch immer das kleine, silberne Ding herum, das an ihrem Handgelenk baumelt. Es kann doch nicht wirklich sein, oder?

Ich beschließe, es zu ignorieren, einfach nicht daran zu denken und es so hinzunehmen… doch als wenig später Charize wieder direkt neben mir steht und gerade niemand sonst in der Küche ist, kann ich einfach nicht anders.

„Das ist aber hübsch“, zwinge ich mir ein Lächeln ab.

„Was?“, fährt ihr Blick überrascht zu mir.

„Das Armband“, deute ich auf ihren Arm. „Dürfte ich mal sehen?“

„Oh! Aber natürlich!“ Sie hebt den Arm und präsentiert mir das Schmuckstück.

Es sieht ganz genauso aus.

Ich spüre einen Kloß in der Kehle.

Ob meine Finger zittern, als ich das kleine Plättchen berühre?

Ich drehe es herum, da es sich an ihrem Arm gedreht hat. Felsenfest glaube ich zu wissen, was ich gleich lesen werde, welche Schriftzeichen…

„Ich bin dein“, bestätigt sich meine Annahme nicht.

Ich streife mit dem Blick weg von den Schriftzeichen über die Ösen. Es sieht genauso aus… ganz genauso…

Ich versuche den Kloß herunterzuwürgen. Dennoch klingt meine Stimme mit Sicherheit anders, als ich sie anlächle und ihr sage, dass es wirklich schön ist.

„Von Sakuya?“

„Ja.“ Sie strahlt und berührt es nun mit ihren Fingern, doch dann zieht sie ihren Arm schnell herunter und das Lächeln wird schwächer. Plötzlich scheint ihr die Situation unangenehm zu werden… aus welchem Grunde wohl?

„Hier“, wird mir eine Schale hingehalten, dann dreht sie sich um.

Fast im selben Moment betritt Sakuya wieder die Küche, mit den übriggebliebenen Grillanzündern in der Hand. Vanessa ist bei ihm. Sie kommen zur Theke hinüber. Für eine Sekunde habe ich das Bedürfnis, ihm eine ganz bestimmte Frage zu stellen.

Ich bin mir sicher… vollkommen sicher.

Für ein paar Monate war dieses Armband mein vielleicht wichtigster Besitz… Ich würde nie vergessen, wie es aussah, wie die Ösen miteinander verschlungen waren.

Auch wenn das Plättchen ein anderes ist… Dies Armband ist das Selbe… oder zumindest ein Duplikat davon.

Wieso Sakuya? Wieso?

Ich frage ihn nicht sondern erwidere sein kleines Lächeln und wende mich wieder den Saucen zu.

Was würde es bringen, ihm die Frage zu stellen? Die Tage, in denen ich dieses Schmuckstück trug, gehören der Vergangenheit an… und immerhin war ich es, der ihm das Armband zurückgeschickt hat. Es wurde wieder seins… er hat alles Recht der Welt, damit zu machen, was er will.
 

Die Zeit, in der ich darüber nachdenke, ist nicht mehr besonders lang. Charize verwickelt mich schnell wieder in ein Gespräch und ich beschließe, dass mich das Ganze nichts angeht. Kurz darauf steht Kevin in der Küche.

Sein Blick trifft mich... und dieser ist vollkommen unterkühlt, was mir das halbe Lächeln gefrieren lässt.

Im nächsten Moment spielt sich dieselbe Szene ab wie bereits einmal zuvor. Während Larissa Kevin in ihre Fänge nimmt, erblicke ich nun auch die andere Person, die den Raum betreten hat. Ihm tritt kurz darauf Sakuya entgegen.

Als mir Matthew vorgestellt wird, lächelt er freundlich… doch an ihm vorbei kann ich Kevin erkennen, der seinen Fan nicht wirklich beachtet, sondern mir erneut einen finsteren Blick schenkt.

Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht…
 

Was hier nicht stimmt, begreife ich erst so langsam im Laufe des Abends. Zunächst vergesse ich Kevins Blicke schnell wieder, da einfach noch viele andere Leute hier sind, mit denen man sich beschäftigen kann.

Kurz unterhalte ich mich mit Nessa, welche mir schnell klar macht, dass ich wirklich nicht Vanessa sagen soll. Sie strahlt die meiste Zeit, blickt aber während unseres Gespräches mehrere Male zu Bill hinüber… ein paar Mal zu oft vielleicht. Mit ihm rede ich kaum. Wieso weiß ich nicht, ich finde einfach nicht sofort einen wirklichen Draht zu ihm. Noch schlimmer ist es bei Larissa, doch da scheine ich nicht der einzige zu sein. Kevin, an dem sie fast die gesamte Zeit klebt, scheint über ihre Anwesenheit wenig erfreut, und Bill, der ja nun, wie ich es verstanden habe, eigentlich ihr Freund sein sollte, wird kaum von ihr beachtet, was aber auf Gegenseitigkeit beruht. Des Weiteren fällt mir zu ihr eigentlich nur ein, dass sie unglaublich tollpatschig ist.

Die meiste Zeit unterhalte ich mich mit Charize… und das ziemlich gut. Die Tatsache mit dem Armband einmal verdaut, schaffe ich es auch, es nicht die ganze Zeit zu betrachten. Stattdessen fällt mir das Lächeln erneut auf, das sie die meiste Zeit trägt. Sie strahlt damit eine unglaubliche Sympathie aus und je später der Abend wird, desto mehr verstehe ich, wieso Sakuya mit dieser hübschen Frau zusammen ist. Sie ist freundlich, lustig, intelligent und vor allem fällt es unglaublich leicht, sich mit ihr zu unterhalten.
 

Worüber wir reden hat zunächst hauptsächlich mit mir zu tun. Zwar will ich sie mehrere Male fragen, wo eigentlich das Baby ist, doch sind es zu viele andere Dinge, über die wir reden. Während ich Charize erzähle, wie ich zu meinem Job in der Entwicklungsabteilung von Toshiba gekommen bin, erzählt sie mir von ihrer Kanzlei. Auch deutet sie kurz an, dass sie Sakuya durch diesen Job kennengelernt hat, doch weiter geht sie nicht darauf ein. Ich frage nicht.

Irgendwann gesellt sich Matthew zu uns, mit dem ich bis zu dem Zeitpunkt noch nicht wirklich viele Worte gewechselt habe. Zuerst reden nur Charize und er, doch dann entschuldigt sie sich und verlässt unsere kleine Gesprächsrunde. Nun mit Matthew allein, scheinen wir beide einen Moment unschlüssig. Dann beginnt er damit, wie schön der Garten sei. Ein sehr einfaches Thema, das uns aber einen wunderbaren Anlass zu einem Gespräch bietet… und welches es einfach macht, dieses darüber hinaus weiterzuführen.
 

Was an diesem Abend wirklich komisch ist, begreife ich an dieser Stelle. Es sind vielleicht zehn Minuten vergangen, seit Charize weg ist und ich mich mit Matthew unterhalte, als plötzlich die Gestalt Kevins unser Lachen unterbricht. Er steht da wie ein Eisberg und würdigt mich keines Blickes, während er mit ernster Stimme Matthew bittet, mitzukommen.

„Wir haben uns gerade über-“

„Das ist mir egal“, kommt es und ich spüre die Kälte, die auf mich überspringt. „Kommst du bitte?“

„Natürlich.“

Matthew steht auf… und eine Sekunde lang finde ich es schade, da er wirklich ein angenehmer Gesprächspartner war. Er lächelt mich an, entschuldigt sich und dreht sich dann zu Kevin, der schon im Begriff ist zu gehen, und nur darauf zu warten scheint, dass Matthew neben ihm auftaucht.

Das Gefühl von Kälte verlässt mich nicht so schnell, als ich sie zusammen über den Rasen weggehen sehe. Ich blicke ihnen hinterher, soweit ich es kann, dann senke ich meinen Blick auf mein Glas.

Was war das gerade?

Eifersucht könnte man meinen, doch ich bin mir sicher, dass da noch etwas anderes mitgespielt hat. Aus einem Grund bin ich mir sicher, dass Kevin nicht wollte, dass ich mich mit Matthew unterhalte.

Stört meine Anwesenheit ihn so sehr?
 

„Huch, wieder allein?“, lässt sich Charize einige Zeit später neben mir nieder, zusammen mit Sakuya, der aber sogleich ein Gespräch mit Nessa beginnt.

„Ja.“

Sie lächelt, deutet auf mein leeres Glas. „Noch etwas zu trinken?“

„Ja, bitte.“

„Gefällt es dir hier?“, fragt sie, als sie mir und sich selbst nachgeschenkt hat.

Ich nicke.

„Ja. Ich hab zwar noch nicht viel gesehen, aber ihr habt es wunderschön hier. Besonders der große Garten …“

„Das hab ich auch gedacht, als ich das erste Mal hier war.“ Sie grinst. „Damals dachte ich noch, ich sollte für zwei versnobte Baseballspieler die Hausfrau mimen…“ Sie führt ihr Glas an die Lippen, zwinkert mir darüber hinweg zu. „So kann man sich täuschen.“

„Wie lange seid ihr eigentlich schon zusammen?“, frage ich zögernd nach.

„Schon über zwei Jahre, aber es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.“ Das Glas wird abgestellt und sie stützt ihr Kinn auf ihre Hände. „Die vielleicht schönste Zeit meines Lebens.“

Sie strahlt und mir… gefriert mein Lächeln. Ich greife meinerseits nach meinem Glas und trinke es halb leer, während sie Sakuya einen Kuss auf die Wange haucht. Er lächelt, wendet sich dann wieder seiner Gesprächspartnerin zu.

Als ich das Glas wieder abstelle, habe ich zum Glück eine Erwiderung gefunden.

„Das hört sich schön an. Und nun, da ihr seit kurzem ein Kind habt, muss es ja noch-“

„Ein Kind?“ Ihre Augen sehen mich verwirrt an, als sie den Kopf von den Händen nimmt. „Wie kommst du darauf?“

„Ähm… ich dachte…“

Verwirrt breche ich ab. Ich hab es doch gesehen… ich meine…

Ein Lachen unterbricht meine Gedanken. Noch viel verwirrter sehe ich Charize an.

„Ach, du meinst Amber.“ Sie strahlt. „Die Kleine, die Sakuya trug, als du das erste Mal hier warst, richtig?“

Ich nicke, noch immer nicht schlau geworden. „Ja, richtig.“

„Sie ist die Tochter von zwei guten Freunden. Sie wohnen eigentlich in Boston, aber sie waren für eine längere Zeit bei uns zu Besuch. Sakuya hat Amber ganz schön ins Herz geschlossen.“

Charize lächelt weiterhin, während ich noch immer eine gewisse Verwirrung verspüre. Hab ich also wirklich die ganze Zeit fälschlicher Weise angenommen, dass Sakuya bereit Vater ist? Ich starre ihn an.

Ich habe keine Ahnung, was ich von dieser Erkenntnis halten soll.

Zum Glück wechselt Charize das Thema, als die ihr Glas hebt und mir zuprostet. „Sag mal, wie kommst du eigentlich heute nach Hause?“

„Eigentlich wollte ich ein Taxi nehmen, aber Sakuya hat gesagt, er würde mich nach Hause bringen. Davon konnte ich ihn auch leider nicht abbringen…“

„Ja, so ist er, ein kleiner Dickkopf.“

„Ich weiß, das war er schon-“ Ich stocke. „…früher.“ Schnell blicke ich mich um, greife meinen Rettungsanker, das Glas. Diesmal trinke ich es leer, schiele wieder zu Sakuya hinüber. Er scheint meine Worte nicht gehört zu haben.

Mir wird heiß und kalt. Ich wollte das Gespräch nicht in diese Richtung schieben!

„Das kann ich mir vorstellen“, geht Charize aber zu meiner Überraschung nur sehr gering auf meine Worte ein.

Vielleicht, weil sie denkt, dass die Vergangenheit für mich aus anderen Gründen ein schwieriges Thema ist. Ich bin in diesem Moment dankbar darum.

„Weißt du was?“, sagt sie dann. „Wenn du magst, kannst du auch ruhig hier schlafen.“

Die Worte treffen mich unvorbereitet, da ich so weit gar nicht gedacht hatte. Ich sehe wieder zu Sakuya, der im selben Moment auch mich ansieht. Mein Magen zieht sich zusammen, Sakuya schaut wieder weg.

„Wir haben genügend Platz“, zieht Charize meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Nein, nein… ich muss morgen früh raus“, sage ich, suche in meinem Kopf nach einem Ausweg.

Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie habe ich das Gefühl, heute Nacht nicht hier bleiben zu wollen…

„Ob du es glaubst oder nicht, wir haben auch ein paar Dinge in unserem Haus, welche sich Wecker schimpfen“, scheint Charize es mir so nicht einfach machen zu wollen.

Ehe ich jedoch darauf etwas sagen kann, mischt sich Kevin ein. Überrascht trifft mein Blick seinen… und dieser ist wieder genauso kalt wie eh und je. Er zeigt deutlich, dass Kevin es gar nicht lustig fände, wenn ich auf den Vorschlag einginge.

Zum Glück bietet Sakuya mir kurz darauf an, mir das Haus zu zeigen.
 

Um mich kurz zu fassen: das Haus ist der Wahnsinn!

Wenn man es länger ausführen sollte, müsste ich wohl über jedes Zimmer eine Lobeshymne singen. Da wäre zum Beispiel der große Freizeitraum, um den man die Bewohner dieses Hauses nur beneiden kann… oder die Bibliothek, welche einen förmlich dazu auffordert, sie durchzustöbern. Ich frage mich, wo die ganzen Bücher herkommen…

Dem folgt Sakuyas Dunkelkammer.

„Deine Dunkelkammer?“, frage ich überrascht nach.

„Ja.“ Er lächelt und schaltet das Licht an. „Zwar werden mittlerweile die meisten Bilder digital gemacht, aber man kann analog noch so viele tolle Effekte erzielen, weshalb es eine Schande wäre, dies nicht auszunutzen.“

„Ich wusste nicht, dass du gerne fotografierst. Ich meine, dass du Fotos magst, wusste ich schon, aber…“ Ich zucke die Schultern, da uns wohl beiden in diesem Moment klar wird, dass dies ein komischer Moment ist.

„Naja…“ Er greift nach einer Kamera, welche auf dem Tisch liegt. Sein Gesicht kann ich nicht erkennen. „Das hat sich erst später ergeben… Eine Freundin hat mich darauf gebracht.“

Er lächelt, legt die Kamera wieder beiseite. Dann tritt er wieder zum Flur heraus.

„Mal sehen, vielleicht lernst du sie und ihre kleine Familie ja mal kennen.“

Die nächste Tür wird geöffnet, er schaltet das Licht an und tritt hinein. Zunächst sehe ich ein Bett… und im nächsten Augenblick die Bilder an der nebenliegenden Wand, welche deutlich eine schwule Neigung zeigen.

„Kevins Zimmer“, spricht Sakuya auch sofort meine Vermutung aus.

Ich bleibe stehen.

„Meinst du nicht, dass er was dagegen haben könnte?“, frage ich zaghaft, während meine Augen schon ein wenig weiter herumfahren. Sie bleiben an zwei riesigen Steinblöcken hängen, die vom Boden bis zur Decke gehen und in der Mitte einen Durchgang mit zwei Säulen bilden.

„Quatsch! Das stört ihn schon nicht!“ Sakuya deutet mir mit dem Kopf, ihm zu folgen. „Außerdem wäre es eine Verschwendung, dir das nicht zu zeigen!“

Er tritt durch den Durchgang. Ich folge nur sehr zögernd… und dann bleibt mir der Mund offen stehen.

„Das ist…“ Ich schüttle den Kopf. „…Wahnsinn!“

„Jup, das ist es.“

Sakuyas Finger streichen über eine der verzierten Truhen. Ein Stück daneben steht Sarkophag. Ich lasse meine Augen einen Moment fasziniert auf ihm, bevor sie weiter wandern über kleine Regale, Urnen, eine weitere Truhe… ganz viele ägyptische Dinge, die etwas Mystisches verbreiten. Ich fühle mich wie in einer anderen Welt.

Zuletzt bleibt mein Blick wieder an den Steinblöcken hängen.

„Ist euer Boden extra präpariert oder wie kann er das Gewicht halten?“, frage ich, als ich meine Sprache wiedergefunden habe.

„Ach, das ist kein richtiger Stein.“ Sakuya tritt heran, klopft gegen eine der Wände. „Keine Ahnung, woraus die sind… irgendein leichtes Material, Kalkstein oder so…“

„Wäre das nicht immer noch zu schwer?“

„Keine Ahnung.“ Er zuckt die Schultern.

„Naja, ist auch egal. Es ist auf jeden Fall wunderschön hier.“

„Ja.“ Sakuya geht wieder Richtung Tür. „So, jetzt noch die Zimmer von Charize und mir und die Gästezimmer… dann fehlt nur noch das Poolhaus.“
 

Der Rundgang endet an einem Ort, der mich noch mehr in den Bann zieht, als der ägyptische Teil von Kevins Zimmer: dem Musikraum im Poolhaus.

Ich begutachtete die anderen Instrumente nur kurz, bevor ich vor dem Schlagzeug zum Stehen komme. Es ist, als würde mich ein weiterer Teil meiner Vergangenheit einholen.

Wann habe ich bloß das letzte Mal gespielt? Es scheint eine Ewigkeit her zu sein…

Und wieso habe ich damit aufgehört?

Traurigkeit erfüllt mich in diesem Augenblick und ich tue schwer daran, sie nicht zu zeigen. Diese Musik war ein Teil von mir und dennoch habe ich sie aufgegeben… Ich habe so einiges aufgegeben, als ich noch jung war.

Ich verdränge den Gedanken und lehne Sakuyas Aufforderung zum Spielen ab. Ich habe das Gefühl, in diesem Augenblick nicht die Kraft dazu zu haben, die Sticks in die Hände zu nehmen. Ich habe mich so sehr verändert seit damals…
 

„Das war also unser bescheidenes Reich!“, strahlt Sakuya, als wir das Poolhaus wieder verlassen und den Rasen überqueren.

„Vorallem bescheiden.“ Ich muss lachen. „Ihr habt es wunderschön hier.“

„Danke.“ Sakuya tritt auf die Terrasse, Charize lächelt uns zu.

„Ich statte eurem Bad mal einen Besuch ab“, erkläre ich.

Während Sakuya sich setzt, gehe ich weiter. Ein weiteres Mal lasse ich meinen Blick herumfahren… man könnte schon ein wenig neidisch werden…

Als ich mich wenig später zurück zur eigentlichen Party begeben will, begegne ich Kevin. Beide bleiben wir stehen. Sein Blick ist dunkel.

Ich suche nach Worten, da ich das Gefühl habe, dass ich etwas sagen sollte.

„Du hast ein tolles Zimmer“, ist das einzige, was mir einfällt.

Sofort wird der Blick noch kälter.

„Und mich stört es, dass du es kennst.“

„Entschuldige, Sakuya meinte-“

„Es ist mir egal, was Sakuya meint. Du hast darin nichts zu suchen. Du hast hier nichts zu suchen. Um es einfacherer für dich auszudrücken, deine Anwesenheit geht mir gewaltig gegen den Strich.“

Damit macht er auf dem Absatz kehrt.

Noch bestimmt eine Minute lang bleibe ich wie angewurzelt stehen, bis ich mich ebenfalls in Bewegung setze, mit dem Plan, nicht mehr allzu lange zu bleiben. Ich weiß, dass es wie Rückzug wirkt, aber was auch immer es ist, das Kevin gegen mich hat… es hat mir soeben das Gefühl genommen, heute noch weiter lächeln zu können.
 

Part 68 - Ende
 

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Part 69

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Sakuya (by littleblaze)
 

Verwundert über den schnellen Abschied war ich schon, doch ließ ich mir dessen nichts anmerken. Ich wollte ihn nicht durch Fragen in eine vielleicht peinliche Situation bringen und außerdem konnte ich mir schon selber etwas zusammenreimen.

Kida nach Hause gebracht und wieder daheim, war Charize bereits nach oben gegangen. Wahrscheinlich kritzelte sie wieder einmal hunderte von Zahlen zusammen. Kevin und Matthew hingegen verweilten noch in der Küche, räumten diese auf.

„Musste das sein?“ Nicht einmal einen Blick hatte er mir zukommen lassen, seit ich das Haus betreten hatte. „Du hättest doch einfach etwas sagen können“, versuche ich es diplomatischer.

„Ich dachte, das hätte ich.“

„Vielleicht hätt-“ Ich breche ab, als Matthew mein Blickfeld streift und ein Tablett den Besitzer wechselt. Sein Blick ist gesenkt. „Können wir kurz alleine reden?“, wende ich mich ihm zu.

Er schaut auf, doch gleichzeitig werde ich von anderer Seite her geblockt: „Sag, was du zu sagen hast oder lass es.“

Ich stehe vom Tresen auf, es hat eh keinen Sinn.

„Er war hier Gast. Du hättest dich dementsprechend verhalten können“, habe ich nicht vor, dem noch etwas hinzuzufügen, und so stehe ich mit dem Rücken zu ihm als er auf das Gesagte eingeht.

„Genau… er war Gast. Gast in unseren und nicht nur in deinem Haus. Ich habe dir gesagt, dass ich ihn nicht in meinem Leben haben will und du hältst es nicht einmal für nötig, mich zu fragen, ob ich mit seinem Besuch einverstanden bin.“

Natürlich würde ich gerne darauf antworten, das Problem ist nur, dass mir rein gar nichts dazu einfällt, und so zögere ich meine Wendung ziemlich lange hinaus… so lange, dass ich ihn nur noch durch die Tür verschwinden sehen kann.

„Es fällt ihm nicht leicht“, werde ich zurück hinter den Tresen gesteuert.

Was weiß er schon, durchstreift es mich zuerst. Er hat keine Ahnung, kann doch gar nichts verstehen. Doch dann frage ich mich, ob hinter den Worten „Er erzählt mir alles“ doch mehr steht als es nur eben so dahergesagt ist.

„Gib ihm einfach ein wenig Zeit“, legt er das durchnässte Tuch auf den Rand der Spüle.

Er lächelt leicht. Will er sich nur wichtig machen oder weiß er wirklich wovon er spricht? Versucht er mir zu helfen?
 

„Ich mag ihn“, empfängt sie mich, als ich mich neben sie aufs Bett setze. Ich schiebe Papiere und Laptop ein Stückchen zur Seite und lasse mich auf ihren Beinen nieder. Ohne Aufforderung fängt sie an, mir durchs Haar zu streicheln. Ich brauche das jetzt, Zuneigung. „Ein wenig zurückhaltend aber ziemlich sympathisch.“

Jedoch ist Kida gerade die Person, über die ich am wenigsten reden will.

„Und was hältst du von Matthew?“

Schon besser, doch für mich ein Buch mit sieben Siegeln.

„Ich kann ihn nicht einschätzen, das nervt mich gewaltig“, drücke ich mich mehr an sie heran.

„Er scheint auf eine Art wie ein kleines Kind zu sein“, grinst sie. „Er ist super niedlich und leid tat er mir.“

„Warum?“, schließe ich die Augen, und schon ist mir die Lust vergangen, über ihn reden zu wollen.

„Na, er ist voll verliebt und musste sich trotzdem bedeckt halten.“

„Dafür zeigen sie es sich jetzt bestimmt umso mehr“, öffnen sich meine Augen abrupt wieder.

„Ich denke, er geht ansonsten ziemlich offen damit um… was meinst du?“

„Ist mir egal“, erhebe ich mich und stehe auf. „Möchtest du noch etwas aus der Küche?“

„Ein Tomatensaft wäre lieb.“

Ich verlasse das Zimmer und bleibe vor Kevins Schlafzimmer stehen. Ich achte sogar penibel darauf, dass mein Schatten mich unter dem Türspalt nicht verrät, und versuche angestrengt etwas aus dem Inneren wahrzunehmen. Doch nichts, kein Gespräch, Kichern oder Stöhnen dringt heraus. Mit Ungewissheit darüber, was mich gerade mehr aufregt, gehe ich in die Küche und hole den gewünschten Tomatensaft.
 

~ * ~
 

Früh am nächsten Morgen werde ich mit der Frage geweckt, ob ich Lust hätte, mit den Jungs joggen zu gehen. Ich schicke Charize mit der Antwort hinunter, dass ich gleich kommen würde und drehe mich noch einmal um.

Mit den Jungs! Super!

Früher waren Kevin und ich täglich joggen. Wir hatten unsere feste Route, einen festen Platz, an dem wir Pause machten und unser Ritual, dass wir danach in den Pool sprangen. Doch heute soll es anders sein… heute ist es einer zu viel im Kreis.

Nicht lange auf mich warten gelassen, stehe ich fertig in der Küche. Wieder lächelt mich Matthew an, während sich Kevin versucht weitaus neutral zu geben. Sollte ich versuchen, noch einmal auf die Kida-Sache einzugehen oder würde sich das alles wirklich mit der Zeit auflösen? Gibt Matthew mir die richtigen Ratschläge oder versucht der immer lächelnde Wicht einfach nur, einen Keil zwischen uns zu treiben? Ich kenne ihn kein Stück, woher soll ich wissen, ob hinter dem immerwährenden Grinsen nicht etwas gewaltig Falsches steckt?
 

Den gesamten Weg der üblichen Route laufen wir brav nebeneinander her. Hier und da ein wenig Smalltalk aber nichts, was einen wirklich zum Nachdenken anregt. Unser neues Mannschaftsmitglied gibt eine hervorragende Figur beim Laufen ab, seine Kondition ist erstklassisch. Und auch wenn ich gerne etwas Negatives gefunden hätte, so bietet er mir keinerlei Angriffsfläche.

An seinem nackten Körper ist ebenfalls nichts auszusetzen, wovon ich mich beim darauffolgenden Duschen und immer noch unserem Ritual treu bleibendem Schwimmen im Pool überzeugen kann. Er bewegt sich geschmeidig durchs Wasser und scheint absolut kein Problem damit zu haben, dass er sich vor mir nackt präsentiert.

Ich selber fühle mich da schon ein wenig unwohl, doch ich finde es andererseits zu affig, mir jetzt extra eine Badehose zu holen, um mich vor dem neuen schwulen Freund meines besten Freundes zu verstecken. Immerhin muss ich mich meines Körpers wegen nicht schämen.

Darauffolgend ein knappes Frühstück, wobei sich eine kleine, zwanglose Konversation einstellt, und danach fährt Kevin seinen neuen Freund zur Arbeit. Aus Matthews Aussagen heraus deute ich, dass er keinen eigenen Führerschein besitzt. Er scheint wohl Angst vor dem selber Fahren zu haben.

Als sie das Haus verlassen haben, bin ich erst einmal allein. Kurz stelle ich mir die Frage, mit welcher sinnlosen Tätigkeit ich mir wohl jetzt die Zeit vertreiben könnte, als Brenda mit vollgepackten Einkaufstüten vor mir auftaucht. Doch auch sie lenkt mich nur kurzweilig ab und so beschließe ich, die Fotos auf der Digitalkamera zu bearbeiten und archivieren.
 

Einige Stunden verbringe ich so mit mir alleine beschäftigt. Zwischendurch immer mal wieder ein kleiner Sprung ins Internet, einige Fans mit einer Antwortmail glücklich gemacht und die nervige Frage, ob Zeit wirklich alles war, das er benötigt.

Für mich ist Kevin der friedlichste und ausgeglichenste Mensch, den ich kenne. Auch wenn ihn die Anwesenheit von Kida im Haus stören würde, hätte ich niemals daran gedacht, dass er dies öffentlich hervor trägt. Eigentlich habe ich überhaupt nicht angenommen, dass von ihm aus so ein Missfallen ausgeht. Ich habe seine Aussagen viel mehr als Beunruhigung angesehen, eine Art, mich schützen zu wollen und mich vor Schwierigkeiten zu bewahren. Warum auch sollte ich annehmen, dass er eine richtige Antipathie gegen Kida entwickelt hat? Wodurch soll sie denn entstanden sein? Weil er mich damals verlassen hat?

Fragen hätte ich ihn gekonnt, indem ich einfach in sein Zimmer getreten wäre und Antwort verlangt hätte. Jedoch befinde ich es als bessere Strategie, das Ganze nicht unnötig aufzubauschen, und so gehe ich gegen Mittag einfach an seinem Zimmer, aus dem leise Musik drang vorbei.

Wir treffen erst am frühen Abend wieder aufeinander, als Kevin und Matthew mich vor der Playstation vorfinden.

„Spielst du mit?“, deutet Kevin auf den Billardtisch.

„Drei ist doch eine ziemlich blöde Zahl“, lasse ich das Pad etwas sinken.

„Ich bin ein miserabler Spieler“, hebt Matthew einen der Queues aus ihrer Vorrichtung, gerade den, welchen ich immer zum Spielen benutze.

„Richtige Erfolge kann ich bis jetzt auch nicht verbuchen“, versuche ich noch immer rauszufinden, was ich hier genau versuche zu tun. Will ich nicht mit ihnen spielen oder hoffe ich nur, dass sie verstärkt darum bitten?

„Dann schaffen wir es vielleicht gemeinsam gegen ihn“, winkt mich Matthew leicht in seine Richtung.

„Davon träumt ihr aber auch nur“, lächelt ihn Kevin zu und baut die Kugeln auf.
 

Im Nachhinein kann ich nicht wirklich eine Bilanz vom Spiel ziehen. Ich fühlte mich fehlbesetzt, wie das berühmte fünfte Rad am Wagen. Sie berührten sich nicht einmal, küssten sich nicht, und trotzdem konnte man ihre neuerworbene Zugehörigkeit deutlich spüren.

Es war natürlich irgendwie schön zu sehen, wie es Matthew immer wieder schaffte, Kevin ein Schmunzeln auf das Gesicht zu zaubern, wie er es ohne viel Mühe verstand, problemlos mit ihm umzugehen. Und dsas er dies auch bei mir schaffte, dafür… ich weiß nicht… mochte ich ihn nicht? Ist dies das richtige Wort? Denn eigentlich verspüre ich schon den Drang, ihn mögen, ihn akzeptieren zu wollen und gleichzeitig ist da immer noch etwas, dass mich zur Vorsicht bittet. Etwas, das ihn nicht mögen will…
 

~ * ~
 

Am Dienstag geht es wieder hinaus aus der Stadt. Irgendwann in den folgenden vier Tagen kommt es dann doch noch zu der Aussprache, dass er kein Recht habe, sich in den Punkt Kida einzumischen. Es wäre genau so mein Haus und ich könne bei mir haben, wen immer ich wollte.

Bei mir haben, hört sich ein wenig hoch gegriffen an, erkläre ich ihm, und versuche herauszubekommen, warum er mir gerade jetzt so tolerant kommt. Hat er vielleicht bemerkt, wie ich mit mir selber um die Person Matthew ringe, und versucht er nun konstruktiv darauf vorzubeugen?

„Es ist nicht so, dass ich ihn nicht leidern kann. Es fällt mir nur ziemlich schwer, ihn einzuschätzen“, erkläre ich ihm mein Hindernis.

„Natürlich würde es praktisch sein, wenn wir alle gut miteinander auskommen würden“, geht er darauf ein. „Aber sollte dies halt aus irgendwelchen Gründen nicht funktionieren, dann… dann gibt es immer noch andere Möglichkeiten“, wendet er sich ab und kramt in seiner Tasche herum.

„Andere Möglichkeiten?“

„Ich könnte ausziehen!“

Darauf stehe ich erst einmal still. Mit der Größe meines Wortschatzes kann ich mich nicht einmal erklären. Als würde es nur noch tiefste Dunkelheit geben, die versucht, mich zu verschlingen. Niemals, und ich meine niemals hätte ich mit so einer Aussage gerechnet. Schon beinahe eine Warnung vor dem, was passieren könnte.

„Willst du das denn?“, bringe ich erst Minuten später hervor.

„Nein“, schaut er mich wieder an und ich erkenne auch bei ihm eine gewisse Unruhe im Auftreten. „Aber wenn es nicht anders geht…“

Ich will ihn daran erinnern, dass er mir versprochen hat, immer für mich da zu sein, mir vor Jahren zugesichert hat, immer bei mir zu bleiben. Doch diese Vorgehensweise wäre nur allzu kindisch und würde mich kein Stückchen weiterbringen. Dinge verändern sich, dies muss ich nun ängstlich feststellen. Habe ich keinen Einfluss mehr darauf, wie es zwischen uns stand? Hat er nun die Macht? Liegt es an mir oder liegt es an-

„Ist es wegen Kida? Er wird das Haus nicht mehr be-“

„Nein, es hat nichts mit ihm zu tun… nicht nur mit ihm.“

„Was dann? Ist es wegen Matthew, weil ich ihn nicht…“ Ich stocke, finde nicht einmal ein Wort für meine Einstellung zu ihm.

„Nein, das ist es schon gar nicht“, wiegt er wieder ab.

„Dann erklär es mir. Was ist los? Warum denkst du über so einen großen Schritt nach?“ Warum willst du mich verlassen, hätte ich beinahe noch hinten dran gehängt.

„Es gibt keine einzelnen Gründe dafür. Ich wollte nur diese Möglichkeit aufzählen.“

„Mehr nicht? Du denkst also nicht wirklich darüber nach?“, kommt ein wenig Ruhe in mir zurück.

„Nein“, schüttelt er den Kopf, und ich stehe ihm gegenüber und weiß nicht, was ich tun soll.

Soll ich ihn umarmen, weil ich froh bin zu hören, was er mir gesagt hat? Soll ich das Ganze runterspielen, damit er nicht merkt, wie schlecht ich mich bei dem Gedanken fühle? Ihm sagen, dass er mir nie wieder so einen Schrecken einjagen soll?

Doch wieder einmal verwehrt mir die Zeit die Entscheidung. Sein Handy klingelt und er teilt die ersten Worte eines bestimmt stundenlangen Gespräches. Eine Gewissheit, die mich plötzlich wütend werden lässt. Trichtert er ihm solch blöde Ideen ein? Ist er an dieser Veränderung schuld? Will ich ihn hassen, weil ich es glaube?

Ja! Doch darf ich dies nicht tun, nicht, wenn ich will, dass alles so bleibt, wie ich es gerne hätte.

Bin ich ihm doch in die Falle gegangen, sein erster Schritt an die Macht?
 

~ * ~
 

Am Donnerstagabend betreten wir wieder San Francisco-Boden. Ich setze Kevin bei Matthew ab.

„Soll ich vielleicht warten?“

„Nein, ich bleibe heute hier… Möchtest du vielleicht noch mit hoch kommen?“

„Heute nicht“, winke ich ab. Ich reiche ihm seine Tasche hinaus. „Bestell ihm schöne Grüße, ok?“

„Mach ich“, fällt die Wagentür ins Schloss.

Ohne mich noch einmal umzuschauen fahre ich davon. Auch wenn es mir nicht leicht fällt, so ist es wohl an der Zeit, umzudenken. Die kommenden Ereignisse einfach genau zu beobachten und erst einmal abwarten, habe ich mir vorgenommen. Wenn irgendetwas an der Person Matthew Dylan Curtis faul sein sollte, dann würde es Kevin früher oder später schon herausfinden.

Mich allerdings erwartet kein liebevoller Mensch in freudiger Erwartung. Mich erwartet ein mir fremder Anblick, eine mir fremde, männliche Person die meiner Freundin leicht über den Arm streicht und das mitten vor unserem Haus.

Als ich die letzten Meter hinter mich gebracht habe, ist der Typ im feinen Sakko aber schon in seinen Wagen gestiegen. Mir bleibt nur noch ein kurzer Blick auf sein, in ein Lächeln verzogenes Gesicht. Ich trete an die ihm zuwinkende Frau heran.

„Wer ist das?“, versuche ich mich noch einigermaßen zurückzuhalten.

„Francis, aus dem Büro. Ich habe dir von ihm erzählt“, nimmt sie mich in den Arm und küsst mich sanft auf dem Mund.

„Warum war er hier?“, erwidere ich den Kuss nur halbherzig.

„Sag mal, hörst du mir denn gar nicht zu, wenn ich über die Arbeit rede? Ich habe dir doch erzählt, dass wir zusammen an einem Fall arbeiten.“

„Kann sein“, zucke ich nur kurz mit den Schultern. Ehrlich gesagt, vergesse ich ziemlich schnell wieder, was von den Seiten einer Anwaltskanzlei auf mich einschlägt. „Aber müsst ihr das hier machen? Warum arbeitet ihr nicht im Büro?“

„Stört es dich etwa, wenn ich alleine mit attraktiven Männern zu Hause bin?“ Sie verzieht ihr Gesicht als wollte sie andeuten, mich bei irgendetwas erwischt zu haben, und da hat sie voll ins Schwarze getroffen. Eifersucht!

„Ja“, halte ich sie in ihrem plötzlichen Bewegungsdrang auf. „Ja, es stört mich gewaltig“, verharrt mein Blick an ihren dunklen Augen.

„Das war mir bis jetzt gar nicht bewusst“, lässt sie den Blickkontakt ebenfalls nicht abbrechen.

Meine Hand lockert sich um ihren Arm.

„Es tut mir leid“, lasse ich sie ganz los. „Ich kann es nun mal nicht ab, wenn so ein angewiderter Fatzke dich anfasst.“

„Er wollte mich nur aufbauen, weil wir im Moment so viel um die Ohren haben. Es war nur eine ganz harmlose Berührung, da war rein gar nichts Sexuelles ihm Spiel… außerdem, wer braucht schon einen angewiderten Fatzke, wenn er dich haben kann?“ Ihre Lippen nähern sich mir und berühren mich leidenschaftlich. Dieses Mal lasse ich mich darauf ein.

„Trotzdem, ich will nicht, dass du mit ihm alleine hier bist“, schaffe ich es nicht das Thema beiseitezulegen.

„Vertraust du mir nicht?“

„Ich vertraue ihm nicht.“
 

Als es schon dunkel um uns herum ist, kann ich das Gesicht dieses Typen immer noch nicht aus meinem Gedächtnis streichen. Ehrlich gesagt, hat es nicht eine einzige Minute lang von mir abgelassen.

„Wollen wir morgen mal wieder zusammen Mittagessen? Haben wir schon so lange nicht mehr.“

„Ich kann nicht, der Fall. Am Montag haben wir Vorverhandlungen und ich darf jetzt nicht schwächeln, auf dem Weg nach oben.“

„Aber du musst doch irgendwann etwas essen“, gleitet mein Finger über ihre Lippen.

„Ich werde mir zwischendurch etwas bringen lassen und im Büro essen.“

„Mit ihm?“

„Sakuya…“

„Ich könnte dir doch auch etwas vorbeibringen“, küsse ich sanft ihren Hals hinauf, in der Hoffnung, sie umstimmen zu können.

„Was du gerade tust, ist wirklich nicht hilfreich.“

„Na ja“, befreien ich ihre Haut von meinen Lippen und nehme eingeschnappt ein wenig Abstand. „Immer wenn ich mal Zeit habe, hast du keine“, versuche ich es nun auf die schmollende Art. Und ja, natürlich ist mir bewusst, dass ich dies nur tue, weil mich die Anwesenheit dieses Idioten an ihrer Seite stört.

„Diesen Vorwurf könnte ich auch an dich zurückgeben. Wer lässt mich denn tagelang allein?“

„Ok, hören wir auf“, möchte ich nicht in die vorgewiesene Richtung abgleiten. Eine Diskussion über meine vielen Auswärtsspiele steht nun gar nicht im Vordergrund meiner Wünsche. „Nicht mehr lange…“

„Bitte?“

„Nicht mehr lange“, ziehe ich sie wieder an mich. „Nur noch knapp drei Wochen, dann ist die Saison vorbei. Viel mehr Zeit nur für uns“, küsse ich sie.
 

~ * ~
 

Den Freitagmorgen verbringe ich mit Joggen, Brenda ein wenig auf die Finger schauen und mit der Hoffnung, dass Kevin nach Hause kommen würde, sobald Matthew zur Arbeit ist. Doch kein Anruf über einen Abholwunsch, kein Taxi, welches vor dem Tor hält, und so beschließe ich gegen Elf mich anderem zuzuwenden.

„Hallo, ich möchte gerne zu Kida Takahama.“

„Haben Sie einen Termin bei Mr. Takahama?“, möchte die überaus hübsche Angestellte von Toshiba von mir wissen.

„Nein, es ist eher ein persönliches Anliegen. Wir sind Freunde“, lächle ich und muss mich tierisch zusammenreißen, nicht auf ihren dargebotenen Ausschnitt zu starren.

„Dürfte ich Sie nach Ihrem Namen fragen?“

„Fragen Sie ruhig.“

„Ähm…“, schaut sie nun endlich von ihrem Computer auf. „Würden Sie mir bitte ihren Namen verraten?“

„Sakuya Michael Ryan.“

„Einen Moment bitte, Mr. Ryan“, wendet sie sich wieder ihren Programmen zu. „Ah, da haben wir Sie ja schon. Sie sind in unseren Besucherlisten bereits aufgeführt. Wenn ich Sie um eine ID bitten dürfte?“

Ich krame kurz in meiner Brieftasche herum und reiche ihr gewünschtes Objekt. „Was hat es denn mit diesen Besucherlisten auf sich?“, hake ich nach.

„Jeder Angestellte hat eigene Besucherlisten. Er kann vorab also anmelden, welche Personen oder Firmenzugehörige ohne ein gesondertes Nachfragen zu ihm durchgelassen werden dürfen. Da Sie sich mir nun ausgewiesen haben kann ich Sie ohne oben nachzufragen durch lassen.“ Sie reicht mir meine ID zurück. „Wenn Sie sich noch unserem digitalen Service hinzufügen lassen“, deutet sie auch eine kleine Digitalkamera, „brauchen Sie sich bei Ihrem nächsten Besuch in unserem Hause auch nicht mehr auszuweisen.“

„Mach ich doch glatt.“ Ich nehme vor dem kleinen Gerät Aufstellung und lasse mich ins System aufnehmen.

„Vielen Dank für Ihre Kooperation. Mr. Takahama finden Sie in der 9. Etage, Zimmer 13“

„Danke.“
 

Bis zu meinem eigentlich Ziel treffe ich auf gut zwanzig Mitarbeiter von denen mich gut ein Drittel zu erkennen scheint, oder sie fragen sich mit vorgehaltener Hand einfach nur wer ich bin. Ich tippe auf ersteres.

Die Bürotür wird mir von einem Schwarzen geöffnet, der daraufhin in eine Starre zu verfallen scheint.

„Hallo, ich bin auf der Suche nach Kida Takahama. Ist dies sein Büro?“

„Steht… steht wenigstens auf diesem Schild da“, stottert mir der Mann entgegen. „Ich bin übrigens Timothy Clarks, mein Name steht auch hier auf dem Schild.“ Ich muss mir ein Lachen verkneifen, während neben ihm die Tür etwas weiter geöffnet wird und Kida mir gegenüber steht.

„Hallo“, scheint auch er ein wenig über meinen Auftritt verwundert. „Was tust du denn hier?“

„Ich war gerade in der Gegend und dachte wir könnten zusammen Mittagessen.“

„Noch ein bisschen früh“, schweift sein Blick ab. „Aber komm doch erst einmal rein.“

Ich will mich an Clarks vorbeidrängen doch dieser weicht plötzlich mit einem Sprung zurück. „Ja, ja… kommen Sie rein“, weist er mir den Weg zu einem leeren Stuhl. „Setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken, essen oder sonst etwas haben?“

„Nein, vielen Dank“, winke ich freundlich ab.

„Du musst ihn entschuldigen, er ist anscheinend ein Fan.“

„Schon ok“, setze ich mich auf den angebotenen Stuhl.

„Sag mal Timothy, hast du nicht irgendwo einen Baseball parat? Mr. Ryan könnte ihn dir signieren.“

„Einen Baseball? Baseball“, nervös wird sich im Büro umgeschaut. „Nein… aber halt, im Auto ist einer. Ich komme gleich wieder“, werde ich vorsichtig am Arm berührt.

„Ich warte solange“, vergewissere ich ihn, woraufhin er sich seine Autoschlüssel schnappt und aus dem Büro hetzt.

„Noch einmal sorry.“

„Ach quatsch, er ist nicht der erste Fan, der so reagiert… Also, Zeit zum Essengehen?“

„Wie könnte ich nein sagen, wenn so eine Berühmtheit mein kleines Reich betritt?“

„Gibt es hier was Gutes in der Nähe? Wo gehst du sonst immer hin?“, schaue ich mich neugierig um. „Sag mal, was macht ihr hier eigentlich?“, bleibe ich an Kritzeleien auf einem großen Board hängen.

„Wir erweitern gerade ein neues Programm zur Analyse chemischer Daten und auf deine eigentliche Frage zurückzukommen: Meistens gehe ich einfach in die Kantine der Firma. Aber es gibt zwei Straßen weiter ein kleines Restaurant. Keine Ahnung, was sie da genau anbieten.“

„Dann ist es wohl an der Zeit dies rauszufinden.“

Fast im gleichen Moment wird die Tür aufgerissen. Das nach Luft ringende Männchen kommt zum Stehen und streckt mir einen Ball entgegen. „Hier, bitteschön.“

„Soll ich etwas Besonderes drauf schreiben?“

„Vielleicht…“, große Augen blicken mich an. „…für meinen guten Freund Timothy?“

„Kein Problem, doch einen Stift bräuchte ich dazu schon“, lächle ich.

Kida reicht ihm und er reicht mir den Stift. Ich unterzeichne den Ball mit dem gewünschten Text und reiche ihn zurück.

„Vielen Dank.“

„Kein Problem.“

Ein wenig gelangweilt setze ich meinen Rundblick fort. Ich bin kein Bürohengst, kleine Zimmer machen mich irgendwie nervös. Sollte ich nachfragen, ob wir nun endlich gehen können? Mein Blick bleibt auf Kida liegen, der etwas auf die Tastatur tippelt. Sein Jackett hängt über einen Haken an der Wand. Dunkle Hose, weißes Hemd und die Krawatte ein wenig gelockert um den Hals gelegt. In meiner Phantasie hatte ich ihn mir nie so vorgestellt, eher… als einen schweißtriefenden Straßenarbeiter ode-

„Alles in Ordnung?“

„Ja, ja“, wird mir mein tief sitzender Blick bewusst. „Das ist wirklich eine sehr schöne Krawatte“, lenke ich ab.

„Ich habe ihm eine ähnlich geschenkt“, kommt es schräg hinter mir. „Diese Woche ist wohl ein Traum für ihn in Erfüllung gegangen. Jeder auf der Etage hat ihm eine zum Geburtstag geschenkt. Wie kommt man nur auf die Idee Krawatten zu sammeln?“

Geburtstag?

„Nicht wirklich die Krawatten, eher die Krawattennadeln“, versuche ich gleichzeitig zuzuhören und mir wieder ins Gedächtnis zu rufen, an welchem Tag er noch einmal Geburtstag hatte. Warum will es mir bloß nicht einfallen?
 

Eine Viertelstunde später blättern wir die Speisekarte von Houlihan’s durch, einem kleinen Restaurant mit typischen amerikanischen Speisen.

„Was hat dich denn in diese Ecke getrieben?“

„Was meinst du?“

„Du sagtest, du wärst in der Nähe gewesen.“

„Ach so“, lege ich die Speisekarte beiseite. „Das habe ich nur einfach so daher gesagt. In Wahrheit wusste ich gerade nichts mit mir anzufangen und da dachte ich, ich schau mal vorbei.“

„Ach so…“

„Stört es dich?“, frage ich, versuche aber nicht direkt etwas in seine Reaktion zu interpretieren.

„Nein… nein, nein, nein, so war das nicht gemeint.“

Kurz werden wir von der Bedienung unterbrochen.

„Sag mal, hat es dir eigentlich letzten Sonntag bei uns gefallen?“

„Ja, viel besser als ich zuvor gedacht habe. Na ja… ich war zuvor ein wenig in Sorge wegen Charize und so… aber sie scheint wirklich klasse zu sein.“

„Das ist sie“, pflichte ich ihm bei und sofort muss ich wieder daran denken, dass dies auch andere, nicht schwule Männern vielleicht so finden können.

Das bestellte Essen kommt und so verfallen wir für eine Zeit erst einmal ins Schweigen. Und mir will immer noch nicht der Tag einfallen, an dem er Geburtstag hat. Ich kann mich noch gut an den einzigen Geburtstag von ihm, welchen wir zusammen erlebt haben, erinnern. Er war eine Katastrophe… na ja irgendwie auf jeden Fall: Das plötzliche Erfahren von seinem Geburtstag, während alle anderen es wussten. Die drückende Stimmung bei Tatsuya zu Hause, das Auftauchen von Sai und danach dieses blöde Streitgespräch darüber, wer es schon einmal getan hat, was damit endete, dass wir einen Termin für unser erstes Mal festlegten.

Ich komm nicht herum, in anzusehen, die Erinnerung daran ist schon ein wenig gewöhnungsbedürftig. Ich hätte nicht einmal für möglich gehalten, dass ich mich überhaupt noch so gut an diesen Tag erinnern würde… aber, welches Datum war es nur? Wie es Sai und den anderen wohl geht?

„Wir haben am Sonntag wieder Heimspiel, vielleicht kommst du ja mal vorbei und schaust dir ein Spiel an?“, versuche ich mich von der Vergangenheit abzuwenden.

„Baseball ist immer noch nicht so ganz mein Ding… aber, mal sehen.“

„Die Saison ist bald vorbei, nur noch ein paar Wochen“, kratze ich mit der Gabel leicht über den Teller hinweg. „Viele Gelegenheiten hast du also nicht mehr.“

„Wenn du es so sagst, vielleicht sollte ich mir wirklich mal ein Spiel ansehen.“

„Das solltest du, ich bin richtig gut geworden.“

„Davon gehe ich doch mal aus“, grinst er mich an.

Nach kleiner Diskussion lasse ich ihn für das Mittagessen bezahlen und Minuten später stehen wir wieder vor dem Toshiba Gebäude. Ich kämpfe immer noch mit der Überlegung ihm nachträglich zum Geburtstag zu gratulieren, doch verwehrt mir ein anderer Gedanke, jetzt, da wir wieder einmal vor dem Abschied stehen, die Sicht.

„Warum meldest du dich eigentlich nie bei mir?“, rutscht es plötzlich heraus.

„Ich wo-“

„Nein nein, schon gut“, unterbreche ich ihn auch schon wieder. „Das ist schon in Ordnung. Ich habe echt keine Ahnung, wo das auf einmal herkam.“

Ich grinse verlegen, denn ich weiß wirklich nicht, wie dieser Gedanke auf einmal entstanden ist. Fakt ist natürlich, dass er diese Freundschaft so unbedingt wollte, aber ich es bin, der sich immer bei ihm melden muss. Bis jetzt ist nicht ein einziges Mal von ihm aus etwas gekommen. Aber ist es wirklich das, oder hängt es doch viel mehr damit zusammen, dass ich eine andere Bezugsperson langsam verliere und ich mich nun verbissen nach Ersatz sehne? Jemanden brauche, der fragt, wie es mir geht, was ich so tue, wo ich bin und was ich heute noch vorhabe zu tun…

„Das mag zum ersten dara-“

„Nein, wirklich nicht“, unterbreche ich ihn erneut. „Du musst dich da echt nicht rechtfertigen.“

„Trotzdem würde ich gerne darauf antworten, wenn ich dürfte.“

„Na gut.“

„Also erstens denke ich mir, dass du ziemlich viel zu tun hast und ich dir nicht irgendwie zur Last fallen möchte, und zweitens hast du es bis jetzt irgendwie vermieden, mir deine Handynummer zu geben.“

„Wirklich?“, schaue ich verdutzt rein. „Bist du dir da sicher?“

„Ja, ganz sicher.“

„Warum hast du denn nicht schon vorher was gesagt?“

Ein leichtes Schulterzucken und sofort hole ich das Versäumnis nach, indem ich meine Nummer in sein Handy speichere.

„Ach… wenn du mal vorbei schauen möchtest“, ich reichte ihm zwei Karten. „Sie sind noch bis Ende der Saison gültig. Du kannst ja Timothy mit zum Spiel nehmen, wenn du nicht allein gehen möchtest.“ Ich winke zum Abschied.

Fast an meinem Auto angekommen, fällt es mir endlich wieder ein. Es war ein Sonntag, der 25. September und an diesem Tag war ich so wütend auf ihn gewesen.
 

Nur Minuten später parke ich vor dem ersten Herrenausstatter auf meinem Weg.

„Hallo“, betrete ich den Laden.

„Kann ich Ihnen behilflich sein“, steht mir nach meiner etwas lauten Bekanntgabe meines Eintritts auch schon ein Verkäufer im feinen Anzug gegenüber.

„Ich suche eine Krawattennadel. Können Sie damit dienen?“

„Aber gewiss doch, der Herr. Bitte mir zu folgen.“

Also folge ich Mr. Pinguin in einen hinteren Teil des Ladens in dem Unmengen an Krawatten die Wand zieren. Wir bleiben vor mehreren Glasvitrinen mit Krawattennadeln, Manschettenknöpfen, Ketten für Taschenuhren und einer Vielzahl Accessoir die ich noch nie zuvor im Leben gesehen habe stehen. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Auslage und deute auf eine Krawattennadel in der rechten, oberen Ecke.

„Ein ausgezeichneter Geschmack. Der Preist beträgt inklusive Steuern 27.456 Dollar.“

„Wollen Sie mich verarschen?“, gebe ich meine Verwunderung preis.

„Gewiss nicht, der Herr.“

„Er würde mich umbringen, wenn ich so viel Geld ausgeben würde. Haben Sie nicht etwas Billigeres?“

Pinguin geht in die Hocke und zieht die letzte Schublade aus der Vorrichte. „Hier haben wir unsere nicht ganz so exquisiten Stücke“, hält er mir ca. ein Dutzend Teile auf einen samtigen Untergrund unter die Nase.

„Preis?“, fackle ich nicht lange drum herum.

„Zwischen 1.000 und 4.500 Dollar. Wenn Sie es noch günstiger wünschen, müssen Sie sich wohl in eines der bekannten Kaufhäuser begeben.“

„Ich nehme diese da“, versuche ich die sarkastisch formulierte Andeutung mal einfach zu überhören.

„Eine ausgezeichnete Wahl. Darf es sonst noch etwas sein?“

„Eine Krawatte… weiches Material, perfekt anliegend, matte, dunkle Farbe.“

Kurz darauf entscheide ich mich zwischen fünf ausgewählten Mustern.

„Die nehme ich direkt zwei Mal.“

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Packen Sie bitte eine der Krawatten und die Nadel zusammen in so ein kleines Schächtelchen.“

„Sehr wohl, sollen wir es als Geschenk verpacken?“

„Nein, danke.“
 

Beim erneuten Anklopfen an die Bürotür kommt mir dieses Mal nur ein dumpfes „Ja!“ entgegen. Ich öffne und gehe hinein. Es dauert einige Sekunden bis Kida realisiert, dass ich und nicht irgendein Mitarbeiter das Büro betreten habe.

„Hast du was vergessen?“, Kommt er verblüfft von seinem Schreibtisch hervor.

„Nein“, schreite ich mit festen Schritten auf ihn zu. Ich liebe es Leute zu überraschen, dieser verdutzter Ausdruck auf ihren Gesichtern. Ich greife nach seiner Hand. „Alles Gute zum Geburtstag“, drücke ich ihm das Mitbringsel hinein. „Auch wenn ich Idiot es total vergessen habe und es nun ein wenig spät dafür ist… Herzlichen Glückwunsch“, lasse ich seine Hand wieder los und trete einen winzigen Schritt zurück.

Sagte ich schon einmal, dass ich es liebe andere zu überraschen?
 

Part 69 - Ende
 

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Part 70

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Kida (by Stiffy)
 

Als ich an diesem Morgen die Augen aufmache, würde ich sie am liebsten direkt wieder schließen. Ich drehe mich im Bett herum und stelle den Wecker ab… dann starre ich ihn an. Ich sehe, wie die Zahlen weiter springen. Darunter steht eine kleine, etwas andere Zahl.

25.09.

Ich seufze und drehe mich auf den Rücken.

Ich habe Geburtstag… und ehrlich gesagt habe ich noch immer nicht gelernt, wie man so etwas richtig feiert. Zwar hatte ich in den letzten Jahren immer jemanden, der mit mir, für mich feiern wollte, doch ich war es nicht gewohnt, hatte ich doch nach dem Tod meines Vaters diesen Tag nie wieder feiern wollen…

Meine Mutter hatte dies natürlich akzeptiert, Sanae ebenso… aber ich erinnere mich noch daran, dass es in dem Jahr, als ich 17 wurde, einen riesigen Streit mit Sakuya auslöste. Natürlich, ich hätte es ihm wenigstens sagen können.

Ich reibe mir die Augen und setze mich im Bett auf. An jenen Tag denken tue ich ungern… und dennoch fällt es schwer, nun, da er wieder in meiner Nähe ist.

Ich stehe auf und gehe ins Bad. Ich mache mich fertig und lasse mich von dem lustlosen Gesicht im Spiegel ansehen. Meine Kollegen wissen es… so leicht werde ich also wahrscheinlich nicht darum herumkommen.

Wieder im Schlafzimmer zurück, ziehe ich mich an… und in meinem Kopf will die Erinnerung daran nicht verschwinden, wie zu meinem 18. Geburtstag Tatsuya eine Party schmeißen wollte. Es war zum Aufmuntern gedacht, um mich auf andere Gedanken zu bringen, damit ich nicht immer noch jede Sekunde über die Trennung nachdachte… geklappt hat dies nicht, da ich immer ein Jahr zurückdenken musste, als ich mir noch vorgestellt hatte, im nächsten Jahr mit Sakuya feiern zu können.

In den darauffolgenden Jahren war immer jemand an meiner Seite, der versuchte, mir klarzumachen, dass der Geburtstag ein schöner Tag ist. Einmal war es Rie… und zwei Jahre später Yamada, mit dem ich ein paar Tage zuvor zusammengezogen war. Von ihm bekam ich damals, nachträglich zu meinem Einstand bei Toshiba, wie er sagte, mein erstes Krawattennadel- und Manschettenknopfset geschenkt.

Ich lächle mit der Erinnerung an diesen Tag, habe für einen Moment sogar das Bedürfnis, genau dieses Set heute zu tragen, doch dann entscheide ich mich schnell dagegen. Ich habe heute wirklich keine Lust auf diese nostalgische Stimmung in mir drin.

Mit meiner Tasche schon auf dem Weg zur Tür fällt mir das Geschenk Rachels ein, das seit Samstag seinen Platz nicht gewechselt hat. Ich stelle die Tasche ab, bücke mich danach und ziehe das kleine Päckchen hervor.
 

Als ich knapp eine halbe Stunde später im Aufzug stehe und meine neue, dunkelrote Krawatte mit der silbernen Nadel noch mal in der Spiegelwand richte, habe ich das mulmige Gefühl, dass ich lieber in die entgegengesetzte Richtung fahren würde. Kann ich diesen Tag nicht einfach überspringen? Ich habe keine Lust auf Dauergrinsen…

Als ich aus dem Aufzug heraustrete, herrscht nahezu Stille… was ungewöhnlich ist, zu ungewöhnlich.

Ich habe mich mal gefragt, was der Sinn von Überraschungspartys ist. Man bringt doch meistens nur jemanden dazu, so zu tun, als wäre er so was von überrascht und habe damit überhaupt nicht gerechnet… meistens befindet sich derjenige also einfach nur in einer unglaublich unangenehmen Situation.

Naja, und ich zumindest bin mir ziemlich sicher, was passieren wird, wenn ich die Tür mit der Nummer 13 erst einmal öffne, immerhin habe ich es in dieser kurzen Zeit, die ich nun schon hier bin, selbst fünf Mal mitmachen müssen.

Das, was ich sehe, lässt mich in dem Moment, als ich es sehe, dennoch die Augen aufreißen. Tatsächlich überrascht, wenn auch nicht durch das aufbrausende „Happy Birthday!“.

Ich bleibe stehen, angewurzelt, wie man es von mir erwartet… doch ansonsten keine Ahnung, was nun wirklich von mir erwartet wird. Stattdessen starre ich einfach nur das rote Band an, welches durchs Zimmer gespannt ist, und an dem eine Krawatte neben der anderen hängt. Im nächsten Augenblick kann ich nicht anders, als schallend zu lachen.

Ob ich zugeben kann, dass mich dieser Moment tatsächlich auf peinliche Weise berührt?
 

„So, nun aber mal richtig!“, kommt Timothy zu mir, als sich eine Weile später die anderen siebzehn Mitarbeiter unserer Etage wieder aus unserem kleinen Büro herausgequetscht haben. „Herzlichen Glückwunsch!“

Er streckt mir die Hand hin und als ich sie ergreife, zieht er mich in eine kurze Umarmung.

„Danke“, lächle ich verkniffen, als er wieder zurücktritt. Unangenehm, ihm weiter ins Gesicht zu sehen, deute ich nach oben. „Und welche ist von dir?“

„Natürlich die Tollste von allen!“, zwinkert er und zieht dann leicht an einem dunkelblauen Stück, welches mit weißen und grünen Fäden durchzogen ist. Außerdem klemmt an ihr eine schöne, silberne Nadel, die ich am liebsten sofort aus der Nähe begutachten würde.

„Sie ist wirklich schön. Danke“, lächle ich. „Hilfst du mir, das abzumachen?“

„Du hast keine Lust, dich heute die ganze Zeit unter denen hindurchzuducken?“, geht er zur Wand mir gegenüber.

„Weniger.“

Gemeinsam nehmen wir das Band ab und sammeln davon die achtzehn Krawatten ab. An sechs weiteren findet sich eine Krawattennadel.

„Ihr seid verrückt“, schüttle ich den Kopf.

„Ich glaube, die meisten waren eher froh, zu wissen, was man dir schenken kann…“, reicht Timothy mir die verschiedenen Stücke.

Vorsichtig beginne ich, sie zusammenzurollen.

„So unüblich sind Krawatten doch gar nicht…“

„Nein… aber kaum einer freut sich, wenn er so viele auf einmal bekommt…“

„Da hast du wohl recht.“

Ich lasse mich auf meinen Stuhl sinken, betrachte die achtzehn zusammengerollten Krawatten… und anschließend die sieben Nadeln, welche ich abgenommen habe. Eine davon nehme ich zwischen meine Finger, drehe sie.

„Wie bist du darauf gekommen, Krawatten zu sammeln?“

„Durch meinen Ex… Nachdem ich das erste Set von-“

Ich zucke unter meinen eigenen Worten zusammen. Mein Kopf fährt in die Höhe, mir ist heiß und kalt. Timothy jedoch sieht mich einfach nur fragend an. Ich wende meinen Blick wieder ab, greife nach einer anderen Nadel, mir erst jetzt bewusst, dass ich in Englisch tatsächlich noch nichts gesagte habe, was das Geschlecht verraten hätte. In Japanisch wäre mir das wohl viel schneller passiert…

„Sie hat mir damals ein Set aus Nadel und Manschettenknöpfen geschenkt…“, fahre ich hastig fort, „und irgendwie hat mir das gefallen. Naja, wie man halt anfängt, so etwas zu mögen…“ Ich zucke die Schultern und sehe vorsichtig wieder hoch.

Timothy grinst. „Weiß man dann eigentlich noch, welche man täglich anziehen soll?“

„Schwierig…

„Vor allem, da man ja seine Lieblingsstücke hat, stimmt’s?“

„Genau.“

„Und weißt du noch, von wem du sie alle hast?“

„Eigentlich schon. Wobei…“ Ich hebe eine der Krawatten vom Tisch, sie entrollt sich. „Hier wird es nun schon etwas schwierig. Kannst du mir verraten, von wem welche ist?“
 

„Und? Was machst du jetzt heute Abend?“, fragt Shawn sofort, als wir wenig später den Sitzungsraum betreten.

„Wie schon gesagt“, lasse ich mich neben Yosuke nieder, „es ist nichts geplant.“

„Gar nichts?“

„Gar nichts.“

„Langweilig! Das müssen wir ändern!“

„Das find ich auch!“, stimmt Yosuke ein und klopft mir auf die Schulter. „Ich denke, du solltest uns heute Abend einen ausgeben…“

„Sollte ich das?“, grinse ich.

„Klar!“, nickt Shawn. „Und am besten gehen wir in ne Nacktbar und anschließend hast du-“

„Wow!“, hebe ich fast augenblicklich die Hände. „Stoppt mal!“

Panik kommt in mir auf.

„Was? Du bist doch jetzt Single, oder?“, grinst Yosuke.

„Was hat das damit zu tun?“ Shawn verzieht das Gesicht.

„Von dir und deinen Vorstellungen reden mir hier nicht, sondern von seinen!“ Yosuke winkt ab. „Also Mann, was ist?“

„Ich weiß nicht…“

Ich suche nach Worten, doch ich kann keine finden. Hilflos sehe ich mich um, obwohl ich doch weiß, dass hier niemand ist, der mir helfen kann. Natürlich, auch ich weiß, wann eine Frau hübsch ist… auch ich kann einen nackten Frauenkörper schön finden… aber das war es dann auch schon. Nur wie erkläre ich drei vollkommen normalen Männern, dass mich ein derartiger Barbesuch rein gar nicht anmachen würde?

Für den Moment rettet mich das Klingeln des Telefons. Shawn nimmt den Anruf entgegen und ich nutze die Gelegenheit, um aufzustehen und zum Schrank, in dem im Moment ein Großteil unserer Projektunterlagen gelagert sind, hinüberzugehen. In meinem Kopf dreht sich alles um die Frage, was ich machen soll, wenn das Thema erneut aufkommt.
 

Bis zur Mittagspause ist dies nicht der Fall. Zu meiner großen Erleichterung geht es nur um Problemlösungen. Während Timothy und ich die Ergebnisse auf das Computerprogramm übertragen und dabei immer wieder auf kleine Hürden stoßen, versuchen Shawn und Yosuke sich an dem nächsten Projektschritt. Ich bin froh, dass das alles ist, über das wir reden…

Es ändert sich aber doch, als wir uns schließlich mit unseren Tellern in der Kantine gegenübersitzen.

„Und?“, grinst Shawn. „Steht der Plan?“

Ich verschlucke mich, huste… und versuche diese Sekunden zur Ideefindung zu nutzen. Fehlanzeige.

„Hab darüber nachgedacht…“, gebe ich zu, auch wenn mir immer noch kein heterosexueller Grund einfällt, der meine Einwände erklären könnte.

„Wo liegt das Problem?“ Er schlingt den Arm um meine Schulter. „Oder ist es dir etwa unangenehm, mit uns da hinzugehen?“

Ich zucke die Schultern… nicke dann zögernd.

„Warum denn?“

Ich zucke erneut die Schultern, versuchend, mich in diese Rolle zu begeben. Irgendwie bin ich mir sicher, dass zumindest Timothy sie mir nicht abkauft, da er mich nachdenklich mustert.

„Hast du damit gar kein Problem?“, frage ich ihn schließlich.

„Wegen Liza meinst du? Sie hat damit kein Problem… immerhin esse ich ja zuhause.“ Er zwinkert mir zu und ich verspüre das Bedürfnis, mir Liza zur Brust zu nehmen. Kann sie denn nicht bitten die typische, eifersüchtige Ehefrau spielen?

„Ach komm schon, lass dich nicht überreden. Du wirst sehen, du wirst es lieben!“, versucht Shawn es weiter.

„Werd ich das?“, verziehe ich das Gesicht, mir langsam im Klaren darüber, dass ich keinen Ausweg finde. „Irgendwie bezweifle ich das…“, nuschle ich so leise, dass nur ich es hören kann, und vielleicht die Gabel, die ich zu den Lippen führe. Dann lächle ich die Jungs an und schaffe es irgendwie, tatsächlich ein blödes, zustimmendes Grinsen hinzubekommen.

Alptraum… ich komme!
 

Nach dem Mittagessen begeben Timothy und ich uns erstmal in unser Büro zurück. Timothy scheint die Sache ansprechen zu wollen, doch ich blocke schnell ab. Ich werde auch ihm keinen vernünftigen Grund nennen können, also brauch ich es gar nicht erst versuchen…

Ich begebe mich an die Beantwortung von eMails. Unter den Kundenmails finden sich auch eine Mail von Eiji und eine von Naoki. Knapp und doch so ausführlich, wie es die Zeit zulässt, beantworte ich ihre Glückwünsche, beantworte die Fragen und stelle meinerseits welche. Eigentlich ist es schade, dass der Kontakt mit den beiden auf ein Minimum eingefroren ist… aber was habe ich auch anderes erwartet?

Anschließend suche ich ein paar Informationen aus dem Netz heraus… und werde bei den Sportnachrichten, welche ich letzte Woche auf meiner Google-Startseite hinzugefügt habe, auf das morgige Auswärtsspiel der Giants hingewiesen. Ich gebe schnell meinen Suchbegriff ein und versuche, diesen Punkt zu ignorieren. Ich habe es immerhin auch die letzten Stunden erfolgreich geschafft, den Gedanken daran zu verdrängen, dass Sakuya mit Sicherheit nicht an meinen Geburtstag denken wird. Ich kann es ihm ja noch nicht mal übel nehmen… und dennoch will ich darüber gar nicht erst nachdenken.
 

Der Abend kommt viel zu schnell… und anders als erhofft, machen meine drei Kollegen auch schon um halb Sieben Schluss. Dabei hätten wir doch noch so viel zu tun…

Hilflos spreche ich dies nicht aus, sondern finde mich mit meinem Schicksal ab. Zu dem gehört auch dazu, dass ich nach Hause fahre, Timothy mir hinterher fährt und wir uns bei der Bar wieder mit Shawn und Yosuke treffen. All meine Gegenwehr hilft dabei nichts, sind sie sich doch einig, dass zu einem solchen Männerabend auf jeden Fall auch Alkohol gehört.

„Was ist los?“, fragt Timothy als wir zusammen in seinem Auto sitzen.

„Nichts Wirkliches…“, habe ich schon damit gerechnet, dass er nicht lockerlassen wird.

„Ach komm, irgendwas stimmt mit dir nicht…“

„Ich… steh nur nicht so auf Nacktbars“, gestehe ich.

„Ich war auch nur zwei Mal während meiner Collegezeit… aber verrat es ihnen nicht, die beiden sind in dem Punkt etwas verrückt.“

„Ja, das hab ich auch schon gemerkt…“, erwidere ich Timothys Grinsen.

„Ach, einfach Augen zu und durch… und sonst haust du halt schnell wieder ab. Die beiden merken das nach ein paar Bier eh nicht mehr. Die haben nur Augen für die Frauen.“

„Aber Yosuke hat doch auch ne Freundin, oder?“

„Ja. Und rate mal, wo er sie kennengelernt hat…“, kommt es vielsagend.

„Nicht dein Ernst?!“

„Doch, vor vier Jahren. Sie hat dann aber aufgehört, da sie schwanger wurde.“

„Stimmt ja, Yosuke ist Vater!“, erinnere ich mich an das Bild, das ich vor einiger Zeit mal gesehen habe.

„Jup… und ein ziemlich fürsorglicher. Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber eigentlich ist er gar nicht so ein Draufgänger, wie er immer tut. Seit Cora geboren wurde, hat er sich sehr verändert. Nur Shawn merkt das nicht… und Yosuke bleibt als sein bester Freund halt in dieser Rolle…“

Mit großen Augen sehe ich Timothy an.

„Nein, das glaub ich dir wirklich nicht.“

„Dacht ich’s mir.“ Er grinst. „Sprich ihn auch besser nicht darauf an. Jeder hat sein kleines Geheimnis…“

Es lässt mich lachen. Ich sehe wieder aus dem Fenster auf die Straße.

„Ja, das stimmt…“
 

Vor der Bar angekommen, verspüre ich den Instinkt zum Flüchten… noch mehr, als Shawn mir ein Bündel Scheine in die Hand drückt, und als wir durch die Tür getreten sind, könnte ich mich selbst verfluchen.

Wie konnte ich mich darauf nur einlassen?

Ich folge den anderen hinterher zu einem der Tische, von dem eine Stange zur Decke ragt. Natürlich interessiert die zwei Männer, die bereits an dem Tisch sitzen, weniger die Stange als die Frau, welche daran gerade hinunter sinkt.

Shawn und Yosuke lassen sich sofort direkt am Tisch nieder, Timothy ein Stück dahinter, ich neben ihm.

Ich sehe zu der mehr als nur knapp bekleideten Tänzerin hinauf und weiß nicht so recht, weshalb es mir unangenehm ist, ihr zuzusehen. Wie kann sie sich nur so präsentieren?

Vor mir höre ich Shawn und Yosuke lachen und sie anfeuern, neben mir sehe ich Timothy, der verstohlen aber sicher nicht so abgeneigt wie ich, der Dame zusieht.

Ich stehe auf.

„Ich… hol uns was zu trinken“, erkläre ich, frage alle, was sie wollen und verschwinde so schnell es geht.

Auf dem Weg zum Tresen komme ich an zwei weiteren solchen Tischen vorbei… und sogar auf dem Tresen selbst steht eine Tänzerin und flirtet gerade mit einem der Gäste. Ich lasse mich auf einen Hocker ein ganzes Stück von ihr entfernt nieder und warte darauf, dass einer der beiden Barkeeper bei mir ankommt.

„Vier Bier“, bestelle ich.

„Kommt sofort!“ Er dreht sich weg und geht zur Zapfanlage.

Ich sehe ihm nach. Er trägt ein enges, graues Shirt, dazu eine passende Jeans. Er sieht gut aus…

Sein Blick trifft mich und er sieht, dass ich ihn anblicke. Wir beide lächeln und ich merke, wie ich rot werde. Schnell sehe ich weg, sehe fast demonstrativ zu der Frau auf dem Tresen.

„Bitte!“, werden mir vier Gläser vor die Nase gestellt.

„Danke“, drehe ich meinen Blick nun wieder. Grüne Augen strahlen mich an, mein Magen dreht sich.

Ich halte ihm einen Schein hin, nennen einen passenden Betrag und lasse mir das Wechselgeld zurückgeben… dann bleibe ich stehen.

„Willst du noch etwas?“, fragt er verdutzt, als ich ihn weiterhin ansehe.

Ich schüttle den Kopf, bedanke mich erneut und mache mich dann mit der Bestellung auf den Weg zurück.
 

In der nächsten Stunde gehe ich diesen Weg zwei weitere Male. Es ermöglicht mir eine minimale Flucht, selbst wenn es nur ein paar Sekunden sind. Am liebsten würde ich verschwinden, aber meine Uhr sagt mir, dass es noch viel zu früh dafür ist. Ich habe keine Lust mehr, den Frauen Dollarnoten zuzustecken und dabei anzügliche Bemerkungen und Blicke loszuwerden.

Zum schließlich vierten Mal am Tresen angekommen, stütze ich meinen Kopf in die Hände. Ich sehe den Barkeeper an und warte, bis er bei mir ist. Das freundliche Lächeln kann ich nur schwer erwidern.

„Was darf es sein?“

„Noch Mal das Selbe… äh, ich meine-“

„Einen Rumcola, ein Bier und zwei Jim Beam“, vollendet er meinen Satz zu meiner Verwunderung.

„Genau“, schaffe ich nun doch ein Lächeln.

Er nickt und dreht sich weg, ich sehe ihn an.

„Und? Gefällt es dir?“, fragt er, als meine Bestellung vor mir auf dem Tisch steht.

Ich lasse ein trockenes Lachen hören.

„Am liebsten würde ich einfach nach Hause gehen“, gebe ich zu, was ihn dazu veranlasst, mir wieder einen Schritt näher zu kommen.

„Wie kommt’s?“

„Ich hab Geburtstag… und meine Kollegen hatte diese Idee… also bin ich hier und sitze meine Stunden ab…“ Ich reibe mir die Augen.

„Gefallen dir die Tänzerinnen nicht?“, lehnt er sich mir etwas entgegen.

„Sie sind hübsch. Aber ansonsten…“

Ich zucke die Schultern, sehe kurz weg… und als ich wieder zurücksehe, erkenne ich das ziemlich breite Grinsen… und den intensiven Blick.

„Ich bin Ashlee“, lehnt er sich noch etwas weiter zu mir vor.

„Freut mich“, starre ich in die grünen Augen. „Ich bin Kida.“

„Interessanter Name.“

„Ebenfalls“, lächle ich ihn an.

„Danke.“ Er grinst. „Meine Mutter hat sich gewünscht, das ich ein Mädchen werd’… Bist wohl das erste Mal hier, hab dich hier noch nie gesehen.“

„Ja… und auch das letzte Mal“, verziehe ich das Gesicht.

„So schlimm?“

„Was heißt schlimm. Einfach nur nicht mein Ding…“, zucke ich die Schultern und versinke noch etwas weiter in den tiefen Augen.

„Verstehe… Und du hast also Geburtstag?“

„Ja. Hab ihn mir anders vorgestellt…“

„Wie denn?“

„Ich weiß nicht. Irgendwie anders halt…“

„Du solltest-“, setzt er an.

„Hey, wo bleibst du denn!“

Mir wird ein Arm um die Schultern geschlungen und sofort fahre ich herum. Shawn steht vor mir… und mein Herz bleibt stehen.

„Ich… äh…“

„Die Bestellung hat ein wenig gedauert, meine Schuld, sorry!“, kommt es über den Tresen hinweg und als ich mich wieder umsehe, steht Ashlee schon wieder ein Stück entfernt.

„Na dann komm!“ Shawn greift nach zwei vollen Gläsern und dreht sich um.

„Ja.“ Ich ergreife die anderen und suche mit meinen Augen die des Barkeepers.

„Na dann noch viel Spaß, Kida!“, zwinkert er und dreht er sich weg.

Ich sehe seinen blonden Haaren kurz nach, bevor ich mich endlich zu meinen Kollegen zurückbegebe.
 

Die nächste Stunde vergeht nicht besser oder schlechter als zuvor. Zwischen Shawn und Yosuke gedrängt, fällt es schwer, meine Langeweile noch länger zu unterdrücken. War es zunächst vielleicht noch ganz interessant, die Frauen zu beobachten und sie und ihre Bewegungen ganz objektiv zu bewerten, so fällt es mir mit der Zeit schwerer, meine Augen bei ihnen zu lassen. Ich kann den weiblichen Körpern einfach nichts abempfinden, was mich anmachen würde…

Dies zu verbergen ist schwierig und doch machen Shawn und Yosuke es mir überraschend leicht, indem sie mir vorschwärmen und ich meistens einfach nur nicken muss. Ob ich es schaffe, auch nur ansatzweise so zu gaffen wie die beiden?

Timothy hält sich zurück, auch wenn man ihm ansieht, dass es ihm gefällt. Ich wäre froh, wenn die Jungs mir so wenig Aufmerksamkeit schenken würden wie ihm.

Was meine Aufmerksamkeit angeht, so erwische ich mich zwei oder drei Mal dabei, wie ich zum Tresen, zu Ashlee schiele, zu dem ich aber kein weiteres Mal gehe, da Shawn erklärt, dass nun er an der Reihe sei. Fast schon bin ich enttäuscht, da es mir auch meine letzte Flucht verwehrt.

Ich sehe wieder nach vorne, beobachte die Frau, welche gerade neben mir Yosuke sehr nahe ist. Sein Gesicht zeigt ein Grinsen…

Ob Sakuya sich hier wohlfühlen würde?

Von dem Gedanken erschrocken, stehe ich auf. Shawn und Yosuke sehen mich überrascht an. Ich teile ihnen mit, dass ich mal eben zur Toilette verschwinde… und als ich daraufhin einen eindeutigen Blick von Shawn ernte, würde ich ihm am liebsten den Kopf abschlagen.

Ich drehe mich um, nicke Timothy zu und dränge mich zwischen mittlerweile ziemlich vielen anderen Männern hindurch. Mein Blick fällt zum Tresen, an dem Ashlee sich mit einer Frau unterhält. Als ich gerade wieder wegsehen will, fixieren seine grünen Augen mich.

Verwirrt von dem intensiven Blick, beschleunige ich meinen Schritt.

Ich statte der Toilette einen weniger nötigen Besuch ab und suche nach einer Ausrede, um hier endlich verschwinden zu können. Am besten sage ich einfach nur Timothy bescheid…

Gerade als ich die Toiletten wieder verlassen habe und zu den Jungs zurückgehen will, sehe ich, wie Ashlee sich von seiner Gesprächspartnerin entfernt. Er winkt mich zu sich. Ich blicke mich um, ob er wirklich mich meint, doch es sieht danach aus. Zögernd gehe ich zur Ecke des Tresens, an der er auf mich wartet.

„Du beobachtest mich…“, grinst er, als ich bei ihm angekommen bin.

„Tue ich das?“

„Oh ja… ich habe es gesehen…“

„Das heißt… du beobachtest mich!“, kontere ich und lehne mich aus dem Fenster heraus.

„So könnte man es auch sehen.“ Er fixiert mich.

„Schauen ist ja nicht verboten, nicht wahr?“

„Ich würde gerne mehr als Schauen… Kommst du mit mir?“

„Wohin?“

„Wie wäre es mit… dein Geburtstagsgeschenk abholen?“ Sein Blick ist eindeutig.

„Gut.“

Kaum habe ich das Wort beendet, hat er auch schon nach meiner Hand gegriffen. Ich werde mit ihm gezogen, durch eine Tür, von hier durch eine weitere.

„Herzlichen Glückwunsch“, grinst er… und presst mich gegen die Wand.
 

Nicht viel später zuhause angekommen, habe ich zunächst nicht wirklich Zeit, darüber nachzudenken, was geschehen ist. Zum Glück vielleicht… denn fast bin ich dankbar, als ich keine drei Minuten in Stille verbringe, bis das Telefon klingelt.

„Da bist du ja endlich!“, fährt es mir lachend entgegen. „Herzlichen Glückwunsch!“

„Danke.“

„Erst wollte ich gestern schon anrufen… dann dachte ich aber, dass du wahrscheinlich schon schläfst…“

„Um Mitternacht? Stimmt, ich bin gegen Elf ins Bett.“ Ich lasse mich aufs Sofa sinken. „Hast du es heute schon oft versucht?“

„Es geht“, gibt er zu. „Drei oder vier Mal. Lass mich raten, deine Kollegen wollten dich nicht gehen lassen?“

„Bingo. Shawn, Yosuke und Timothy haben mich in eine Tabledancebar geschliffen…“

„In eine WAS?“

„Du hast schon richtig gehört“, grinse ich.

„Ich hoffe, da haben Männer getanzt“, feixt er.

„Wovon träumst du denn!“

„Wie öde…“

„Genau. Aber da war-“ Ich breche ab.

„Ja? Was war da?“

„Ich… gar nichts, vergiss es.“

„Quatsch, jetzt sag schon!“

Ich schließe die Augen, atme tief. Ich sehe es noch vor mir…

„Kida?“

„Es war nichts, okay?“

„Du hast doch nicht etwa mit ner Frau rum gemacht?“

„Was hältst du von mir?“ Ich versuche ein Lachen. Es klingt gezwungen, mit Sicherheit merkt er das auch. Deshalb spreche ich schnell weiter. „Genug von mir. Wie geht es euch?“

„Uns? Naja…“ Eine Sekunde herrscht Stille. „Sai hat mir gesagt, ich solle dich von ihm grüßen, wahrscheinlich schafft er es nicht rechtzeitig, anzurufen.“

„Wo ist er denn?“

„Sendai. Für drei Wochen…“

„Schon wieder?“

„Ja.“

So unfair es vielleicht ist, so bin ich doch froh, dass ich das Thema wechseln konnte. Zwar habe ich eigentlich das Bedürfnis, Tatsuya von Ashlee zu erzählen, aber dann müsste ich alles erzählen… dann müsste ich auch erzählen, worüber ich eigentlich noch nicht mal nachdenken will.
 

Nachdem ich das Gespräch mit Tatsuya nach einer knappen Dreiviertelstunde beendet habe, fühle ich mich mies. Zwar rede ich nicht unbedingt gerne über meine Gedanken oder Probleme, doch eigentlich merke ich danach immer wieder, wie gut es doch tut. Gerade in diesem Moment habe ich das Gefühl, dass es mir gut tun würde… und dennoch weiß ich nicht, wie ich es erklären sollte… oder sagen wir, ich weiß es schon… ich will es nur nicht hören.

Also stehe ich auf und widerstehe den Drang, Tatsuya direkt noch mal anzurufen, und ihm doch zu erzählen, was ich eigentlich nicht erzählen will. Es war schon schwer genug, ihm vom Barbeque zu berichten… und dabei hatte ich da bis auf Kevin doch nur positive Dinge zu erzählen.

Vielleicht ist genau das in diesem Moment mein Problem.

In der Küche nehme ich mir einen Bagel von gestern aus der Schale und beiße hinein. Trocken darauf herumkauend, wünsche ich mir, dass doch bitte noch etwas meine Gedanken ablenken könnte.

In meinem Appartement die Runde laufend, entscheide ich mich schließlich dafür, die Krawatten wegzuräumen. Dies schnell fein säuberlich getan, greife ich ins obere Schrankfach und hole ein Kästchen hervor. Zusammen mit ihm und den neuen Krawattennadeln lasse ich mich aufs Bett sinken und würge das letzte Bagelstück hinunter.

Das Kästchen geöffnet, glitzern mir Gold und Silber entgegen… einen Moment betrachte ich dies Lichtschauspiel. Dass es mehr die Nadeln als die Krawatten sind, die ich sammle, wissen meine Kollegen nicht. Dabei ist es verständlich, dass sie den Fehler machen, denn ich habe mittlerweile mehr Krawatten als Nadeln, was wohl daran liegt, dass niemand eine Krawattennadel verschenkt, ohne eine passende Krawatte. So also laufe ich im Büro täglich mit einem anderen Stück um den Hals herum und habe die Frage, ob ich sie sammle, vor einigen Wochen einfach mit Ja beantwortet.

Ich nehme die oberste Lage Samt hinunter und lege sie beiseite. In der zweiten befestige ich die sieben neuen Stücke, zusammen mit der Krawattennadel von Rachel. Die passenden Manschettenknöpfe dazu bleiben als letztes auf meinem Bett liegen.

Weshalb ich zögere, weiß ich… doch den eigentlichen Grund verstehe ich nicht. Wieso jetzt… wieso so plötzlich?

Ich nehme die zweite Lage Samt hinunter, lege sie vorsichtig aufs Bett… und während ich versuche, es zu ignorieren, kann ich doch nicht anders, als das rotsilberne Schmuckstück sekundenlang zu betrachten.

Ob Sakuya das passende Gegenstück auch noch irgendwo hat?
 

Losreißen von diesem Gedanken tut mich schließlich das Telefon. Lynn ist am anderen Ende der Leitung. Fröhlich singt sie mir ein Lied ins Ohr und richtet mir viele, tausend Grüße aus. Lachend nehme ich sie entgegen, augenblicklich wieder etwas besser gelaunt, auch wenn ich ihr auf ihre Frage hin leider direkt antworten muss, dass ihr Päckchen noch nicht angekommen ist. Die Enttäuschung einer Zwölfjährigen schlängt mir entgegen, die es zu bewältigen gilt. Zum Glück habe ich sie schnell soweit, dass sie mir glaubt, dass ich mich auch morgen noch genauso freue… und dann erzählt sie mir ein bisschen von der Schule. Am liebsten würde ich ihr sagen, während ich das Kästchen wieder wegräume, wie froh ich über ihren Anruf bin, doch natürlich tue ich es nicht. Und insgeheim hoffe ich nur, dass ich gleich schnell einschlafen kann.
 

~ * ~
 

Nach einer ziemlich unruhigen Nacht, scheinen meine Kollegen meine Müdigkeit am Mittwochmorgen so zu deuten, dass ich einen wirklich tollen Abend mit ihnen hatte. Ich lasse sie in dem Glauben und lenke schnell von den Sprüchen über die leicht bekleideten Tänzerinnen ab, indem ich rate, schnell die neusten Kundenmails durchzugehen.
 

Ich muss viel an Sakuya denken, an diesem Tag. Ich beginne mich zu fragen, wann er sich wohl wieder melden wird… und ich habe das Bedürfnis, mich bei ihm zu melden. Ob ich es aber wirklich tun würde, wenn ich es könnte… da bin ich mir im Moment nicht mehr so sicher. Also frage ich es mich auch nicht weiter, sondern hoffe einfach weiter, dass er sich bald wieder melden wird.
 

Am Abend begrüßt mich Kirsten, Alecs Nachfolgerin an der Rezeption und händigt mir meine Post aus. Das eine ein etwas dickerer Brief ohne Absender, das andere größer und mit dem Namen Lynns darauf. Ich lächle in mich hinein, froh darüber, meiner kleinen Schwester die Nachricht mitteilen zu können, dass es nicht verlorengegangen ist.

Auf die Küchenuhr guckend, welche ich auf japanische Zeit eingestellt habe, beschließe ich, den Brief zuerst zu öffnen. In Tokyo ist es gerade mal Mittag, Lynn wird längst noch nicht zuhause sein.

Mit einem Brieföffner nehme ich im Wohnzimmer platz und schlitze den Umschlag auf. Heraus fällt ein samtenes Täschchen und ein rosa Zettel, der bekannt riecht… viel zu bekannt.

„Alec…“, stöhne ich, verdrehe die Augen und lasse beides auf den Wohnzimmertisch sinken.

Ich hätte damit rechnen sollen, was?

Ich stehe auf und gehe in die Küche. Ich beschließe, erst einmal was zu kochen, da mein Magen einen glühenden Liebesbrief gerade wirklich nicht vertragen kann. Außerdem schalte ich das Radio an, um mich von meinen Gedanken abzulenken.

Komisch, früher habe ich dies kaum getan.

Als ich eine knappe halbe Stunde später zurück im Wohnzimmer bin und meinen Teller neben den geöffneten Brief stelle, greife ich doch nach dem Samttäschchen. Ich ziehe die Schleife auf, dann die Öffnung und lasse den Inhalt in meine Hand fallen.

Fast kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen, als mir auch hier eine Krawattennadel entgegen fällt. Am oberen Ende befindet sich ein Herz.

Tief seufzend lege ich sie auf den Tisch und greife nach dem Zettel, der nach Alecs blumigen Aftershave riecht. Zu meiner großen Überraschung stehen nur drei Worte darauf:

Ich vermisse dich
 

Lynns Päckchen, das ich öffne, als ich sie anrufe, beinhaltet mehrere Kleinigkeiten. Zum einen ist es ein selbstgebastelter Bilderrahmen mit einem Foto von ihr und Mama, ein selbstgemaltes Bild, ein Dose mit selbstgebackenen Keksen und drei Tüten mit Süßigkeiten, die man nur in Japan bekommt. Von meiner Mutter liegt ein Brief bei.

Ich versichere meiner kleinen Schwester, dass es das schönste Geschenk von allen ist und dass ich sie sehr vermisse… und als wir auflegen, habe ich für einen Moment tatsächlich das Bedürfnis, sofort in den nächsten Flieger steigen zu wollen. Aber das mag auch noch an anderen Dingen liegen…
 

~ * ~
 

Der Donnerstag vergeht und ich zwinge mich, nicht an Sakuya zu denken. Es fällt schwer, sehr schwer.

Der Freitag scheint genauso weitergehen zu wollen, zusätzlich mit der immer lauter werdenden Frage, wann er sich bloß wieder meldet, als er plötzlich vor mir steht.

Naja, eigentlich steht er erst nicht vor mir sondern vor Timothy… der sich in den darauffolgenden Minuten wie ein vollkommen anderer Mensch verhält, alle Ruhe und Gelassenheit, die ich sonst von ihm kenne, von sich schleudert und sich stattdessen, zumindest meiner Meinung nach, ziemlich blamiert.

Vielleicht kann man sagen, dass ich ihm dankbar sein sollte, denn eigentlich fühle ich mich überfordert. Ich habe damit gerechnet, dass er wieder anrufen wird. Ich habe nicht erwartet, dass er einfach so bei meiner Arbeit auftauchen würde. Da war ich nicht drauf vorbereitet.

Vielleicht lasse ich mir deshalb in dem Moment, als es heißt, aufzubrechen, etwas mehr Zeit als ich tatsächlich brauche, um die eMail zu schreiben. Schnell liste ich die Änderungen des Vormittags auf und gehe dabei im Geiste durch, wie ich mich jetzt verhalten soll. Wie immer, natürlich… aber so einfach ist das nicht, ganz und gar nicht. Ich habe in einem zu komischen Moment an ihn gedacht, als dass es so einfach sein könnte.

Als ich aufblicke, sehe ich, wie Sakuya mich ziemlich intensiv ansieht. Mir wird heiß.

„Alles in Ordnung?“, frage ich und richte mich auf.

„Ja, ja“, sieht er mir nun ins Gesicht und deutet auf meinen Hals. „Das ist wirklich eine sehr schöne Krawatte.“

Timothy kommt mir in der Antwort zuvor… und sogleich habe ich das Gefühl, ihm an den Hals springen zu wollen und zu schreien, dass er die Klappe halten soll. Natürlich ist der Moment, in dem ich das tun könnte, viel zu schnell vergangen. Und stattdessen sehe ich, wie Sakuyas Blick ernst wird.

Verdammt!, flucht es in mir. Ich hatte nicht vor, ihn irgendwie daran zu erinnern, dass er sich an etwas hätte erinnern können…

„Nicht wirklich die Krawatten, eher die Krawattennadeln“, sage ich deshalb schnell und greife nach meiner Anzugjacke.

Flucht aus dieser Situation!, schreit es in mir, weshalb ich ihn als nächstes frage, ob wir uns auf den Weg machen sollen.
 

Als wir mein Büro verlassen, werden mir die Blicke bewusste, die man uns schenkt… oder besser gesagt ihm.

„Irgendwie glaube ich, dass ich nachher ausgequetscht werde“, grinse ich, um ein Gespräch zu beginnen.

„Wegen mir?“

„Quatsch, hier kommt jeden Tag ein berühmter Baseballspieler vorbei.“

Wir lachen und ich bin froh darüber. Gerade als ich noch etwas sagen will, betreten im fünften Stock zwei Männer den Fahrstuhl. Sofort erstirbt ihr Gespräch. Zwar fragen sie nicht und starren auch nicht, doch ihre verstohlenen Blicke sind deutlich in der Spiegelwand zu erkennen. Sie fragen sich sicher, ob sie wirklich das sehen, was sie glauben zu sehen. Ich kann mir ein Grinsen nur schwer verkneifen.

Die Männer steigen im ersten Stock aus, wir fahren bis nach unten.

„Stört es dich nicht?“, frage ich, als wir das Gebäude verlassen haben.

„Was?“

„Angestarrt zu werden, überall erkannt zu werden…“ Ich deute mit dem Kopf in die Richtung, die wir gehen müssen.

„Es kommt drauf an. Manchmal ist es ganz schön, erkannt zu werden… aber meistens ist es nervend, nicht einfach mal in ganz normalen, alten Klamotten herumlaufen zu können…“

„Irgendwie bezweifle ich, dass du das tun würdest.

„Da hast du wohl recht. Aber ich könnte nicht, wenn ich wollte…“

„Ich könnte mir das nicht vorstellen… Berühmt zu sein, mein ich.“ Ich kicke einen kleinen Stein auf die Straße. „Ich hab jetzt schon immer das Gefühl, mich verstecken zu müssen… wie wäre es dann bloß?“

„Wegen dem Schwulsein?“, kommt es zögernd neben mir.

„Ja. Wie macht Kevin das?“ Auf komische Art widerstrebt es mir, das Thema in seine Richtung zu lenken, obwohl ich es selbst tue. Vielleicht, um von mir wegzukommen, wo ich eigentlich auch nicht hinwollte…

Ein Schulternzucken. „Er schafft das ziemlich gut, er ist stark. Obwohl es mit Matthew schwer werden könnte…“

„Wieso?“

„Ich weiß nicht.“ Noch ein Schulternzucken. „Ist es das?“, deutet er auf ein ausgeschaltetes Leuchtschild auf der anderen Straßenseite, was deutlich macht, dass nun er das Thema wechseln will.
 

Im Houlihan’s kommt wir schnell auf den Sonntag zu sprechen… nur kurz allerdings, bis das Essen kommt. Während dieses herrscht eine merkwürdige Stille zwischen uns. Natürlich, man unterhält sich nicht viel, wenn man gerade isst… und dennoch ist es gerade nicht diese Art der Stille, sondern etwas unangenehmes, zumindest für mich.

Dadurch, dass Sakuya an meinen Geburtstag erinnert wurde, werde nun auch ich wieder an diesen erinnert. Dabei ziehe ich seit Mittwoch, nein, eher seit Dienstagabend vor, nicht daran zu denken. Nichts Gutes kommt dabei heraus, wenn ich darüber nachdenke! Dennoch kann ich nicht anders, als Sakuya ein paar Mal zu lang in seine gesenkten Augen zu starren oder sein Haar zu betrachten.

Ganz anders… so ganz anders… und dennoch…

„Wir haben am Sonntag wieder ein Heimspiel“, reißt Sakuya mich aus meinen Gedanken zurück.

Dankbar gehe ich auf das Gespräch ein, auf die indirekte Frage, ob ich zu einem Spiel kommen will… auch wenn mir gleich bewusst wird, dass ich eigentlich ziemlich abweisend darauf reagiere. Natürlich, ich finde Baseball unglaublich langweilig… und dennoch wäre es eine Gelegenheit, Sakuya spielen zu sehen. Wie oft werde ich die schon haben, wenn ich erstmal zurück in Japan bin? Dann werde ich es bereuen.

Also sage ich, dass ich es vielleicht wirklich tun sollte…

„Das solltest du, ich bin richtig gut geworden.“

„Davon gehe ich doch mal aus“, erwidere ich und versuche, das Thema beizubehalten, indem ich frage, wie sie im Moment stehen.

„Diese Saison ist nicht so gut gelaufen. Ein paar Spieler konnten wegen Verletzungen nicht spielen und auch so hat es irgendwie nicht gereicht. Wir haben es noch nicht mal in die Playoffs geschafft…“

„In die was?“

„Playoffs. Da spielen die besten der Saison um den Titel.“ Er zuckt die Schultern. „Andererseits ist es auch schön, so etwas früher frei zu haben…“

„Du hast dann nichts mehr zu tun?“

„Nicht wirklich. Natürlich, Training ab und zu… oder ein bis zwei Freundschaftsspiele, aber nicht diese langen Aufenthalte außerhalb San Franciscos.“ Er stockt.

„Naja, bei mir wartet wenigstens niemand darauf, dass ich nach Hause komme, zumindest nicht auf diese Weise…“, antworte ich zögernd.

Das Gespräch erstirbt… und wahrscheinlich sind wir beide unglaublich froh, als die Kellnerin die Rechnung bringt. Sofort will Sakuya sie an sich ziehen.

„Halt!“, sage ich und greife danach, berühre dabei kurz seine Finger. Mein Körper erschaudert. „Heute mach ich das!“

„Aber-“

„Kein Aber!“ Ich ziehe an der Rechnung, Sakuya gibt sie frei.

„Ich hab aber dich überfallen und eingeladen!“

„Ich sagte doch, kein Aber!“, lege ich grinsend meine Kreditkarte in das kleine Mäppchen, außerdem zwei Banknoten. „Ich werd es mir ja wohl leisten können, den Star einzuladen“, zwinkere ich.

Sakuya will sich entrüsten, doch in dem Moment kommt die Kellnerin und holt das Mäppchen ab, verschwindet mit meiner Karte hinterm Tresen.
 

Die Frage, weshalb ich mich nicht bei ihm melde, trifft mich ziemlich unvorbereitet, als wir wieder bei Toshiba ankommen und ich mich fast im selben Moment gefragt habe, wann wir uns wohl wiedersehen werden. Dementsprechend überrascht brauche ich auch eine Sekunde lang, um zu reagieren, was Sakuya allerdings sofort unterbindet.

Dass er mir für einen Moment nicht ins Gesicht sehen kann, bemerke ich, und fast würde ich sagen, dass es mich freut, da es zeigt, dass nicht nur ich noch immer unsicher bin, wie ich am besten mit ihm umgehen soll. Ich muss lächeln.

Als ich erneut erklären will, unterbricht er mich erneut… und dann als ich doch spreche, merke ich selbst, was die ganze Zeit mein Fehler bei der Sache war. Ich hätte tatsächlich fragen sollen…

Ist es dämlich zu sagen, dass ich dazu zu schüchtern war?

Ziemlich, beschließe ich, weshalb ich es auch nicht ausspreche und froh bin, als er die Frage nach meinem Schulternzucken übergeht und mir stattdessen seine Nummer gibt. Außerdem werden mir zwei Baseballsaisonkarten hingehalten… und kurze Sekunden später ist Sakuya dann auch schon wieder verschwunden.

So schnell weg, wie er gekommen ist…

Komischerweise finde ich plötzlich, dass das zu ihm passt.
 

„Woher kennst du Sakuya Michael Ryan?“, werde ich sofort bombardiert, als ich die Bürotür öffne.

„Kann ich erstmal reinkommen oder soll ich es gleich dem ganzen Flur erzählen?“, grinse ich Timothy an, der sofort eine hereinbittende Geste macht.

Ich schließe die Tür hinter mir, mich fragend, ob ich nicht tatsächlich einfach sofort eine Lautsprecherdurchsage geben sollte. Dann muss ich es wenigstens nur ein Mal erzählen…

„Also?“, werde ich gefragt, als ich mich in meinen Stuhl habe fallen lassen. Sein Blick verrät pure Neugierde.

„Aus der Schule.“

„Aus der Schule?“ Verwirrung. „Du bist doch zum ersten Mal in Amerika…“

„So ein großer Fan und du weißt nicht, dass er mal für ein paar Jahre in Japan gelebt hat… Tztztz…“

„In Japan? Wirklich?“

„Tokyo. Wirklich. Er ist mit mir zur Schule gegangen, wir waren befreundet.“

„Du Glückspilz!“

Ich zucke die Schultern. War ich ein Glückspilz?

„Keine Ahnung, Baseball hat mich nie interessiert.“ Nur Sakuya hat mich interessiert… doch das sollte ich wohl besser nicht sagen.

„Jetzt bist du ein Banause!“

„Entscheid dich mal…“ Grinsend greife ich nach den Tickets in meiner Hosentasche. „Immerhin hat der Banause zwei Saisonkarten…“

„Ne?!“, steht er sofort auf den Füßen.

„Oh doch!“, wedle ich mit den Karten. „Und wir können zusammen hingehen… aber wenn du natürlich denkst, dass ich-“

„Ich hab nichts gesagt!“, steht Timothy direkt vor meinem Tisch und stiert die Karten an.

„Sicher?“

„Ganz sicher!“

Lachend reiche ich ihm eine Karte, welche andächtig entgegengenommen wird wie ein Barren Gold.

„Ich wusste nicht, dass du so geil auf Baseball bist.“

„Doch!“ Heftiges Nicken folgt. „Seit ich klein war! Mein Vater hat immer mit mir gespielt!“ Er dreht die Karte in seinen Händen. „Gott… ich glaub’s nicht… Wann gehen wir hin? Sonntag? Da ist wieder ein Spiel und…“ Er nickt heftig.

„Wenn du magst“, schaffe ich es noch immer nicht, mein Grinsen loszuwerden. Es ist fast schon niedlich, wie dieser ausgewachsene, sonst so ruhige Mann sich freut wie ein Kind.
 

Das Kind im Manne geht ungefähr nach zehn Minuten Dauergrinsen zur regulären Mittagspause. Die Karte ist natürlich sein Begleiter und mit ihm meine Erlaubnis, den anderen zu erzählen, woher ich Sakuya kenne.

Ich begebe mich zurück an die Arbeit… oder zumindest habe ich das vor. Untätig starre ich den Bildschirm meines PCs an. Dann, nach einigen Minuten beschließe ich, die Homepage des Stadions zu besuchen… und natürlich ist die Übersicht schnell gefunden, zusammen mit unseren ungefähren Plätzen. Linke Seite, Club Level, in ihrem Bereich ganz vorne… Preise für Saisontickets liegen um die zweitausend Dollar.

Welcher Trottel ist so verrückt, so viel Geld für so etwas auszugeben?

Dass Sakuya die Karten mit Sicherheit nicht bezahlen musste, ist auch der einzige Grund, weshalb sich das Gefühl, sie ihm schnurstracks zurückgeben zu wollen, in Grenzen hält.
 

Es ist, als ich mich gerade wieder dazu gezwungen habe, mit der Arbeit zu beginnen, als es an der Tür klopft. Mit irgendeinem meiner neugierigen Kollegen rechnend, wie in den letzten Minuten zwei Stück gekommen sind, reagiere ich nicht wirklich darauf und beende daher erst meinen Gedankengang, bevor ich mich der eingetretenen Person zuwende.

„Hast du was vergessen?“, bringe ich heraus, ohne ihn zu lange erschrocken anzustarren.

„Nein“, kommt es nur… und dann kommt er auf mich zu.

Oft schon habe ich mich gefragt, wie viel einem in nur Sekunden wohl durch den Kopf gehen kann. In diesen Sekunden scheinen tausende Gedanken zu sein.

Was will er?

Was macht er hier?

Wieso wirkt er so aufgeregt?

Ist etwas passiert?

Will er mir etwas sagen?

Was will er tun?

Ist er sauer?

Aber wieso sieht er dann so gutgelaunt aus?

Was ist passiert?

Und wieso habe ich das Gefühl, ihn jetzt küssen zu müssen?

Alle diese und noch viel mehr Gedanken verpuffen, als er direkt vor mir zum Stehen kommt. Meine Hand muss kalt sein, als er danach greift, und mein Herz scheint mir aus der Brust springen zu wollen, direkt auf ihn zu.

„Alles Gute zum Geburtstag“, höre ich dann und spüre etwas Hartes in meiner Hand, schaffe es aber nicht, während seiner nächsten Worte hinabzublicken. Ich verstehe sie nicht einmal… Ich höre nur etwas anderes in mir.

Nennt man das Enttäuschung?
 

Natürlich währt das Gefühl der Enttäuschung nur kurz, sehr kurz, zu meinem eigenen Glück, denn schnell habe ich es geschafft, meinen Blick von seinem zu lösen und auf das Päckchen zu sehen. Klein, viereckig… schwarz.

„Ich… danke…“, stottere ich und atme fest.

Ich habe das Bedürfnis, meinen Kopf irgendwo gegen zu schlagen. Wie konnten mir in diesen paar Sekunden nur so viel Müll durch den Kopf gehen?

„Na los, mach es auf!“, reißt mich seine Stimme zurück.

„Oh, natürlich!“, nicke ich.

Wie lange habe ich das schwarze Döschen einfach nur angestarrt?

„Ich… hoffe, es gefällt mir…“, spricht Sakuya neben mir, während ich das Döschen öffne… und mir dann der Atem stockt.

„Sakuya… das…“

Ich schließe meine Augen, öffne sie wieder. Noch immer glitzert mir der durchsichtige Stein entgegen. Ist der etwa… echt?

Vorsichtig berühre ich ihn, meine Fingerspitze gleitet über das Gold hinweg, das Silber…

„Sakuya…“, spreche ich wieder und der Name dröhnt in meinen eigenen Ohren. „Sie ist wunderschön… ich meine…“

Ich will sie ergreifen, hebe dabei ein Stück der Krawatte an, an der die Nadel befestigt ist. Erst in diesem Moment fällt mein Blick weg von dem glitzernden Stein auf das kleine Schild mit dem Namen des Designers.

„Das kann ich nicht annehmen!“, sehe ich ihm direkt ins Gesicht.

„Ich hab sie extra für dich ausgesucht… du musst sie nehmen!“

„Aber du kannst doch nicht…“ Ich schüttle den Kopf. „Du kannst für mich nicht so viel Geld ausgeben!“

„Ich wollte aber.“ Seine Stimme ist fest.

Ich starre in seinen Augen. In seine echten, grünen, strahlenden Augen…

„Hey! Ich hab gehört, Sakuya war-“ Beide fahren wir zur Tür herum, während die Person, welche sie aufgerissen hat, stockt. Dann grinst sie. „Oder besser gesagt… er IST hier.“

Warum liegt das Gefühl in der Luft, ertappt worden zu sein. Oder geht es nur mir so?

„Störe ich?“, spricht sie meine Frage fast aus.

„Quatsch, natürlich nicht! Komm rein Rachel!“, nicke ich ihr zu, schiele zu Sakuya hinüber. Die Kanten des Kästchens graben sich in meine Handfläche.

Bevor ich dazu komme, die beiden einander vorzustellen, hat Rachel auch schon selbst die Initiative ergriffen. Lächelt steht sie vor Sakuya und hält ihm die Hand entgegen.

„Hallo! Ich bin Rachel, eine Kollegin und Freundin von Kida. Und ich weiß, du bist Sakuya… hast du ein Problem damit, wenn ich dich duze?“

Sie grinst und er ergreift ihre Hand.

„Ganz und gar nicht“, sehe ich erleichtert sein Lächeln. „Freut mich, dich kennenzulernen, Rachel.“

„Mich auch!“ Sie strahlt mich an, lässt seine Hand los, schielt zu mir herüber. „Mal unter uns… hat er dich nach dem Autogramm gefragt, oder hat er es vergessen?“

„Autogramm?“, blickt Sakuya kurz zu mir, während ich mich siedendheiß an mein Versprechen erinnere.

„Meine Nichte ist ein Fan von dir“, wird ihm natürlich sogleich erklärt. „Könnte ich eins für sie haben?“

„Natürlich. Worauf? Ihr Name?“

„Warte kurz…“ Ihr Blick schweift suchend über meinen Schreibtisch hinweg, dann greift sie nach einem DVD-Rohling und einem schwarzen Stift, hält Sakuya beide Utensilien hin und nennt ihm den Namen.

Während er schreibt, sieht sie mich an. Ihr Blick ist fragend und dennoch zeigt er, dass sie es ganz toll findet, Sakuya angetroffen zu haben… Ich höre förmlich all ihre neugierigen Fragen.
 

Lange bleibt Sakuya nicht mehr. Er hält Rachel, als sie uns alleine lassen will, mit den Worten auf, dass er ohnehin gehen wollte, und verabschiedet sich dann. An der Tür halte ich ihn auf, sage ihm, dass ich am Sonntag zum Spiel kommen werde.

„Das freut mich“, lächelt er zurück und dann geht er.

Meinem Bedürfnis, ihm zu folgen, gebe ich selbstverständlich nicht nach. Ich weiß nicht, weshalb ich das Gefühl habe, ihm noch irgendetwas sagen zu wollen.

Stattdessen will Rachel, dass ich viel sage. Woran ihr Interesse an der ganzen Sache liegt, weiß ich eigentlich gar nicht… doch ich versuche es mit wenigen Antworten zu stillen, da ich eigentlich nicht das Bedürfnis habe, zu reden. Ich muss das ganze noch verdauen.

Rachel ist natürlich begeistert von meinem Geschenk, welches ich kaum ansehen kann. Irgendwie ist es mir so unglaublich unangenehm, dass er so viel Geld ausgegeben hat… egal ob er es hat oder nicht!
 

~ * ~
 

Der restliche Freitag, der Samstag… selbst der Sonntagvormittag… alle stehen unter dem Sterne „Sakuya“ – und das nicht unbedingt im positiven Sinne. Zwar habe ich mir absichtlich Arbeit mit nach Hause genommen, aber bringen tut dies nicht viel. In meinen eigenen vier Wänden alleine weiß ich nicht, was ich machen soll, um nicht nachzudenken.

Die Krawatte mit der wunderschönen Nadel hängt an meinem Schrank. Natürlich ist dies nicht gerade förderlich, das weiß ich auch, aber irgendwie habe ich es noch nicht geschafft, sie wegzuräumen. Ich kann dieses wertvolle Stück so schwer als mein Eigentum befinden…

Wenn nicht gerade daran, dann denke ich an den Moment der Übergabe, an den Moment, als er in mein Büro gekommen ist, so schnell auf mich zu, so entschlossen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe in dem Moment… oder sagen wir, ich weiß es schon… und das erschreckt mich, das ist etwas, was nicht sein sollte, ganz und gar nicht! Wenn ich nun in diesem Zusammenhang noch an den vergangenen Dienstag denke, könnte ich in meinem Gehirn Amok laufen – tötet doch etwas endlich diese störenden Gedankenblitze ab! Aber wie soll das gehen, wenn ich sie noch nicht einmal wirklich benennen kann?
 

Timothy hat darauf bestanden, dass wir uns schon eineinhalb Stunde vor Spielbeginn am Stadion treffen.

„War er schon immer so gut?“, fragt er, als wir auf Einlass warten. „Ich meine… früher… in euer Schulzeit…“

„Ich weiß nicht. Ich meine, schon, er war gut… aber ich hatte ja keinen wirklichen Vergleich…“

„Du hast dich nie für Baseball interessiert?“ Ich schüttle den Kopf.

„Dabei ist es doch auch in Japan so ein riesen Sport…“

„Das stimmt. Aber ich fand es irgendwie immer langweilig“, gebe ich kleinlaut zu.

„Versteh ich nicht. Versteh ich überhaupt nicht! Ich liebe den Sport…“

Er grinst wie ein Honigkuchenpferd… auch noch, als wir unsere Plätze gefunden haben. Wirklich gute Sicht, das muss ich zugeben.

Sakuya entdecke ich erst nirgends, auch Kevin nicht. Überhaupt sind bisher hauptsächlich Spieler mit einem anderen Mannschaftsnamen auf dem Pullover zu sehen. Nur am Spielfeldrand wärmen sich vereinzelte Giantspieler auf.

Ich blicke mich um, nicht wirklich sicher, was ich nun eine Stunde lang hier machen soll.

Timothy hingegen schwärmt neben mir weiter … und hört gar nicht mehr auf damit, selbst dann nicht so wirklich, als ich uns zwei Stücke Pizza besorgt habe. Zwischen den einzelnen Bissen erzählt er mir, von den Spielen, bei denen er schon war… oder wie er früher noch in der Schulmannschaft gespielt hat.

Ich kann bei alle dem nur Lächeln und ihm meine Aufmerksamkeit schenken.
 

Schließlich wechseln die Mannschaften auf dem Feld. Kevin sehe ich als erstes, wie er in Werferposition geht.

Timothy fragt mich, ob ich Kevin eigentlich auch kenne, und als ich mit einem knappen „Ja“ antworte, scheint er mich um noch ein vieles mehr zu beneiden. Ich lächle darüber nur, und sage natürlich nicht, dass Kevin mich wohl lieber nicht kennen würde.

Dann sehe ich zum ersten Mal Sakuya, als er mit seinem Schläger zur Position geht. Für einen Moment bin ich traurig, dass er so vollkommen konzentriert wirkt und dem Publikum keine Aufmerksamkeit schenkt. Ich würde gerne, dass er mich sieht… und ich weiß, wie dämlich das ist.

Gleichzeitig lässt es mich an früher denken, wie er mir einmal vom Spielfeldrand zugewunken hat, ganz zu Anfang unserer Beziehung. Damals ist mir das Herz fast aus der Brust gesprungen. Heute, da er in seinem Trikot so viel besser aussieht, weiß ich nicht, was ich tun würde, wenn es passieren würde. Wahrscheinlich würde ich tot umfallen, zumindest wenn man bedenkt, wie nervös mein Magen gerade ist. Das ist nicht gut, überhaupt nicht!
 

Bevor das Spiel beginnt wird der Platz hergerichtet und währenddessen ein Chor hereingeführt. Überrascht sehe ich Timothy an.

„Ist das immer so?“

„Jedes Mal“, nickt er.

Dann folgt die amerikanische Nationalhymne, was alle um mich herum dazu bringt, aufzustehen. Selbst die Spieler auf dem Feld bleiben stehen und nehmen die Hand ans Herz. Irgendwie komisch berührt durch diesen Moment tue ich es ihnen gleich, wenn ich auch die Hymne nicht wirklich mitsingen kann.

Es folgt weiteres Aufwärmen der Spieler, Turnübungen des Maskottchens und die Vorstellung der Spieler auf der großen Leinwand. In dem Moment, wo Sakuya an der Reihe ist, spüre ich mein Herz besonders schnell schlagen.

Kann das bitte endlich wieder aufhören?, schreie ich mich innerlich verzweifelt an.

Dann beginnt endlich das Spiel.
 

Wie ich es finde? Natürlich nicht genauso wie jedes andere Spiel zuvor, bei dem ich zum Beispiel auf dem Schultribünen saß oder auf dem Rasen… Natürlich ist es anders, wenn so viele Fans um einen herumsitzen und dort eine riesige Leinwand ist… oder wenn Jubel über die Tribünen hinwegbrandet… Natürlich lässt es mich nicht vollkommen kalt… und dennoch ist es nicht das, was mich aufwärmt.

In den ersten Innings unterhalte ich mich noch ein bisschen mit Timothy. Er erklärt mir die Regeln und ich verkneife es mir, zu sagen, dass mein Ex-Freund, den er so bewundert, mir früher schon alles haarklein erklärt hat. Selbst wenn ich wollte, eine solch genaue Beschreibung kann man eigentlich gar nicht mehr vergessen.

Irgendwann verstirbt unser Gespräch, vielleicht weil es zu laut wird, aber wohl eher, weil er wie gebannt das Spiel verfolgt… Nun beginne auch ich, mich mehr auf die zu konzentrieren, Sakuya zuzusehen, ihn mit meinen Augen zu verfolgen, wenn er schlägt, oder wenn er einfach nur auf dem Platz steht, darauf wartend, den Ball fangen zu können… Jedes Mal, wenn er auf der Leinwand zu sehen ist, ist es ein mulmiges Gefühl… jedes Mal, wenn er einen Ball trifft, verspüre ich eine kleine Spur der Freude in mir, beobachte seine schnellen Schritt, oder das Rutschen zur Base… ich sehe alles genau, und es ist, als würde ich neben ihm stehen…

Das blonde Haar unter dem Cap weht… ein Bedürfnis, es zu berühren erwacht… und seine Augen sind scharf nach vorne gerichtet, so sehr, dass ich mir wünsche, in ihr Blickfeld treten zu können… Dann folgt ein Homerum und bei der Vorstellung, wie gut er sich jetzt fühlen muss, springt mir das Herz aus der Brust.

Ich schließe die Augen und stütze meinen Kopf in die Hände. Auf Timothys Frage, ob etwas nicht stimmt, schüttle ich den Kopf, bin froh, dass er mich in Ruhe lässt. Ich spüre meinen Körper zittern und Bilder tauchen in mir auf, an die ich nicht mehr denken wollte… die ich seit Tagen verdrängte.

Wieso musste es so sein? Wieso konnte ich am Dienstag nicht einfach meinen Spaß haben? Wieso konnte ich nicht einfach mit Ashlee schlafen? Es wäre doch nichts dabei gewesen… Wieso hat mein Kopf mir also einen Strich durch die Rechnung gemacht?

Ich öffne die Augen wieder, sie brennen, also presse ich meine Lider wieder hinunter. Ich höre das Jubeln der Leute um mich und höre gleichzeitig Sakuyas Stimme in meinem Ohr, als stände er neben mir.

„Ich wollte aber.“ … Sein Blick war so intensiv.

Ja. Ich wollte auch… dich, in dem Moment in der Bar, als ein anderer Blonder bei mir war, als er mein Hemd aufköpfte und meine Brust berührte… ich hatte die Augen geschlossen und ihm in die Haare gegriffen… ich hatte gestöhnt und mich an ihn gedrückt… hatte Bilder vor meinen Augen gesehen, dich gespürt, wie du vor mir auf dem Motorad saßt… und dann hatte ich die Augen geöffnet, hatte in die blonden Haare gegriffen und den Kopf hinaufgezogen. Ich wollte dich küssen und deine Augen mit meinen verschlingen… doch stattdessen sah ich Kontaktlinsen auf braunen Augen… plötzlich dies unnatürliche Grün.

Ich drückte ihn von mir, hörte seine Fragen nicht, seine Stimme nicht, nicht, wie er meinen Namen rief, als ich mich anzog und aus dem Hinterzimmer zurück zu den Toiletten stürzte.

Fünf Minuten stand ich da und konnte es nicht begreifen… Fünf Minuten, in denen ich es dennoch begriff:

Ich hatte nicht an dich gedacht, nicht bewusst, nicht mit deinem Namen… ich hatte mir nicht bewusst vorgestellt, dass du es warst, nicht in seinen Augen deine gesucht… und dennoch merkte ich, dass ich es die ganze Zeit getan habe. Ich habe in Ashlee die ganze Zeit… dich gesehen.
 

Part 70 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Japanische Namen

~ Nationalhymne - Japan

~ Nationalhymne - USA

~ San Francisco Giants Maskottchen

~ Tabledance
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 71

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Sakuya (by littleblaze)
 

Dem Büro, nein, eher der nervigen Frau endlich entkommen, steige ich in meinen Wagen. Irgendetwas an ihrer Art ließ mich unangenehm aufstoßen. Aber man kann ja auch nicht jeden auf der großen weiten Welt mögen.

Das leichte Zittern des Motors lässt mich schnell wieder an etwas anderes denken. Gerade mal kurz vor Zwei ist in leuchtenden Ziffern zu erkennen. Ein schneller Blick aufs Handy lässt meine Stimmung ein wenig tiefer sinken, immer noch keine Nachricht von Kevin. Vielleicht sollte ich einfach mal bei Matthew vorbeifahren. Immerhin weiß ich ja jetzt wo er wohnt.

Ich fahre vom Parkplatz und natürlich schnurstracks nach Hause. Dort angekommen greife ich nur schnell in den Kühlschrank hinein, um mir eine Flasche Wasser zu ergattern, und steuere danach mit mehr PS unter mir eine andere Richtung an. Ich muss meine Gedanken frei bekommen. Zu viel nerviger Kleinkram schwirrte im Moment in meinem Kopf herum.
 

Gegen Abend aber immer noch nicht groß freier im Kopf halte ich vor der Anwaltskanzlei, Minuten darauf trete ich aus dem Fahrstuhl.

„Hallo Mr. Ryan“, werde ich in lockerem Ton von der Empfangsdame begrüßt. „Geschäftlich oder privat?“

„Privat.“

Ein seichtes Lächeln umringt ihre Mundwinkel. „Charize ist im Konferenzraum.“

„Kann ich stören?“, frage ich nach.

„Natürlich. Sie benutzen dort nur den großen Tisch. Nichts Wichtiges.“

„Danke Kirsten.“

Den breiten Gang lässig hinwegstreifend, kann ich schon von weitem ihre Silhouetten durch das milchige Glas hinweg erkennen. Er steht ihr ziemlich nah, schaut ihr über die Schulter. Einige Schritte weiter, kann ich ihre Hand erkennen, wie sie schnell über ein Blatt wandert, seine versucht der ihren immer näher zu kommen, indem sie ebenfalls auf etwas deutet. Oder bildete ich mir das nur ein? Sehe ich Gespenster wo gar keine sind? So gut wie an der Tür angekommen, verändert sich sein Blick und schweift vom Tisch ab… Nein, doch nicht geirrt. Mieses Schwein.

Ich klopfe an und trete mit einem Lächeln herein. Er steht nun einen guten Schritt von ihr entfernt.

„Hey, was tust du denn hier?“, werde ich fragend angestarrt. Mister Aalglatt entfernt sich einen weiteren Schritt und scheint auf einmal sehr mit den Unterlagen beschäftigt zu sein. Wie heißt der doch gleich noch mal? Irgendwas Französisches…

„Ich war gerade in der Nähe und dachte wir könnten zusammen nach Hause fahren“, erörtere ich während ich um den Tisch herum laufe. Vor ihr bleibe ich stehen und küsse sie.

„Das ist ja wirklich süß von dir“, rechnet sie mir lächelnd an. „Aber wir sind hier noch lange nicht fertig… Ähm, dies ist übrigens Francis, ich habe dir von ihm erzählt.“ Sie greift nach meiner Hand und zieht mich ein Stück weiter.

„Ja“, strecke ich ihm die andere Hand hin. „Wir haben uns beim letzten Mal nur knapp verpasst, als sie mein Haus verlassen haben“, fixiere ich ihn. Er ergreift meine Hand und ich drücke sie unmissverständlich etwas fester.

„Exakt“, versucht er den Druck zu erwidern, was ihm aber nicht wirklich gelingt. „Sie haben ein schönes Haus und eine wirklich ganz großartige… Freundin.“

„Sie ist wirklich großartig“, lasse ich von ihm ab, bevor ich in Versuchung komme, ihm wirklich weh zu tun.

„Sakuya, könnte ich dich mal kurz in meinem Büro sprechen?“

„Aber natürlich, Schatz“, lege ich meinen Arm um ihre Taille. „Hat mich gefreut Sie kennenzulernen“, lenke ich sie hinaus und winke leicht in den Raum.

„Bist du wegen mir oder wegen ihm hier?“, kommen wir im Büro auch direkt aufs Thema.

„Beides!“

„Komm schon… was soll das? Ich habe echt keine Zeit für eine Eifersuchtsszene.“

„Der Typ stinkt.“

„Dann lass ihn doch stinken…“ Sie kommt mir näher und schaut mir tief in die Augen und will mir damit vermitteln, dass ich mir keine Sorgen zumachen brauche.

„Ich habe dir etwas mitgebracht.“

„Einen Auftragskiller?“, grinst sie.

„Gute Idee, aber nein“, ziehe ich die Krawatte aus meiner Hosentasche und lege sie ihr um den Hals. „Ich dachte du könntest sie für mich tragen.“ Ich küsse sie innig. Ihre Lippen schmecken salzig… wahrscheinlich Erdnüsse.

„Das würde ich jetzt lieber als alles andere tun, aber ich kann nicht. Wir müssen hier fertig werden.“ Sie nimmt die Krawatte von ihren Schultern und reicht sie mir. „Heben wir sie uns für einen anderen Tag auf, einverstanden?“ Ihre Finger streicheln meine Hand.

„Entschuldige, dass ich so ein Vollidiot bin“, hebe ich ihre Hand und küsse sie. „Ich liebe dich nun mal so sehr.“

„Ich liebe dich doch auch, mein kleiner Vollidiot.“
 

Unbemerkt betrete ich das Haus. Durch die Fenster im Wohnzimmer kann ich Kevin und Matthew auf der Hollywoodschaukel ausmachen. Aneinander gelehnt, lächelnd in den Himmel blickend. Was sie wohl dort sehen mögen? Ich kann mich an viele solche Momente erinnern. Doch über was wir redeten, oder was uns zum Lächeln brachte… ich weiß es nicht mehr.

Ich gehe nicht hinaus sondern schnurstracks nach oben. Auf duschen keine Lust lasse ich mich einfach aufs Bett fallen. Ich denke noch einmal kurz über die Situation im Büro nach, über Kevin und Matthew, was Kida wohl gerade macht und dass es schon wieder knapp eine Woche her ist, seit ich mit Carol-Ann gesprochen habe…
 

~ * ~
 

Wohl einiges an Schlaf nachgeholt erwache ich erst gegen Mittag am nächsten Tag. Die andere Seite im Bett ist schon wieder verlassen, nur eine Krawatte mit einer kleinen Notiz Es wird heute nicht so spät erklimmt mein Augenmerk.

Nur mühevoll schaffe ich es, mich ins Bad zu schleifen, wahrscheinlich habe ich einfach viel zu viel geschlafen. Vom Rasierer halte ich mich fern, obwohl es nach zwei Tagen wieder Not am Manne wäre.

In der Küche treffe ich auf Matthew. Er sitzt alleine am Tisch, irritiert schaue ich mich um.

„Morgen“, gähne ich. „Wo ist Kevin?“, frage ich, als sein Blick mich trifft.

„Er macht einige Besorgungen.“ Seine Gedanken scheinen starr auf die Tasse vor ihm gerichtet zu sein.

„Keine Lust mitzugehen?“, fische ich mir die Packung Müsli aus dem Schrank und lasse eine große Portion in die Schüssel vor mir gleiten.

„Ich fühl mich nicht gut.“

Haben sie vielleicht Streit, Ärger im Paradies? Dem Müsli Milch hinzugefügt, setze ich mich zu ihm an den Tisch. Nach kurzem betrachten muss ich jedoch selber feststellen, dass er nicht wirklich gut ausschaut. Ich schiebe einen überquälenden Löffel nach den anderen in meinen Mund. Erst jetzt merke ich, wie viel Hunger ich eigentlich habe.

„Soll ich dir noch einen Tee holen?“, wird mir die Stille zwischen uns irgendwann zu unheimlich.

„Nein danke, ich wollte sowieso schon längst wieder im Bett sein.“ Ich kann nicht anders als ihm bei seinen Blick in die leere Tasse zu beobachten.

Das letzte Müsli verschlungen hätte ich ihn eigentlich jetzt schon gefragt, ob er nicht mit ins Poolhaus zum trainieren kommen wolle, aber bei seiner Verfassung ist dies wohl keine gute Idee. Oder sollte ich ihn trotzdem fragen, nur um meinen guten Willen zu beweisen?

„Bald haben wir die Saison hinter uns“, lasse ich stattdessen eine Information, die er gewiss schon besitzt, in den Raum gleiten.

Über was soll ich denn auch sonst mit ihm reden? Über Kevin? Über ihn? Beim Ersten würde wahrscheinlich gedacht, dass ich mich einmischen wolle, beim Zweiten könnte ich als zu neugierig interpretiert werden. Weiß er eigentlich, dass Kevin und ich mal… na ja, zusammen waren?

„Die letzten zwei Wochen der Saison sind immer die Hölle los. Einige Spiele für gute Zwecke, meistens für Kinderhilfsorganisationen, dann noch zwei bis drei andere Events und dann will jeder x-beliebiger Journalist in der Stadt noch mal ein Interview mit dir haben. Schrecklich sag ich dir, an manchen Tagen haben wir schon drei Interviews in unserem Kalender fest.“ Ich trinke den Rest Milch aus der Schüssel und stehe auf.

„Also“, grinse ich. „…nimm ihn nicht zu sehr ran die nächsten Wochen, er braucht seine Kraft.“ Ich entferne mich vom Tisch.

„Wir hatten noch keinen Sex, wenn du das meinst.“

„Ihr hattet noch keinen Sex?“, drehe ich mich verwundert zu ihm um. Steht mein Mund offen, ist meine Kinnlade geradewegs zu Boden gefallen?

„Nein.“

„Warum nicht?“, bin ich zurück am Tisch, ziehe den Stuhl unter mich. „Willst du warten bis-“

„Quatsch“, trifft mich sein Blick. „Ich würde am liebsten sofort über ihn herfallen, aber irgendwie… ich weiß nicht… er lässt es nicht dazu kommen.“

„Wie weit lässt er es denn kommen?“ Ist es verrückt, dass ich diese Frage stelle? Andererseits kannte ich Kevin als einen ziemlich emotionalen Mensch, für den Berührungen und Sex schon irgendwie dazu gehören. Er war leidenschaftlich, zärtlich und einfühlsam. Warum sollte es also hier nicht funktionieren?

„Es ist ja nicht so, dass wir überhaupt nichts tun“, erkenne ich erst jetzt den sachten Rotschimmer auf seinen Wangen. „Wir küssen uns… richtig leidenschaftlich sogar, berühren uns, ähm… gehen auch weiter… Aber zum eigentlichen lässt er es nicht kommen.“

„Hast du mal gefragt, warum nicht?“

„Nein, ich bin doch nicht irre!“ Sein Blick wird mir so schnell zugewandt, dass er abrupt stoppt, sich an den Kopf fasst. Er scheint Schmerzen zu haben. „Ich glaube, ich sollte jetzt wirklich wieder ins Bett.“

„Soll ich dir helfen?“, erkenne ich seinen wackligen Stand, als er sich erhebt.

„Nein, es geht schon.“ Er entfernt sich einige Schritte, kommt leicht ins Wanken und bleibt stehen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen.

„Ich denke, ich begleite dich“, komme ich neben ihn zum Stehen ohne ihn zu berühren. „Ich wollte sowieso noch mal kurz nach oben.“

Ich wandle einen halben Schritt hinter ihm her. Zwei Mal komme ich auf der Treppe in Versuchung, ihm unter die Arme zu greifen, doch winkt er sofort ab. Es ist ein wirklich erbärmliches Schauspiel.

Endlich am oberen Treppenansatz angekommen, kommt er ein weiteres Mal ins Straucheln. Ich greife nach ihm, egal, was er davon hält. Die Situation ist mir einfach zu gewagt, um erst einmal abzuwarten. Jedoch bleibt der erwartete Widerstand aus. Ich gleite an seinen Armen hoch, um ihn besser halten zu können.

„Du bist ganz schön warm“, stelle ich fest. „Ich denke du hast Fieber.“

„Geht schon“, möchte er sich wieder von mir abwenden, doch ohne auf ihn einzugehen gehe ich in die Hocke und hebe ihn hoch. Ich trage ihn den Flur hinunter.

Ihn ins Bett verfrachtet, hole ich das Fieberthermometer und zwei Kühlpackungen.

„Halt kurz still“, gleite ich mit dem Thermometer über seine Stirn. Es dauert nur Sekunden, bis mir das Gerät einen Wert anzeigt.

„102 Grad Fahrenheit.“

„Da müssen wir uns ja noch keine Sorgen machen“, lächelt er leicht und dreht sich tiefer ins Kissen. Ich lege ihm eine der Kühlpackungen auf die Stirn. Wie lange Kevin wohl schon weg ist?

„Soll ich bei dir bleiben?“

„Nein, das brauchst du wirklich nicht. Ist doch nur ein wenig Fieber.“

Und trotzdem ist mir gar nicht wohl dabei, ihn allein zu lassen. Wenn ihm etwas passieren würde, wäre jemand bestimmt nicht besonders glücklich. Aber er hat schon Recht, es ist nur ein wenig Fieber. Und was soll ich schon tun, während er schläft? Händchen halten?

„Schau her“, hole ich ihn noch einmal zurück und halte ihm das Telefon unter die Nase. „Wenn du hier auf Intern drückst und danach auf die 5 wirst du direkt zum Poolhaus durchgestellt. Okay?“ Ich warte ein kurzes Nicken ab. „Wenn etwas ist, du irgendetwas brauchst… ruf mich drüben an, kapiert?“

„Ja“, fallen seine Augen auch sogleich wieder zu.

Kurzlebig bleibe ich noch an ihm hängen, verlasse dann aber leise das Zimmer.
 

Zwei Mal unterbreche ich mein Training und werfe besorgt einen kurzen Blick auf ihn. Erst als Kevins Wagen wieder in der Auffahrt steht, kann ich es unbesorgt zu Ende führen.

Zaghaft klopfe ich daraufhin an, öffne vorsichtig die Tür.

„Hey“, betrete ich das abgedunkelte Zimmer. „Wie geht es ihm?“

„Er schläft wieder.“

„Ich wollte auch nur kurz nachschauen“, wende ich mich wieder zum Gehen.

„Sakuya…“

„Mmh?“

„Danke.“
 

~ * ~
 

Matthews Zustand hielt sich noch ganze vier Tage. Mitunter rasten die Tage nur so an uns vorbei. Ein Spiel jagte das nächste und auch sonst gab es ziemlich viel zu tun. Nur einmal schaffte ich es, ein wenig Zeit für Kida abzuzweigen. Ein kleiner Lichtblick, als sich Kevin dieses Mal zurück nahm und versuchte, die Situation nicht mehr ganz so scharf zu betrachten.

Dass Kida sich tatsächlich dazu durchringen konnte, ins Stadion zu kommen, freute mich sehr. Kurz musste ich an früher denken und daran, dass er es zwar nicht gemocht hatte, aber trotzdem bei vielen Spielen und dem Training anwesend gewesen war.
 

Den letzten offiziellen Termin in absehbarer Zeit hatten wir am 17. Oktober. Ein Interview mit kurzem Fotoshooting, was uns ziemlich gut gelegen kam. Wir wollten, wie immer nach Ende der Saison für einige Tage nach Bosten rüber, um Kevins Eltern zu besuchen, und nun stand auch noch am 18. Daryls Geburtstag auf den Plan, was sich super kombinieren ließ. Nur leider gestand mir Charize eine knappe Woche zuvor, dass sie wieder mal andere Pläne hatte.

„Ich kann mir jetzt nicht einfach zwei Tage frei nehmen“, diskutieren wir schon seit Minuten.

„Aber es ist sein Geburtstag.“

„Daryl ist ein großer Junge, Schatz. Er wird es schon verstehen.“

„Wenn du meinst… aber ich bring dir keine Torte mit“, grinse ich fies und flüchte, des Themas müde ins Freie.

Den Rasen überquert mache ich Kevin im Käfig ausfindig.

„Charize kommt nicht mit nach Boston“, verschlinge ich meine Finger ins Gatter, schaue dem Ball hinterher, der von einem lauten Knall auf Metall erwartet wird.

„Sie wird gute Gründe haben“, wird sich für den nächsten Ball bereit gemacht.

„Hat sie, trotzdem nervt es mich.“ Der nächste Ball wird geschlagen.

„Hier“, tritt er aus dem Käfig hinaus und reicht mir den Schläger. „Ein paar Bälle und schon ist die Wut verraucht.“ Seine Augen haften an meinen, während der Schläger den Besitzer wechselt. Die Tür wird hinter mir geschlossen und ich schlage etwa ein dutzend Bälle mit voller Kraft.

„Sag mal“, schieße ich den nächsten Ball wieder in Richtung Ballmaschine. „Würde es dich sehr stören, wenn Kida eventuell mitkäme?“ Meine Konzentration liegt auf dem auf mich zukommenden Ball.

„Es stört mich nicht“, wartet er den Schlag ab. „Aber wirklich begeistert bin ich auch nicht von der Idee.“

„Es ist nur…“ Ein weiterer Treffer. „Ich hatte ihm damals versprochen, ihm irgendwann mal Boston zu zeigen. Es wäre eine gute Gelegenheit…“ Ich weiche dem nächsten Ball aus und bleibe am Gatter stehen. „Oder nicht?“, schaue ich ihn direkt an.

Seine Hände gehen abwehrend in die Höhe. „Ich denke immer noch, dass du ihn nicht zu nahe an dich rankommen lassen solltest.“

„Wenn es nach dir gehen würde, müsste er sich unsterblich in mich verlieben, wenn ich ihm nur den kleinen Finger hinstrecke… das meinst du doch damit, nicht wahr?“

Ein knappes Schulterzucken.

„Warum glaubst du dir da so sicher zu sein?“

Seine Finger gleiten durch das Gitter und kneifen mich in die Wange. Er grinst.

„Vielleicht erzähl ich dir das irgendwann einmal.“
 

Part 71 - Ende
 

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Part 72

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Kida (by Stiffy)
 

„Weißt du eigentlich, wie lange ich mich danach gesehnt habe?“

Sanfte Berührungen… weiche, nackte Haut… Eine geflüsterte Zeit… Lächeln…

„Nein! Mein ganzes Leben lang, mein Schatz.“

Intensive Blicke… Ein Kuss… noch einer… viele weitere… Finger, die Kleidung finden, sie lösen, sie entfernen… weitere Küsse, das Liebkosen von Haut, tieferes Wandern… Stöhnen… keuchen… Worte der Lust…. intime Worte… feste Berührungen… verlangendes Eindringen… feste Stöße…

„Mehr!“, dringt es über die Lippen. Laut, stöhnend, schreiend… immer weiter, weiter und weiter…

Es vermischt sich mit Blicken, sanfte Berührungen nun wieder… zärtliche Worte und dem Streicheln unter rieselndem Wasser… der mit dem Duft von Kokos…

„Ich habe dich vermisst.“

Neckende Worte… Wieder ein Kuss, eine leidenschaftliche Zunge… Hände, streichelnde Bewegungen... sie gehen über in ein ruhigeres Gefühl, dem Gefühl, etwas in der Hand zu halten…

„Nein, nein… mach dir keine Sorgen, es ist kein Ring!“

„Das würde mir keine Angst machen.“

Ein Lächeln, ein Blick… dann die Schachtel, die sich öffnet…

Ein kleines, silbernes, strahlendes Ding… er, wie er näher kommt, eine Berührung am Ohr…

„Habe ich dir heute eigentlich schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?“
 

Schweißgebadet reiße ich die Augen auf. Ich fahre in die Höhe, Dunkelheit verschlingt mich… und doch dreht sich alles um mich herum, Lichter, Worte… das Zimmer, die Dunkelheit… In mitten dieses Wirbelsturms lasse ich mich treiben, sinke wieder hinab, berühre mich, beginne zu stöhnen… Es dreht sich weiter um mich, in mir… grün, sanftes Grün… verschlingend, erdrückend, sehnend… ich stöhne erneut, kralle meine Hand ins Kissen, werfe den Kopf zurück… Das Gefühl eines Kusses, ich schließe die Augen, keuche, unterdrücke einen Schrei… spüre noch mehr, feste, leidenschaftlichere Finger…

„Mein ganzes Leben lang, mein Schatz.“

Ich bäume mich auf… ein letzter Schrei, eine letzte Emotion… dann stürze ich zurück, zurück in die Tiefe, vom Höhepunkt hinab in einen Abgrund, der mich zu verschlingen droht. Der Wirbelsturm hat aufgehört.

Ich schalte das Licht an.
 

Minuten lang liege ich da und mein Körper wird einige Male von Zittern ergriffen. Ich schlinge die wärmende Decke nicht um mich, schaffe es nicht, mich nur einen Millimeter zu rühren. Ich starre gegen die Lampe und ich weiß nicht, was ich denken soll.

Die weißen Überreste kleben wie Schuld an meinen Fingern.

In meinem Kopf kreisen noch immer die Worte herum, auch wenn sie langsam verblassen…

War es nur ein Traum oder ist es damals wirklich so passiert? Ich kann mich kaum daran erinnern…

Aber ich will es doch auch gar nicht, will nicht daran erinnert werden, keine Gefühle von damals spüren… nicht diese Sehnsucht…

Ich richte mich im Bett auf und lasse nun endlich meinen Blick auf dem Wecker ruhen. Vier Uhr nachts… ich sollte weiter schlafen.

Statt dies zu tun, nehme ich mir ein Taschentuch, reibe unnötig oft über meine Finger hinweg bis sie brennen… dann stehe ich auf. Meine Füße tragen mich zum Schrank, aus dem ich das Kästchen hole. Schnell ist es geöffnet und das Schmuckstück liegt in meinen Fingern.

Blutrot von Silber umgriffen…

„Mach dir keine Sorgen, es ist kein Ring!“

Meine Hand zittert, während ich das kleine Ding halte, mein ganzer Körper vibriert. Ich sehe Bilder vor mir... ein Ohr mit diesem Stecker darin, blonde Haare, die ihn umlaufen.

Es ist so lange her…

Ich stecke den Ring zurück, als ich ihn vor Zittern kaum noch halten kann. Ich schließe das Kästchen, lasse es stehen.

Im Bad schalte ich das Wasser an, doch während es fließt, kommen auch hier wieder Bilder hoch… so viele, so lange vergangene… ich hatte sie vergessen… war es wirklich so geschehen?

Ich schalte das Wasser wieder ab und sinke auf den Duschrand hinab. Hier vergrabe ich mein Gesicht hinter meinen Händen. Sie zittern noch immer.

Wie kann es sein, dass mich all das einholt? Wieso jetzt.. so plötzlich?
 

~ * ~
 

Keine Minute mehr geschlafen aus Angst vor weiteren Träumen, fällt die Arbeit an diesem Tag schwer, sehr schwer. Timothy fragt, doch ich antworte nicht… ich sage nur, dass ich schlecht geschlafen habe. Ein Alptraum.

Auch über das Spiel will ich nicht reden. Schon gestern hat er bemerkt, dass ich danach sehr abweisend war, einfach nur nach Hause wollte… Ich habe es damit erklärt, dass es mir nicht gut ginge, dass ich wahrscheinlich krank werde. Diese Lüge bleibt bestehen, durch den Tag hindurch, da ich vor Müdigkeit blass bin und mir selbst Shawn, der sonst auf so etwas nicht achtet, sagt, dass ich aussehe, als würde ich gleich umkippen.

Der Aufforderung, früher frei zu machen, gehe ich nicht nach. Ich will nicht schon wieder allein sein, in meiner leisen, flüsternden Wohnung.

Natürlich bin ich es später dennoch und auch der Fernseher schafft es nicht, mich mitzureißen. Ich sehe Bilder vor mir, auch wenn es nun eher welche der vergangenen Tage sind. Ich sehe blonde Haare unter einem schwarzen Cap… das Schwingen eines Schlägers… und ein fröhlicher Gesichtsausdruck.

Wieso geht mir all das nicht aus dem Kopf?
 

Fast bin ich gewillt, an diesem Abend Beruhigungstabletten zu schlucken, doch erstens habe ich keine und zweitens ist mein Respekt vor den Dingern zu groß, als sie einfach so zu nehmen. Allein aus der unbegründeten Sorge heraus, nicht wieder aufzuwachen, würde ich sie nicht so einfach nehmen.

Also liege ich wach, obwohl ich eigentlich todmüde bin. Immer wieder öffne ich die Augen, obwohl ich mich zwingen will, sie zu schließen.

Kann ich nicht morgen aufwachen und alles ist wie vorher?

Aber welches Vorher meine ich eigentlich?
 

~ * ~
 

Zum Glück schlafe ich in dieser Nacht besser und größtenteils traumlos, weshalb ich mich weniger fertig auf den Weg zur Arbeit mache. Dennoch trifft mich ein besorgter Blick, als ich den Aufzug betrete.

„Bist du krank?“, fragt sie und kommt mir näher.

Ihre Hand will meine Stirn berühren, doch ich schüttle den Kopf.

„Nein, mir geht es gut“, versuche ich ein dankendes Lächeln.

„Wirklich? Du siehst schlecht aus…“

Rachel fährt an ihrer Etage vorbei.

„Ich bekomme im Moment zu wenig Schlaf“, versuche ich mein blasses Erscheinungsbild, welches ich nun auch in der Spiegelwand erkennen kann, zu erklären. „Die Arbeit frisst mich auf.“

„So schlimm?“ Sie lächelt.

„Ja. Aber am Freitag ist die Endpräsentation. Hoffentlich ist es dann vorbei…“

„Schafft ihr es bis dahin? Freitag sah es so aus, als hättet ihr noch ne Menge vor euch…“

„Wir müssen einfach noch einige Überstunden machen“, erkläre ich und bin fast dankbar über diese Tatsache.

„Schade, dass man die nicht ausbezahlt bekommt, was?“

„Ja… dann wäre ich diesen Monat schon reich“, lache ich.

In Etage 9 angekommen, steige ich aus.

„Sehen wir uns zum Mittagessen?“, drückt sie die Taste zum Öffnen der Tür, während ich schon draußen stehe.

„In Ordnung. Holst du mich ab? Ich bin den ganzen Morgen im 142.“

„Okay. Bis nachher!“ Sie lässt die Taste los und kurz darauf schließt sich die Tür. Ich drehe mich um und verschwinde schnell in meinem Büro.
 

Beim Mittagessen versucht Rachel ein weiteres Mal auf meinen schlechten Zustand einzugehen, doch da ich keine plausiblere Erklärung finden kann, bleibe ich bei der, dass ich einfach schlecht schlafe im Moment. Was wirklich der Grund ist, was wirklich in mir vorgeht, kann ich nicht erzählen… Ich kann es ja noch nicht mal denken!

Also bin ich dankbar, als sie das Thema wechselt und mir von ihrem Wochenende erzählt. Rico sei bald für ein paar Tage in einem Feriencamp… und somit das erste Mal für längere Zeit von Zuhause weg.

„Ach, sag mal! Du kommst doch zu meiner Party, oder?“, fragt sie plötzlich, irgendwann dazwischen.

„Party?“

„Mein Geburtstag“, erklärt sie lächelnd. „Die Party ist nächste Woche Freitag…“

„Na, da werd ich mal gucken, ob ich das einrichten kann.“

„Das musst du!“, droht sie mir mit ihrer Gabel.

„Ich habe wohl keine andere Wahl.“
 

Am Abend zuhause wollen mich die Gedanken schon wieder einholen, welche ich zu verdrängen versuche. Ich lasse es zu, wenigstens für ein paar Minuten, versuche sie zu analysieren, zu verstehen…

Es sind keine Gefühle, es ist nur das Begehren dieser einen Person… es ist die Verwirrtheit in mir drin, die Ähnlichkeit durch Ashlee. Ich mochte ihn nicht, weil er Sakuya ähnelte… ich habe die Ähnlichkeit nicht bemerkt, erst zum Ende hin… und ich habe doch aufgehört, weil ich sie bemerkt habe, nicht wahr?

Wissend, dass das vollkommener Quatsch ist, was ich mir da zusammenreime, beschließe ich, Sakuya anzurufen. Warum ich es gerade jetzt tun will, weiß ich nicht. Ich glaube, ich will einfach seine Stimme hören, hören, dass noch immer alles beim Alten ist… dass wir anfangen, Freunde zu werden, ganz normale Freunde, nichts weiter… nichts, was diese Verwirrtheit begründen könnte.

Ich will doch auch gar nicht, dass es etwas anderes wird!

Also wähle ich Sakuyas Nummer aus dem Adressspeicher aus. Bevor ich allerdings bestätige, starre ich sie an.

Es ist lange her, dass dieser Name irgendwo bei mir aufgetaucht ist…

Ich weiß nicht wieso ich jetzt, da ich die Zahlen ansehe, versuche, mich daran zu erinnern, wie sie früher lauteten. Es ist so viele Jahre her, natürlich kann ich mich nicht mehr daran erinnern… Ich weiß nur noch, dass die letzte Ziffer eine Vier war… und ich glaube davor kam eine Sieben.

Wann habe ich sie eigentlich gelöscht? Hatte das nicht was mit Ami zu tun?

Mich kopfschüttelnd von dem Gedanken losreißend, bestätige und ich sehe zu, wie der kleine Telefonhörer und die Pfeile erscheinen… Verbindung wird gesucht, ist gefunden… ich nehme den Hörer ans Ohr.

Worüber will ich eigentlich mit ihm reden?
 

Es wird kein besonders langes Gespräch, das wir führen, doch als ich wieder auflege, bin ich froh, es dennoch geführt zu haben. Ich habe mich nach seinen Plänen für die nächsten Tage erkundigt, habe ihm erzählt, wie es auf der Arbeit läuft, habe Charize grüßen lassen… nichts besonderes, einfach nur ein Gespräch, wie man es als Freunde führen sollte… und genau das ist es, was mich nun aufatmen lässt.

Ja, ich spüre mein Herz schlagen, ich sehe ihn vor mir, wenn ich die Augen schließe… und doch habe ich es geschafft, ganz normal mit ihm zu sprechen, mit ihm zu lachen und mich nicht irgendwie komisch zu fühlen, als der Name seiner Freundin fiel. Ich habe mich nur in diese Sache hineingesteigert, es ist nichts besonderes, nur die ein wenig abgleitenden Gedanken an eine vergangene Beziehung… ist das denn nicht normal, wenn man sich nach so vielen Jahren wiedersieht?
 

~ * ~
 

Ich beschließe, mir in den nächsten Tagen keine Gedanken mehr darüber zu machen und ich beschließe, mich zu beruhigen bis zu unserem nächsten Treffen. Dies ist noch nicht vereinbart, wir wollen am Wochenende noch mal telefonieren, wenn er genauer sagen kann, wann er ein wenig Zeit hat. Ich freue mich auf das Telefonat, ich freue mich auf das Treffen mit ihm… ich freue mich, wie man sich als Freund freuen kann.

Weiter denke ich nicht darüber nach, die ganze restliche Woche nicht. Wann immer diese Gedanken in meinen Kopf fahren, verdränge ich sie, erdrücke sie und vergrabe mich in der Arbeit… bin froh, dass wir so viel zu tun haben und versuche auch nicht darüber nachzudenken, was ich mache, wenn dieses Projekt abgeschlossen ist. Zwar haben wir noch zwei weitere Aufträge hereinbekommen, aber sie erfordern weitaus weniger Anstrengung, weniger Zeit, keine Überstunden… Was mache ich, wenn ich ab Samstag wieder mehr Zeit für mich alleine habe?
 

Die Präsentation verläuft ungeachtet zweier winziger Pannen hervorragend. Die Kunden sind begeistert und tragen uns auf, ihnen am Montag das fertige Produkt zukommen zu lassen. So verbringen wir den folgenden Samstag bei der Arbeit, stellen alles fertig und es ist an der Zeit, sich ein klein wenig stolz zu fühlen… und als ich später nach Hause komme, habe ich das Bedürfnis, das jemandem zu erzählen. Natürlich begrüßt mich aber nur meine leere Wohnung auch an diesem Tag, weshalb die Freude ein ganzes Stück wieder verraucht.

Auf meinem Sofa sitzend, verspüre ich das Gefühl, Sakuya anrufen zu wollen. Ich will ihm erzählen, wie es gelaufen ist, wie wir uns geschlagen haben, will ihm sagen, dass ich das Verlangen habe, ihn zu sehen…

Natürlich denke ich nicht eine Minute lang ernsthaft daran, ihn anzurufen. Stattdessen wähle ich eine japanische Nummer und bin froh, als Tatsuya abnimmt. Über eine Stunde lang rede ich mit ihm und schaffe es dabei, dieses merkwürdige Verlangen wieder loszuwerden, indem ich ihm nichts davon erzähle.

Nur die abgleitenden Gedanken an eine vergangene Beziehung, rede ich mir erneut ein… mehr ist das alles nicht!
 

~ * ~
 

Am Sonntag ruft Sakuya mich wie versprochen an. Ihm sagen, wie sehr ich mich darüber freue, tue ich nicht, ebenso wenig wie, dass ich mich sehr darauf freue, ihn wiederzusehen. Wir machen den Zeitpunkt des Treffens aus, machen aus, dass ich bei ihm vorbeikomme… und dann legen wir auch schon wieder auf, da er noch etwas mit Charize vor hat. Ich wünsche ihm viel Spaß… und als es still in der Leitung geworden ist und ich das Telefon zurück auf die Ladestation gebracht habe, muss ich plötzlich daran denken, wie das Glitzern an ihrem Handgelenk aussah. Den Stich, den der Gedanke auslöst, ignoriere ich.
 

Den restlichen Sonntag schaffe ich es aus irgendwelchen Gründen sehr schlecht, von den Gedanken an Charize wegzukommen. Ich habe mit einem Mal das Bedürfnis, zu wissen, wie sie zusammengekommen sind. Er kennt sie durch ihre Arbeit bei der Kanzlei, so viel weiß ich… doch weiter? Wie hat er sich in sie verliebt? Wie hat sie sich in ihn verliebt? Wann haben sie sich das erste Mal geküsst?

Vielleicht denke ich darüber nach, um mir der Beziehung, die Sakuya führt, bewusster zu werden… und vielleicht zum ersten Mal denke ich wirklich darüber nach, dass es eine Frau und kein Mann ist, mit der er wählte, zusammen zu sein. Kein Mal vorher habe ich daran gedacht, immerhin passiert so etwas häufig. Auch ich hätte zurück zu den Frauen gehen können, doch habe ich gemerkt, dass es nicht wirklich das ist, was ich will. Bei ihm war das anders… und das ist okay so, das ist gut so, denn Charize ist ein netter Mensch, sie macht Sakuya glücklich, bringt ihn zum Lachen. Außerdem darf sie in der Öffentlichkeit seine Hand halten und ihn küssen. Es passt gut… er hätte sich keinen besseren Menschen aussuchen können.

Dass mein Magen sich bei diesen Gedanken herumdreht und sich irgendwas in mir sträubt… ja, das bemerke ich, aber ich ziehe vor, nicht darüber nachzudenken. Ich will nicht darüber nachdenken. Es hat keinen Sinn.
 

~ * ~
 

Das Treffen am Mittwochabend verläuft gut, sehr gut sogar. Bereits als ich bei ihnen ankomme, spüre ich die gute Stimmung in der Luft und beschließe, mich davon bedingungslos mitreißen zu lassen. Zu fünft sitzen wir am Tisch, essen, lachen, machen Witze… und sogar Kevin wechselt ein paar Sätze mit mir, auch wenn ich mir sicher bin, dass ich sie an zwei Händen abzählen könnte.

Später am Billardtisch sind wir nur noch zu dritt. Charize feuert ihren Freund an, der beim ersten Spiel um zwei Kugeln zurückliegt, und als ich schließlich die Schwarze ins falsche Loch spiele, wird triumphierend in die Hände geklatscht. Es lässt mich lachen, die beiden anstrahlen und ein Gefühl entstehen, dass ich so unglaublich froh bin, hier zu sein. Und das Lachen, das Sakuya mir schenkt, als er mir die Hand zur Revenge hinhält, lässt mein Herz schneller schlagen.

Ich bin glücklich, eine zweite Chance bekommen zu haben, dich kennenzulernen.
 

In der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag träume ich irgendwelchen verwirrten Unsinn daher. Ich weiß nicht mehr was es war, als ich aufwache, aber ich kann mich an Sakuya erinnern… und ich glaube er hat sich mit Yamada unterhalten, bis Charize dazu stieß und sie über mich lachten.

Ich bin froh, als sich auch die letzten Erinnerungen an diesen merkwürdigen Traum im Laufe des Tages in Luft auflösen und sie nicht mehr meinen Kopf auffressen.
 

~ * ~
 

Bereits am Donnerstag eine ähnliche, kleine Überraschungsfeier bekommen wie ich, feiert Rachel ihren Geburtstag am Freitag ziemlich groß. Viele unserer Kollegen sind anwesend, zum ersten Mal lerne ich Yosukes Frau kennen und Sarah, eine von Rachels Freundinnen, schenkt mir den gesamten Abend ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich nehme dies an, da ich sie nett finde, und doch mache ich ihr schnell klar, dass zwischen uns nichts passieren wird.

„Nein, aber es gibt jemanden, den ich mag“, antworte ich auf ihre Frage, ob ich eine Beziehung habe, und selbst wenn das gelogen ist, so hilft es mir zumindest dabei, sie nicht auf sexuelle Weise an meiner Seite kleben zu haben.

Sarah redet über Filme mit mir, was daher kommt, dass sie bei der Frauenzeitschrift, bei der sie arbeitet, vor kurzem diese Rubrik übernommen hat. Sie erzählt mir, dass sie in der letzten Woche zehn verschiedene Schnulzenfilme bewerten musste, und dass man irgendwann keine Lust mehr auf diesen kitschigen Kram hat.

„Ich liebe Action!“, stöhnt sie und lehnt sich an meine Schulter. „Aber das wollen die Frauen nicht lesen… irgendwie ist das ziemlich anstrengend!“

„Das kann ich mir vorstellen…“, lasse ich meinen Blick über die anderen, sich unterhaltenden Gäste schweifen. Ich spüre sie an meiner Seite und frage mich, ob es unhöflich wäre, nun aufzustehen… und ich lasse es, da ich mir sicher bin, dass es zu offensichtlich ist. Außerdem habe ich Shawns grinsenden Blick gesehen. Er denkt wahrscheinlich, dass ich es heute Nacht ähnlich wie er machen werde… aber ich bin mir sicher, dass ich Sarah einfach nur nach Hause bringen werde, ohne Kuss und ohne weitere Berührungen.

Ob mein Leben leichter wäre, wenn ich wie Sakuya die heterosexuelle Seite gewählt hätte?

Plötzlich habe ich das Bedürfnis, mit ihm darüber zu reden.

„Wie wäre es, wenn wir die Woche mal ins Kino gehen?“, reißt Sarah mich aus meinen Gedanken zurück.

Ich sehe sie an.

„Nur so!“, erklärt sie sofort und zieht sich von meiner Seite zurück. „Rachel hat im Moment zu viel zu tun und meine Freundinnen stehen eher auf die Filme, welche ich bewerten soll…“ Sie zuckt mit den Schultern. „Dabei würde ich so gerne mal über einen Thriller schreiben…“

„Ich weiß nicht…“, versuche ich einen leichten Widerstand. Eigentlich ist sie ja ganz sympathisch…

„Ach, komm schon, nur ein Mal! Mach einer hübschen Frau eine Freude…“

Sie klimpert mit den Augen und ich muss lachen. Dann stimme ich zu. Wir verabreden uns für Mittwoch.
 

~ * ~
 

Am Samstag nehme ich mir vor, Sakuya anzurufen. Ich weiß zwar, dass er im Moment nicht besondern viel Zeit hat, aber wenigstens ein paar Minuten am Telefon sollten kein Problem sein. Wieso ich mit einem Mal solche Angst habe, dass unser Kontakt zum Erliegen kommen könnte, wo doch alles eigentlich immer nur positiver wird, weiß ich nicht.

Bevor ich am Nachmittag allerdings dazu komme, wirklich seine Nummer zu wählen, klingelt irgendwann mein Telefon und zeigt genau diese Zahlen an. Erfreut nehme ich das Telefonat entgegen.

„Wie problematisch ist es für dich, ein paar Tage freizunehmen?“, kommt Sakuya auch ziemlich schnell darauf zu sprechen, weshalb er anruft.

„Ich weiß nicht. Ich hab das bisher noch nie versucht“, gebe ich zu… überrascht über die plötzliche Frage.

Was hat er vor?

„Habt ihr denn im Moment viel zu tun?“

„Nein, normal halt“, zucke ich die Schultern. „Wieso fragst du?“

„Naja…“ Er scheint zu zögern. „Kevin und ich wollten für ein paar Tage nach Boston fahren. Matthew kommt auch mit und eigentlich Charize… aber sie kann sich nicht frei nehmen… und nur mit Kevin und Matthew fühle ich mich wie das fünfte Rad am Wagen… Deshalb…“

Er stockt… Ich lausche in die ruhige Leitung, nicht wissend, was ich sagen soll. Mein Herz schlägt zu schnell für diesen Moment.

„Kannst du dich daran erinnern, dass ich mal gesagt habe, ich würde dir Boston zeigen?“

Mein Herz setzt aus.

„Ja.“ Meine Stimme bricht. Sofort räuspere ich mich, hoffe, dass er es nicht bemerkt hat. „Ja, das weiß ich noch.“

„Gut.“ Ein hörbares Lächeln. „Möchtest du mit uns nach Boston kommen?“
 

Aus irgendeinem Grund vergehen die nächsten Minuten sehr schnell und ohne viel meines Zutuns. Ich sage Sakuya, dass ich es schaffen sollte, ein paar Tage frei zu bekommen, und sofort verkündet er mir freudig, wann genau was geplant ist. Am Donnerstag früh geht es los… und dann werde ich Boston kennenlernen, seine Heimatstadt.

„Und du siehst Amber!“, höre ich seine Begeisterung. „Sie ist so ein Sonnenschein. Du wirst sie lieben, das schwör ich dir!“

Er scheint sich sehr darüber zu freuen, dass ich mitkomme… und auch ich freue mich, doch ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll. Ich tue mir schwer damit, da ich das Gefühl habe, es erst einmal verarbeiten zu müssen. Ich habe das Gefühl, schon wieder von der Vergangenheit überrollt zu werden.
 

Als Sakuya aufgelegt hat, ist meine gesamte Energie, welche an diesem Tag in mir steckte, verrauscht. Ich sitze da und ich kann mich daran erinnern, wie er damals zu mir sagte, dass er mir Boston zeigen würde… er würde mir zeigen, wo er gelebt hat, was er an der Stadt liebt… er würde mir zeigen, wie wunderschön sie ist…

„In der Stadt, die ich liebe, mit der Person, die ich liebe…“, hatte er mir zugezwinkert.

Durch einem unangenehmen Magendrücken zusammengezuckt, stehe ich auf. Ich lege das Telefon weg und beschließe, einkaufen zu gehen, ein paar Sachen für das Wochenende und die kommende Woche.

Natürlich bringt dies nicht die erhoffte Abwechslung und ich muss, während ich Aufschnitt oder Gemüse in meinen Wagen räume, immer wieder daran denken, wie glücklich wir damals waren. Wir hatten nicht gedacht, dass nur so kurze Zeit später alles vorbei sein würde… wir hatten nicht gedacht, dass er sein Versprechen nicht einlösen können würde… und danach hatten wir beide garantiert niemals gedacht, dass doch eines Tages dieser Zeitpunkt kommen würde.

Als ich an der Kasse stehe, habe ich das Gefühl, erdrückt zu werden, von meinen Empfindungen… von der Gewissheit, dass sich Vergangenheit und Gegenwart immer weiter miteinander verknüpfen, dass ich es nicht schaffe, dies aufzuhalten… dass es wahrscheinlich besser gewesen wäre, wenn ich nie zu Sakuya gegangen wäre.
 

~ * ~
 

In den folgenden Tagen denke ich darüber nach, dass ich nicht nachdenken will. Dieses dämliche Verfahren schafft es tatsächlich, dass es mir einigermaßen besser geht. Klar, es lässt mich kaum die Tatsachen vergessen, aber ich analysiere nichts… ich zwinge mich, nichts zu analysieren.

Den Gedanken, dass ich bald nach Boston fahren werde, versuche ich in etwas Positives umzuwandeln. Er bedeutet nicht nur eine merkwürdige Erinnerung an die Vergangenheit, sondern auch ein paar Tage mit einem Freund etwas zu unternehmen… einfach mal etwas Neues kennenzulernen.

Als ich Timothy sage, dass ich mir für ein paar Tage frei nehme, um an die Ostküste zu fliegen, werde ich neidisch angeblickt und er sagt, dass er schon lange keinen richtigen Urlaub mehr gemacht hat. Und vielleicht dadurch beschließe ich letztendlich, es wirklich nur als das zu sehen, was es definitiv ist: Urlaub.
 

Am Mittwoch bin ich fast froh, dass ich mit Sarah fürs Kino verabredet bin. Wie schon zuvor ist es mir in den letzten beiden Tagen schwer gefallen, mich abends zu beschäftigen, wenn ich alleine in meinem Appartement war. Meinen nervigen Gedanken und dem komischen Verlangen, welches ich nicht benennen will, sollte ich nicht noch mehr Pflege schenken… vor allem nicht, da ich ab morgen mehrere Tage mit Sakuya verbringen werde.

Der Film, den Sarah ausgesucht hat, ist spannend, und begeistert sagt sie mir danach, als wir einen Stopp in einer Bar einlegen, dass sie garantiert einen Artikel darüber schreiben wird. Gemeinsam überlegen wir uns ein paar aufhängende Zeilen für diesen.

Später bei Sarahs Wohnung angekommen, drückt sie mir lediglich einen Kuss auf die Wange und außerdem steckt sie mir ihre Visitenkarte zu, fragt nach meiner. Sie sagt, dass es ihr gefallen habe und dann geht sie. Ich bin froh darüber, dass das alles ist und mache mich auf den Heimweg.
 

Wieder im Appartement angekommen, führt mich mein Weg schnell ins Schlafzimmer. Es ist schon spät und morgen muss ich früh raus, sehr, sehr früh. Also schalte ich das Licht ab, nachdem ich nochmals meinen Koffer kontrolliert habe, den ich zwischen Arbeit und Kinobesuch gepackt habe. Nun im Bett allerdings liege ich mal wieder mit offenen Augen da. Die zwei Bier, welche ich getrunken habe, zeigen ihre sonst einschläfernde Wirkung heute nicht… im Gegenteil. In meinem Kopf drehen sich die Gedanken um mich herum… um Sakuya herum… um den bevorstehenden Tag.

Ich weiß nicht, was ich erwarten soll… und doch erwarte ich wahrscheinlich viel zu viel.

Ob es dazu führen wird, dass wir das erste Mal über unsere Vergangenheit reden werden, nun, da ein Versprechen von damals eingelöst wurde? Will ich das überhaupt? Will ich mit ihm darüber sprechen? Will ich mit ihm über unsere Trennung sprechen… und über die Zeit davor…

„Vermisst du Boston?“, klingt es irgendwo ganz hinten in meinen Gedanken… flüsternde Worte einer weit zurückliegenden Zeit.

Ich wälze mich herum und vergrabe mich weiter in meiner Decke… ich versuche an Zahlen zu denken, daran, was wir heute bei der Arbeit gemacht haben… und dann versuche ich, über den Film nachzudenken, darüber, was Sarah wohl schreiben wird…

Es hilft nichts… gar nichts davon hilft, denn viel zu laut ist etwas anderes, ganz tief in mir drin:

„Ja, sehr... Es gibt keine schönere Stadt für mich...“

Und dennoch hatte er sich ein paar Monate später gegen sie entschieden. Für mich.

Ich war es, der sich gegen ihn entschieden hat.
 

Part 72 - Ende
 

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Part 73

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Antwort:

Wir wollen an dieser Stelle eine kleine Frage beantworten, welche uns vor kurzem per Kommentar erreichte: Sprechen Kida und Sakuya jetzt eigentlich untereinander japansich oder englisch?

Sie sprechen englisch. Immerhin befinden wir uns in Amerika und Kida muss allein wegen seinem Job die Sprache beherrschen. Zudem würde es Sakuya wohl nicht einfallen, japanisch zu reden, immerhin ist es für ihn vollkommen normal, sich auf Englisch zu verständigen.
 

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Sakuya (by littleblaze)
 

Pünktlich um fünf Uhr in der Früh erwartet uns Kida vor dem Haupteingang des Flughafens. Ich küsse Charize zum Abschied und während Kevin und Matthew das Gepäck hinausbefördern, lege ich meiner Freundin noch einmal nahe, dass ich nicht besonders begeistert davon wäre, wenn sie mit einem männlichen Kollegen alleine bei uns zu Hause arbeiten würde.

„Dir wäre es also lieber, wenn wir bei ihm zu Hause arbeiten würden“, kontert sie neckisch. Ich belasse es bei einem kritischen Blick und steige aus dem Wagen.

Als nächstes begrüße ich Kida, dem die Müdigkeit noch mehr ins Gesicht geschrieben steht als mir selbst, und der sich oberflächlich mit Matthew austauscht. Nach ein wenig morgendlichem Smalltalk betreten wir das Gebäude und steuern auf den Check-In der Fluggesellschaft „United“ zu.

Wir reichen unsere Pässe und Onlinereservierung hinter den Schalter weiter. Unser Gepäck wird eingecheckt und mit vier Erste-Klasse-Tickets machen wir uns kurze Zeit später auf den Weg zum richtigen Gate. Der Flughafen ist durch die vielen Auswärtsspiele fast schon zum zweiten Zuhause geworden.

„Ich zahl es dir dann später zurück“, kommt es nach halbem Weg leise von der Seite.

„Mach dir keine Sorgen“, winke ich ab. „Wir sind so viel unterwegs, da können wir dutzende von Tickets mit unseren Viel-Flieger-Meilen bezahlen.“ Ich zwinkere Kevin zu. Eine kleine Lüge, die niemandem weh tut.

„Oh, okay…“

Um einige Zeitschriften und Leckereien aus dem Shop schwerer, erreichen wir gut getarnt unsere Abflughalle. Mit Cap und Sonnenbrille für die Menge um uns herum unsichtbar, nehmen wir im hinteren Teil platz.

„Wie lange fliegen wir überhaupt?“

„Sechs Stunden“, gebe ich Kida wohl ein wenig geistesabwesend Auskunft, denn ich kann meine Augen gerade nicht von der riesigen Scheibe nehmen, vor der Matthew nach Kevins Hand gegriffen hat und dieser rein gar nichts dagegen zu unternehmen scheint.

„Was?“

„Ob du immer noch Höhenangst hast?“

„Du erinnerst dich?“, entfernt sich mein Blick von den beiden und lächelt Kida an.

„Sogar ziemlich gut.“

„Ich bin noch immer nicht der Höhe bester Freund, aber an sich hat sich das Problem so langsam aufgelöst.“

Ich blicke nach hinten, als die Ansage erklingt. Kevin und Matthew treten zu uns heran und nehmen ihr Handgepäck auf.

„Dann wollen wir mal“, greife ich ebenfalls nach meinen Rucksack.

Wir betreten mit ein paar anderen Erste-Klasse-Passagieren das Flugzeug. Große bequeme Sessel und freundliche Stewardessen erwarten uns.

„Ich werde gleich noch etwas schlafen“, strecke ich mich der Länge nach.

„Ich werde es versuchen, die Nacht war ziemlich kurz.“

„Vorfreude?“

„Auch“, lächelt er zaghaft.

Ich ergreife meinen Sicherheitsgurt und ziehe ihn stramm.

„Es wird bestimmt toll“, setze ich an. „Endlich kann ich dir Boston zeigen und du lernst Carol-Ann kennen. Kannst du dich eigentlich noch an sie erinnern?“

„Vage.“

„Und Amber, sie ist mein kleiner Sonnenschein.“ Ich erzähle ihm ein wenig über die kleine Familie, die ich zu den wichtigsten Personen in meinen Leben zähle, komme auf unser altes Haus und Kevins Eltern zu sprechen.

„Wie sind sie denn so?“

„Kevins Eltern?“, spreche ich ein wenig leiser, um die Aufmerksamkeit der vorderen Sitze nicht auf uns zu ziehen.

„Ja.“

„Es sind ganz wunderbarer Menschen, du wirst sie bestimmt sofort ins Herz schließen.“

Ich lehne mich im Sitz zurück, schaue gen Fenster und begleite die kleinen Tropfen, die durch den Fahrtwind an der Scheibe entlang gedrückt werden. Kurz muss ich an meine eigenen Eltern denken. An meinen Dad, dem ich keine Chance auf Versöhnung gewährt habe, und an meine Mom, die so weit weg von mir ist. Ich vermisse sie…

Wir heben ab.
 

14.56 Uhr, Logan International Airport. Eigentlich keine Seltenheit mehr hier zu sein, doch dieses Mal ist es irgendwie komisch, besonders als ich Kida seinen Koffer reiche. Den gewünschten Schlaf habe ich auch nicht erhalten, obwohl es für mich schon lange nicht mehr als Problem gilt, beim Fliegen zu schlafen. Ich musste an Charize denken, die jetzt eigentlich an meiner Seite sitzen und nicht zu Hause mit irgendwelchen Lackaffen abhängen sollte. Und ich musste darüber nachdenken, wie unwirklich meine jetzige Begleitung doch eigentlich war. Niemals hatte ich damit gerechnet, ihn wiederzusehen, noch unmöglicher wäre die Vorstellung gewesen, dass ich gerade mit ihm nach Boston, zu Kevins Eltern und zu Daryls Geburtstag flog.

Unser erster Weg nach der Gepäckausgabe führt uns zu einer der ansässigen Autovermietungen, bei der wir auch schon vorsorglich im Internet gebucht haben. Ausgewiesen und mit Kreditkarte bezahlt geht alles ziemlich schnell den schon bekannten Gang und auch hier wird man bevorzugt behandelt, indem wir bis zu den gemieteten Wagen eskortiert werden.

Kida und ich steigen zuerst in einen der europäischen Wagen, die sich außer von der Farbe her nicht unterscheiden. Ich stelle Spiegel und Sitz ein und fahre von einem der riesigen Flughafenparkplätze hinunter. Ich schalte die Heizung an, der Temperaturunterschied ist Mitte Oktober schon gut zu spüren.

Den gesamten Heimweg verbringe ich damit auf Gebäude, Straßenzüge und für mich wichtige Orte hinzuweisen. Ich erzähle hier eine Anekdote, beschreibe dort eine Begebenheit, und wieder verspüre ich dieses komische Gefühl, als versuche mich die Vergangenheit einzuholen.
 

Das Haus ist leer, als wir es betreten. Kevins Eltern sind noch bei der Arbeit und Aaron ist natürlich auf dem Collegegelände vorzufinden. Wir erklimmen das obere Stockwerk und während ich nach rechts abbiege, schließt sich Kida Kevin und Matthew an, um ins Gästezimmer zu gelangen.

Zu meiner Erleichterung darf ich feststellen, dass sich mein altes Zimmer kein bisschen verändert hat, hat es nie und wird es wahrscheinlich auch niemals. Viele meiner Sachen sind immer noch vorhanden, Dinge, die einfach hier mehr zu Hause sind als irgendwo sonst. Und immer wenn ich herkomme, hier in diesem Zimmer schlafe, erinnern sie mich daran, dass dies ein Ort ist, an dem ich immer willkommen, an dem ich zu Hause bin.

Ich schleudere meinen Koffer aufs Bett, öffne ihn und greife mir die Jacke und das erste Hemd, welches mir unter die Finger kommt. In Rekordzeit ziehe ich mich um, statte dem Badezimmer einen kurzen Besuch ab und verlasse mit Jacke, Autoschlüssel und Portemonnaie bewaffnet nur Minuten später wieder das Zimmer. Ich schlendere mit guter Laune den Gang entlang, lasse meine Finger über das Geländer der Treppe streifen und biege schließlich nach rechts ab, um zum Gästezimmer zu gelangen. Auf ein „Herein“ warte ich erst gar nicht.

„Fertig?“, schiele ich kurz um den Rand der Tür bevor ich diese ganz öffne und hineintrete.

„Noch nicht… mir wurde noch die Badezimmerführung zuteil“, kramt er hektisch in seinen aufgeschlagenen Koffer herum.

„Kein Stress und wenn du möchtest, kannst du gerne auch mein Bad benutzen.“ Ich folge seinem Blick. „Ich würde dies nehmen“, deute ich auf ein dunkles Hemd mit leicht bläulichem Schimmer. „Hast du keine wärmeren Sachen eingepackt?“, überfliege ich weiter den Inhalt seines Gepäcks.

„Nein, ich habe irgendwie total verschlafen, dass das Wetter hier ganz anders ist.“ An seiner Stimme erkenne ich, dass ihm diese Nachlässigkeit unangenehm zu sein scheint.

„Kein Problem, ich kann dir gerne was leihen. Oder wir kaufen dir einfach ein paar neue Sachen.“

„Leihen reicht schon“, bringe ich ihn wohl noch mehr in Verlegenheit. „Es ist wirklich ein schönes Zimmer“, schließt er seinen Koffer und ich nutze den freigewordenen Platz sofort aus, um mich auf dem Bett zu strecken und durch das Dachfenster die Wolken am Himmel zu beobachten.

„Ja, das ist es“, pflichte ich ihm bei, obwohl ich mich an einige der schlimmsten Tage meines Lebens, genau in diesem Zimmer erinnern kann.

Mein Kopf kippt zur Seite und wie von selbst erscheint vor meinem inneren Augen ein von Verzweiflung geprägter Junge, der sich weinend in eine Ecke drückt. Ich schüttle das Bild ab, ich will diese Erinnerungen nicht haben. Mein Augenmerk richtet sich nach vorn. Ist es nicht irgendwie verständlich, dass ich jetzt von diesen Gedanken eingeholt werde? Jetzt, wo er hier ist, an einen Ort mit dem ich noch einiges mit ihm verbinde… ist es unausweichlich, dass ich noch einmal zurück geworfen werde?

„Wie niedlich ist das denn“, bleibe ich auf seiner Haut hängen.

„Das ist gar nichts“, versucht er die Stelle an seinen Körper durch das Hemd zu überdecken. Ich rapple mich vom Bett auf und greife nach einem Zipfel des Kleidungsstückes, hebe es an.

„Zeig doch mal.“

„Es ist nur eine Tätowierung, nichts besonderes.“ Er versucht sich wegzudrehen, doch ich drücke meine Hand gegen seine Hüfte, um dies zu verhindern.

„Stell dich nicht so an… ich zeig dir auch meine.“ Ich lasse von ihm ab und stehe auf. Mein Hemd hinauf gerafft lasse ich ihm freie Sicht auf meinen gesamten Rücken. „Ein bisschen groß, aber mir gefällt es.“

„Warum ein Drache?“

„Ich weiß nicht“, drehe ich mich zu ihm um und bringe mein Hemd wieder in eine ordentliche Lage. „Ein bisschen Mystik und die gewaltige Stärke, die dahinter verborgen liegt… und deins?“

Er dreht sich nun doch freiwillig um, zieht das Hemd hinauf und den Bund der Hose ein wenig hinunter. „Es ist nur eines dieser Tribals, nichts Besonderes oder wirklich Aussagekräftiges“, und schon bedeckt er es wieder.

„Mir gefällt es, trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass du überhaupt eines hast. Du bist irgendwie so gar nicht der Typ dafür.“ Ich lächle.

„Bin ich nicht?“ Er schaut mich intensiv an.

„Nein, irgendwie nicht“, reflektiere ich kurz seinen Blick, bis uns ein Geräusch beide in Richtung Tür blicken lässt.

„Können wir los?“
 

Um kurz nach halb fünf auf die Klingel gedrückt, presse ich Carol-Ann zur Begrüßung an mich.

„Wo ist mein kleiner Sonnenschein?“, stürze ich ins Innere des Hauses vor.

„Weck sie nicht, Sakuya. Sie ist gerade erst eingeschlafen.“

„Ach ja“, stoppe ich. „Carol-Ann Kida, Kida Carol-Ann“, stelle ich sie einander vor, bevor ich hastig die Treppe erklimme.

Vor dem Kinderzimmer drossle ich meine Vorfreude allerdings und drücke vorsichtig die Türklinke hinunter. Auf leisen Sohlen schleiche ich an Mobiles, Stofftieren und bunter Quietscheentchentapete vorbei. Vor dem Gitterbettchen bleibe ich stehen, gehe in die Hocke.

„Na du…“

Die kleinen Finger, das feine Gesicht… alles verlangt danach, sie hochzunehmen, in den Armen zu halten. Die kurzen Momente, in denen ich sie zwischen irgendwelchen Spielen gesehen habe, sind nicht genug für mich gewesen. Ich will die Neugierde in den kleinen Augen miterleben, die glucksenden Geräusche vernehmen… ich sehne mich so sehr nach diesen Dingen. Zaghaft berühre ich einige Haarspitzen.

„Ich hab dich lieb.“

Nach einigen schweigenden Minuten stütze ich mich an den Gitterstäben ab und verlasse das Zimmer. Einen kleinen Stimmungsumschwung hervor beschwört treibt es mich hinab und ins Wohnzimmer, in dem sich angeregt unterhalten wird. Ich setze mich neben Matthew auf das Sofa und versuche die Wortfetzen zu einem Ganzen zusammen zu binden.

„Ich habe gerade den beiden erklärt, warum wir nach der Katastrophe vom letzten Jahr darauf verzichte,n dieses Jahr eine Party zu geben.“

„Gott ja, erinnere mich nicht daran… Wo ist unser Geburtstagskind denn überhaupt?“

„Im Club, es gibt wieder mal Probleme mit der Zapfanlage. Warum fahrt ihr nicht rüber und holt ihn ab, sonst kommt er da heute gar nicht mehr da raus.“

„Wir können dich auch mitnehmen, wir sind mit zwei Wagen da“, schlägt Kevin vor.

„Nein nein, Amber schläft gerade erst und ich kann dann noch kurz was aufräumen.“

„Mach dir ja keine Umstände“, trete ich an sie heran, streiche ihr durch Haar und drücke ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn. „Wir bestellen uns nachher einfach etwas beim Chinesen, okay?“

„Ja“, nickt sie erleichtert und am liebsten würde ich sofort wieder anfangen, über den Halbtagsjob zu diskutieren. Ihre Augen wirken müde, das Haus sieht ein wenig chaotisch aus. Ich wünschte, sie würde mich mehr für sie tun lassen.
 

Den Club betreten wir durch den Hintereingang. Zwei Stunden vor der eigentlichen Eröffnung, bedarf diese noch keines wirklichen Schutzes. Daryls aufgebrachte Stimme dringt schon im hinteren Teil zu uns durch. Ohne von ihm bemerkt zu werden, treten wir an ihn heran.

„Der Mann kann doch nichts dafür“, schenkt Kevin dem Handwerker ein aufmunterndes Lächeln.

„Machen Sie ihm ja einen Vorzugspreis, er hat nämlich heute Geburtstag“, füge ich hinzu, woraufhin sich der freundliche Ausdruck des Arbeiters wieder verflüchtigt.

„Was macht ihr denn hier?“, kommt es freudig überrascht.

„Ann meinte, wir sollten dich nach Hause holen“, umarme ich Daryl. „Alles Gute zum Geburtstag.“

„Darf ich dir Kevins und somit unseren neuen Freund Matthew vorstellen?“, gehe ich ein Stückchen zur Seite und gebe die Sicht auf die Person neben mir preis.

„Hey, freut mich. Neue Gesichter sind immer gerne gesehen.“ Er reicht ihm die Hand.

„Danke, herzlichen Glückwunsch übrigens auch von mir!“

„Und das ist Kida.“

„Aber Hallo, dass wir uns mal begegnen…“ Daryls Hand wandert von einer zur anderen. Dass er Kida anders fixiert als Matthew ist dabei nicht verwunderlich, immerhin weiß er über alles bescheid. „Früher waren die Haare aber noch länger, nicht wahr?“, gibt er ein wissendes Lächeln preis.

„Das ist aber schon eine ganze Weile her.“

„Ja, wie so manches, nicht wahr?“

„So sieht es aus.“

„Dann freue ich mich natürlich, dich hier willkommen zu heißen.“

Sie lassen voneinander ab und wir werden über die momentanen Probleme im Club unterrichtet, während der Handwerker nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen wird.

„Sieh es einfach als Geburtstagsgeschenk“, hält die Überredung an.

„Ihr wisst doch wie sie darauf reagie-“

„Wir müssen ihr davon doch erst einmal gar nichts sagen, und wenn die neue Zapfanlage drin ist, kann sie ja wohl nicht mehr viel dagegen tun, oder?“, stoppe ich seinen Widerstand.

„Na ja-“

„Nichts na ja“, wird es nun auch Kevin zu viel. „Morgen kaufen wie eine neue und basta. Ist doch echt bescheuert, wenn man Tonnen von Geld hat und nicht einmal seinen besten Freunden damit helfen darf.“

Ich nicke zustimmend.

„Ok, ja, von mir aus…“

„Gut, dann wäre dieses Problem ja aus der Welt geschafft. Können wir dann also nen Abflug machen?“

„Heute brauche ich aber immer noch eine funktionierende Anlage“, deutet er auf den Arbeiter. Ein weiterer tritt gerade durch den Flur zum Hintereingang an uns vorbei.

„Nabend Chef.“

„Hey Tim… ähm Tim, warte mal kurz.“ Der Mann macht auf den Absatz kehrt und gesellt sich zu uns.

„Das ist Tim, unser neuer Türsteher“ wird ihm leicht auf die Schulter geklopft. „Tim, diese Menschen gehören zu meinen besten Freunden. Sie haben uneingeschränkten Zutritt zu allen Bereichen und wenn sie aus irgendeiner Lust heraus den Club anzünden wollen, hast du ihnen gefälligst ein Streichholz zu reichen, verstanden?“

„Ai Ai Chef“, treibt uns ein breites Grinsen entgegen, vorangehend mit seinen Abgang.

„Wird das denn heute noch was?“, wird sich fast allgemein nun wieder dem Thekenproblem zugewandt.

Nur mein Blick schweift erneut in den Gang zur Hintertür. Es ist wohl ein kleiner Lichtfetzen, der meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Doch nun verfolge ich die Umrisse einer Person, die mit leichtem Gang in unsere Richtung vordringt, ein Schritt nach dem anderen nimmt, bis ich nicht mehr in der Lage bin auf ihre Schritte zu achten, sondern direkt in bekannte, braune Augen blicke.

„Oh, welch hoher Besuch in unserer gewöhnlichen Halle.“ Er geht an mir vorbei und lässt seine Zigarette in den Ausguss gleiten.

Nach links schauend kann ich als nächstes den kleinen Blickaustausch zwischen ihm und Kevin beiwohnen. Was tut er verdammt noch mal hier?

„HeHeHeyyy, Kida, altes Haus, was führt dich denn hierher?“, bleibt Malcolm daraufhin vor seinen Barhocker stehen. „Kann ich dir ein Bier anbieten?“

„Siehst du nicht, dass wir wieder Probleme mit der Anlange haben?“, kommt es genervt von Daryl.

„Oh ja… darf es dann etwas anderes sein für meinen ganz speziellen Gast?“ Sein Lächeln spiegelt einen gewissen Grad von Sarkasmus und Belustigung wieder.

„Nein Da-“

„Aber halt, wenn haben wir denn hier?“ Malcolm geht einen Schritt weiter hinter der Theke, bleibt dieses Mal vor Matthews Barhocker stehen und begutachtet sein Gesicht.

„Mein Name ist Ma-“ Seine Vorstellung beendet Kevin abrupt, indem er nach Matthews Hand greift, die sich gerade über die Theke erstrecken wollte.

„Oh, etwas Neues zum Beschützen gefunden?“, wird nun Kevin fixiert.

Jedoch gelingt es ihm nicht besonders lange seine Fassade aufrecht zu erhalten, viel zu schnell, kann man anderes in seinem Blick erkennen. Er wendet sich ihm ab und mir zu. Da ich nicht wie die anderen an einen Barhocker platz genommen habe, sondern an der Ecke der Theke stehe, lässt er den Abstand zwischen uns ziemlich gering ausfallen.

„Und du?“ Ich sehe wie sich seine Hand erhebt, seine Pupillen weiten, zur Seite streifen und erst dann wieder mich fixieren. „Vielleicht hätte ich dich doch behalten sollen-“

„Red keinen Scheiß“, schlage ich leicht gegen seine Hand, bevor sie mich im Gesicht berührt.

„Der Sex mit dir war einzigartig. Wie du dich fallen lässt in den r-“

„Es reicht!“, schaltet sich Daryl ein.

„Warum?“, tritt Malcolm wieder ganz hinter den Tresen und greift nach einem Lappen. „Habe ich nicht Recht Kevin?“ Ein gehässiges Grinsen untermalt seine Frage.

„Ich sagte es reicht!“, erhöht sich die Tonlage und Malcolm hebt nur abwehrend die Arme.

„Lasst uns dort rüber setzen“, weist uns Daryl auf die andere Seite des riesigen Raumes und wir folgen ihm ohne ein weiteres Wort. Auf den bequemen Sesseln angekommen, kann ich meine Neugierde nicht länger für mich behalten.

„Was macht er verdammt noch mal hier?“

„Tut mir leid. Er brauchte mal eine Abwechslung und Ann hat mich gebeten, ihm diese zu geben.“

„Abwechslung von was? Tellerwäscher?“ grinse ich fies in die Runde, wobei ich kurz auf Kevins abwendenden Blick treffe.

„Er ist Autor, wusstest du das nicht?“

„Nein, woher auch?“ Ehrlich gesagt, überrascht mich diese Information ziemlich.

„Er schreibt nicht einmal schlecht, hat für eines seiner Bücher sogar eine Auszeichnung erhalten.“

„Das ist nicht dein Ernst?“, schwenkt mein Blick wieder zurück zum Tresen, wo ich den Finger, welche mich beinahe berührt hätten, dabei zuschaue, wie sie Gläser ins Regal stapeln.

„Warum nicht?“, steuert Kevin nun auch etwas zur Situation bei, ich schweife von Malcom zu ihm. „Nicht nur wir sind in der Lage was aus unserem Leben zu machen.“ Er hält kurz den Blick, bevor er ihn Matthew zu teil werden lässt. „Entschuldige mich kurz“, drückt er dessen Hand, die er anscheinend die ganze Zeit über festgehalten hat.

„Natürlich“, macht dieser ihm zum Durchgehen platz.

Nicht nur ich beobachte seinen Weg und wie er seine ersten Worte mit Malcolm wechselt und danach mit ihm im Hintergang verschwindet.

„Ich schau mal, wie lange es noch dauert“, ist Daryl der zweite, der die Runde verlässt.

Kidas Blick trifft mich von gegenüber.

„Willkommen in meiner Welt“, grinse ich. Er lächelt halbherzig zurück und am liebsten würde ich jetzt anfangen über irgendwelchen belanglosen Scheiß zu reden, aber eigentlich interessiert mich gerade nur eines: Was in dem Gang zur Hintertür vor sich geht. Doch geht es bestimmt nicht nur alleine mir so.

„Wir hauen bald hier ab“, tätschle ich unbeholfen auf das Knie neben meinem.

„Danke, aber schon gut. Ich mach mir keine Sorgen.“

„Musst du auch nicht“, beteuere ich ihm, obwohl ich eigentlich keine Ahnung von nichts habe. Wie schafft er es bloß so ruhig zu bleiben? Ich an seiner Stelle, würde ausflippen oder versuchen den beiden hinterher zu spionieren. Wann haben meine eifersüchtigen Züge eigentlich angefangen, sich so zu verstärken?

„Möchte einer von euch eigentlich irgendwas trinken?“, versuche ich mich wieder abzulenken, oder doch nur eine Chance zu finden, näher an das Geschehen heranzukommen. Ein kurzes Nein von beiden Seiten lässt aber auch diese wieder platzen.

„Es ist wirklich schön, was Daryl aus dem Club gemacht hat.“ Irritiert schaue ich Matthew an. „Ich habe Bilder von früher gesehen.“

„Ach so… ja, es hat sich einiges verändert“, pflichte ich ihm bei.
 

Eine Stunde später ist die Begegnung Malcolms erst einmal aus meinem Kopf verbannt, denn das süßeste Wesen der ganzen Welt lächelt mich von meinem Schoss aus an.

„Wenn du magst, kannst du sie füttern.“

„Natürlich“, weiche ich nicht von dem kleinen Gesicht ab.

Ich nehme sie hoch und folge Carol-Ann in die Küche. Ihre Gedanken lassen nicht lange auf sich warten.

„Ehrlich gesagt, finde ich sein Hiersein ein wenig komisch… nicht missfallend, versteh mich nicht falsch, aber komisch.“

„Keine Panik, ich weiß genau was du meinst.“ Ich öffne den Kühlschrank und suche seinen Inhalt ab. „Wo hast du denn ein Fläschchen?“

„Fläschchen?“, sie lächelt und greift an mir vorbei. Es wird ein Löffel aus einer Schublade herausgezogen. „Wir sind jetzt schon fast fünf Monate alt, Sakuya. Wir entwickeln uns weiter.“ Sie wedelt vor mir hin und her und Amber wir bei dem Anblick des kleinen Gegenstandes nervös und wackelt in meinem Griff herum.

„Ja… willst du das?“, nehme ich den Löffel an mich. „Das hier?“

Das Quengeln des Kindes wird stärker, während Carol-Ann den Brei anrührt.

„Wie denkt Daryl darüber?“, versuche ich es zu ignorieren.

„Über Kida? Es schmeckt ihn auch nicht so wirklich.“

„Ihr habt euch wohl mit Kevin kurz geschlossen.“

„Du weißt genau, dass das nicht wahr ist“, wird das Schälchen mit dem Brei vor mich hingestellt. „Du musst dich aber auch mal ein wenig in unsere Lage versetzen… Daryl und ich kennen ihn eigentlich gar nicht. Wir wissen nur, dass er dir weh getan hat und dass du nicht nur einmal gesagt hast, dass es eigentlich das Beste gewesen sei, dass er aus deinem Leben verschwunden ist.“

Ich nehme etwas Brei auf und der erste Versuch, dem quirligen Kind diesen in den Mund zu stopfen, geht voll in die Hose.

„Hier“, wird mir ein Lätzchen gereicht.

Ich konnte mich ehrlich gesagt noch ziemlich gut an diese Art von Beteuerung erinnern. Um sie zu beruhigen, um mir etwas vorzumachen und um es einfacher zu ertragen. Vielleicht ist auch irgendwann der Punkt gekommen, an dem ich wirklich überzeugt von dem Gesagtem gewesen bin, doch wann dies der Fall war und wann nur vorgespielt…

„Das ist alles schon so lange her“, klappt der zweite Versuch der Fütterung schon um einiges besser. „Ihr solltet das einfach nur als Vergangenheit ansehen und ihm eine reale Chance geben. Immerhin hat er euch persönlich nie etwas getan“, blicke ich sie an.

„Wir geben ihm ja auch eine Chance, Sakuya. Wir sind freundlich zu ihm und heißen ihn in unseren Häusern willkommen… du musst uns einfach nur ein wenig Zeit geben, ihn besser kennenzulernen.“ Ihre Hand legt sich auf meine, als der Löffel ein weiteres Mal in der pappigen Masse eintaucht.
 

Gegen 21.00 Uhr beenden wir das gemütliche Beisammensein, da Carol-Ann am nächsten Morgen wieder ziemlich früh raus muss. Die Bäuche immer noch mit chinesischen Essen vollgestopft werden wir von Kevins Eltern mit den nächsten Leckereien erwartet. Auch hier gilt das meiste Interesse natürlich den zwei Neuankömmlingen. Matthew scheint dieser Aufmerksamkeit schneller gewachsen zu sein, aber auch Kida wird zunehmend lockerer. Kurz vor Mitternacht entschließt man sich aber auch hier, dass es Zeit fürs Zubettgehen ist und die ältere Generation verabschiedet sich bis zum Morgen.

Ein seltsames Flüstern entsteht zwischen Kevin und Matthew am Spülbecken. Daraufhin wird sich kurz berührt und Kevin verlässt mit einem Blick auf mich gerichtet den Raum.

„Was ist los?“, frage ich an die verbleibende Partei.

Keine Antwort. Kida und ich tauschen Blicke und durch ein Schulterzucken gibt er mir zu verstehen, dass auch er nicht versteht, was ist.

„Matt?... ´tschuldigung. Blöde Angewohnheit mit den Spitznamen.“ Ich stehe auf.

Matthews Gestalt hat sich mittlerweile dem Fenster zugewandt, als würde er regelrecht versuchen, mir auszuweichen.

„Hey“, berühre ich ihn an der Schulter.

„Du kannst mich ruhig Matt nennen“, strahlt er mich überschwänglich an. Irgendwie erschreckend. „Eigentlich nennt mich jeder so… nur Kevin scheint es zu hassen.“ Seine Mundwinkel ziehen sich noch ein wenig mehr auseinander.

„Ich habe ihn früher immer Kev genannt, er hat das gehasst“, erzähle ich.

„Ich weiß…“ Sein Lächeln verschwindet mit einem Schlag und nun liegt nur noch ein flehender Blick zwischen uns.

Die Schritte auf der Treppe lassen mich zur Tür blicken, an Kida vorbei, auf Kevin zu. Meine Hand gleitet hinab.

„Kommst du bitte mit mir“, schallt es von der Tür her.

Mich erfasst… Unruhe? Ein Was-kommt-denn-jetzt-Gefühl und irgendetwas sagt mir, dass es nicht freudiger Natur ist. Erneut wende ich mich Matthew zu, sein Blick ist gesenkt. Kida schaut auch nur unwissend und ein wenig verwirrt in den Raum hinein, lässt den Kontakt kurz entstehen und schaut dann wieder weg.

„Wo soll es denn hingehen?“, frage ich ohne mich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

„Ne Runde spazieren“, fällt die Antwort kurz und nichts sagend aus.

Er dreht sich um und tritt in den Flur zurück. Auf seinen Rücken prangt ein Rucksack. Ich verstehe einfach nicht was das Ganze für einen Zweck verfolgt. Dessen ungeachtet folge ich ihm in den Flur. Er zieht sich Schuhe und Jacke an und ich tue es ihm gleich. Er verschwindet kurz in der Vorratskammer, dann geht er hinaus in die Kälte, auch hier folge ich ihm.

Meine Jacke nur leicht über die Schulter gehängt, ziehe ich sie im nächsten Moment feste um mich. Es ist verdammt kalt geworden.

„Und nun?“, versuche ich es erneut, als wir einige Meter vom Haus entfernt sind.

„Was bereitet dir solche Panik?“

„Du“, verfolge ich meinen deutlich abgezeichneten Atem in der Luft.

„Mal was Neues“, kichert er leise.

Auf dem Hügel bleiben wir stehen. Das uns unser Weg Richtung Wasser führt, habe ich natürlich bereits gemerkt, doch ist dies ebenfalls die Richtung zu Malcolms Haus, und diese Erkenntnis hat mich stutzig gemacht. Immerhin habe ich keine Ahnung, was im Club zwischen ihm und Kevin war.

„Weißt du, warum uns unsere Wege immer hierher tragen?“

Ich stutze, auf eine Frage dieser Art bin ich jetzt eigentlich gar nicht gefasst gewesen.

„Warum wir immer hierher gehen, wissen, dass der andere hier ist, wenn es Probleme gibt?“

„Nein!“, sage ich beunruhigt.

Er dreht sich um, doch sein Schatten, welcher von den hohen Laternen auf die Wiese unter uns geworfen wird, verändert sich kaum.

„Da liegt unsere alte Schule“, weist er in ihre Richtung. „Da die Stadt“, weist er in eine andere. „Wenn wir unsere Ruhe haben wollten, wären wir natürlich schon blöd, wenn wir diese Wege einschlagen würde“, umzieht seinen Mund fast ein Lächeln. „Also, ist es doch nur verständlich, dass wir diesen Weg einschlagen… aber…“, dreht er sich mir zu und schaut mich an. „Denkst du nicht auch, dass, wenn es hier eine Brücke geben würde, dass wir dann nicht noch weiter gehen würden? Oder würden wir hier bleiben?“

„Ich… ich weiß es nicht“, verstehe ich nicht worauf er hinaus will.

Ich friere und ich habe keine Lust in dieser eisigen Kälte über irgendwelche Wege zu philosophieren. Ich erhebe meine Hände, um sie mit meinem Atem zu erwärmen, jedoch greift er nach einer von ihnen und zieht mich mit sich den Hügel hinunter.

Wir verweilen an einer Stelle, die wir sonst nicht aufsuchen. Es ist ein kleines Stück direkt am Ufer, dass mit weichem Strandsand ausgelegt ist. Kinder spielen hier oft mit ihren Schuppen und Förmchen.

Der frische Wind hier unten lässt mich noch mehr frösteln. Kevin legt seinen Rucksack ab.

„Hilfst du mir?“

„Bei was?“, versuche ich sein Gesicht in dem bisschen Licht das vom Hügel kommt zu erkennen.

„Ein Loch zu graben.“

„Willst du mich verarschen?“

Doch als Antwort sind nur seine Taten erkennbar und obwohl mir ganz und gar nicht dazu ist, mitten in der Nacht ein beschissenes Loch mit meinen frierenden Händen auszugraben, senke ich meine Finger tief in den kalten Sand hinein.

Nach ziemlich kurzer Zeit haben wir unser Ziel erreicht. Den Rucksack etwas näher heran gezogen, kommt ein viereckiger Gegenstand zum Vorschein. Meine Vermutung ist Holz, ich bin mir dessen aber nicht wirklich sicher.

„Was ist das?“

„Das bist du…“, stellt er die Kiste in das gerade ausgegrabene Loch.

„Ich?... Wie soll ich denn das jetzt wieder verstehen?“

Langsam wird mir das echt zu doof, als er jedoch die Kiste öffnet, schaue ich wie gebannt hinein. Ich muss genau hinsehen, um die Menge verschlossener Umschläge zu erkennen.

„Sie waren alle für dich.“ Seine Finger ziehen einige hinaus und lassen sie wieder fallen.

„Und warum habe ich sie dann nicht bekommen? Willst du sie mir jetzt geben?“

„Nein“, er kramt erneut in seinen Rucksack.

„Und was machen wir dann damit?“

„Wir verbrennen sie.“ Eine Flasche flüssiger Grillanzünder kommt zum Vorschein.

„Verbrennen?“

„Ja!“

„Warum willst du das tun?“ Einiges der Flüssigkeit legt sich über die kleine Kiste.

„Eher aus symbolischen Gründen… Es ist irgendwie abschließender als sie einfach nur in den Mülleimer zu werfen.“

„Symbolisch für was?“

Wie ist es für mich möglich zu verstehen? Warum hat er sie und warum will er sie jetzt nicht mehr haben? Plötzlich überkommt mich das Gefühl etwas für mich Wichtiges zu verlieren. Ich will nicht, dass diese Briefe in Rauch aufgehen… Ich habe sie doch nicht einmal gelesen.

„Um einen Schlussstrich zu ziehen….“ Er steht auf und fischt ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. „Geh ein Stück zurück.“

„Unter welche Gleichung?“, stehe ich ebenfalls auf und bleibe neben ihm stehen.

Ich wende mich vom Loch im Boden ab und sehe ihn an. Eine kurze Bewegung lässt eine kleine Flamme erstrahlen und ich greife nach seinem Arm, in der er sie hält.

„Vielleicht interessiert es mich, was in ihnen steht.“

Die Flamme wird in seinen Augen reflektiert und ein weicher Ausdruck legt sich auf seine Lippen.

„Hier“, hält er mir mit der freien Hand einen weiteren Brief vor die Brust. „Ich hatte gehofft, dass du dies sagen würdest.“

„Noch ein Brief?“, fixiere ich ihn verdutzt.

„Der Allererste.“

Er hält ihn mir verstärkt hin und ich nehme ihn an mich. Das Feuerzeug gleitet zielbewusst seinen Weg durch die Luft und ein beängstigendes Geräusch lässt die Nacht in Helligkeit erstrahlen. Die Hitze und das hohe Auflodern lässt mich zurückschrecken, doch weiterhin schaue ich gebannt in die Flammen. Dann auf den Brief in meiner Hand.

„Lies ihn“, werde ich aufgefordert.

Und ich reiße den Umschlag auf. Ich will jetzt endlich wissen, was das alles zu bedeuten hat. Ich drehe mich dem Feuer zu, um die Zeilen überhaupt entziffern zu können. Als erstes fällt mein Augenmerk auf das Datum.

„Du warst Dreizehn…“

„Ja, schau nur“, tritt er an mich heran. „..ich mache da noch diese kleinen Häkchen, die Mr. Hendriks so sehr hasste.“

Daraufhin entfernt er sich wieder und setzt sich in die Nähe des Feuers. Auch ich setze mich hin und fange an den Brief zu lesen:
 

Hey Sakuya!
 

Du fragst dich jetzt bestimmt, warum ich dir diesen Brief schreibe? Gott, fällt mir kein besserer Anfang ein? Anscheinend nicht. Aber wie ich den Anfang auch schreiben würde, es würde es nicht leichter machen, dir mitzuteilen, was ich dir hiermit sagen will.

Ich würde gerne damit anfangen dir zu erklären, wie es dazu kommen konnte, dass ich dir gleich sagen werde, was ich dir sage, aber ich finde einfach keine passenden Erklärungen für diese Situation. Und ehrlich gesagt macht mir das scheiße viel Angst. Ich habe immer geglaubt, dass man alles irgendwie erklären kann, aber in letzter Zeit fehlen mir immer wieder die passenden Antworten zu meinen Fragen. Z.B.:

Warum ich es nicht mag, wenn Sam dich berührt?

Warum ich mich nach deiner Nähe sehne?

Weshalb ich mir wünsche, dich zu küssen?
 

Schon zuvor habe ich innerlich gestockt, aber hier ist der Punkt erreicht. Ich lasse den Brief sinken. Was hat das zu bedeuten… nein, ich weiß natürlich was das zu bedeuten hat aber ich… wieso…

Ich schaue ihn an und auf seinen Lippen liegt immer noch ein leichtes Lächeln. Soll das alles vielleicht nur ein schlechter Scherz sein? Das kann doch gar nicht…

„Was soll der Quatsch? Das finde ich jetzt ganz und gar nicht lustig.“

Ich greife ins Gras, ziehe einige Büschel hinaus und schleudere sie nach ihm. Ich will schon weiter reden, als er sich vor Schmerz an die Stirn fasst.

„Lass mich sehen“, stürze ich auf ihn zu, doch er streift meinen Arm fort.

Ich habe wohl etwas mit dem Gras auf die Reise geschickt.

„Ich würde mit so etwas niemals spaßen“, ist sein Blick nur einige Zentimeter entfernt.

Die kleine Verletzung blutet nur sehr schwach, kaum zu erkennen, trotzdem presse ich meinen Jackenärmel gegen seine Stirn. In diesem kurzem Moment ist es still zwischen uns und eigentlich müssten gerade Millionen von Fragen in meinen Hirn Gestalt annehmen… mir ist eigentlich nur zum heulen zumute.

Als ich aufgefordert werde weiter zu lesen, tue ich dies:
 

Wenn ich dir das alles persönlich sagen würde, würdest du ebenfalls Antworten verlangen, genauso, wie ich selber versuchte, diese Antworten zu finden. Ehrlich gesagt, ist mir nur eine Antwort eingefallen und diese lautet: Dass ich dich liebe.

Ist das nicht verrückt? Ich liebe dich, wie sich das anhört. Ja, so dachte ich auch. Aber umso mehr ich darüber nachgedacht habe und diese Option in meinen Gedanken mit einbrachte, umso sicherer war ich mir der Antwort.
 

Es ist ganz einfach. Ich liebe dich, Sakuya. Auch wenn du ein Junge bist, auch wenn du mein bester Freund bist, auch wenn du es nicht verstehen magst. Ich liebe dich und ich schreibe dir eigentlich nur diesen Brief, weil ich Angst davor habe, es dir zu sagen. Ich habe Angst davor, den Ausdruck in deinem Gesicht zu sehen, habe die Befürchtung, dass du es nicht verstehst, mich ablehnst oder sogar unsere Freundschaft auflöst. Ich habe Angst, so schrecklich viel Angst vor dem Schritt, dir meine Gefühle mitzuteilen. Und auch gerade jetzt, wo ich diesen Brief schreibe, vergeht mir immer mehr der Mut, ihn dir auch wirklich auszuhändigen.

Bin ich so feige, Sakuya?
 

„Du hast es nicht geschafft“, senke ich den Brief.

„Nein, habe ich nicht.“

„Warum jetzt?“ Ich bin müde, mir ist kalt… ich…

„Ich will endlich damit abschließen.“

Er greift nach dem Brief, faltet ihn und lässt ihn genau wie alle anderen ins Feuer gleiten. Die Briefe sind schon lange nur noch ein Häufchen Asche, nur die Kiste versucht verzweifelt Widerstand zu leisten.

„Und warum jetzt, heute… hier?“ Eigentlich will ich das gar nicht wissen. Ich will von all dem überhaupt nichts wissen. Ich fühle mich betrogen, schwach.

„Was soll ich denn deiner Meinung nach sonst tun? Weiter neben dir her leben?“

„So meinte ich es nicht, aber…“

Ich schlage die Hände vor die Augen und versuche die Tränen zu verstecken. Dutzende der kleinen Wassertropfen bahnen sich ihren Weg hinaus und ich verstehe einfach nicht wieso. Was verlangt nur nach ihnen? Was ist passiert?

„Warum… hast du es… mir nicht gesagt?“, kommt es stotternd.

„Aus den überwiegenden Gründen: Angst, Unsicherheit… du kennst das Spiel, Sakuya. Du hast es selber eine Zeit lang durchleb-“

„Ach hör doch auf!“, dominiert auf einmal die Wut „Und warum nicht später? Als wir zusammen waren… warum da nicht?“ , schreie ich ihn an.

„Vielleicht habe ich gehofft, dass du ganz von alleine den Weg zu mir findest“, ist sein Ton so leise, dass es mir sofort wieder leid tut, ihn angeschrien zu haben, und noch weitere Tränen ihren Weg hinausfordern.

„Hey komm schon… es ist ok.“

„Nichts ist ok!“, wehre ich mich zuerst gegen seine Berührung, seine Nähe, die Arme, die mich umschließen.

„Ich verstehe es einfach nicht. All die Zeit… die ganze Ze-“

Eine Erinnerung jagt die nächste. Unzählige Ereignisse und Aussagen, die ihn verletzt und gekränkt haben müssen. Was habe ich getan, warum habe ich es nie bemerkt? War ich so blind oder wollte ich es nicht sehen?

„Doch, es ist ok“, streichelt er zärtlich über meinen Kopf hinweg.

Einen Schlussstrich, neu anfangen? „Es ist wegen Matthew, nicht wahr?“

„Es ist eine längst fällige Sache, er war nur der Auslöser.“

„Du liebst ihn mehr als m-“ Ich stocke, was sag ich denn da? Ich wende mich ab, versuche mich aus seiner Umarmung zu befreien.

„Nein, das tue ich nicht“, hält er mich fest. Ich wehre mich nicht dagegen. „Noch nicht wenigstens. Aber ich mag ihn.“ Er gibt sich Mühe einen festen Blickkontakt aufrecht zu halten. „Sehr sogar…und wenn ich irgendjemanden zutraue, deinen Platz einzunehmen, dann ist er es.“ Er lässt mich los. „Mein halbes Leben habe ich dich geliebt und was ich auch gemacht habe, du hast es nicht erkannt, du wolltest es nicht verstehen oder du konntest einfach nicht so fühlen, wie ich es tat. Ich weiß es nicht… aber irgendwann…“ Er legt seine Finger an meine Wange und streicht hinüber, „…muss man bereit sein aufzugeben.“

„Es tut mir so leid“, zieht sich alles in mir zusammen. Schuld? Scham? Ich weiß es nicht!

„Das weiß ich, und jetzt mach bitte die Augen zu.“

„Wieso?“

„Mach sie zu und vergiss für einen Moment wo und wer wir sind. Tu es einfach…“ Mit einem kleinen Rutschen über den Boden ist er mir gefährlich nahe. Seine andere Hand kommt der erstes zur Unterstützung und auf einmal wird mir unglaublich warm. „Tu es für mich…“, spüre ich seinen Atem so intensiv, dass ich dem Glauben unterliege seine Worte in mich aufnehmen zu können. Sein Daumen streift über meine Lippen „Ich wusste nie, wann und wie ich es dir sagen würde. Wie du reagierst… wirst du mich danach hassen? Aber welches Szenarium ich mir auch ausmalte, es war immer mein größter Wunsch, dich einmal wirklich zu küssen… zu küssen, in der Gewissheit, dass du dir meiner Gefühle im Klaren bist.“ Ich will etwas sagen, doch ich scheine keine einzige Silbe auf Lager zu haben. „Sieh es als Abschiedsgeschenk an, der erste und letzte wahre Kuss, den wir jemals austauschen werden.“

Ich muss an unzählige Küsse denken, die alle nicht wirklich zu sein scheinen. An Momente, die mir so schön vor kamen und immer eine wertvolle Erinnerung sein sollten, und nun sind sie nichts mehr wert, eher noch das Gegenteil. Und ich muss an Charize denken. Dass ich das nicht tun darf, dass es nicht richtig ist ihr gegenüber… Doch ich schaue in die Augen, die mich mein ganzen Leben begleitet haben. Die mich geführt, mich beschützt und mich geliebt hatten, und mit dieser Gewissheit schließen ich die meinen. Ich bin es ihm schuldig…

Seine Lippen berühren mich. Sanft, vorsichtig und zärtlich. Vom Gesicht wandern seine Hände auf meinen Rücken und ich halte mich an ihm fest, als er mich mit Druck gen Boden drückt. Eine Berührung, die mir so bekannt vorkommt, ich habe ihn so oft in meinem Leben geküsst… so oft…

Sein Druck verändert sich und einige Finger erklimmen wieder mein Gesicht. Er umschließt meine Oberlippe und saugt spielerisch daran. Ich öffne die Augen, schaue ihn an. Der zunehmende Abstand lässt mich stutzen, sollte dies etwa schon alles gewesen sein? Ein Kuss, an den man sich sein Leben lang erinnern würde? Fragend ist sein Blick, als wolle er wissen, ob er nicht lieber doch aufhören solle. Doch ich schaffe es nicht, ihm auch nur mit einem einzigen Wort zu antworten. Demnach streiche ich über die Gesichtshälfte, die vom Feuer erhellt wird. So oft habe ich ihn berührt, ohne das Wissen, wie er empfand. Seine Haut gestreichelt… ich kannte jeden Zentimeter seines Körpers.

Aber… hat ihn jede Berührung von mir vielleicht mehr geschadet…? Eine gewaltige Masse an Trauer versucht ihren Weg hinaus zu finden und ich presse die Augen fest zusammen, um die Tränen zu unterdrücken.

„Schon gut“, berührt mich sein Mund leicht am linken Auge. „Es tut mir leid“, wandert er zum rechten.

Nein, ihm soll nichts mehr leid tun. Mir soll es leid tun.

Ich rutsche tiefer und presse mich ihm entgegen. Meine Lippen verschließen seinen Mund und ich küsse ihn. Energisch fordere ich ihn auf, mit mir zu spielen, will dass er mich spürt, dass er diesen Kuss niemals in seinem Leben wieder vergisst. Er liebt mich… er hat es immer getan und ich niemals verstanden. Noch energischer verlange ich nach ihm, ich will ihm geben, wonach er verlangt, wonach er sich all die Zeit über gesehnt hat.

Meine Hand ist fest in seinen Nacken verankert, drückt ihn zusätzlich an mich. Unsere Zungen kämpfen nicht gegeneinander, sondern verstehen es wie von selbst, sich zu verwöhnen. Verrückt, ja verrückt, nur so lässt sich dieses Gefühl beschreiben. Es is-

Er entzieht sich mir. „Wir sollten jetzt aufhören.“ Schwer atmend erhebt er sich über mir.

„War es nicht schön?“, frage ich irritiert über den plötzlichen Stopp und selber ein wenig nach Atem ringend.

„Ein wenig zu schön“, gleitet sein Blick an unsere Körper hinab. Nicht nur bei ihm kann ich eine ausgewölbte Hose erkennen. Er trennt sich vollends von mir und ich setze mich auf.

„Gar nicht gemerkt“, ziehe ich meine Jacke etwas tiefer.

„Ein ganz normaler Vorgang, sonst nichts… und… na ja, danke.“

Ich schenke dem viel kleiner gewordenen Feuer meine Aufmerksamkeit. Einige Minuten ist es still, beide sind wir wohl mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt.

„Wirst du es ihr sagen?“

„Wahrscheinlich“, drehe ich ihm meinen Kopf zu. Ich konnte nicht behaupten etwas wirklich Falsches getan zu haben, aber trotzdem bin ich es ihr schuldig, ihr die Wahrheit zu sagen. Wenigstens hier…

„Ist ok“, lächelt er. „Dann schlaf ich wohl die ersten Tage bei Matthew.“

„Wirst du es ihm sagen?“

„Er weiß es schon“, ist es mir wieder nicht möglich, in der Dunkelheit eine Regung zu erkennen.

„Du erzählst ihm anscheinend wirklich alles.“

„Ja.“

„Mir ist kalt“, fange ich wieder an zu frieren. „Können wir nach Hause gehen?“

„Natürlich.“

Ich stehe auf, während er das restliche Feuer mit Sand überhäuft. Damit fertig legt er seinen Arm wärmend um mich und wir erklimmen den Hügel.

„Darf ich dir noch eine Frage stellen?“

„Ja“, bleiben wir oben angekommen stehen.

„Hätte ich es dir damals gesagt, den-“

„Ich weiß es nicht“, berühre ich seinen Arm und senke gleichzeitig den Blick. „Ich kann es dir nicht sagen, wie ich mich damals entschieden hätte...“

„Doofe Frage, entschuldige.“

Er greift wieder um mich und wir bringen den restlichen Weg schweigend hinter uns.
 

Um drei Uhr früh liege ich immer noch hellwach im Bett. Eine Erinnerung gerade hinter mir gebracht, fallen mir direkt zwei neue ein, bei denen ich vielleicht anders hätte handeln sollen. Die Zeit, in der wir zusammen waren, habe ich als eine wunderbare in Erinnerung, nun verfolgt mich die Frage, wie es wohl gewesen wäre, wenn es für immer so geblieben wäre. Was gewesen wäre, wenn er es mir gesagt hätte, wie ich empfunden hätte… ob… habe ich ihn vielleicht sogar selber damals geliebt und diese Sache nur für so unmöglich angesehen, dass ich sie beiseite geschoben habe?

Ich habe nicht gewollt, dass es zwischen uns vorbei ist. Doch warum habe ich es nicht gewollt? Aus den Gründen, welche mir damals bekannt waren oder habe ich doch mehr für ihn empfunden und es mir einfach nicht eingestehen wollen? Ich kann mich nicht mehr erinnern…

Ich springe aus dem Bett und ziehe mein Shirt über den nackten Oberkörper. Den Flur hinter mir, klopfe ich an der Tür. Ein deutliches „Ja“, zeigt mir, dass auch sie noch nicht geschlafen haben. Ich öffne die Tür und blicke in den dunklen Raum.

„Kommst du mal kurz?“

Ich weiß nicht, warum ich es gerade in diesem Moment sagen will. Vielleicht will ich es einfach nur hinter mich bringen, bevor ich wieder den Mut dazu verliere.

„Ja, klar“, wird sich aus dem Bett geschwungen.

Ich vermeide es weiterhin in Richtung Bett zu blicken. Wie muss Matthew sich jetzt fühlen, er weiß über alles bescheid. Kevin tritt heraus und schließt die Tür hinter sich.

„Was gibt’s?“

„Damals“, betone ich sehr genau dieses eine Wort „…ich glaube, wir hätten wirklich glücklich werden können… ich…“ Ich spüre die Hitze in meinem Gesicht.

„Ist schon gut.“

„Sag das nicht immer… also… ich denke… also damals…“

„Ja, ich weiß… damals“, betont er es jetzt auch, lächelt mich mit diesem immer währenden Kevin-Lächeln an.

„…Ich habe dich geliebt.“
 

~ * ~
 

Die Nacht kaum geschlafen, schaffe ich es erst gegen Mittag in den unteren Stock zu torkeln.

„Er lebt.“

„Also wenn du so weiter machst, werde ich nicht besonders viel von Boston zu sehen bekommen“, scherzt Kida, woraufhin ich ihm die Zunge heraus strecke. Eine Berührung lässt mich zusammenzucken.

„Pancakes? Wir haben dir extra welche aufbewahrt.“

„Nein danke“, finde ich es mehr als unangebracht, mich von Matthew bedienen zu lassen.

Ich gehe in die Küche, Matthew folgt mir.

„Es ist in Ordnung“, bleibt er vor dem Kühlschrank neben mir stehen. „Lass uns nicht wieder in komische Verhaltensformen wegen dieser Sache zurückfallen, einverstanden?“

„Wie kannst du da so einfach drüber wegsehen?“, greife ich nach dem Apfelsaft.

„Versteh mich nicht falsch. Ich bin nicht gerade begeistert von dem Kuss, aber immerhin… er hat es für mich getan, irgendwie hat er es für mich getan. Ich liebe ihn und irgendwann werde ich vielleicht das Glück haben, was du all die Jahre über hattest.“

„Danke für den Tritt.“ Ich schlage die Kühlschranktür zu.

„Du weißt, was ich meine.“

„Ja, ich weiß… und, es tut mir leid.“

Ich schaue ihn an und auf einmal kann ich es in seinen Augen erkennen: Er wusste es die ganze Zeit. Er wusste, wie Kevin für mich empfindet und er musste damit klar kommen. Ich war sein größter Konkurrent und trotzdem war er immer freundlich zu mir.

„Du musst dich nicht entschuldigen.“

„Doch das muss ich ganz bestimmt. Es tut mir leid.“

„Vielleicht fangen wir noch einmal ganz von vorne an? Freunde?“ Er hält mir die Hand hin.

„Viel mehr als das“, ziehe ich ihn in eine freundschaftliche Umarmung.
 

Mit Amber im Gepäck erkunden Kida und ich Boston, während Kevin mit Matthew und Daryl aus der Stadt hinaus gefahren ist, um eine neue Zapfanlage zu besorgen. Das Wetter ist uns freundlich gesinnt. Es ist zwar nicht gerade warm, aber die Sonne scheint und es ist kein Wölkchen am Himmel.

Ich schaukle mit Amber auf derselben Anlage, wie ich es schon selbst als Kind getan habe, deute auf einzelne Abschnitte meiner alten Highschool und bleibe etwas betrübt vor dem Haus meiner Kindheit stehen. Amber schläft friedlich in ihrem Kinderwagen.

„Wem gehört es denn jetzt?“, schielt Kida zum Briefkasten hin.

„Mir.“

Ich schaue zum Gartentor. Etwas in mir verlangt danach hindurchzugehen, ins Haus hinein und aus dem Fenster meines alten Zimmers zu schauen.

„Wir könnten doch einfach mal fragen“, ist meine Sehnsucht wohl ziemlich offensichtlich.

„Nein“, schüttle ich leicht den Kopf. „Es würde nur so viele Erinnerungen aufwerfen.“ Viel zu viele. Kevin, mein Dad, wie glücklich ich als Kind doch hier war und wie das alles durch eine einzige, kleine Entscheidung in meinem Leben zerstört wurde. Ich dirigiere den Kinderwagen die Straße hinauf.

„Bist du dir sicher?“, holt er mich ein.

„Ja, schon gut… nur ein wenig Nostalgiegefühl.“ Ich lächle.

Es folgen Bauwerke und andere interessante Orte. Als Kind kam mir Boston immer riesig vor, doch mittlerweile muss ich mir eingestehen, dass die Stadt kleiner ist, als ich je gedacht hätte. Am Abend bringen wir Amber nach Hause.

„Was habt ihr denn angestellt?“, werden die bunten Flecken auf der Jacke identifiziert.

„Sie wollte unbedingt von meinem Eis probieren, ich schwör, sie hat mich regelrecht gezwungen. Auf Erdbeere fährt sie so gar nicht ab.“

„Kinder, nur Blödsinn im Kopf.“ Ich fahre den Kinderwagen in die Küche.

„Ist Daryl nicht hier?“

„Nein, er ist im Club drüben und hat den Einbau der neuen Anlage beaufsichtigt. Er müsste aber gleich kommen… er wollte heute nicht da bleiben.“ Sie schält ihre Tochter aus den Schichten Kleidung heraus.

„Er hat dir also davon erzählt?“

„Natürlich, du Kindskopf.“ Sie schaut mich kurz böse an. „Ihr wisst doch genau, was ich davon halte.“

„Und du weißt, dass ich diese Haltung bescheuert finde“, erwidere ich trotzig, „Und Kevin und Matthew?“, versuche ich schnell das Thema zu wechseln.

„Keine Ahnung, die habe ich heute noch nicht zu Gesicht bekommen… Ach, könntest du Daryl vielleicht abholen? Kevin hat ihn am Club abgesetzt und nun ist er ohne Auto da.“

„Kein Problem… Kommst du?“, richte ich mich an Kida.

„Du kannst auch gerne hier bleiben.“

Rundum werden Blicke gewechselt.

„Dann bleibe ich.“
 

„Alles soweit geklappt?“, kommt mir Daryl schon an der Tür entgegen.

„Ja“, strahlt er. „Die neue Zapfanlage funktioniert super, danke noch einmal.“

„Nichts zu danken“, bleibe ich an der Zapfanlage hängen. „Entschuldige mich für einen Moment.“

Ich lasse Daryl stehen, trete hinter die Theke und baue mich vor Malcolm auf.

„Oh“, kommt es im überraschten Tonfall.

„Du wusstest es!“

„Wenn du es sagst!“ Lächelt er, wendet sich ab und nimmt eine Schüssel Erdnüsse auf.

„Du wolltest dich an ihm rächen!“, schlage ich ihm diese aus der Hand um seine Aufmerksamkeit voll und ganz zu erhalten. Jedoch ist es nicht nur seine, welche ich auf mich gezogen habe. „Du hast mich benutzt, weil….“ Meine Stimme klingt mir fremd und ich versuche den Ausdruck in seinem Gesicht zu analysieren. „…weil er dich für mich verlassen hat, nicht wahr?“

Ohne ein Zucken hält er dem Blick stand. „Lass uns nicht hier darüber reden“, umfasst er meinen Arm und drängt mich zurück. Ich schüttle ihn ab und schlage ihm mit der Faust mitten ins Gesicht. Er geht zu Boden und alles was mir bleibt ist auf ihn hinabzuschauen. Seine Hand presst sich auf die getroffene Stelle, hinter mir höre ich Daryl auf mich einreden. Ich gehe in die Knie, spreche leise.

„Wie geschickt du mich manipuliert hast…“ Ich lache heiser auf. „Du hast mir wirklich das Gefühl gegeben, dass du in diesem Moment alles wärst, was ich brauchen würde… Ist das zu glauben?“ Mein Lachen verebbt. „Doch in Wahrheit hast du die ganze Zeit über seine Gefühle bescheid gewusst und mich nur dafür benutzt um ihm wehzutun… Habe ich recht?“

Sein Blick geht nach links und die Wut in mir drin, möchte ihn am liebsten noch einmal schlagen.

„Tu es nicht, Sakuya!“, dröhnt es von hinten.

„Du solltest versuchen nie wieder meinen Weg zu kreuzen“, zische ich und stehe auf.

„Halt!, in einem Punkt irrst du dich.“

Ich stoppe in meiner Bewegung, schaue verachtend auf ihn hinab.

„Ich war es, der die Beziehung beendet hat.“

Ich gehe wieder in die Knie und ziehe kraftvoll an seinem Shirt.

„Warum, sag es mir endlich…“

Er kommt näher, sein Atem trifft auf meine Haut und in seiner Stimme liegt Hass, blanker, ehrlicher Hass: „Ich konnte es nicht ertragen, wie er dich ansieht.“
 

Natürlich schweigt Daryl in Anwesenheit von Kida über den Vorfall im Club, doch jeder spürt mir sofort meine Unausgeglichenheit an. Ich bin wütend, geneigt etwas kaputt zu schlagen… hätte ich nur einen Baseballschläger zur Hand. Kida und ich verabschieden uns zügig und ich bitte ihn, auf dem Nachhauseweg erst gar nicht zu fragen, was vorgefallen ist.

Wie viele Verknüpfungsstränge gibt es noch? Was habe ich alles zerstört, verhindert und scheitern gelassen, ohne es zu wissen? Was weiß ich noch nicht und was würde ich vielleicht erst nach Jahren oder niemals erfahren? Mein ganzes Leben scheint aus den Fugen zu geraten, meine ganze Vergangenheit scheint falsch abgespeichert, nicht mehr der Wahrheit entsprechend. Und doch ist das alles nur Vergangenheit… Ich lebe jetzt, habe mir vieles aufgebaut, habe eine Beziehung, ein Haus, eine Karriere, versuche gerade ein Baby zu bekommen… Was zählt da schon was einmal gewesen ist? Leg es ab, Sakuya. Vergrab es, verbrenn es, verschließe es… es ist nicht wichtig für dich. Nicht für dein jetziges Ich.
 

~ * ~
 

Den Samstag besuchen wir ein Baseballspiel. Die Red Sox haben es in die Playoffs geschafft und es ist mal wieder ein schönes Gefühl nur als Besucher der alten Mannschaft und dem Stadion gegenüberzutreten. Am Abend grillen wir mit Carol-Ann und Co, Kevins Eltern und einigen unserer alten Freunde, welche wir kaum noch zu Gesicht bekamen. Es ist ein ganz spontaner Einfall gewesen.
 

Am Sonntag sind Carol-Ann, Daryl und Amber ebenfalls mit von der Partie. Aaron und Juliet mit ihrer Familie sind anscheinend nur angereist, um ebenfalls unsere Neuzugänge unters Licht zu nehmen. Doch alles in allem bleibt es ziemlich lustig und vertraut. Es ist eine angenehme, familiäre Atmosphäre.

Am Nachmittag büchsen Matthew und ich mit den Kindern in den Park aus. Cat, die Tochter von Juliet gibt uns keine Zeit der Erholung. Sie ist fünf, wird bald sechs und ist ein richtiges Powerpaket. Obwohl ich sie schon viel länger kenne, habe ich zu ihr nicht eine ganz so starke Beziehung. Ich sehe sie einfach viel zu selten. Doch mittlerweile ist sie in einem Alter, in dem sie sich an mich erinnert, auch wenn wir uns Monate nicht gesehen haben.

Matthew brüllend wie ein wildes Tier hinter Cat her und ich hinter ihm, um sie vor dem bösen Tier zu beschützen. Kida und Kevin, später hinzugekommen, schauen sich das kindische Spektakel unbeteiligt von einer Bank aus an. Es beruhigt mich sehr, dass sie es mittlerweile schaffen, friedlich miteinander umzugehen. Auch verschwende ich bis zum Abend hin keinerlei Gedanken an die Vergangenheit, nichts was mich aufwühlen, wütend oder traurig machen konnte. Weshalb ich mich dann aber doch noch einmal dazu entschließe diesen Ort aufzusuchen, verstehe ich nicht wirklich.

Kida hat sich mir angeschlossen, der letzte Abend… morgen geht alles wieder seine ganz normalen Bahnen. Ich stoppe an dem Sandstück. San Francisco… nichts hat dort seine Vergangenheit. Weder Kevin, noch Kida, ein Ort, der rein ist von schmerzhaften Erinnerungen. Ich schürfe leicht mit dem Fuß über den Sand, höre aber prompt wieder auf. Nein, ich will gar nicht sehen, ob sich Reste meiner Vergangenheit noch darunter verbergen.

„Es ist schön hier.“

„Schön dunkel vielleicht“, kann ich dem Ort gerade nichts ab empfinden.

Ich lasse mich einige Meter zurück weiter ins Gras fallen.

„Was war denn eigentlich bei euch los? Also an diesem Abend… Matthew hat nur ein paar komische Andeutungen gemacht.“

Ich zupfe einige Grashalme hinaus, so wie ich es eigentlich immer tue.

„Was hat er denn gesagt?“, versuche ich nicht wirklich interessiert zu klingen.

„Irgendwas davon, dass sich heute alles entscheiden wird oder so etwas in der Art… wirklich schlau geworden bin ich nicht daraus. Er hat fast eine Stunde blöd aus dem Fenster gestarrt und kein Wort gesagt.“

„Glaub mir, du willst es gar nicht wissen“, versuche ich mein Lachen zu unterdrücken.

Es wird still, unerträglich still.

„Ok, du willst es wissen?“, springe ich auf.

Ich schaue zu ihm hinab, sein Gesicht liegt total im Dunkeln und ich warte erst gar nicht auf eine Antwort.

„Er hat mir gesagt, dass er mich liebt. Dass er mich die…“ Ich drehe mich zum Wasser um und schreie über den schimmernden Grund hinweg „…GANZE ZEIT ÜBER GELIEBT HAT. ALL DIE JAHRE, SEIT ER DREIZEHN WAR!“ Ich beruhige meine Lungen wieder, drehe mich um. „Ist das nicht ein Ding? Wer hätte das geglaubt… hast du es geglaubt?“, versuche ich abermals sein Gesicht zu erkennen.

Drehe ich gerade durch?

„Nein, eigentlich dachte ich, dass ihr nur gute Freu-“

„Ja genau…“, steigere ich mich immer mehr rein. „Aber nein… nach knapp zwölf Jahren. ZWÖLF JAHREN“, wende ich mich wieder dem Wasser, dann wieder dem im dunkeln liegenden Gesicht zu. „…erfahre ich, dass er mich geliebt hat!“ Ich lasse mich dumpf neben Kida fallen, aus der Nähe kann ich einzelne Details in seinem Gesicht erkennen. „Wie lange waren wir sozusagen zusammen?“, frage ich eher mich selbst „Vier? Vier Jahre!“, untermale ich diese Anzahl mit meinen Fingern, die ich ihm knapp vor die Nase halte. „Vier Jahre und nicht einmal, nicht einmal ein einziges Wort!“

Ich senke den Blick…etwas in mir ist wieder den Tränen nah.

„Ich wusste nicht einmal, dass ihr überhaupt zusammen gewesen seid.“

Schrecke herum, schaue ihn an. „Es tut mir leid… du kannst ja schließlich nichts dafür. Ich führ mich hier auf, als hättest du mir gerade deine Liebe gestanden“, lasse ich meinen Groll am nächst besten Stein aus, der einen Freiflug über das Wasser gewinnt.

Was soll er auch dazu sagen? Er kann sich weder in Kevin noch irgendwie in meine Lage hineinversetzen. Doch bin ich irgendwie trotzdem froh, es noch einmal rauslassen zu können.

„Warum fällt es mir so schwer es zu akzeptieren?“ Ich werfe einen weiteren Stein hinaus… lasse mich mit einem Seufzer zu Boden fallen. „Es ist so schön hier, nicht wahr… am liebsten würde ich einfach mein Leben lang nur hier sitzen bleiben, mehr nicht.“ Ich ziehe den Duft des feuchten Grases ein. „Warum hat er es mir nicht einfach gesagt?“ Mein Blick geht hinauf in die Sterne.

„Manchmal ist es eben nicht so einfach jemanden von seinen Gefühlen zu erzählen.“

Ich setze mich wieder auf, streife mir durch Haar.

„Und was wenn er es damals getan hätte?“

Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß nicht… ich war doch erst dreizehn, wie soll ich das wissen?“

„Genau“, legt sich seine Hand auf meine Schulter und drückt leicht zu. „Es ist total unsinnig sich darüber Gedanken zu machen…“

Ich wende mich ab, meine Haare werden vom Wind erfasst.

„…Was wäre wenn, wie konnte es, wie wäre es… das ist alles nicht erfassbar. Es ist Vergangenheit und hilft dir kein Stückchen weiter, dir darüber den Kopf zu zerbrechen.“

Ich schließe die Augen und versuche die Bewegungen des Windes zu erkennen.

„Hörst du das?“, lausche ich.

„Außer den Wind kann ich nichts hören!“

„Genau den meine ich ja!“, lasse ich meinen Kopf auf meine Knie sinken. „Das Rauschen vom Wind in den Bäumen… Ist es nicht komisch, wie man so kleine Geräusche immer wieder vergisst und sie erst einem wieder auffallen, wenn sie anwesend sind?“

Eine spürbare Kälte ergreift meine Schulter. Wann ist seine Hand von dort verschwunden?

„Ich liebe es, wie der Wind um mein Gesicht zieht… meine Haare durcheinander wirbelt. Es kitzelt irgendwie, findest du nicht?“

„Ja, und danach musst du dann direkt wieder zu deiner Stylistin rennen.“

Ein Scherz… Ja, ich weiß genau, dass es einer ist…. aber trotzdem…

„Hältst du mich eigentlich für sehr eitel?“, wende ich mein Gesicht ihm direkt wieder zu. Wir sitzen vielleicht einen halben Meter auseinander. Bevor die Verwirrung aus seinem Gesicht weicht und er eine Chance bekommt zu antworten, rede ich weiter: „Ich weiß, dass es nur ein Scherz war, keine Sorge“, grinse ich. „Es ist nur… manchmal, bei diesen Interviews… Da kommen manchmal so Fragen wie: Wie lange brauchen Sie eigentlich um so gut auszusehen?… oder: Lassen Sie unsere weiblichen Leser bitte wissen, wenn Sie wieder auf dem Markt sind.“

Ich schweige wieder. Weshalb denke ich auf einmal darüber nach?

Der Wind ändert seine Richtung.

„Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass er es dir nicht gesagt hat.“

Vergessen ist das schöne Geräusch, das kitzelnde Gefühl.

„Du wärst wahrscheinlich mit ganz anderen Gefühlen nach Japan gekommen, wenn überhaupt. Vielleicht ein anderer Mensch gewesen und hättest wahrscheinlich niemals mit Sanae getanzt und wir… hätten uns vielleicht nicht kennenge-“

Ich werde zittrig, nervös, ich will das nicht…

„Hör auf damit!“, unterbreche ich ihn. Ich stehe auf und schlage mir die losen Grashalme vom Hosenboden.

„Nein“, erhebt er sich ebenfalls. „Ich will dir sagen, dass es mir leid t-“

„Ich will das nicht hören“, presse ich meine Hände gegen meine Ohren.

Ich kann nicht noch mehr Vergangenheit ertragen.

„Ich habe auch ein Recht damit abzuschließen“, zieht er mir die Hände hinunter. „Ich will dir sagen, dass es mir le-“

Ich presse mich von ihm weg, breche den Blickkontakt ab.

„Das ist mir egal, ich will das nicht, ich will nicht daran denken und nicht daran erinnert werden!“, setze ich einen Schritt vor den nächsten.

„Es ist mir aber wichtig!“, hält er mich am Arm zurück.

„Das ist dein Problem“, schüttle ich ihn ab. „Du hast doch keine Ahnung!“, werde ich lauter.

„Was meinst du?“

Ich will mich ihm abwenden, aber ich kann nicht. Sein Gesicht wird mittlerweile von mehr Licht angestrahlt und ich erkenne den verzweifelten Ausdruck in seinen Augen. Ich kenne diesen Ausdruck…

„Ich kann nicht“, setze ich mich wieder in Bewegung. Er überholt mich und stellt sich mir mit ausgestreckten Armen in den Weg.

„DU HAST MIR SO WEH GETAN“, schreie ich hinaus.

Seine Arme senken sich wieder und ich kann an ihm vorbei gehen, ich könnte… aber ich kann nicht.

„Du hast nachgedacht?“, fängt mein Vorwurf an. „Nachgedacht und für uns beide entschieden, dass es besser wäre sich zu trennen. Du hast mich verlassen, allein gelassen... du… du hast alles verraten, was du mir zuvor versprochen hast!“ Meine Arme drücken sich an meinen Körper. „Diesen armseligen Brief, in dem du von Liebe geheuchelt und mich gleichzeitig fallen gelassen hast. Dich als Heiligen hinzustellen, der mich ja nur beschützen will und nur das Beste für mich wollte… wie lachhaft!“, ein heiseres Lachen entweicht meiner Kehle. Meine Finger kribbeln, ich verspüre eine hitzige, unkontrollierbare Wut in mir. „Dir tat es weh? DIR? Und du erträgst es nicht mehr?“ Mein Blick ist voll Verachtung. „Weißt du eigentlich was ich ertragen musste? Ich habe mein Zuhause verloren, meine Schule, meine Freunde… Ich wurde hinausgerissen aus meinem Leben, alles für dich. MEIN DAD!“, schreie ich auf. „Er ist gestorben…“ Ich spüre Nässe auf meinem Gesicht. Ich wische sie beiseite. „Gestorben, ohne dass ich mich mit ihm versöhnen konnte, für dich… Meine Mutter ist fort und ich schaffe es nicht einmal sie in Japan zu besuchen, wegen dir…! Du?.. .ICH habe gelitten, also erzähl mir ja nicht, dass dir irgendetwas leid tut! Denn vielleicht wäre es wirklich das Beste gewesen, wenn wir uns niemals kennengelernt hätten“, schließe ich ab.

Mein Schädel ist kurz vor der Explosion. Er weicht einen Schritt zurück und gibt den Weg endgültig frei. Doch zuerst muss mein Körper die Fassung zurückerlangen…

Ich gehe auf ihn zu, an ihn vorbei. Ein kleiner Seitenblick, sein von Schuld zerfressendes Gesicht genießen wollend. Doch sehe ich nicht nur dies… Tränen… Ich stoppe. Mit gesenktem Blick mahne ich mich zur Einsicht. Geschworen diese Vergangenheit hinter mir, mich nicht mehr von dieser Wut gefangen nehmen zu lassen. Ich habe es mir doch so feste vorgenommen. Wieso hat er nur davon anfangen müssen?

„Ich…“, wende ich mich ihm zu.

Doch was soll ich sagen? Nicht, dass es mir leid tut, was ich gesagt habe, denn das tut es nicht. Meine Wut hat ihren Weg gefunden und zum ersten Mal die richtige Person getroffen. Ich kann nicht mehr zurück, ich habe nur die Wahrheit gesprochen.

„Schon gut“, winkt er ab. „Es tu-“ Er stockt.

„Ja…“

Geh weiter!, schreie ich mir im innern zu. Es ist sein Problem, er muss damit zurechtkommen… es ist nicht deine Sache, er wollte es ja schließlich so! Meine Finger drohen zu zerbersten, so feste drücke ich sie zusammen.

„Ich wusste nicht, da-“ Er zittert, schafft es nicht den Satz zu beenden.

Ich kann es nicht… bin ich wirklich so schwach…? Geh weiter… geh einfach…

„Es ist ok“, zögernd ziehe ich ihn an mich. „Wie du schon sagtest, es bringt nichts, sich über die Vergangenheit Gedanken zu machen.“

Ich streichle leicht über seinen Rücken, versuche das Zittern zu beenden. Bin ich zu weit gegangen? Nein… irgendwann, wäre es sowieso dazu gekommen und welchen besseren Ort sollte es für diese Art von Gesprächen geben? Morgen ist alles wieder ok, morgen, an einem Ort ohne Erinnerungen.
 

Part 73 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Tribal
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 74

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Kida (by Stiffy)
 

Wenig, sehr, sehr wenig Schlaf bekommen, trete ich den Flug mit einem unglaublich dankbaren Gefühl an, beim Gedanken daran, dass ich zum ersten Mal in der ersten Klasse fliegen werde. Immer bin ich nur nach den Flügen an dieser vorbeigelaufen und habe die Leute beneidet um ihre großen, bequemen Sitze, welche nur zum darin schlafen einladen. Genau mit diesem Gedanken und mit wenigen anderen, lasse ich mich genau in einen solchen Sitz sinken und habe das Gefühl, auf der Stelle einschlafen zu können. Einem kurzen Gespräch mit Sakuya folgend, schließe ich dann auch schnell die Augen und spüre nur, wie uns das Flugzeug in die Lüfte hebt.

Ich schlafe nicht ein.

Meine Gedanken gleiten in die Richtung, in der sie mich in dieser Nacht festgehalten haben, und die Gewissheit, dass Sakuya nun wirklich nur ein paar Zentimeter von mir entfernt ist, macht es nicht gerade besser. Also presse ich meine Augenlider herunter und versuche, darüber nicht nachzudenken. Ich versuche mich zu fragen, was ich in Boston wohl alles sehen werde, wie weit sich die Stadt wohl von San Francisco unterscheidet… was Sakuya mir wohl alles erzählen wird.

Nach vielen Minuten gebe ich es auf, gegen meine Gedanken anzukämpfen. Ich öffne die Augen und drehe mich ein Stück zur Seite. Ich kann nur seinen Hinterkopf erkennen, doch eigentlich bin ich genau darüber in diesem Moment sehr froh, denn so sieht er nicht, wie ich ihn ansehe.

Weitere Minuten streichen dahin, in denen ich am liebsten seine Haarsträhnen zählen würde, um von dem beklemmten Gefühl in mir wegzukommen. Ob ich dann einschlafen könnte?

Sakuyas Körper bewegt sich, ehe ich damit anfangen könnte, es zu versuchen. Sofort schließe ich meine Augen und halte für einen Moment sogar die Luft an. Mir ist flau im Magen.

Ich zähle Sekunden, frage mich, wieso ich nun, da ich schlafen könnte, genau das nicht schaffe. Auf dem Flug von Japan nach Amerika habe ich teilweise wie ein Stein geschlafen und das in unbequemen Sitzen der zweiten Klasse.

Als ich mich nach 42 Sekunden endlich traue, meine Augen wieder zu öffnen, trifft mein Blick den von Sakuya. Ein Lächeln erscheint auf seinen Lippen während mir das Herz anhält.

„Ich kann nicht schlafen“, gesteht er, nachdem wir uns bestimmt drei Sekunden einfach nur angesehen haben.

„Ich auch nicht“, gebe ich zögernd zu. „Dabei bin ich todmüde.“

„Ebenfalls!“ Er grinst und schließt die Augen. „Ich hätte Schlaftabletten schlucken sollen“, sehe ich zu, wie seine Lippen sich bewegen.

Da mir keine Antwort einfällt, starre ich sie einfach nur an.
 

„Wir sind gleich da!“, lässt mich eine Berührung an meinem Arm zusammenzucken.

Ich blinzle und Sakuya lächelt mich an, mit denselben Lippen, die ich soeben noch angesehen habe…

Soeben?

Sakuya begibt sich mit seinem Sitz in die Aufrechte. Ich sehe mich um, überall geschieht dasselbe und das Anschnallzeichen leuchtet.

Begriffen, dass ich wohl über den Anblick von Sakuyas Lippen hinweg eingeschlafen bin, setze ich mich nun endlich auf und stelle auch meinen Sitz wieder hoch. Ein Gähnen entweicht mir, während ich gar nicht erst darüber nachdenken will, wie dämlich das ist.

Ich schnalle mich an und werfe einen Seitenblick zu Sakuya. Früher konnte mich dein einfacher Anblick zur Ruhe bringen… ich hätte nicht gedacht, dass das noch immer so ist.
 

Mein erster Eindruck von Boston ist, dass es eine unglaublich kalte Stadt ist. Das wird an der Jahreszeit liegen und natürlich daran, dass sie viel weiter nördlich angesiedelt ist als San Francisco… und auch wird mir in diesem Moment, da ich froh über die Autoheizung bin, bewusst, dass ich eigentlich keine passenden Klamotten eingepackt habe. Warum eigentlich nicht?

Sakuya lässt mich nicht lange bei diesem Gedanken verweilen, da er schnell beginnt, mir alles Mögliche zu erzählen. Dabei fällt mir auf, während ich meinen Blick über Häuser und Straßen gleiten lasse, dass Boston bereits auf den ersten Blick anders wirkt als San Francisco… Immer noch amerikanisch, und dennoch anders. Grüner als ich Mitte Oktober damit gerechnet habe und natürlich bei weitem nicht so bergig – etwas, das mich in San Francisco von Anfang an sehr überraschte, selbst wenn man es aus dem Fernsehen kannte.

„Hier würdest du lang fahren, wenn du zu mir willst…“, zieht Sakuya meine Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Wir werden in den nächsten Tagen mal daran vorbeifahren…“

„Wohnen deine Eltern noch dort?“, frage ich mit einem Blick zurück auf das Straßenschild, weshalb ich Sakuyas Miene erst sehe, als ich mich wundere, warum er nicht sofort antwortet.

„Nein“, sagt er und ich erkenne einen mir gerade viel zu ernsten Blick in seinen Augen.

Ich will nachfragen, doch ich wage nicht, es zu tun. Stattdessen bin ich froh, als Sakuya Sekunden später erneut die Hand ausstreckt.

„Da vorne der Park, von dem ich dir mal erzählt habe…“, ist seine Stimme wieder normal.

Versuchend, nicht in irgendwelche Erinnerungen zu verfallen, wie Sakuya mir damals von Boston erzählt hat, höre ich ihm lieber, wie er davon spricht, dass sie hier in der Gegend immer Baseball gespielt haben. Ich beobachte sein Profil dabei und bin mir nicht sicher, wie ich das Gefühl in mir beschreiben sollte…
 

Bei Kevins Elternhaus angekommen, ist es Kevin, der sich meiner annimmt. Kurz und knapp lässt er mich über die wichtigsten Räume bescheid wissen, während wir die Treppe hinaufsteigen. Auch Matthew sieht sich neugierig um, aber aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass er alles schon irgendwie kennt und nicht so wirkt, als müsse er sich etwas einprägen.

Kevins Blick macht ziemlich unmissverständlich klar, dass er erwartet, dass ich ihm weiterhin folge.

„Hier lang“, deutet er und ich folge ihm.

Er öffnet eine Tür und lässt mich hindurch treten.

„Das ist das Gästezimmer, in dem du schlafen wirst“, wird ziemlich förmlich erklärt.

Ich fühle mich, als wäre ich ein Gast in einem Hotel und bekomme gerade vom Gastwirt mein gemietetes Zimmer zugewiesen. Irgendwie passt es ja auch… und ich bin eigentlich froh, dass Kevin überhaupt mit mir spricht.

Ich lasse meinen Koffer vor dem Bett stehen und erwarte eigentlich, alleingelassen zu werden, doch Kevin sieht mich noch immer auffordernd an.

„Das ist unser Zimmer“, geleitet er mich wieder auf den Flur hinaus und deutet er auf die Tür meiner gegenüber. „Da das Gästezimmer kein eigenes Bad hat, ist es wohl am praktischsten, wenn du unseres mitbenutzt…“

Er öffnet eine andere Tür, wir treten in einen hell gefliesten Raum, der erst nach zwei weiteren Schritten seine Dimensionen erkennen lässt. Es ist ein großes, helles Bad, in dem ich stehe.

„Wie dir vielleicht auffällt“, zieht Kevin meinen Blick wieder auf sich, „hat das Bad zwei Türen. Es wäre also praktisch, wenn du daran denken könntest, beide ab- und natürlich auch wieder aufzuschließen.“

Ein Grinsen trifft mich, allerdings von Matthew kommend. Ich erwidere es, noch immer in das ernste Gesicht von Kevin sehend. Es ist so deutlich zu erkennen, wie es ihm missfällt, dass ich hier bin.

Wir bleiben stehen, da wohl keiner mehr so recht weiß, was er sagen soll. Matthew ist es, der sich als erstes in Bewegung setzt und das Bad mit den Worten, dass wir uns fertigmachen sollten, verlässt.

Nickend folgt Kevin ihm, dann ich. Durch unterschiedliche Türen getreten und diese geschlossen, bleibe ich erneut stehen. Nun alleine, schaffe ich es erstmals, seit wir hier angekommen sind, tief durchzuatmen.

Ich lasse mich auf das Bett fallen und mein Blick fährt herum. Ein bisschen ist es tatsächlich wie ein Hotelzimmer… doch kann ich es nicht wirklich als solches sehen, denn ich erinnere mich daran, wie Sakuya mir damals erzählt hat, dass er im Gästezimmer bei Kevin einquartiert wurde. Mein Blick gleitet zum Bett hinüber, meine Finger streichen über den Stoff der Tagesdecke. Ziemlich wahrscheinlich eine andere als damals… und doch… hier hast du also geschlafen? Wer hätte gedacht, dass ich je auf derselben Matratze sitzen würde…

Etwas schraubt sich um mein Herz.
 

Endlich geschafft, mich loszureißen, stehe ich nur wenig später vor dem nächsten, kopfzerbrechenden Gedanken. Was um Himmels Willen soll ich heute und in den nächsten Tagen tragen?

Ich befördere den Koffer aufs Bett und öffne ihn… dann starre ich Sekunden lang hinein. Ich weiß was darin ist… ich habe es gestern gepackt… und ich habe dabei überhaupt nicht nachgedacht. Doch wieso um Himmels Willen war ich derart gedankenlos?

Ich beginn damit, die ersten Kleidungsstücke zur Seite schlagend. Hätte ich nicht wenigstens einen einzigen warmen Pulli einpacken können?

Aber nein, ich habe nur die Wetternachrichten zu San Francisco beachtet, welche für heute 68,5 Grad Fahrenheit voraussagten, was ca. 20 Grad Celsius entspricht, wie ich mittlerweile gelernt habe. Dass Boston meistens ca. 10 Grad darunter liegt, habe ich irgendwie ignoriert…

Das ist echt nicht meine Art… überhaupt nicht… was hat meine Gedanken bloß so abgelenkt?

Das Klopfen lässt mich zusammenzucken aber meine Suche nach warmer Kleidung nicht beenden sondern beschleunigen. Ich registriere, wie Sakuya hineinkommt und sofort fühle ich mich noch um einiges dämlicher. Du hättest wirklich etwas besser nachdenken sollen, Kida!

Die Aufforderung, Sakuyas Bad zu benutzen, nehme ich eher nebenbei wahr, seinen Tipp bezüglich eines Hemdes hingegen voll und ganz. Sofort bin ich mir sicher, dass ich genau das nehmen werde! Da ich weiß, wie dämlich es aber wäre, sich nun sofort auf genau das Hemd zu stürzen, gebe ich vor, noch ein bisschen weiter zu suchen. Sakuya begutachtet währenddessen meine eher Kalifornientauglichen Klamotten.

„Kein Problem, ich kann dir gerne was leihen. Oder wir kaufen dir einfach ein paar neue Sachen.“

Spätestens diese Worte halten mich davon ab, weiter meinen Koffer zur Show zu durchwühlen. Mein Herz setzt aus und schlägt schneller, und ich bin froh, dass meine Erwiderung noch relativ normal klingt. Für eine Sekunden frage ich mich sogar, ob er eigentlich noch genauso riecht wie früher…

„Es ist wirklich ein schönes Zimmer“, reiße ich mich los, nehme endlich das Hemd an mich und schließe den Koffer.

Ich habe es mir anders vorgestellt… aber das sage ich nicht.

Während Sakuya sich auf meinem Bett - oder seinem früheren – bequem macht, stehe ich vor dem nächsten Punkt, der mich stocken lässt und am liebsten würde ich dafür direkt gegen eine der Wände rennen. Es ist überhaupt gar nichts dabei, sich vor einem anderen Mann umzuziehen! Dabei ist es so was von egal, ob der andere hetero, bi, schwul, der Ex oder sonst was ist… es ist etwas vollkommen Normales!

Wieso also kann ich es nicht als solches ansehen?

Ich drehe mich ein Stück, da ich Sakuya nicht ansehen will, und ziehe meine Jacke aus. Anschließend entledige ich mich meines kurzärmligen Hemdes. Schnell will ich in das Dunkelblaue schlüpfen, doch merke ich, dass das Umdrehen überhaupt keine gute Idee gewesen ist.

Meine Tätowierung! Das hatte ich ganz vergessen!

„Das ist gar nichts“, ziehe ich mein Hemd hinunter.

Er will es sehen… und ich will es ihm nicht zeigen. Wieso weiß ich nicht genau, vielleicht, weil ich mich damals dazu habe überreden lassen von Rie, kurz nachdem wir zusammengekommen waren. Ich hatte ihm von Sakuya erzählt und er hatte gesagt, dass sich viele nach einer Trennung die Haare abschneiden würden, da sie eine Veränderung haben wollten… aber meine Haare seien zu schade dafür. Also kam ihm diese Idee und so egal, wie mir alles war, ist mir auch das egal gewesen und ich habe mir nächstbeste Motiv herausgesucht, das ich finden konnte. Bereits zwei Wochen nach dem Stechen bereute ich es wieder. Rie sagte ich dies nicht, es hätte ja nichts daran geändert, dass es nun unwiderruflich auf meiner Hüfte prangte… und so versuchte ich zwangsweise damit zu leben. Es dauerte lange, bis ich die Tätowierung als einen neuen Teil von mir akzeptierte und sogar damit in der Öffentlichkeit schwimmen ging. Mittlerweile sah man doch immer öfter welche, auch in Japan, sie hatten nicht mehr nur was mit der Yakuza zu tun…

Bereuen tue ich diesen Schritt dennoch noch immer.

„Zeig doch mal“, lässt es mich erstarren, wie Sakuya mein Hemd anhebt.

Sofort versuche ich, es wieder zu verbergen, doch mein Herumdrehen bremst er, indem er seine Finger an meine Haut legt. Sie sind warm… Ich fröstle dennoch.

Und dann wird sich mit schnellen Worten erhoben, umgedreht und das Hemd hinaufgezogen. Ich erstarre.

Es ist nicht mal unbedingt der große, schwarze Drache, den ich wahrnehme, es ist mehr der Moment an sich. Es ist so normal für ihn… so normal, wie es sein sollte… und doch verspüre ich das Bedürfnis, meine Finger nach ihm auszustrecken.

Wieso machst du das mit mir?

Ich versuche mich loszureißen, meine Finger nicht auszustrecken. Stelle ihm eine ganz normale Frage und entscheide mich, ihm auch ganz normal meine Tätowierung zu zeigen. Es ist nichts dabei, habe ich das nicht soeben gesehen? Also hör endlich auf, dir Gedanken zu machen!

Dennoch bin ich froh, dass Sakuya mich kein weiteres Mal berührt.
 

Als nächstes auf dem Plan für den heutigen Tag steht das Kennenlernen von Carol-Ann und Daryl.

Carol-Ann kenne ich. Was heißt kennen… Es muss knapp eine Woche vor meiner Entscheidung, den Brief zu schreiben, gewesen sein, als Sakuya mir erzählte, dieses Mädchen kennengelernt zu haben. Es war nicht viel, was er erzählte und wahrscheinlich hätte ich mich auch nie wieder an den Namen erinnert, hätte er mich direkt nach ihr gefragt. Dass Carol-Ann mich allerdings um einiges besser zu kennen scheint, als ich sie, begreife ich schnell.

Kaum ist Sakuya die Treppe hinauf verschwunden, reicht die junge Frau mir die Hand. Ihr Blick ist freundlich… doch er verrät auch etwas Kritisches, einen winzigen Funken, den ich bei Kevin die gesamte Zeit wahrnehme.

„Schön dich kennenzulernen“, spreche ich unbeholfen.

„Ja. Ich hätte es nicht erwartet“, wird das Kritische in ihrem Blick noch etwas mehr. Ihre Hand lässt meine los. „Aber da du nun hier bist, Willkommen in unserem Haus. Daryl ist leider nicht da, aber du wirst ihn noch früh genug kennenlernen.“

Nun lächelt sie nur noch und dann tritt sie an mir vorbei zu Kevin und Matthew. Dass sie Matthew ganz anders empfängt als mich, ist deutlich zu erkennen, zumindest für mich. Ich versuche dieser Tatsache nicht zu viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Was bringt es auch? Ich weiß nicht, was sie wissen… doch die beunruhigende Stimme in meinem Kopf flüstert es mir unaufhörlich zu: sie wissen alles.
 

Daryl begrüßt mich mit einem noch weitaus deutlicheren, kritischen Blick. Er versucht wohl erst gar nicht, diesen zu verbergen, als er mich indirekt darauf hinweist, dass er genau weiß, wie ich früher aussah… und somit die Stimme in meinem Kopf bestätigt.

„Das ist aber schon eine ganze Weile her“, erwidere ich auf die Bemerkung hin und versuche, locker zu bleiben.

„Ja, wie so manches, nicht wahr?“, ist sein Blick ganz tief in meine Augen gesenkt. Ich bin mir nicht sicher, was er sucht… aber ich glaube, ich weiß es.

„So sieht es aus“, hält meine Stimme dem stand und das schon ehrlichere Lächeln, welches mich darauf trifft, beruhigt mich. Hat er also gesehen, was er sehen wollte?
 

Ich bin froh, dass das Gespräch über den Club und eine neue Zapfanlage aufgenommen wird. Daran muss ich mich nicht beteiligen und so habe ich für einen Augenblick die Ruhe, in mich hineinzuhorchen.

Mit Kevin alleine, der mich so kritisch und missfallend beäugt, kam ich klar. Es ist nicht angenehm und ich wünschte, dass es endlich nachlassen würde, aber es war in Ordnung. Nun noch zwei Personen zu haben, die wohl nicht genau wissen, was sie von meinem Hiersein halten sollen, macht all das schon um einiges schwieriger. Schon jetzt habe ich das Gefühl, mich irgendwie beweisen zu müssen… dabei kann es mir doch egal sein, was Kevin denkt… oder was Carol-Ann und Daryl denken, solange Sakuya kein Problem mit meiner Anwesenheit hat… so lange er mich an seiner Seite sein lässt.
 

Mittlerweile auf einem Hocker sitzend und dem Gespräch einfach nur lauschend, bemerke ich die neue Person zunächst nur unterbewusst. Erst seine merkwürdigen Worte lassen meinen Blick ihm gelten… und eine Sekunde steht er auch schon vor mir, ehe ich eigentlich begreife, wer es ist, den ich da sehe.

Mir wird ein Bier angeboten, etwas anderes… und ehe ich, noch vollkommen verdattert, antworten kann, ist Malcolm auch schon zur nächsten Person stolziert. Ich sehe ihm nach. Er hat sich sehr verändert und sieht dennoch gleich aus… würde ich zumindest sagen, da ich ihn nur ein paar Tage lang kennengelernt habe. Total unwirklich scheint mir in diesem Augenblick die damalige Weihnachtszeit.

Ich hatte mich nicht schlecht mit ihm verstanden, oder? Wieso geht dann mit dem jetzigen Augenblick eher ein schlechtes Gefühl einher? Macht das dieses vollkommen überzogene Grinsen… oder macht es der Blick, mit dem er sich von Kevin und Matthew abwendet und Sakuya ansieht?

Ich kann die Hand nur anstarren, während sie Sakuya näher kommt… und ich kann nur denken, dass hier irgendetwas komisch ist. Sakuya ist komisch… wusste er nicht, dass Malcolm hier ist?

„Vielleicht hätte ich dich doch behalten sollen-“

Der Satz steht… und mein Herz setzt aus. Würde ich nicht sitzen, wäre ich wohl umgefallen. So aber spüre ich, wie meine Finger sich in das Holz des Tresens graben.

Habe ich das soeben… hat er gerade…

„Der Sex mit dir war einzigartig. Wie du dich fallen lässt in den r-“

„Es reicht!“

„Warum? Habe ich nicht Recht Kevin?“

Mein Kopf fährt herum. Kevin sitzt da… und sein Blick trifft mich. Mir nimmt er die Luft zum Atmen.

Ich höre nicht, was noch gesagt wird, folge eher automatisch den anderen an einen Tisch. Ich sinke ins Polster, starre Kevin und Sakuya an…

Kevin und Sakuya.

Malcolm und Sakuya.

In mir dreht sich alles.

Ich habe mich nicht verhört, oder? Die Worte waren eindeutig, die Situation war es. Kevins Blick…

Kevin… Er und Sakuya…

Ich… mir wird schlecht.

Ist das wirklich wahr?

Ich senke meinen Blick, atme, atme und atme noch einmal tief ein. Als ich den Blick wieder hebe, trifft mich der von Daryl.

Warum ich erst in diesem Moment begreife, wie ich mich gerade benehme, weiß ich nicht… nur, dass sich ich mich falsch verhalte. Falsch, ganz, ganz falsch. Ich dürfte über die Worte nicht mal eine Sekunde lang nachdenken. Doch ich tue es… und man sieht es mir an. Mit Sicherheit sieht man es mir an. Nur Sakuya nicht, denn er sieht Kevin an. Kevin…

Ich atme wieder bewusst durch und versuche, meinen Blick zu gleichgültig zu zwingen. Dann nehme ich wahr, wie Kevin geht, kurz darauf Daryl. Ich sehe Sakuya an und dieser grinst.

Er grinst… einfach so, ganz normal, als wäre gerade nichts passiert.

Weißt du eigentlich, was passiert ist?

Und doch lächle ich.

Wie kriege ich das bloß hin?

Ich bin froh, als Sakuya wegsieht und sich Matthew zuwendet. Eine Sekunde länger seine Augen und ich wäre schreiend aufgesprungen.

Mir ist so schlecht.

Ich sehe mich um, wünsche mir einen Spiegel herbei, um zu sehen, wie ich aussehe. Schaffe ich es, normal zu gucken? Sieht man mir an, dass sich mein Magen in alle Richtungen dreht und wendet?

Sakuya fragt, ob wir etwas trinken wollen… und am liebsten würde ich ihn fragen, was er glaubt, wie ich jetzt etwas herunterbekommen soll. Ein „Nein“ verlässt stattdessen als Einziges meine Lippen.

Nur Minuten später nehme ich die erstbeste Gelegenheit zur Flucht wahr.

„Wo sind denn die Toiletten?“
 

Zunächst stehe ich im Raum und starre gegen die gekachelten Wände, gegen die Spiegel, gegen mein bleiches Gesicht. Meine dunklen Augen fixieren mich als wären sie von einem anderen Menschen.

Wieso bin ich so dermaßen gefangen in diesem Moment?

Ich reiße mich von den fremden Augen los und verschwinde in einer Kabine, als ich Schritte vor der Tür wahrnehme. Sie gehen vorbei. Ich sinke gegen die Tür. Mein Kopf dreht sich und ich schließe die Augen.

Wieso habe ich angenommen, dass ich sein einziger Mann war?

Wieso habe ich gedacht, dass unsere Liebe für ihn einzigartig war?

Wieso habe ich mich so hervorgehoben und mich irgendwie darüber gefreut?

Habe ich mich darüber gefreut, ihn mit einer Frau und nicht mit einem Mann zu sehen?

Weil ich dachte, dass ich somit der einzige sei?

War ich wirklich so dumm?

Ich greife mir gegen die Stirn, als höllische Kopfschmerzen noch stärker werden. Ich atme laut aus und versuche, meinen leeren, rumorenden Magen zu beruhigen.

Ich war nicht der Einzige. Sakuya hat mit Malcolm geschlafen… und er hat mit Kevin geschlafen. Es wurde nicht gesagt, aber ich bin mir dessen sicher. Der Blick… er war so eindeutig…

Ich öffne die Augen und alles dreht sich. Ich höre meinen eigenen Atem in meinen Ohren dröhnen.

Sakuya hat mit anderen Männern geschlafen… Mit wie vielen wohl? Wie oft? Aber er ist doch jetzt mit einer Frau zusammen…

Was hat dich auf diesen Weg geführt? Liebst du sie wirklich so sehr? Noch mehr als ich bisher dachte?

Und liebtest du Malcolm? Kevin? Wie viele Männer hast du geliebt? Wie viele nach mir?

War ich dann überhaupt etwas Besonderes für dich?

Kannst du dich noch an uns erinnern?

Ich spüre meinen Augen brennen und presse meine Handflächen darauf.

Nicht weinen, garantiert jetzt nicht weinen!, schreie ich mich innerlich an, während ich würge, mein Magen noch immer Lambada tanzt.

Sakuya und Kevin…

Sie haben miteinander geschlafen... Waren sie ein Paar? Hatten sie nur Sex?

Mit wie vielen Männern hatte er Sex?

Und wieso stört es mich so?

Ich sinke auf die Knie und nehme kaum wahr, wie ich über die Kloschüssel gleite. Gallenflüssigkeit verlässt mich und nun doch brennende Tränen, während ich mich zwinge, kaum einen Laut von mir zu geben.

Wieso habe ich mir gewünscht, dass ich dein einziger Mann war?
 

Sakuya scheint gar nicht zu bemerken, dass ich ziemlich lange weg war. Er lächelt mich einfach nur an, als ich zurück zum Tisch komme, und setzt sein Gespräch mit Matthew fort. Kevin ist auch wieder zurück. Er fixiert mich.

Ich wende meinen Blick ab und setze mich neben ihn. Ich greife nach der Karte auf dem Tisch und gebe vor, sie zu studieren. Ob meine Augen gerötet sind? Und ist meine Hautfarbe wieder normal?

Ich lege die Karte wieder weg und lausche auf das Gespräch mir gegenüber. Kurz darauf werde ich darin einbezogen. Ich bin froh, dass ich es schaffe, zu sprechen.

Bilde ich es mir ein oder spüre ich Kevins stechenden Blick von der Seite?

Bekomme ich langsam Paranoia?
 

Wieder zurück bei Daryl und Carol-Ann spiele ich meine Vorführung weiter. Während innerlich etwas in mir kocht und brodelt, mich zu verbrennen droht, lache ich und führe ganz normale Gespräche. Doch Sakuyas Blicken weiche ich dabei aus. Wenn ich mit ihm rede, sehe ich eher die kleine Amber an… und wenn ich es nicht tue, vermeide ich es genauestens, in seine Richtung zu blicken. Ich glaube alle Fragen würden aus mir hervorbrechen, wenn wir uns auch nur eine Sekunde lang schweigend ansehen würden.

Während Kevin mir kaum ein Wort mehr gönnt als nötig, schaffe ich es mit Daryl und Carol-Ann relativ normal umzugehen… oder sie mit mir. Sie lächeln mich an und ich glaube, dass es ehrlich ist. Und dennoch weiß ich mit Sicherheit, dass sie es dennoch vorziehen würden, mich nicht hier zu wissen. Ich beschließe, es so hinzunehmen. Ich kann nichts dagegen tun, ebenso wenig wie sie. Wir alle müssen damit klarkommen… und das schaffen wir zum Glück recht gut.
 

Kevins Eltern reagieren von allen Personen, die ich heute wiedergesehen oder kennengelernt habe, am positivsten auf mich. Sie sind freundlich, nett, wirklich sympathisch. Ich bin froh darüber, nicht auf noch mehr kritische Blicke zu treffen, auch wenn ich mir sicher bin, dass auch in ihren Köpfen mir gegenüber nicht alles wohl gesonnen ist. Sakuya hat mir früher nicht nur einmal erzählt, wie sehr er an diesen beiden Menschen hängt, wie er sie als seine zweiten Eltern ansah… und sie ihn als einen weiteren Sohn.
 

Nachdem Kevins Eltern ins Bett gegangen sind, habe ich das Bedürfnis, es ihnen auf der Stelle gleich zu tun. Zwar bin ich mir sicher, dass ich nicht ein Auge zutun werde, aber ich will aus der Gegenwart von Sakuya verschwinden. Ich will alleine sein, alleine Nachdenken und meine Gesichtszüge entgleiten lassen.

Selbstverständlich ergreife ich nicht die Initiative, unsere kleine Gruppe aufzulösen, sondern bleibe sitze. Und während ich noch dabei bin, mir wieder Beruhigung zuzusprechen, fällt mir Kevins und Matthews komisches Verhalten auf. Nur kurz darauf verlässt Kevin das Zimmer.

Dass Matthew nicht auf Sakuya reagiert, irritiert mich noch mehr und ich habe das Gefühl, irgendwas nicht mitbekommen zu haben. War ich zu sehr in meinen Gedanken versunken?

Nur Sakuyas Blick zeigt mir, dass er die Situation gerade ebenso wenig versteht wie ich.

Ich versuche zu überlegen, was sein könnte… doch ich komme zu keiner Antwort. Und auch Sakuya erhält keine von Matthew.

Dann steht Kevin wieder in der Tür.

Als er Sakuya bittet, mit ihm zu kommen, spüre ich einen Stoß im Magen. Plötzlich ist dort eine komische Eifersucht, die ich nicht begründen kann. Am liebsten würde ich aufspringen und ihnen nachlaufen. Ein Blick auf Matthew, der noch immer zur nun leeren Tür sieht, zeigt mir, dass es ihm noch viel schlimmer gehen muss.

„Was ist los?“, frage ich nun, überhaupt gar nichts verstehend.

Matthew zuckt bei meinen Worten zusammen, sieht mich nur ganz kurz an, bevor er sich wieder dem Fenster zudreht. Ich erhalte keine Antwort auf meine Frage.

Also sitze ich da. Lange, sehr lange.

In meinem Kopf wirbeln Gedanken durcheinander, viel zu viele und eine Menge verrückte.

Ich muss wie die ganze Zeit daran denken, dass Sakuya und Kevin etwas miteinander hatten.

Wie viel? Hat es mit diesem komischen Verhalten zu tun? Kann das sein?

Wann war es, dass zwischen ihnen etwas war?

„Weißt du was los ist?“, spreche ich hilflos meine Frage aus, da alle anderen mich zu ersticken drohen.

Zunächst erhalte ich nur ein winziges, kaum sehbares Nicken darauf. Es hätte auch einfach ein Kopfsenken sein können.

Ich sinke wieder tiefer in meinen Stuhl hinein.

Wieso sieht Matthew so todtraurig aus?

Es kann doch nichts Gutes sein, was Sakuya und Kevin machen?

Was machen sie bloß?

Ich werde verrückt!

„Heute“, reißt das Wort meinen Kopf zum Fenster hoch. „Heute wird sich zeigen, wie es weitergehen wird. Heut entscheidet es sich…“ Seine Stimme ist fast nur ein Hauch auf der kalten Scheibe.

„Was?“

„Alles.“ Er dreht sich um und seine Augen blicken mich fest an.

Ich öffne den Mund und will eine weitere Frage stellen. Doch welche? Und will ich ihre Antwort kennen?

Ich schließe meinen Mund wieder du senke meinen Blick.

Alles sagt er… was meint er bloß damit?

Es muss etwas damit zu tun haben, dass zwischen ihnen etwas war… es muss einfach das sein… sonst würde Matthew nicht so aussehen… sonst würde nicht-

„Matthew?“, hebe ich meinen Kopf schnell, als ich die Schritte begreife, die an mir vorbeiführen.

„Ja?“, bleibt er mitten im Raum stehen.

„Waren…“ Ich zögere, mir nicht sicher, ob ich auf diese Fragen denn eine Antwort möchte. Ich schlucke… und will eigentlich auch die Frage verschlucken… Doch ich kann es nicht. „Waren die beiden ein Paar?“

Ein Nicken ist alles, was ich zur Antwort erhalte.
 

Ohne Matthew bleibe ich noch gut zwanzig Minuten alleine in der Küche sitzen, bevor ich glaube, dass meine Beine bereit dazu sind, mich zu tragen. Ich stehe auf, blicke zum Fenster hin, weil ich unsinnigerweise hoffe, dort vielleicht irgendwas zu erkennen… dann verlasse ich die Küche.

Die Treppenstufen sind schwer erklommen. Bei jeder einzelnen fühlt es sich an, als würde mir etwas mit Gewalt die Beine am Boden festhalten wollen. Würde man mich ins Meer schmeißen, würde ich wahrscheinlich problemlos zum Meeresboden sinken.

Im obersten Stock angekommen, habe ich das Bedürfnis, umzukehren. Nur mit Mühe treiben mich meine Schritte weiter bis zum Gästezimmer… und ich zwinge mich, nicht zur Tür Kevins zu Blicken.

Waren sie in dem Zimmer zusammen?

Oder auch in dem, welches ich nun betrete?

Ich schließe die Tür und lasse das Licht ausgeschaltet. Nur ganz leicht erkennt man Umrisse welche durch den Mondschein aus dem Dachfenster abgezeichnet werden. Hier bleibt mein Blick hängen und ich sehe Sterne.

Ich reiße mich los, als ich es schaffe, schlüpfe aus meiner Kleidung, stoße den Koffer vom Bett und sinke auf dieses hinab. Meine Finger krallen sich in die Tagesdecke.

Ich habe das Bedürfnis zu weinen… so richtig schlimm und laut, mit ganz viel salziger Flüssigkeit… doch gerade verlässt mich keine einzige solche Träne.

Ich fühle mich leer.

Und ich habe doch keinen Grund zum Weinen…

Ich drehe mich auf den Rücken und schlinge die Decke um mich. Mein Blick gleitet wieder hinaus zu den Sternen.

Hast du dieselben gesehen, wenn du hier lagst?

Hast du dich gefragt, ob ich sie auch sehe?

Oder hast du in Kevins Armen gelegen?

„Scheiße“, flüstere ich heiser. „Verdammte Scheiße!“

Ich weiß nicht mal genau, was ich gerade verfluche.

Es ist ein Gefühl der Eifersucht… aber welcher Art?

Dass sie damals zusammen waren?

Dass sie zusammen war, nachdem wir getrennt waren?

Dass sie es geschafft haben, Freunde zu bleiben?

Dass sie noch immer beieinander sind?

Oder verspüre ich Wut, weil Sakuya und Kevin gerade da draußen sind… und weil sich alles entscheidet… was auch immer alles ist.

Jegliche Vorstellung, die sich davon entwickeln könnte, unterdrücke ich auf der Stelle wieder.

Und dann beginne ich Malcolm zu verfluchen.

Wieso musste er es sagen?

Ich wollte das doch gar nicht wissen!
 

Als ich die Schritte im Flur wahrnehme, bin ich noch immer hellwach. Ich lausche und höre nur ein Paar Füße. Dann die beiden Türen an den unterschiedlichen Enden des Ganges.

Ich atme tief durch.

Ich bin froh darüber.

Ist das schlimm von mir?

Ich grabe mich tiefer in meine Decke ein, unter der ich mich schon tausend Mal herumgewunden habe, und hoffe, nun endlich Schlaf finden zu können. Sakuya und Kevin sind wieder da… Mehr als das kann ich heute ohnehin nicht erfahren.
 

Selbstverständlich ist es nicht so einfach, einzuschlafen. Ich frage mich nun, da sie wieder da sind, nur noch mehr, was wohl geschehen ist. Worüber haben sie gesprochen? Hatte es wirklich etwas mit ihrer Beziehung zu tun?

Ihre Beziehung…

Ich dachte immer, sie seien einfach nur Freude. Darum habe ich Kevin beneidet… und jetzt, worum beneide ich ihn jetzt? Um welche Art der Beziehung?

Während ich diesen Gedanken denke, kommt ein anderer in mir auf. Zum allerersten Mal an diesem Abend muss ich an Charize denken, also direkt an sie.

Sakuya ist mit ihr zusammen, er liebt sie, das sieht man…

Aber wie passt der heutige Abend dann in diese Konstellation zusammen?

Wenn es nicht darum ging… was sollte Matthew dann mit „Alles“ gemeint haben?
 

Ich glaube ich bin tatsächlich fast über diese Gedanken eingeschlafen, als schnelle Schritte im Flur mich mit einem Mal wieder hellwach werden lassen. Anschließen vernehme ich ein Klopfen an der Tür, welche meiner genau gegenüber liegt. Sofort bin ich aus dem Bett heraus und an meiner Tür. Nur schwer gebe ich dem Bedürfnis nicht nach, sie auf der Stelle aufzureißen.

Ich höre Sakuyas Stimme sehr undeutlich während mein Herz fester schlägt. Ich greife mir an die Brust und will mich zwingen, in mein Bett zurückzugehen. Es geht mich nichts an…

Natürlich bringt diese Vernunft gar nichts.

Ich höre Sakuyas Worte genau, als Kevins Tür sich wieder geschlossen hat. Sie sind nun ein wenig lauter aber unsicher… genau wie das „Ich habe dich geliebt.“

Augenblicklich weiche ich vor der Tür zurück.
 

Part 74 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 75

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Kida (by Stiffy)
 

Ich glaube, ich habe es nicht wirklich geschafft, in dieser Nacht ein Auge zuzutun… und wenn ich es habe, so schließ ich unruhig, wühlte mich herum, hatte komische, schwarze Träume und verspürte, wenn ich erneut erwachte, den Drang, laut zu schreien. Am Ende liege ich in einem vom morgen erhellten Zimmer hellwach da und starre aus dem Fenster in den blauen Himmel… und ich versuche an nichts zu denken, versuche mich nicht zu fragen, wie ich ihn gleich ansehen soll oder wie ich Kevin begegnen kann… Denn ich weiß nicht, wie das Gespräch endete, ich weiß nur, dass es nicht lange dauerte, bis sich Sakuyas Tür und auch Kevins wieder schloss, doch ich weiß nicht, was sie einander versprochen, miteinander geredet haben… In meinen Gedanken lagen sie sich in den Armen.

Als ich es endlich schaffe, mich aus dem liegenden Zustand zu befreien, ist es schon neun Uhr. Ich quäle mich in die Höhe, greife nach meinen Badutensilien und bleibe sogleich wieder stehen. Ich atme tief durch, schließe die Augen, spüre eine schreckliche Müdigkeit, zusammen mit dem Bedürfnis, mich heute einfach hier einzuschließen. Aber stattdessen wird mein Tag schon mit der Frage beginnen, welches Bad ich bloß wählen soll… Mit wem will ich gerade weniger kollidieren?

Ich verlasse das Zimmer und trete auf den Flur hinaus. Ich habe in den letzten Stunden, die ich wach lag, Türen gehört und Schritte, aber gerade kann ich mich nicht daran erinnern, wo sie waren, wo sie hinführten, welche Zimmer wahrscheinlich noch belebt sind…

Wie von selbst tragen meine Füße mich in Richtung Sakuyas Bad. Vor seiner Zimmertür bleibe ich stehen und ich frage mich plötzlich, ob ich sie gestern wirklich gehört habe… aber eigentlich bin ich mir sicher… außerdem gibt es da ja auch noch Matthew…

Ich betrete das Bad und verschließe die Tür hinter mir. Dann führen meine Schritte mich zur anderen Tür, der, die zu Sakuyas Zimmer reicht. Ich lege meine Hand an das Holz und die andere berührt die Türklinke.

Ich will sie öffnen, aufreißen, ihn sehen… ich will mit ihm reden, ihn fragen, was genau da alles passiert ist und dann wiederum, will ich es gar nicht wissen… auch nicht, ob er Kevin vielleicht immer noch liebt… oder wie stark seine Gefühle für Charize wirklich sind… Eigentlich will ich ihn gerade einfach nur sehen…

Meine Stirn berührt das kühle Holz und ich schließe die Augen. Ich versuche zu atmen und zur Ruhe zu kommen, was die gesamte Nacht unmöglich erschien.

Ich weiß nicht, wie ich von diesem Punkt aus weitermachen soll.

Meine Finger gleiten von der Türklinke hinab zum Schloss. Ich muss viel Kraft aufbringen, um den Schlüssel herumzudrehen, Sakuya den Weg zu versperren und mir selbst. Es würde nichts bringen, wenn ich diese Tür nun öffnen würde.

Als ich zurücktrete, fühle ich mich leer, habe unter der Dusche das Gefühl, die Wärme des Wassers nicht zu spüren, obwohl ich sehe, wie sich meine Haut rötet, als ich das Wasser noch heißer drehe. Innerlich fröstle ich und höre wieder Sakuyas Worte aus der Nacht.

Er hat ihn geliebt. Er hat einen anderen Mann geliebt…

Wieso tut es bloß so dermaßen weh?
 

Ich lasse mir nach der Dusche lange Zeit im Bad. Ohne es zu wollen, lausche ich, versuche auszumachen, ob ich im angrenzenden Zimmer etwas höre, doch dem ist nicht so. Ist er eigentlich noch drin?

Als ich die Tür wieder aufschließe, ist es schwer, sie nicht auch noch weiter zu öffnen. Nur einen Blick hinein… Aber natürlich verweigere ich ihn mir.

Ich verlasse das Bad und schaffe gerade mal zwei Schritte, als Kevin und Matthew mir entgegenkommen. Ich bleibe stehen, die beide auf halbe Höhe ebenso. Kevins Blick ist direkt in meine Augen gerichtet und er spricht eine unglaubliche Kühle aus. Ich habe das Gefühl, dass seine Abneigung meiner Anwesenheit gegenüber mit jeder Minute stärker wird.

„Guten Morgen“, durchbringt Matthew die unangenehme Stille des Augenblicks und ich schaffe es nun, ihn anzusehen… und was ich sehe, löst den Knoten in meiner Brust, zumindest ein wenig. Da ist keine Traurigkeit mehr in seinem Blick.

„Guten Morgen“, schaffe ich es, sein Lächeln zu erwidern.

Kevin sehe ich nur nicken.

„Wir wollten gerade zum Frühstück… kommst du auch?“

„Ja, ich… zieh mir nur was richtiges an“, werde ich mir den spärlichen Klamotten bewusst, die ich am Leibe trage.

„Gut, bis gleich“, setzt sich Kevin mit kühlem Blick in Bewegung und geht an mir vorbei.
 

Ich lasse mir Zeit, mich fertig zu machen, obwohl ich mich wieder ein bisschen besser fühle. Ohne es wohl zu wissen, hat mir Matthews freundliches Lächeln an diesem morgen wenigstens einige meiner Fragen beantwortet. Er würde sich anders verhalten, wenn das bei Kevin und Sakuya noch Gegenwart wäre…

Meine Schritte die Treppen hinunter sind langsam, da ich mir nicht sicher bin, ob ich gleich auf Sakuya treffen werde. Es ist schwer, mir vorzustellen, wie ich ihn ansehen soll, wenn er vor mir steht, wie ich lächeln und so tun soll, als sei alles beim alten… als wäre ich wirklich nur ein einfacher Freund aus der Vergangenheit, nichts weiter. Weißt du eigentlich, dass es mir jede Sekunde schwerer fällt, so zu denken?
 

Ich treffe nur Kevins Eltern, Kevin und Matthew an und ehrlich gesagt bin ich ziemlich froh darüber, noch ein bisschen nicht Sakuyas Nähe ausgesetzt sein zu müssen… Erst als Kevins Eltern sich verabschieden, wird mir bewusst, dass ich nun doch gerne Sakuya hier hätte. Was soll ich denn bloß mit ihnen reden? Oder was soll ich mit Kevin reden?

Die ersten Minuten werden tatsächlich sehr unangenehm. Ich spüre Kevins Blick und frage mich, ob er erwartet, dass ich irgendetwas sage. Da mir aber beim besten Willen überhaupt nichts einfällt, schweige ich.

Es ist Matthew, der wieder einmal versucht, die Situation zu lockern. Er erzählt mir von einem Artikel, den er über Boston gelesen hat, und sagt, dass er sich ein paar der darin erwähnten Orte gerne ansehen würde. Dann fragt er mich, ob ich irgendetwas von Boston gerne sehen würde.

„Ich weiß nicht wirklich“, zucke ich die Schultern. „Ich denke, ich lasse mich überraschen…“
 

Für mich scheint die Zeit, die vergeht, bis Sakuya runterkommt, wie eine Schnecke dahinzuschleichen. Es ist schwierig für mich, mich mit Kevin zu unterhalten, auch wenn er heute nicht mehr ganz so kühl ist wie in den letzten Tagen. Matthew dazwischen scheint diese Situation nicht zu behagen. Immer wieder versucht er, die Stimmung zu lockern, ein Thema zu finden, über das ganz problemlos zu reden ist… doch es ist schwer, sehr schwer… und ist es ungerecht, wenn ich sage, dass Kevin es noch viel schwerer macht? Warum kann er sich nicht einfach damit abfinden, dass ich hier bin? Ist es wirklich so eine Qual?
 

Als Sakuya endlich auftaucht, ist alle Angst, ihm gegenüberzutreten, der Erleichterung über sein Auftauchen gewichen. Für einen kurzen Moment vergesse ich, mich komisch zu fühlen, und bin einfach nur froh, dass er endlich da ist und ich nicht mehr in der Art dieser Situation ausgesetzt bin…

Wirklich unwohl beginne ich mich erst wieder zu fühlen, als ich mit Sakuya alleine bin. Erst war nicht schwer, mit ihm umzugehen, als Kevin, Matthew, später Daryl und Carol-Ann dabei waren, doch bereits in dem Moment, als ich mich mit Sakuya und Amber alleine auf dem Weg zu unser keinen Besichtigungstour mache, fühle ich, wie der Knoten in meiner Brust wieder enger wird. Ich muss wieder drängender an die Nacht denken, an das, was ich gestern alles erfahren habe. Ich muss daran denken, wie gerne ich ihn fragen würde, wann und wie lange er und Kevin ein Paar waren. Und was genau war das mit Malcolm?
 

Die Entscheidung, bei Carol-Ann zu bleiben, während Sakuya Daryl abholt, war eher eine kleine Kurzschlussreaktion. Ich weiß nicht mal wirklich, warum ich keine Lust habe, den Club zu betreten… aber wahrscheinlich liegt es daran, dass ich dort Dinge erfahren habe, die ich nie wissen wollte… Wer wweiß, was dort noch alles lauert…

Mir natürlich bewusst, wie dämlich dieser Gedanke ist, bin ich froh, dass Carol-Ann auch noch freundlich lächelt, als Sakuya weg ist.

„Wir sollten dich jetzt erstmal baden, nicht wahr“, hält sie ihre kleine Tochter in die Höhe, welche mit Beinen und Armen strampelt und ein fröhliches Glucksen hören lässt. „Kommst du mit?“, trifft mich dann ihr Blick, während sie die Treppe hinaufgeht.

„Gerne“, folge ich ihr erleichtert.
 

Nachdem Amber gebadet ist und wir im Wohnzimmer sitzen, wo die Kleine fröhlich an ihrem Fläschchen nuckelt, frage ich mich, worüber ich eigentlich mit Carol-Ann reden soll. Die letzten Minuten war es leicht, da Amber ein willkommenes Thema darstellte, doch dieses nun ausgeschöpft, ist es schwierig…

„Und? Wie gefällt dir Boston?“, ist es Carol-Ann, die als erstes ein Thema findet.

„Sehr“, erwidere ich lächelnd. „Ich kann verstehen, wieso Sakuya an dieser Stadt hängt… Er hat mir früher immer von so vielen Orten erzählt und ich konnte sie mir nie ausmalen…“

Ich sehe Carol-Ann nicht an sondern Amber.

Es ist eine bewusste Entscheidung gewesen, indirekt die Vergangenheit anzusprechen. Carol-Ann soll nicht das Gefühl haben, ich würde das Thema meiden… immerhin bin ich mir mittlerweile 100% sicher, dass sie bescheid weiß. Sie soll nicht glauben, dass ich versuche, die Vergangenheit zu ignorieren.

„Hat er so viel von Boston erzählt?“

„Was heißt oft… aber immer mal wieder hat er von seiner Heimatstadt geschwärmt und sich darüber beschwert, wie grau Tokyo doch ist…“

„Ja, das hat er mir auch ein paar Mal gesagt“, sie grinst und stellt die leere Flasche weg. Dann hebt sie Amber an ihre Schulter. „Vor allem, als er anfing, sich mit Fotografie zu beschäftigen, sagte er, dass es in Tokyo ganz andere, viel farblosere Motive geben würde… Mich hat das wiederum immer besonders neugierig gemacht.“

„Ach, Sakuya hat schon recht, Tokyo ist keine besonders schöne Stadt“, schüttle ich den Kopf. „Sie ist ganz anders als Amerika, zumindest der Teil Amerikas, den ich bisher gesehen habe… Aber wirklich etwas Besonderes ist Tokyo nicht. Es ist halt groß, riesig und überfüllt… und wenn man da aufgewachsen ist, mag man das irgendwie… aber ich kann mir vorstellen, dass jeder andere genau das nicht mag. Ich glaube Sakuya hat es immer ein bisschen gestört…“

„Empfindest du das auch so?“ Sie klopft Amber leicht auf den Rücken.

„Was?“

„Fühlst du dich unwohl in Amerika, weil es so anders ist?“

„Nein, eigentlich nicht… obwohl ich dachte, dass ich es würde, zumindest am Anfang… aber eigentlich mag ich es sehr… San Francisco und Boston sind einfach wunderschöne Orte…“

„Welcher gefällt dir besser?“, trifft mich ein Grinsen.

„Ich glaube…“ Ich senke meinen Blick und sehe Amber an, die, nach ihrem Bäuerchen gemacht, von Carol-Ann in den Armen gewiegt wird. „Ich glaube, ich mag San Francisco ein kleines bisschen mehr. Irgendwie strahlt die Stadt für mich Ruhe aus, auch wenn ich nicht sagen kann, woran das liegt…“

Ein kurzes Nicken, dann steht Carol-Ann auf. „Wartest du kurz? Ich bring Amber ins Bett…“

„Natürlich.“

Ich sehe Carol-Ann hinterher. Im Türrahmen bleibt sie stehen.

„Sag mal“, dreht sie sich zu mir um. „Möchtest du ein paar Fotos sehen? Bevor Sakuya und Kevin nach San Francisco sind, haben wir ständig welche gemacht… vielleicht interessieren sie dich…“ Ein leichtes, unschlüssiges Schulternzucken.

„Ich würde sie gerne sehen“, lächle ich und sie verlässt den Raum.
 

Sofort neugierig auf Fotos aus Sakuyas Vergangenheit, war mir nicht wirklich bewusst, was ich dort sehen würde. Zunächst erschreckt es mich sehr… und ich glaube nicht, dass ich es voll und ganz schaffe, dies zu verbergen. Die ersten Bilder des ersten Albums fesseln mich und ich schaffe es kaum, die Seiten zu wechseln. Nur sehr langsam bewege ich mich vorwärts und höre kaum, was Carol-Ann sagt. Auch bekomme ich nur am Rand mit, wie sie den Raum verlässt.

Was ich sehe ist der Sakuya meiner Vergangenheit. Nie mehr als ein Foto von ihm gehabt, lebte der Sakuya nur in meiner Erinnerung weiter und Kleinigkeiten verblassten immer mehr… nun aber sehe ich das Lachen, in welches ich mich verliebt habe, sehe das strahlende Gesicht von damals, sieben Jahre jünger als heute… Ich habe gar nicht bemerkt, wie sehr er sich eigentlich verändert hat… wie erwachsen er doch geworden ist…

Ich blättere weiter, treffe auf mehr Bilder, die mir einen Sakuya zeigen, wie ich ihn selbst erlebt habe… Diesen einen Pulli habe ich immer an ihm geliebt… und diese Hose fand ich grauenhaft… Habe ich ihm solche Dinge eigentlich je gesagt?

„Ich hab uns noch etwas zu trinken geholt“, reißt mich Carol-Anns ruhige Stimme aus meinen Gedanken.

Erschrocken fahre ich zusammen, schlage automatisch zur nächsten Seite weiter. Ich lächle sie an, danke ihr, trinke einen Schluck und versuche, mich zu beruhigen. Sie darf nicht merken, wie sehr mich diese Sache ergreift.

Als ich meinen Blick wieder senke, bleibt allerdings mein Herz stehen.

„Das war im November“, trifft mich ein Seitenblick, den ich nur zu deutlich spüre. „Wusstest du das eigentlich?“

„Ja.“

Ich starre das Bild an. Es sind Kevin und Sakuya darauf zu sehen, wie sie sich in den Armen halten. Es ist deutlich zu sehen, dass es mehr ist, als nur eine freundschaftliche Umarmung. Besonders Kevins Augen sprechen davon.

Ich blättere weiter, treffen auf noch ein paar solche Bilder, auch wenn sie fast untergehen unten allen anderen, auf denen bekannte und mir vollkommen fremde Personen zu sehen sind. Dennoch nehme ich jedes Einzelne Bild wahr, auf dem Kevin und Sakuya sich nahe sind, sich berühren… und auch wenn sie sich auf keinem einzigen küssen, bin ich mir sicher, dass sie auf all diesen Bildern zusammen waren.

Hat es also schon so früh begonnen?

„Wirklich schön“, schaffe ich ein Lächeln, als ich das Album zuklappe.

Eine Zeitspanne von etwas mehr als einem Jahr war darin zu sehen… und gegen Ende hin war es schon, dass Sakuya mir fremder wurde auf den Bildern… der Sakuya, mit dem ich einst zusammen war, verschwand langsam, selbst wenn ich nicht sagen könnte, wodurch das deutlich wurde…

„Willst du noch mehr sehen?“, deutet Carol-Ann auf ein weiteres Album.

„Gerne“, sage ich wieder, obwohl ich davon nicht wirklich überzeugt bin.

Ich weiß nicht wirklich, ob ich noch mehr dieses Sakuyas sehen will, den ich nicht kenne, der auch heute nicht mehr der selbe ist… ich weiß nicht, ob ich noch mehr Sakuya und Kevin Bilder belächeln kann und so tun, als würde es mich nicht stören.

Ob Carol-Ann sch dessen bewusst ist?

Das nächste Album auf dem Schoß, treffen mich auf den nächsten Seiten immer mal wieder solche Bilder… aber nun sind auch zunehmen viele dabei, auf denen Sakuya oder Kevin auf dem Baseballfeld stehen… auf denen Sakuya strahlt, wie er heute noch strahlt, wie er damals gestrahlt hat… und es baut mir die Brücke, hinweg über die unbekannte Insel, zurück in die Vergangenheit, hin zur Gegenwart… dies ist der Sakuya, der sich nie verändert hat, dieser ist immer derselbe geblieben… diesen liebe ich.

Von einer auf die nächste Sekunde stehe ich auf meinen Beinen, das hektisch zugeschlagene Album in meinen Händen, ein Zittern durch meinen Körper spürend.

„Kida?“

Augenblicklich werde ich mir Carol-Anns Anwesenheit bewusst.

„Ich… ähm… ich muss kurz wohin…“ Ich lächle sie an, reiche ihr das Album.

Damit drehe ich mich um und verlasse das Wohnzimmer, betrete kurz darauf das kleine Bad im unteren Teil des Hauses.

Beim Herz rast, als ich mich am Waschbecken abstütze und meinen Kopf gegen die kalte Spiegelscheibe lege.

Ich liebe ihn.

Habe ich das gerade wirklich gedacht?
 

Kaum habe ich das Bad wieder verlassen und mich zurück zu Carol-Ann begeben, tauchen Sakuya und Daryl auf. Damit ist die Zeit des Fotoschauens vorbei, die Fotos weggeräumt und ich fast froh darüber, nicht noch mehr gesehen zu haben. Mein Herz schlägt schon jetzt, in diesem Augenblick, da ich Sakuya vor mir sehe, viel zu stark.

Während den wenigen Minuten, die Sakuya und ich noch bleiben, redet Sakuya sehr wenig, was es schwer macht, mich nicht nur auf ihn zu konzentrieren und mich zu fragen, was wohl los ist. Am liebsten würde ich es tun, da ich mir überhaupt keinen Reim auf seinen Stimmungswechsel machen kann. Heute Nachmittag noch war er doch eigentlich sehr gut gelaunt gewesen… oder habe ich mir das nur eingebildet?

Da weder Carol-Ann und Daryl ihn auf seine merkwürdige Laune ansprechen, beschließe auch ich, es nicht zu tun… und ich bin fast froh, als er gehen will, denn irgendwie sehne ich mich nach ein bisschen Ruhe. Nein, eigentlich nicht nur irgendwie… ich sehne mich ziemlich stark danach. Umso besser gefällt es mir, als zurück ziemlich schnell beschlossen wird, ins Bett zu gehen. Ich beteuere, wie todmüde ich bin und verkrieche mich dann in meinem Zimmer. Hier kann ich endlich die Maske fallen lassen, die ich den gesamten Tag über trug.

Vor mir selbst entblößt, sinke ich auf mein Bett hinab. Ich vergrabe mich in der Decke und starre wieder hinauf zum Dachfenster. Wolkig ist es heute, weshalb man nur ein paar Sterne erkennen kann, doch sie reichen aus, um mir ein beklemmtes Gefühl zu geben. Ich drehe den Blick und berühre die Tapete mit den Fingern. Ich schließe meine Augen und erinnere mich an eines der drei Bilder, die mit Sakuya in diesem Raum gemacht wurden. Eines zeigte dies Bett… und die Wand war genauso hellblau wie heute.

Hast du dich damals, als du hier lagst, so alleine gefühlt wie ich jetzt?

Ich wünschte, ich wäre bei dir gewesen…
 

~ * ~
 

Der nächste Tag wird ein Tag, der zum Glück so voll von Ereignissen und Leute ist, dass mir nicht viel Zeit zum Nachdenken bleibt. Nur während des Badeballspiels muss ich mich zusammenreißen, um nicht in eine vollkommen nostalgische Stimmung zu verfallen und Sakuya immer wieder anzusehen. Ich zwinge mich sogar regelrecht, es nicht zu tun, da ich mir bewusst bin, wie Kevin mich beobachtet…

Am Abend lerne ich einige Personen kennen, welche ich gestern auf den Fotos gesehen habe, und da ich die ganze Zeit in Gespräch verwickelt werde, fällt mir nicht auf, wie die Zeit vergeht… und auch nur nebenbei, dass ich gerade gerne mehr an Sakuyas Seite sein würde.

Mit wem ich mich verwunderlicher Weise an diesem Abend sehr gut unterhalte, ist Daryl. War er in den letzten zwei Tagen eher etwas distanziert mir gegenüber, verwickelt er mich heute schnell in ein Gespräch, erzählt mir von seinem Club und ist sehr interessiert, was meine Arbeit bei Toshiba angeht. Er horcht nur deutlich an der Stelle auf, an der ich erzähle, dass ich auch nach Boston hätte gehen können.

„Hättest du?“, werde ich überrascht angesehen. „Und weshalb hast du es nicht gemacht?“

„Viele Gründe“, zucke ich mit den Schultern und ein großer Teil meiner Lockerheit verfliegt. Hätte ich das Thema doch bloß nicht angeschnitten.

„Wegen ihm?“, wird leicht mit den Augen zur Seite gedeutet. Ich zwinge mich, Sakuya nicht anzusehen.

„Ein wenig“, gestehe ich. „Und zudem hieß es, dass ich in San Francisco wahrscheinlich einen größeren Zuständigkeitsbereich erhalten würde… Das war ein ziemlich wichtiger Grund…“

„Das kann ich verstehen“, sieht Daryl mich fest an… und ich frage mich, ob man mir meine Lüge wohl ansehen konnte. Als er dann aber anfängt zu lächeln, bin ich beruhigt. „Willst du noch was?“, hält er eine Flasche in die Höhe.

„Ja, danke“, nicke ich und ergreife mein Glas. Seine Augen fixieren mich. „Auf noch eine gute Zeit in Amerika!“

„Danke“, lächle ich.

Wieso habe ich das Gefühl, mich in einem fortwährenden Test zu befinden?
 

~ * ~
 

Der Sonntag verspricht ebenso wie der vorherige Tag zu werden. Wieder lerne ich einige mir nur von Fotos bekannte Personen kennen… wobei, eigentlich kennte ich Juliet und Aaron wenigstens aus Erzählungen von früher, ebenso wie sie mich, was auch hier wieder durch die ein oder andere Bemerkung angedeutet wird. Allerdings ist es sehr leicht, mit Aaron und Juliet umzugehen, und mit Juliets Mann werde ich so schnell in eine Debatte über Computer gezogen, dass ich gar nicht bemerke, wie Sakuya mit Matthew und den Kindern das Haus verlässt. Dies fällt mir erst auf, als mein Gesprächspartner durch sein Telefonklingeln unterbrochen, aufsteht und den Raum verlässt. Mit den Augen suche ich nach Sakuya und treffe dabei auf Kevins Blick.

„Sie sind draußen“, kommt er auf mich zu. „Wollen wir auch gehen?“

Er deutet mit dem Kopf zur Gartentür und ich sehe ihn verwundert an. Da ich aber gerade nichts finden kann, das dagegenspricht, nicke ich.

Zunächst gehen wir ein ganzes Stück schweigend nebeneinander her. Dann erzählt Kevin eine kleine Anekdote aus ihrer gemeinsamen Kindheit und dann verstummt er wieder. Ich lasse meinen Blick fortwährend durch die Gegend schweifen und frage mich, wann ich eigentlich das letzte Mal ein richtiges Gespräch mit Kevin geführt habe. Über die nächste Straße getreten wird mir bewusst, dass ich mich mit ihm eigentlich noch nie richtig unterhalten habe.

Ich sehe ihn von der Seite an. Sein Blick ist starr nach vorne gerichtet und fast würde ich sagen, dass er wartend wirkt. Wartet er darauf, dass ich etwas sage? Sollte ich etwas sagen? Und was? Etwas Belangloses?

„Hör mal, Kevin…“, setze ich schließlich an. „Dass ich hier bin-“

„Da vorne sind sie!“, werde ich unterbrochen und Kevin beschleunigt seinen Schritt. Ich sehe seinem Rücken nach.
 

In den ersten Minuten sitzen wir nur da und sehen Sakuya und Matthew dabei zu, wie sie mit den Kindern spielen. Zwar will ich anders, doch ich kann nicht davon lassen, besonders Sakuya die ganze Zeit zu beobachten, wie er die kleine Amber herum schwingt oder mit Cat rutscht. Dieser verspielte Sakuya ist noch einmal jemand ganz anderes… aber es ist eine Person, die mir gefällt. Ich sehe ihn gerne auf diese Weise lachen.

„Richtig süß, nicht wahr?“, reißt Kevin mich aus meinen Gedanken als ich Sakuya gerade dabei zusehe, wie er mit Amber schaukelt. Die Kleine hüpft förmlich in seinen Armen während er mit ihr zu reden scheint.

„Was meinst du?“, wende ich meinen Blick kurz ab.

„Wie er mit ihnen spielt…“

Kevin legt den Kopf schief und sieht mich fest an. Ich sehe wieder weg.

„Er liebt Kinder… und man bekommt das Gefühl, dass er darin aufgeht, mit ihnen zu spielen, sich um sie zu kümmern oder sie einfach nur anzusehen… Es ist etwas ganz Instinktives, nicht wahr?“

Ich spüre einen Kloß in meiner Kehle sitzen, als ich es irgendwie schaffe, zu nicken. Es ist nicht so, dass ich es nicht selbst sehe, dass ich es nicht selbst denke, doch es ist eine merkwürdige Art, wie Kevin dies sagt, es ausspricht… Und es tut einfach nur weh, denn da ist diese kleine Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, dass ich ein Mann bin.

Du wirst ihm nie ein Kind schenken können.

Ich senke meinen Blick und greife nach einem Stein. Ich habe das Bedürfnis ihn wegzuwerfen, doch stattdessen drehe ich ihn in meinen Fingern. Ich merke, wie Kevin mich dabei beobachtet.

„Dass er selber mal Kinder will, brauch ich dir ja wohl nicht erst zu sagen…“, sticht Kevin tief in meine Wunde, als er weiter spricht.

Ich lasse den Stein kraftlos fallen und hebe meinen Blick wieder. Ich sehe Sakuya an, der mit Amber von der Schaukel steigt und zu Cat und Matthew hinübergeht, die im Sand spielen.

„Ja…“, spreche ich und merke ziemlich deutlich wie belegt meine Stimme dabei klingt. „Das denke ich auch…“

„Nicht wahr“, brauche ich gar nicht erst hinsehen, um den Blick auf Kevins Gesicht zu kennen. „Ohne Kinder… Ich denke, ihm würde dann immer irgendetwas fehlen… meinst du nicht auch?“

„Wahrscheinlich“, wird das Ziehen in meiner Brust immer stärker.

Ich nehme eine Bewegung neben mir wahr, reiße meinen Blick von Sakuyas Lachen los und sehe Kevin an, der aufgestanden ist.

„Wir wollen doch schließlich beide, dass seine Wünsche auch in Erfüllung gehen“, schaut er mich intensive an. „Also… wäre es vielleicht besser, wenn du dich ein wenig zusammen reißt und deine Sehnsucht nach ihm nicht ganz so deutlich zum Ausdruck bringst.“
 

Ich verbringe die restlichen Stunden des Abends damit, mich zu zwingen, Kevins Worte zu vergessen… und wegen ihnen verbringe ich den Abend auch damit, Sakuya bewusst nicht anzusehen. Doch ich erwische mich immer wieder dabei, merke ständig, dass mein Blick in seine Richtung gleitet… und dass er dies noch öfter tut als es mir eigentlich bewusst war. Auch sitze ich da und frage mich, ob es sonst noch jemandem aufgefallen ist… Hat Carol-Ann bemerkt, wie ich Sakuya ansehe? Oder Daryl? Was wenn es Charize bemerkt, wenn wir wieder in San Francisco sind? Was wenn sie sich fragt, warum ich ihrem Freund so viel Aufmerksamkeit schenke?

Bin ich auf dem besten Wege, mich selbst zu verraten? )Immerhin hat zumindest Kevin es bereits erraten…

Als Sakuya sagt, dass er ein bisschen spazieren gehen will, zögere ich erst sehr, mit ihm zu gehen. Ich will fast nur deswegen bleiben, um Kevin zu zeigen, dass ich nicht immer an Sakuyas Seite sein muss… doch dann beschließe ich, dass es Unsinn ist… oder mein Herz beschließt, dass ich lieber mit ihm gehen will.

Also ringe ich mal wieder in einer schweigenden Zweisamkeit damit, was ich am besten sagen soll… und mal wieder fällt mir nichts ein, aber auch rein gar nichts. Stattdessen drehen die Worte Kevins sich um mich herum und ich frage mich, ob Sakuya es vielleicht selbst schon bemerkt hat. Dann aber wieder bin ich mir sicher, dass dies nicht so ist…. Immerhin, so auffällig verhalte ich mich nun doch auch wieder nicht, oder etwa doch?

Unser Weg führt uns eine Grasfläche entlang zu einem Fluss, weiter hin zu einer Sandfläche, welche sich hell von dem Wasser abhebt. In diesem glitzern kleine Lichter.

Ich sehe Sakuya an, wie sein Blick auf dem Boden ruht… und in dem Moment wird mir bewusst, was das gerade eigentlich für eine Situation ist. Wir sind alleine, wirklich alleine… könnte ich das tun, was ich schon die ganze Zeit wollte? Könnte ich ihn jetzt, an dieser Stelle fragen, was mit ihm und Kevin war? Wäre es auffällig, wenn ich dies täte?

Ich sehe Sakuya den Blick heben, sehe, wie dieser herumschweift… und im nächsten Moment frage ich mich, wie oft er wohl mit Kevin hier gewesen ist, damals, als sie ein Paar waren, damals, nach meiner Zeit… Haben sie oft hier zusammen im Gras gelegen? Ein Stich der Eifersucht holt mich ein.

„Es ist schön hier“, spreche ich um mir dessen selbst wieder bewusst zu werden… und um vielleicht endlich ein Gespräch in Gang zu bringen, doch reagiert Sakuya im Endeffekt anders als erhoff mit einer kalten Bewerkung. Dann lässt er sich ein Stück entfernt zu Boden sinken. Ich tue es ihm gleich, sehe wieder auf das Wasser hinaus.

Dass ich noch etwas Belangloses sagen sollte, ist mir schon bewusst, doch dann platzt die erstbeste Frage aus mir heraus, die mir einfällt… und die es wirken lässt, als sei ich so ahnungslos, wie ich es vor ein paar Tagen noch war. Ich kann ihm einfach nicht sagen, dass ich schon ein bisschen was weiß… ich kann nicht, denn dann würde ich wohl auch sagen, dass es mir nicht aus dem Kopf gegangen ist…

Zunächst blockt Sakuya ab. Ich will es nicht wissen? Oh, wenn du wüsstest, wie gerne ich alles wissen würde… und wenn du wüsstest, was ich dennoch für eine Angst davor habe… ich habe Angst, noch mehr zu hören von dem, was ich nicht hören will.

In der nächsten Sekunde, gerade, als ich wieder etwas sagen will, springt Sakuya auf… und nur Sekunden später erhebt sich seine Stimme über die ruhige Umgebung hinweg. Mir fährt sie in den Magen mit jedem einzelnen Wort, mit jeder Silbe und mit den Worten, dass Kevin ihn die ganze Zeit geliebt hat.

Nein.

Nein, das hatte ich wirklich nicht wissen wollen.

„Hast du es geglaubt?“, wird eine Antwort gefordert und ich fühle mich grausam, wie in einer Ecke, aus der ich nicht herauskomme. Ich will nicht sprechen, ich will nichts sagen… sei still, ich will doch nicht noch mehr hören… ich will das doch eigentlich gar nicht wissen.

Wie ich es schaffe, ihm ruhig zu antworten, weiß ich nicht, doch meine Ruhe scheint ihn nur noch mehr aufbrausen zu lassen. Worte fliegen mir um die Ohren… und dann, letztendlich bleiben doch nur zwei davon hängen:

Vier Jahre.

Ich habe das Gefühl, jegliche Wärme von mir zu geben und zu einem Eisblock zu gefrieren. Ihr wart tatsächlich so lange ein Paar? So viel länger als wir? Und du hast ihm jetzt erst gesagt, dass du ihn geliebt hast? Was um Himmels Willen war los bei euch? Und wieso muss ich so tun, als wäre mir das alles vollkommen egal?

Dass ich nicht einmal von ihrer Beziehung wusste, sage ich, obwohl es mittlerweile gar nicht mehr stimmt. Vor kurzem noch hat es gestimmt… fast würde ich mich freuen, wenn es noch immer stimmen würde.

Der Gedanke verfliegt bei Sakuyas nächsten Worten; „Ich führ mich auf, als hättest du mir gerade deine Liebe gestanden.“

Und mit ihnen fliegt ein Stein ins Wasser, bei dem ich das Gefühl habe, als würde er mir in den Magen gerammt.

Weißt du eigentlich, was du da sagst?

Noch ein paar Worte, die ich kaum wahrnehme, dann sitzt Sakuya wieder neben mir im Gras. Er ist mir nah und ich habe das Gefühl, seine Wärme zu spüren. Plötzlich entsteht das Bedürfnis, zu flüchten… Der Stein in meinem Magen tut so weh.

Es folgen Worte über ein was wäre wenn… was wäre gewesen, wenn Kevin es Sakuya früher gesagt hätte? Es fällt schwer, den Gedanken überhaupt in meinen Kopf zu lassen und als Sakuya dann auch noch plötzlich anfängt, über den Wind zu reden, ist mein Kopf so leer, dass ich totalen Scheiß von mir gebe…

Ich habe keine Nerven dazu, merkst du das denn nicht? Du bist nicht der einzige, der gerade keine Ahnung hat, was er tun soll… Merkst du denn nicht, wie schwer es mir gerade fällt, überhaupt neben dir zu atmen?

Ich senke den Blick und dann schließe ich die Augen, als für einen kurzen Moment Stille aufkommt. Ich versuche ruhig zu werden, innerlich ruhig, um diese Situation weiterzumachen… doch stattdessen sind so viele Dinge in meinem Kopf, die keine Ruhe geben…

Was wäre wenn alles anders gelaufen wäre?

Was wäre gewesen, wenn ich den Brief nie geschrieben hätte?

Würden wir dann auch gerade hier sitzen?

Hätte ich die Chance, mit dir zu reden?

Oder… Ist dies die Chance, genau dies jetzt zu tun?

Mit dir reden… damit ich mich nicht in einer Woche oder danach frage: Was wäre gewesen wenn?

„Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass er es dir nicht gesagt hat“, höre ich meine Stimme selbst kaum, höre ich nur das Dröhnen meiner Ohren… und das wilde Schlagen eines Herzens, das ich nicht in meiner Brust haben will. „Du wärst wahrscheinlich mit ganz anderen Gefühlen nach Japan gekommen, wenn überhaupt...“ Ich sehe Bilder vor mir, von damals… Sie sind schwach, schwarzweiß, kaum auszumachen, doch in meinem Herzen sind sie klar. Was wäre, wenn er es gewusst hätte? Hätte es sie dann auch gegeben? „Vielleicht ein anderer Mensch gewesen und hättest wahrscheinlich niemals mit Sanae getanzt und wir… hätten uns vielleicht nicht kennenge-“

„Hör auf damit!“, werde ich laut unterbrochen.

Beide springen wir auf. Nein, ich will damit nicht aufhören, will es dir sagen, will dir sagen, wie leid es mir tut… will dir sagen, dass es nicht so hätte laufen dürfen, dass es ein Fehler war, dass ich weiß, dass es ein Fehler war… und dass ich doch damals, als 17jähriger Junge einfach keinen anderen Ausweg gesehen habe, dass ich ohne dich nicht leben wollte und mich dennoch dafür entschieden habe, weil ich glaubte, dass es besser sei… weil ich mich nicht gefragt habe, was wäre wenn, sondern weil ich zu schwach war, zu schwach für uns…

Doch all das will Sakuya nicht hören, wehrt sich, schreit, presst sich die Hände an die Ohren und unterbricht mich immer wieder, während ich eine pure Verzweiflung in mir spüre, während mir klar wird, dass dies der Moment ist, den ich nicht haben wollte, den ich auf diese Weise nicht erleben wollte… und dennoch, irgendwann musste es geschehen, musste es dazu kommen… bitte, lass es mich doch einfach nur sagen…

Doch dann, im nächsten Moment bin nicht ich es, der etwas sagt, sondern Sakuya… laut sind seine Worte, eindringlich, wütend… und vor allem verletzt… es sind harte Worte, die er mir sagt, harte Dinge, die er mir an den Kopf wirft, und Worte, die ich wiedererkenne, da ich sie einst geschrieben habe, da ich, der ich damals war, mich nicht besser wusste, zu erklären… jedes einzelne brennt sich mir auf die Seele in diesem Moment, zusammen mit dem Ton seiner Stimme, in dem ich glaube, den Jungen von damals zu hören, die Verletzlichkeit, mit der ich ihn zu jener Zeit am Telefon hörte… ich sehe Bilder, in diesem Zimmer, auf dem Bett, auf dem ich im Moment schlaf… einen weinenden Jungen, einen wütenden Jungen… nicht das lachen von den Fotos sondern bittere Tränen und Hass… tiefer Hass, den ich glaube, jetzt zu hören… von dem ich glaube, dass er mich genau jetzt erdrücken kann, wenn er weiter spricht… auch nur ein einziges Worte mehr sagt.

Es wäre besser gewesen, wenn wir uns nie getroffen hätten?

Ja, vielleicht wäre es das… denn hab ich damals wirklich geglaubt, dass es eine gute Entscheidung war, die ich getroffen habe?

War ich wirklich so dumm?

Ein Zittern ergreift mich, das ich kaum spüre. Auch die Nässe meiner Augen nehme ich nicht wirklich wahr, sondern nur, wie seine Schritte ihn führen, auf einem Weg, der sich von meinem trennt… das war seit Jahren so. Was dachte ich, dass er wieder zu mir führen würde?

„Ich…“ höre ich seine Stimme, die mit einem Mal wieder ruhiger ist.

Es lässt mich erschaudern, gefrieren… es hinterlässt das Bedürfnis, zu Boden zu sinken und zu weinen…

Ich will doch nur bei dir sein?

Wieso mache ich immer alles so schrecklich falsch?

„Schon gut“, hebe ich meinen Blick leicht. „Es tu-“

Ich spreche nicht weiter, da mir bewusst wird, dass es genau das war, was alles begonnen hat. Es tat mir schon damals leid und dennoch habe ich es getan… was würde ihm meine Entschuldigung jetzt also bringen?

„Ja…“, treibt das einfache Wort noch mehr Tränen in mein Gesicht.

Ich wische sie weg, will etwas sagen, weiß aber nicht was… Ich beginne, stocke, stoppe… ich habe keine Ahnung, was ich tun soll… Ich will dich doch nicht schon wieder verlieren, wo ich dich doch noch nicht einmal habe…

Sanfte Worte, die er spricht, als er mich an sich zieht. Ich versteife mich, will ihn von mir stoßen, wieder etwas sagen, mich noch mal versuchen zu entschuldigen… doch als ich seine Hände spüre, die meinen Rücken berühren und über ihn streicheln, weiß ich, dass ich nur schweigen kann… schweigen und in seinen Armen liegen. Mehr bleibt mir nicht in diesem winzigen Augenblick… ich habe mir selbst alles genommen, was mehr gewesen wäre.

Ich kralle mich an ihn, meine Finger in seine Jacke. Ich vergrabe meinen Kopf an seiner Schulter und versuche, das Schluchzen zu vermindern, zu unterdrücken, obwohl mein Körper nicht aufhören will darunter zu erzittern.

Lass mich nicht los… bitte, tu alles, aber lass mich in diesem Moment nicht los!
 

Als wir nur ein bisschen später zurückkommen, ist das Licht des Hauses erloschen. Leise schleichen also auch wir die Treppen hinauf und verabschieden uns für die Nacht mit einem kurzen Nicken. Mir fällt es schwer, ihn gehen zu lassen, nachdem wir in den vergangenen Minuten nicht mehr wirklich viele Worte gewechselt haben. Am liebsten würde ich ihn festhalten, nochmals versuchen, mich zu entschuldigen… aber was würde das schon bringen? Überhaupt nichts… Es würde nichts ändern.

Also halte ich ihn nicht auf und so trennen sich unsere Wege. Ich verschwinde in meinem Zimmer und brauche lange, bis ich mich ins Bett begebe.

Mein Kopf dröhnt, ich vergrabe ihn im Kissen.

Weißt du eigentlich, wie schwer das alles für mich ist?

Weißt du eigentlich, wie unmöglich es jetzt schon wieder für mich ist, dich nur als Freund zu sehen?

Weißt du eigentlich, dass von nun an jeder Tag für mich ein Alptraum sein wird?

Aber vielleicht habe ich genau das verdient… vielleicht ist genau das meine Strafe dafür, dass ich dich damals verlassen habe. Vielleicht gibt es das Schicksal doch und meins ist es, von den Gefühlen zu dir zerfressen zu werden.

Ich lache, ein tonloses, schmerzhaftes Lachen, dass mir die Brust auseinanderzureißen droht, als mir im Kissen die Luft ausgeht.

Irgendwo habe ich mal gehört, dass die erste Liebe die Schlimmste ist. Dort stand, sie trifft einen unvorbereitet und man kennt sich nicht damit aus… man weiß nicht, was man tun soll, weiß nicht, wie man sie leben und vor allem wie man sie pflegen muss… man weiß nicht, was Liebe braucht, um zu wachsen, was liebe braucht, um zu bestehen… und so macht man Fehler, verliert sie, gibt sie auf… und vergisst sie dennoch nie… sie ist immer da, die erste Liebe, sie ist irgendwo im Hinterkopf, wo sie festsitzt und einen daran erinnert, was zu Anfang war… was man für Fehler gemacht hat, aus denen man lernen konnte… was man verloren hat…

Die erste Liebe ist die schlimmste? Tatsächlich habe ich darüber nie nachgedacht, mich nie gefragt, ob es stimmt, mich nie fragen wollen, ob es stimmt… Ich habe die erste Liebe tief in mir vergraben, sie verloren und doch nie vergessen, auch wenn ich nicht an sie gedacht habe… Sie war weg und dennoch war sie nie ganz verschwunden… sie wurde überdeckt durch neue Liebe und dennoch blieb sie dort, ganz im letzten Winkel meines Herzens, wo sie mich immer daran erinnert hat, dass ich mit ihr einen riesigen Fehler begangen habe… dass ich Worte auf Papier schrieb, die nie hätten geschrieben werden dürfen… und dass ich etwas aufgab, an das ich mich hätte klammern sollen…

Wenn die erste Liebe die schlimmste ist, merkt man dies doch wahrscheinlich nie, da sie verborgen bleibt, da sie im Leben meist kein zweites Mal belebt wird, weil sie nie wieder hervorgehoben wird und stattdessen von vielen Nachfolgern abgelöst wird, bis man die richtige Liebe findet… und diese ist selten die erste Liebe… Doch was tut man, wenn dem doch so ist? Wenn sie wieder hervor kriecht und sich am Herz festklammert, es in Beschlag nimmt, mit allen Erinnerungen und Fehlern, mit allen schönen Moment und Gedanken… mit allem, was die erste Liebe ausmacht… und mit so viel neuer Liebe, dass sie noch stärker wird, noch mehr entflammt bei jedem neuen Lächeln, bei jedem kurzen Blick? Was macht man, wenn dies geschieht, wenn die erste Liebe, die vielleicht wirklich schlimmste Liebe ist, einem die Luft zum Atmen nimmt?
 

Part 75 - Ende
 

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Part 76

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Sakuya (by littleblaze)
 

Morgen ist alles wieder ok. Morgen, an einem Ort ohne Erinnerungen.

Ja, morgen! Doch das Morgen lässt leider viel zu lange auf sich warten. Ich wälze mich von einer Seite auf die andere, bis ich es endlich Leid bin und aufstehe. Viertel nach Vier, eine unglaublich prickelnde Uhrzeit.

Meinen ersten Gang widme ich dem Fenster. Ein starker Wind ist aufgekommen und ich schaue einige Minuten einem kleinen Objekt hinterher, welches über die Straße geweht wird. Doch bin ich nicht einmal in der Lage, mich soweit darauf zu konzentrieren, dass ich erkennen könnte, um was es sich genau dabei handelt… Was ist jetzt schon wieder los, dass mich nicht schlafen lässt?

Dieser ganze Trip ist irgendwie total anders verlaufen als geplant. Ich wollte Spaß haben, Kida Boston zeigen und habe mich darauf gefreut, meine Freunde wiederzusehen, und was habe ich bekommen? Wissen, das ich nicht haben wollte, Gedanken und neue was-wäre-wenn-Fragen. Und wieso musste es gerade jetzt sein, warum nicht schon damals? Jetzt war doch alles in Ordnung, jetzt war es doch endlich mal an der Zeit, einfach nur nach vorne zu blicken, zufrieden zu sein, wie alles läuft… weshalb will man mich immer und immer wieder in die Vergangenheit schicken? Ich habe die Schnauze so voll davon, ich will das alles nicht. Dann doch lieber in Unwissenheit und Naivität herumdümpeln.

Ich verlasse das Zimmer und steige die zwei Etagen hinab. Unten angekommen, bleibe ich erst einmal wieder stehen, da mir gar nicht bewusst zu sein scheint, was ich eigentlich hier möchte. Außer dem bisschen Licht vom erhellenden Mond und den Straßenlaternen ist es dunkel im Haus. Aufs Klo muss ich nicht, Hunger oder Durst plagen mich auch nicht… Fernsehen? Internet? Charize aus dem Bett klingeln? Ich vermisse ihre Stimme, ihre weichen Hände, welche über mein Gesicht streicheln und mir das Gefühl geben, dass ich alles schaffen kann. Ich will nach Hause.

Die letzte Treppenstufe zieht mich an sich und ich lehne mich gegen die Wand. Ich bin müde und ich friere, doch den sinnlosen Gang ins Bett erspare ich mir. Genauso gut, wie ich versuche, weitere Gedanken zu verdrängen. Ich stehe wieder auf und gehe ins Wohnzimmer. Vor dem richtigen Schrank, der richtigen Lade bleibe ich stehen. Was veranlasst mich diese zu öffnen, eines der vielen Fotoalben hinauszuziehen und mir Bilder meiner Jugendzeit im Schein der Straßenlaterne anzusehen?

Ein Fake? All das? Lachende Gesichter, tobende Kinder, Freude, Ereignisse… mein Leben, unser Leben.

Hat er vielleicht immer nur zu mir gehalten und mich beschützt, weil er mich in Wirklichkeit geliebt hat? War es das, was uns zusammen gehalten hat? War von seiner Seite her überhaupt noch Freundschaft oder nur noch Liebe gewesen? Und wie empfindet er jetzt, wo er jemand anderen gefunden hat, dem er seine Liebe schenken kann? Mit dem Gefühl, mein Kopf müsse gleich platzen, lege ich das Album wieder zurück. Nur Sekunden später lässt mich ein Geräusch im Haus zusammenzucken.

Gegen den Türrahmen gedrückt verfolge ich den Gang von Kevins Mom in die Küche. Sie könnte mir gewiss einige meiner Fragen beantworten, spukt es in meinem Hirn herum, doch ich kann mich, trotz riesigem Wissensdurst, nicht dazu durchringen. Sie muss es wissen, oder wenigstens geahnt haben. Sie kannte ihre Kinder immer ziemlich gut. Doch vielleicht würde ich mehr erfahren, als ich will… nein, das Risiko ist mir einfach zu groß.

Ich schleiche mich wieder hinauf in mein Zimmer, lege mich ins Bett und schließe die Augen, mit dem Wissen, dass ich keine einzige Minute Schlaf finden werde.
 

Viel Zeit blieb mir eh nicht mehr dafür, denn um sechs Uhr heißt es schon wieder aufstehen und fertig machen für den Heimflug. Die Fahrt zum Flughafen verläuft schweigend, außer einem „Guten Morgen“ bekomme ich in Kidas Richtung nichts über die Lippen, denn auch seine Worte hängen immer noch in meinem Kopf. Jedoch mit ganz anderen Gefühlen. Hier plagen mich keine was-wäre-wenn-Fragen… hier habe ich mittlerweile schon lange verstanden, dass seine Entscheidung eigentlich das Beste gewesen ist, was mir passieren konnte. Ansonsten wäre ich jetzt einfach nicht da, wo ich heute war, und das will ich mir von keiner Macht der Welt wieder nehmen lassen.

Es ist vielmehr die Enttäuschung an dem Menschen selbst. Er hat mich damals einfach fallengelassen, mich verlassen, nachdem ich so vieles für ihn aufgegeben hatte, nachdem wir so viel zusammen geschafft hatten… und dann auch noch diese Unverfrorenheit, dafür um Verzeihung zu bitten, zu sagen, es tue ihm leid. Gott, wie war mir in diesem Moment danach ihm einfach vor die Füße zu spucken und ihm den Rücken zu kehren.

„Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass er es dir nicht gesagt hat.“

Wie egoistisch… Verlangt von anderen ihre Gefühle für sich zu behalten, schafft es aber selber nicht, für seine eigenen einzustehen. Leicht gemacht, als es gerade darauf ankam, zu zeigen, was ich ihm bedeutet hätte.

„Vielleicht ein anderer Mensch gewesen und hättest wahrscheinlich niemals mit Sanae getanzt und wir… hätten uns vielleicht nicht kennen gelernt.“

Vielleicht… hätte gerade das mein Leben sehr viel einfacher gemacht.

„Ich habe auch ein Recht damit abzuschließen.“

Er hat damit abgeschlossen, als er mich verlassen hat. Darüber hinaus hat er meiner Meinung nach jegliches Recht verloren…

Endlich am Flughafen angekommen, brauchen wir, Gott sei Dank nicht allzu lange zu warten, bis wir zu unseren Sitzen können. Ich gebe der Stewardess nur kurz meine Bestellung für das Mittagessen an und drehe mich dann zum Fenster weg.

„Sakuya?“, trifft es mich leise. Es wäre auch einfach zu schön gewesen.

„Ja?“, vermeide ich es, mich umzudrehen.

„Ist alles in Ordnung… ich meine-“

„Klar, alles ok, ich habe es nur irgendwie verpasst, die Nacht zu schlafen“, versuche ich gelassen zu klingen. Es würde eh nichts bringen, weiter auf dem Thema rumzuhacken. Er hat gesagt, was er sagen wollte und damit hat es sich. In ein paar Stunden bin ich wieder zu Hause und alles was in Boston war, soll in Boston bleiben.

„Ich wollte nur sicher gehen.“

„Mmhh…“
 

San Francisco International Airport, der An- und Abfahrtsbereich, wartend auf Charizes Ankunft, versuche ich Kevin davon zu überzeugen, dass es Schwachsinn wäre, nun das Weite zu suchen.

„Wovor hast du denn Angst?“, blaffe ich ihn an.

„Ich habe keine Angst. Es ist vielleicht nur besser, wenn ich nicht da bin, wenn du es ihr sagst.“ Er versucht mich beruhigend am Arm zu fassen, doch ich weiche aus. Matthew hält sich dezent im Hintergrund, Kida entzieht sich meinem Blickfeld.

„Denkst du etwa, sie würde dir an die Gurgel springen, oder was?“ Woher diese plötzliche Wut kommt, kann ich mir nicht erklären.

„Nein, eigentlich nicht… doch, es ist besser s-“

„Immerhin hast DU MICH geküsst und nicht andersherum. Warum muss ich das jetzt für dich ausbügeln?“

„Das hat keiner von dir ver-“

„Soll ich es ihr etwa nicht sagen?“, unterbreche ich ihn erneut und sein Griff setzt sich nun nicht gerade sanft um meinen Arm.

„Beruhig dich endlich, Sakuya. Was ist denn los mit dir?“

Was mit mir los ist? Mit mir? Meine Welt wurde durcheinander geworfen, du hast mir all meine Erinnerungen verhunzt und ich weiß nicht mehr, wie ich dich einschätzen soll. Ich weiß nicht mehr, wie du zu mir stehst, wo wir beide stehen…

„Ich komme mit nach Hause“, schaut er mich eindringlich an.

Er versucht regelrecht in mich hineinzusehen, jedoch lasse ich es nicht zu. Nein! Ich schüttle leicht den Kopf.

„Schon gut… geh ruhig“, winde ich mich aus seinem Griff und bin versucht, Matthew einen bösen Blick zuzuwerfen. Doch er kann genauso wenig dafür wie ich selber.

Ohne ein weiteres Wort wird an mir und Matthew vorbeigegangen. Zweiter wirft mir noch einen entschuldigenden Augenkontakt zu und entfernt sich dann ebenfalls.

Ich drehe mich weg, damit ich nicht in Versuchung komme ihn stundenlang hinterher zu schauen. Eigentlich bin ich gar nicht sauer darüber, dass er nicht mit nach Hause kommt. Ich habe nur das Gefühl, dass er sich mit jedem Schritt mehr von mir entfernt und besonders jetzt, wo ich nicht weiß, ob ihn vielleicht nur seine Liebe zu mir an mich gebunden hat. Ein unerträgliches Gefühl.

„Ich kann auch ein Taxi nehmen.“

„Sei nicht albern.“

Ich schaue starr auf die Straße vor mir. Die Sonne spiegelt sich auf dem hellen Pflaster wieder und ich befreie meine Sonnenbrille aus der Jackentasche. Als sich diese allerdings nicht widerstandslos aufklappen lässt, erhält sie einen eleganten Freiflug. Kurz überlege ich noch, ob ich sie wieder aufheben soll, immerhin hat sie knapp 1.200 Dollar gekostet, doch schon im nächsten Moment wird diese Überlegung mit einem lauten Knirschen von der Straßenmitte her verworfen.

„Das war eine wirklich schöne Brille.“

„Ja, das war sie“, kann ich mir ein Lächeln darauf nicht verkneifen.
 

Kida abgesetzt, frisst sich das Gefühl fest, reinen Tisch zu machen. Wenigstens halbwegs, manche Dinge werden wohl immer ein Geheimnis bleiben oder wenigstens für eine sehr lange Zeit. Angekommen, darf ich beruhigt feststellen, dass sich zu Hause nichts verändert hat, wenigstens äußerlich nicht.

„Und, wie viele Männer waren in meiner Abwesenheit zu Besuch?“

Ich nehme sie in den Arm, drücke sie an mich und weiß eigentlich genau, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Jedoch wäre es vielleicht sogar hilfreich, wenn sie mir nun von einem kleinen Ausrutscher, einen harmlosen Kuss berichten würde. Vielleicht würde ich mir dann nicht so gemein vorkommen.

„Lass mich überlegen“, runzelt sie die Stirn. „Mit dir sind es dann wohl neun.“ Sie stupst mir leicht gegen die Nase und ich kann nicht anders, als sie energisch an mich zu pressen, sie zu küssen.

„Lass uns nach oben gehen.“

Ich folge ihr, spüre ihre Hand in meiner und habe eigentlich ganz fest vor, es ihr zu sagen, bevor wir oben in unserem Bett landen und wild übereinander herfallen…
 

Ja, ich hatte es vor. Obgleich man sich selten an das hält, was man sich vorgenommen hat.

„Ich liebe dich.“ Ich streichle leicht über ihren Rücken, ihr Kopf ist auf meiner Brust gebettet.

„Ich dich auch“, erhebt sie sich. Ihre Haare fallen leicht zur Seite, von der üblichen, dezenten Farbe auf ihren Lippen ist nichts mehr übrig. „Und wann willst du mir endlich sagen, was dich gerade bedrückt?“

„Wie kommst du darauf?“ Natürlich eiskalt erwischt. Wie sollte es auch anders sein?

„Spiel nicht den Dummen, sonst muss ich dir wehtun.“

Sie lächelt und umkreist neckisch mit den Zähnen meine Brustwarze. Meine Hand gleitet vor und fährt über ihre Wange. Kurz geben wir uns wieder einer kleinen Zärtlichkeit hin, doch ihr Blick fragt nach und ich schaffe es nicht, sie viel länger hinzuhalten.

„In Boston… da ist etwas passiert…“

„Ok, halt, stopp, warte!“

Sie setzt sich auf und zieht die Decke über ihren nackten Körper. Gebannt schaut sie mich an.

„Nicht das, was du denkst“, versuche ich ein wenig die Anspannung aus der Situation zu nehmen.

„Du weißt doch gar nicht, was ich denke.“

„Sicher?“ Ich greife nach ihrer Hand, streichle ihre Finger nach.

„Du würdest dich nicht wagen, mich zu betrügen.“

„Da gebe ich dir wohl Recht“, lächle ich.

„Also, was ist los?“

Eine professionell, ernste Stimme erklingt und eigentlich möchte ich ihr auch sofort und ohne Umschweife sagen, worum es sich handelt, nur den richtigen Anfang zu finden ist wieder eine ganz andere Sache. Ich will Kevin nicht in Schwierigkeiten bringen und will mich selber nicht verraten.

„Ich möchte nicht, dass du da etwas falsch verstehst.“

„Wie kann ich etwas falsch verstehen, wenn du noch nicht einmal was gesagt hast?“

„Kann ich es nicht einfach aufschreiben und du liest es dir in aller Ruhe durch?“

„Jetzt mach schon.“ Ihre Faust landet auf meinen Oberarm.

Ich schaue sie noch einmal prüfend an und presche dann in Windeseile die Worte hervor: „Kevin hat mich geküsst.“

Ich schließe meine Augen als erwarte ich im nächsten Moment von einem Zug überfahren zu werden. Meine zugepressten Lider öffne ich erst wieder, als einige Momente lang kein Laut von ihrer Seite kommt.

„Das war es?“, lächelt sie mich an und schiebt die Sache mit einer kurzen Handbewegung beiseite und dreht sich weg.

„Ich… na ja, im Allgemeinen schon.“ Ich halte sie am Arm und ziehe sie wieder zurück. „Er deutete noch an, dass er mich eine lange Zeit geliebt hat“, verpacke ich es unwichtig. „Aber, solltest du jetzt nicht irgendwie… ein wenig sauer sein? Immerhin war es ein richtiger Kuss“, zucke ich mit den Schultern.

Ich bin irritiert. Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen? Denkt sie, ich scherze?

„Möchtest du, dass ich sauer bin?“, rutscht sie eine Spur näher. Ich schüttle leicht den Kopf.

„Ich frage mich nur, warum du es nicht bist?“

„Baby, es war doch nur ein Kuss, der nicht wirklich was bedeutet hat, oder?“ Ich nicke erneut. „Warum soll ich dir oder ihm sauer deswegen sein? Ich kenne dich, ich kenne ihn. Keiner von euch würde absichtlich irgendetwas tun, was uns allen wehtun würde.“

„Trotzdem… stört es dich denn gar nicht, dass ich einen anderen Mann geküsst habe?“

„Natürlich, mich würde jeder Kuss stören, den du jemand anderen schenkst. Aber wir reden nun einmal von Kevin. Er ist in den letzten Jahren auch zu einem Teil meiner Familie geworden. Er ist ein Freund, eine Art Bruder… Gesprächspartner und Stütze. Wenn ich irgendjemanden einen Kuss ohne den kleinsten Wimpernschlag verzeihen kann, dann ihm. Außerdem, hat er sich ziemlich lange Zeit gelassen mit seinem Geständnis, denkst du nicht?“

„Wie meinst du das?“

Sie steht vom Bett auf, geht zum Schminktisch hinüber, wo sie sich von ihrem Schmuck befreit. Ordentlich wird dieser in die dafür vorgesehenen Fächer einer Schmuckschatulle gelegt. Ihr Blick trifft mich nur noch durch den Spiegel.

„Du sagtest doch, dass er dir gestanden hat, dich geliebt zu habe-“

„Wusstest du es etwa?“ Meine Stimme klingt belegt.

„Ich bin verwundert, dass du es nicht wusstest.“

„Wie… ich meine, woher, weißt du es?“

Hatten sie darüber geredet? Hat sie mich ebenfalls die ganze Zeit darüber im Unklaren gelassen, wie es wahrscheinlich viele in meiner Umgebung getan haben? Aber ausgerechnet sie? Beide zusammen?

„Wäre meine Menschenkenntnis besser, hätte ich Strafrecht gelernt, aber ein klein wenig darfst du mir schon zuschreiben. Es war doch wirklich nicht schwer, es zu erkennen.“

„Seit wann weißt du es?“, stehe ich auf und komme hinter ihr zum Stehen.

In ihrem Ausdruck liegt mittlerweile kein Lächeln mehr. Spürt sie, wie wichtig mir das gerade ist?

„Von Anfang an“, dreht sie sich zu mir um.

„Ich…“

Mein Blick geht zur Seite, schwankend schaffe ich es gerade nicht, sie anzusehen. Ich verstehe nicht, wie ich das alles zusammenbringen soll. Und warum hat es anscheinend jeder gesehen, nur ich nicht? Bin ich vielleicht zu Nahe dran gewesen, um es zu erkennen?

„Warum hast du es mir nicht gesagt?“, kommt es vorwurfsvoll und sofort entschuldige ich mich für meine Stimmlage.

„Ich wollte dich eben nicht verliere-“

„Das hättest du nicht!“, unterbreche ich sie.

„Und woher hätte ich das bitteschön wissen sollen? Wir kannten uns kaum und du brachtest mich gerade dazu, mich in dich zu verlieben….“

Ich fange an im Zimmer leicht auf und ab zu gehen, mit dem Gefühl, von jedem in meiner Umgebung verraten worden zu sein.

„… Ich wollte eben nichts riskieren, und als du mich batest, bei euch einzuziehen, stand für mich fest, dass ich um dich kämpfen würde.“

Ich stoppe, blicke sie an.

„Kämpfen? Was meinst du damit? Hast du irgendwas zu ihm gesagt ode-“

„Nein“, erhebt sich ihre Stimme und ihre Arme schlagen sich übereinander. „So meinte ich das nicht, es war auch gar nicht nötig. Denn immerhin befand er es anscheinend für besser, dich nicht damit behelligen zu wollen.“

„Und wenn doch, was hättest du dann getan?“, feixe ich sie an.

„Spielt das eine Rolle? Es ist niemals soweit gekommen. Auf wen bist du hier eigentlich so sauer? Du kannst mir es doch wirklich nicht übel nehmen wollen, dass ich nur meine Interessen schützen wollte?“

Ich stocke abermals. Was tue ich hier eigentlich?

„Es tut mir leid“, ziehe ich sie an mich. „Ich bin nur gerade ein wenig verwirrt, weil ich dachte, ich kenne ihn…“ Ich drücke sie wieder ein wenig von mir weg, suche ihren Blick. „… Ich dachte, ich kenne ihn.“

„Hey, was redest du denn da? Er ist dein bester Freund, schon seit ihr klein wart.“

Dagegen oder dafür sprechen? Im Moment kann mir mein Gefühl keine erleuchtende Antwort darauf bieten.

„Glaub mir, es wird sich nichts zwischen euch ändern.“

Ich bin den Tränen nahe.

„Er liebt dich, so oder so. Er hat es immer getan und trotzdem hat er alles dafür gegeben, damit du glücklich bist. Okay?“

Ich nicke zaghaft.

„Zuerst habe ich ihm eine Zielscheibe aufgeklebt, ich dachte, er wäre mein Feind. Doch er hat, sogar am Anfang, wo er mich noch gar nicht kannte, immer versucht, mir mit gutem Rat zur Seite zu stehen. Er hat nie irgendetwas getan, was mich daran zweifeln ließ, dass er wirklich ALLES für dich tun würde, nur damit du glücklich bist. Mach ihm das Leben nicht schwer, weil du jetzt anfängst, an ihm zu zweifeln. Das hat er einfach nicht verdient.“

„Wie kannst du so reden, du kennst ihn gerade mal zweieinhalb Jahre?“

„Du hast Recht“, gleiten ihre Finger von meinen Armen. „… es sollte eigentlich deine Aufgabe sein.“ Und ihr Blick gibt mir eine Art Enttäuschung preis. Sie wendet sich wieder dem Schminktisch zu.

„Du verstehst das nicht“, entweicht mir ein lahmer Versuch.

„Nein, anscheinend tue ich das nicht. Ich weiß nur, dass du gerade ziemlich daneben bist und ich versuche dir zu helfen, mehr nicht.“ Das Bad ist ihr Ziel, doch ich halte sie auf.

„Ich will nicht schon wieder sagen müssen, dass es mir Leid tut.“

„Das musst du auch nicht. Du sollst jetzt nur nicht durchdrehen… jeder hat doch so seine Geheimnisse. Seines hatte nur zufällig was mit dir zu tun.“

Obwohl ich sie nun loslasse, entfernt sie sich nicht von mir, im Gegenteil.

„Ich liebe dich, und Kevin hat nun endlich jemanden gefunden, den er lieben kann. Ist es da wirklich noch wichtig, was einmal war?“

In meinem Kopf rattert es kurz.

„Nein. Nein, das ist es nicht.“

Ich drücke sie an mich und meine Hände vergraben sich in ihrem Haar. Meine Zunge nimmt immer noch den süßlichen Geschmack des Schokoriegels auf, den sie im Auto gegessen hat, und ich weiß genau, dass ich niemals mehr andere Lippen so sinnlich küssen möchte.
 

~ * ~
 

Schon am ersten Morgen, als Kevin, mit Matthew, versteht sich, wieder zu Hause ist, kommt es mir so vor, als wäre nie etwas gewesen. Nur kurz flammt ein abnormes Gefühl auf, wird aber schnell durch den ganz normalen Umgang aller Anwesenden hinfort gewischt. Als Außenstehender würde man wahrscheinlich den Eindruck gewinnen, wir vier wären schon immer ein unzertrennliches Team gewesen.

Diese Harmonie wird in der laufenden Woche auch durch kaum etwas gestört. Charize hat ein wenig mehr Frei, bevor man im nächsten Monat wieder mit einer Flut von Steuererklärungen rechnen darf und Kida hat anscheinend einiges in der Firma aufzuarbeiten, weshalb er sich persönlich auch nicht blicken lässt. Zwei kurze Gespräche am Telefon, zu mehr hat es anscheinend nicht gereicht.

Wir verbringen ziemlich viel Zeit miteinander, zwei Paare, die sich zusammen einen Film anschauen, Bowlen gehen oder einen Kellner nach dem anderen zur Weißglut bringen. Genauso, wie es sein sollte.
 

Es geht zielstrebig auf Thanksgiving zu, einem meiner Lieblingsfeiertage. Cat wird dieses Jahr bei uns sein, weil Juliet mit ihrem Mann verreist. Ich freue mich riesig auf den kindlichen Zuwachs, auch wenn er nur von kurzer Dauer sein wird. Ebenfalls können wir mit dem Besuch von Carol Ann, Dylan und Amber rechnen. Dass meine Mom zum wiederholten Male abgesagt hat, liegt mir noch ein wenig schwer im Magen, aber im Gegenzug bin ich auch nicht wirklich gewillt, mich in den Flieger nach Japan zu setzen. Trotzdem ist es nicht leicht und besonders nicht, wenn man, wie ich es gerade tue, nicht davon ablassen kann, mir alte Fotoalben anzusehen.

„Hey…“

„Na du?“

„Was schaust du dir denn da an?“

Ich gleite mit dem Album zur Seite, damit sie sich auf meinen Schoß setzen kann.

„Bist du sehr traurig, dass sie nicht kommt?“, realisiert sie schnell.

„Ein wenig“, kuschle ich mich an sie.

„Soll ich dich ein wenig aufmuntern?“ Sie lächelt.

„Wir wollten doch zum Essen fahren, aber wenn du unbedingt willst.“ Meine Finger berühren die nackte Haut unter ihre Bluse

„Das meinte ich nicht“, schiebt sie sie wieder hinaus.

„Nicht?“

„Ich…“, sie nimmt mir das Album ab und legt es auf den Boden. „… wollte eigentlich noch nichts sagen. Aber da du so traurig bist…“

„Was ist denn?“

Sie beugt sich langsam zu mir, vorbei an meinen Lippen, hin zu meinem Ohr. Flüsternd verrät sie mir: „Wir sind schwanger.“
 

Part 76 - Ende
 

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Part 77

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Kida (by Stiffy)
 

Es ist als würde mich am nächsten Morgen, am letzten Morgen in Boston jemand die Kehle zuschnüren. Ich spüre förmlich den scharfen Strick, welcher sich in meine Haut schneidet. Und es wird immer enger und enger, je länger ich in Sakuyas Gegenwart bin.

Es ist so deutlich zu spüren, dass seine Stimmung auf dem Nullpunkt ist, dass ich nicht der einzige bin, dessen Kehle er gerade wahrscheinlich am liebsten zuschnüren würde. Die Luft ist eisig, in der wir uns bewegen. Und ich verstehe ihn, das ist das vielleicht Schlimmste an der ganzen Sache, auf gewisse Weise verstehe ich, dass er mir nicht ins Gesicht sehen will, dass er auf Kevin nicht normal reagiert… ich verstehe ihn und das macht es schwer, mich über ihn zu ärgern. Nein, das macht es unmöglich.

Aus nicht zuletzt diesem Grund versuche ich die erste Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen, die sich mir bietet. Doch er lässt es nicht zu, lässt mich kein Taxi nehmen, und nimmt mir nur einmal mehr die Luft zum Atmen.

Noch nicht einmal jetzt lässt du mich vor dir fliehen… weißt du eigentlich, wie grausam das ist? Jetzt, da wir gleich Charize unter die Augen treten?

Nicht lange dauert es mehr, bis genau dieser Augenblick gekommen ist. Wie fröhlich sie ist, wie sie strahlt, als sie ihn küsst… und wie sie auch immer noch so freundlich lächelt, als sie kurz mich in die Arme schließt.

Wenn du wüsstest, denke ich nur und ertrage die Umarmung wie brennendes Feuer. Wenn du wüsstest.

Doch sie weiß nichts. Noch weiß sie gar nichts.

Sie weiß nicht, dass der Mann neben und der hinter ihr sich einmal geliebt haben… und sie weiß erst recht nicht, dass der eine es immer noch tut… oder wieder… oder wie auch immer. Sie weiß es nicht und es fällt mir schwer, ihre Augen im Rückspiegel mit eben diesem Wissen weiterhin anzulächeln.

Es tut mir leid, will ich sagen, wenn du wüsstest, wie leid es mir tut!
 

Zum Glück ist die Fahrt bis zu mir nach Hause schnell hinter uns gebracht. Charize fragt mich noch, ob ich am nächsten Wochenende vorbeikommen wolle und während ich Sakuyas Blick spüre, versuche ich, eine Ausrede zu finden. Ich erkläre ihr, dass ich es noch nicht sagen könne, da ich nicht weiß, was sich in den Tagen meiner Abwesenheit bei der Arbeit getan hat. Vielleicht würde ich dort gebracht.

„Du bist auf jeden Fall herzlich eingeladen!“, strahlt sie.

Ein kurzer Seitenblick fällt auf Sakuya. Er nickt mechanisch, lächelt mechanisch und verabschiedet sich ebenso von mir. Und dann bin ich froh, dass sie endlich das Weite suchen.

Alleine auf dem Parkplatz zurückgelassen, auf dem halben Weg ins Gebäude hinein, bleibe ich stehen. Ich schließe die Augen und atme durch. Fest, intensiv… bis der Strick um meinen Hals zu verschwinden scheint, bis meine Lungen wieder Luft bekommen und sich der Knoten in meiner Brust gelöst hat.

Erst dann öffne ich wieder die Augen und kurz dreht sich alles vor ihnen.

Es ist grausam, was du mit mir machst, Sakuya… Ich finde es schrecklich.

Nun endlich betrete ich das Gebäude und werde am Empfang fröhlich begrüßt. Joe händigt mir meine Post aus, fragt kurz, wie mein Urlaub war. Ich erwidere nur knapp, täusche dann ein Gähnen vor.

„Jetlag, wahrscheinlich“, erkläre ich grinsend bevor wir uns verabschieden und ich mich auf den Weg in mein Appartement mache.

Auf gewisse Weise bin ich tatsächlich müde, doch liegt dies mit Sicherheit nicht an der Zeitüberwindung, sondern daran, dass ich in der vergangenen Nacht wieder so unglaublich schlecht geschlafen habe. Und auch auf dem Rückflug mit einer grauen Gewitterwolke im Sitz neben mir, konnte ich nicht wirklich ein Auge zutun.

Also ist das Gähnen, welches mich verlässt, als ich mein Appartement betrete, dieses Mal ehrlich. Ich schleudere mein Gepäck förmlich von mir, streife mir Schuhe, Hose, Jacke und Pulli ab und sinke aufs Bett.

Von einer Sekunde auf die andere übermannt mich der Wunsch, einfach nur noch zu schlafen. Und nie wieder aufwachen, wäre wohl auch keine so schlechte Idee.
 

Geweckt werde ich von einem Klingeln.

Das erste Mal baue ich es in meinen Traum ein… das zweite Mal passt dies schon nicht mehr und ich öffne die Augen blinzelnd, mich fragend, woher es kommt… das dritte Mal bin ich schon fast auf dem Weg zur Tür… und erst beim vierten Mal begreife ich endlich, dass es das Klingeln meines Telefons ist.

Ich lasse es ein fünftes und ein sechstes Mal klingeln, strecke mich und frage mich, wie spät es wohl sein mag. Dann nehme ich ab.

„Hallo?“, gähne ich ohne es zu wollen in den Hörer.

„Huch? Habe ich dich geweckt?“, ertönt eine irritierte Stimme aus der Leitung.

„Ja“, schlurfe ich wieder ins Schlafzimmer zurück. Ich lasse mich aufs Bett sinken.

„Ehrlich? Das tut mir leid!“ Eine Sekunde Pause. „Aber bei euch ist es doch erst früher Abend, oder irre ich mich?“

Ich werfe einen Blick auf die Uhr und nicke, gebe dann meine Zustimmung auch in Tönen durchs Telefon.

„Soll ich später noch mal anrufen?“

„Nein“, gähne ich wieder, „ist schon gut. Gib mir nur fünf Minuten, okay?“

„Klar.“

Ich lege den Hörer weg und vergrabe kurz mein Gesicht in den Händen. Ich reibe mir die Augen, frage mich kurz, was ich geträumt habe und stehe dann auf. Im Bad trifft mich ein Schwall kalten Wassers im Gesicht, und während ich ihm im Spiegel zusehe, wie es mein Gesicht hinab läuft, spüre ich ganz langsam wieder Leben in meine Glieder kommen.

Habe ich Tatsuya eigentlich von Boston erzählt?

Ich kann mich nicht daran erinnern.

Das ist dann wohl ein Nein.

Und soll ich es jetzt tun?

Ich lege meine Stirn gegen die kalte Spiegelscheibe und schließe noch einmal kurz die Augen.

Was würde er dazu sagen?

Irgendwie fällt es mir nicht schwer, mir das vorzustellen.

Mich vom Spiegel wieder gelöst, trockne ich mir das Gesicht ab. Das, welches mich dann ansieht, sieht schon etwas fitter aus, auch wenn ich mich nicht ganz danach fühle.

Ich setze mich wieder in Bewegung zurück ins Schlafzimmer.

„Da bin ich wieder“, schicke ich meine Anwesenheit nach Japan.

„Willkommen zurück.“ Ein Grinsen… glaube ich. „Ich hab gestern versucht, dich zu erreichen. Warst du irgendwo feiern und hast die Nacht durchgemacht?“

„Nein. Ich war in Boston“, wiegen die Worte schwer auf mir.

„Ach so. Und, war es erfolgreich?“, scheint er anzunehmen, dass es berufliche Gründe hatte.

„Ich war mit Sakuya da“, kläre ich also das Missverständnis auf.

Als Antwort ist es einen Moment lang still.

„Kevin und Matthew waren auch dabei…“, spreche ich weiter.

„Und Charize?“

„Nein. Sie musste leider arbeiten…“

„Okay…“ Es klingt langgezogen, skeptisch. Und er hat so viel Recht dazu. „Wie war es denn?“

Grauenhaft!, schreit es in meinem Kopf. Die Hölle, ich hab gedacht, ich drehe durch!

Letztendlich verlässt aber nur das Wort „Schön“ meine Lippen.

Ich lüge… und ich fühle mich schon jetzt schlecht dabei.

Weshalb ich es dennoch tue?

Weil ich es nicht zugeben kann. Ich kann es ihm nicht sagen, wie es wirklich war. Ich kann ihm nicht sagen, was passiert ist… noch nicht.

„Was habt ihr denn so gemacht?“, kommt es relativ schnell zurück. Noch immer klingt er irgendwie anders.

Ich erzähle es ihm. Das meiste ist die Wahrheit, aber ein paar Dinge verschweige ich, ändere ich. Malcolm kommt in meinen Worten nicht vor, und auch das Fotoalbum nicht… nichts sage ich von der merkwürdigen Stimmung zwischen Kevin und mir, von dessen Worten zu mir… all das verschweige ich, vor allem aber die Beziehung, von der ich bis vor kurzem nichts wusste… und natürlich meine neuen, alten Gefühle.

Ich wage es einfach nicht, darüber zu sprechen.

„Das hört sich wirklich gut an“, klingt es nun endlich locker am anderen Ende. „Und es war nicht komisch, mit ihm da zu sein?“

„Was meinst du?“, frage ich, Unwissenheit vortäuschend.

„Naja… soweit ich mich erinnere, wolltet ihr doch mal zusammen hin fahren, oder?“

Ich schlucke. „Ja“, klingt es rau. „Aber das ist eine Ewigkeit her. Es ist längst vergessen.“

Nein, ich kann ihm nicht sagen, dass Sakuya mich genau aus dem Grund mitgenommen hat. Es würde zu weit führen… zu tief…

„Das freut mich“, scheint er mir zu glauben.

Ich fühle mich schrecklich.

„Und meinst du-“

„Hat es eigentlich einen Grund, weshalb du anrufst?“, unterbreche ich ihn. Es ist eine doofe Frage, was wird mir sofort bewusst. Er muss keinen Grund haben, um mich anzurufen. Hätte mir nicht etwas Besseres einfallen können?

Doch ehe ich noch weitere Worte sagen kann, bejaht er meine Frage. Es überrascht mich irgendwie, weil es mich erleichtert.

„Und welchen?“

„Wir wollen dich bald besuchen kommen.“

„Ihr wollt…“ Meine Stimme klingt hohl. Ich räuspere mich. „Echt? Wann?“

Die ganze Zeit gesessen, stehe ich nun plötzlich auf. Etwas hält mich nicht länger ruhig. Wenn sie herkommen dann… Mir wird ganz schlecht bei diesem Gedanken.

„Nächsten Monat. Wahrscheinlich am Ende. Bei Sai steht es noch nicht ganz fest, wann er frei hat… und ich hab schon mal vorgemerkt, dass ich ein paar Tage nicht da sein werde… Ryouta hat auch überlegt, mitzukommen, aber wahrscheinlich wird das nichts…“

„Warum nicht?“, bleibe ich stehen. Sorge ergreift mich.

„Er ist im Moment ziemlich anfällig. Sein Immunsystem verträgt die Wetterumschwünge, die wir im Moment haben, nicht so gut… naja, und dann plötzlich die Wärme bei euch…“ Tatsuya klingt bedrückt.

„Ich verstehe“, spüre ich, wie in mir ein schlechtes Gewissen reift.

Wir waren nie die besten Freunde… aber ich hätte ihn wenigstens mal anrufen können, in den letzten Wochen… oder eine E-Mail. Das hätte sicher auch schon gereicht.

„Er überlegt es sich noch…“

„Sag ihm, ich würde mich freuen!“ Und Sakuya sicher auch. Sie haben sich immer so gut verstanden.

„Mach ich.“

„Wann entscheidet sich, wann ihr kommt?“

„Das ist noch nicht ganz raus… wahrscheinlich auch erst nächsten Monat… Ist das ein Problem für dich?“

„Nein, überhaupt nicht…“ Ich stehe mittlerweile am Fenster und sehe hinaus. Es ist dunkel geworden. „Ich freue mich, dass ihr kommt!“

Und es ist die Wahrheit. Zwar will mich dieses komische Magengefühl nicht loslassen, aber dennoch überwiegt das Gefühl, dass es gut tun wird, Tatsuya mal wieder zu sehen… mit ihm zu reden… oder mit Sai. Vielleicht kann er mir dieses Mal sogar mehr helfen, als mein bester Freund…

„Ja, wir freuen uns auch! Überleg dir ein paar Sachen, die wir machen können. Sai spricht die ganze Zeit von Alcatraz…“

„Das machen wir auf jeden Fall.“ Ich lächle und lege meine Hand gegen die kühle Fensterscheibe. Eine Erinnerung holt mich ein. Sie fühlt sich frisch an. „Alec wollte immer mit mir hinfahren, aber wir haben es nie gemacht…“ Ich erwische mich dabei, ein wenig wehmütig zu klingen.

„Hast du noch mal was von ihm gehört?“

„Nein.“ Meine Finger streifen über das Glas hinweg. Ich muss daran denken, wie Alec um mich herumgewirbelt ist… wie er dies nun wieder tun würde, immerhin hätte er mich ja seit Tagen nicht mehr bei sich gehabt. „Ich hoffe, es geht ihm gut.“

„Wird es schon.“ Es klingt beruhigend. „Hör auf, dir Gedanken über ihn zu machen, okay?“

„Das bekomm ich hin… ich hab im Moment genug andere…“ Am Fenstersims angekommen, kralle ich meine Finger darum. Alec hätte mich aber genau von diesen Gedanken jetzt ablenken können.

„Wie bitte?“ Es klingt merkwürdig…

Ich spüre den festen Kloß in meinem Hals.

„Nichts.“ Ich räuspere mich fest, umklammere noch immer den Fenstersims. „Mir wird nur wirklich gerade bewusst, dass ich mich auf euch freue…“

„Kida… Was ist mit einem Mal los?“, hört er genau die Veränderung in meiner Stimme. Ich kann es so schlecht verbergen. Nicht vor ihm.

„Gar nichts.“ Ich fühle mich allein. Aber das kann ich nicht sagen. Nicht gerade jetzt… Ich kann es dir noch nicht erklären. „Wirklich. Es ist alles okay.“

Ich lasse den Fenstersims los und drehe mich um.

„Ich glaube dir nicht.“

„Das musst du auch nicht“, klingt es forsch.

„Kid-“

„Lass uns auflegen. Ich bin einfach nur müde… vom Jetlag.“ Meine Stimme straft mich deutlichst Lügen. Ich sinke auf den Boden vor der Fensterbank, lehne meinen Kopf gegen die Wand und schließe die Augen. „Es ist schön, dass du angerufen hast… Grüß Sai ganz lieb… und wir sprechen uns, spätestens, wenn du was Neues weißt, okay?“

„Okay…“ Es ist deutlich zu hören, dass es gar nicht okay ist. Er will fragen, das weiß ich… und ein kleiner Teil von mir wünscht, dass er mich ausquetschen würde… doch das wäre nicht gut… gar nicht gut…

Ich täusche ein Gähnen vor. „Bis dann.“

„Ja. Machs gut.“

„Du auch.“ Ich lege auf.

Langsam lege ich den Hörer in meinen Schoß. Ich fahre mit den Fingerspitzen über die erwärmte Muschel… über die Tasten… Schon bereue ich, dass ich aufgelegt habe. Ich hätte länger mit ihm sprechen sollen… viel länger… so lange, bis ich wieder richtig müde gewesen wäre… dann hätte ich schlafen können und morgen zur Arbeit gehen… ich wäre nicht alleine gewesen mit mir… mit meinen Gedanken…

„Ich will nicht alleine sein“, höre ich meine Stimme. Doch es ist zu spät. Es hört mich niemand und es ist keiner hier, dem ich es sagen könnte. Ich bin allein.
 

Etwas, das ich schon immer gehasst habe, ist die Tatsache, dass es furchtbar einfach ist, sich in Dinge hineinzusteigern. Es ist wie ein Feuer, das sich im Inneren ausbreitet. Zunächst ist es nur eine winzige Flamme, wie von einem Streichholz vielleicht… doch sie breitet sich aus, immer schneller, immer weiter… bis sie das Ausmaß eines Scheiterhaufens erreicht… bis man das Gefühl hat, dass man es nicht mehr ertragen kann.

Und genau so ist es bei mir. Ich will es nicht, doch ich kann nicht aufhören, diesen einen Satz zu denken…

Ich bin allein.

Ich habe mir nie viel aus Einsamkeit gemacht. Eigentlich habe ich sie meistens genossen, habe sie herbeigesehnt, wenn ich sie nicht bekam, wie zum Beispiel in der Beziehung mit Alec… Ich fühlte mich nie von der Einsamkeit erdrückt, da sie für mich nie etwas Negatives darstellte…

Doch in dieser Nacht tut sie es. In dieser Nacht kann ich nicht anders, als mir zu wünschen, jemanden an meiner Seite zu haben… und es ist einfach, zu erraten, an wen ich dabei denke.

Immer wieder sehe ich die blonden Haare vor mir… und die wunderschön gebräunten, muskulösen Unterarme… seine strahlenden Augen… Ich spüre fast, wie sie mich ansehen, durchbohren… und mir wird heiß, immer heißer, brennend heiß, bis ich dem selbst ein Ende setze… und anschließend frierend da liege und es bereue.. mich verfluche, das Grün vertreibe und mich innerlich immer wieder anschreie, dass ich mich vollkommen bescheuert verhalte…

Und so geht es weiter, die halbe Nacht hindurch.

Ich muss ständig daran denken, wie wir am Wasser saßen… wie er seine eigene Wut herausgeschrien hat… wie ihn die Sache mit Kevin beschäftigte… Und noch mehr will es nicht aus meinem Kopf raus, was er alles zu mir gesagt hat, welche Worte er wählte, und dass er leider in vielem so unglaublich recht hatte…

Es tut weh. Es tut höllisch weh. Es sagt mir, dass ich ihn nie wiedersehen will, weil mich der Schmerz dann auffressen wird… Und dann sagt es mir wieder, dass ich ihn wiedersehen will. Ich will nicht alleine sein… ich will ihn bei mir haben…

Wenn ich dann soweit bin, muss ich an Charize denken, wie sie sagte, dass sie sich freuen würden, wenn ich am nächsten Wochenende vorbeikommen würde. Wir würden sicher Spaß haben, wir würden lachen und vielleicht würde die Sache aus Boston vergessen sein… würde in Boston bleiben… doch das würde es mir nur schwerer machen, zu grinsen, zu strahlen, in seine Augen zu sehen… ich würde mich so sehr zusammenreißen müssen, um ihm nicht im nächsten Moment an die Gurgel zu springen. Oder ihn zu küssen.

Wie sehr ich es hasse!
 

~ * ~
 

Ich bin froh, als ich mich am nächsten Tag auf den Weg zur Arbeit machen kann, da mich dann nicht mehr die Stille meiner vier Wände erdrückt. Angekommen, stürze ich mich zunächst auf den Kaffeeautomaten und anschließend wird sich auf mich gestürzt. Mit Fragen, mit vielen Fragen. Erst ist es Timothy, der haarklein wissen will, wie es in Boston war. Es sei ja so eine tolle Stadt, denke er sich, er habe die ganze Zeit an mich gedacht und mich beneidet. Ich lasse ihn in dem Glauben, dass auch ich es als eine wunderschöne Stadt erlebt habe. Dabei ist sie hässlich in meinen Gedanken. Alle Schönheit ist in dem Augenblick verschwunden, in dem ich dieses Gespräch mit Sakuya am Wasser geführt habe.

Rachel will andere Dinge hören als Timothy, und dennoch recht ähnliche. Doch mehr als das will sie hören, dass ich Spaß mit Sakuya hatte, dass wir uns gut verstanden haben… Ich erzähle ihr genau dies und kann sehr schwer dabei lächeln und sie ansehen.

Eigentlich will ich nicht lügen. Ich würde gerne irgendwem die Wahrheit offenbaren.
 

Am Abend sehr spät wieder zuhause, versuche ich, Ryouta anzurufen. Er geht nicht dran… beziehungsweise, er ist nicht da. Ein paar Mal versuche ich es in der nächste Stunde erneut, dann ergreife ich meinen Laptop und schreibe eine lange E-Mail hinein.

Ich schreibe, dass ich hoffe, ihn bald mal wiederzusehen, dass es ihm bald besser geht, dass ich mich freuen würde, ihn in San Francisco begrüßen zu dürfen. Dann schreibe ich über diese Stadt, von der ich noch viel weniger gesehen habe, als es mir eigentlich lieb ist, und was für Unterschiede zu Japan immer wieder deutlich werden.

Anschließend schreibe ich von Sakuya. Garantiert weiß er schon von Tatsuya, dass ich ihn wieder getroffen habe, und dennoch berichte ich kurz, wie es dazu gekommen ist. Auch von Charize schreibe ich, wie nett sie ist und dass Sakuya echt Glück mit ihr hat. Schwer fällt es aber tatsächlich bei diesen Worten keine anderen Emotionen durchklingen zu lassen.

Zuletzt schreibe ich noch zwei Sätze zu Boston, bevor ich zum Ende komme. Dies erreicht, lese ich sie noch einmal, lese, wie ein vermeintliches Ich meine Zeit in Amerika erlebt.

Ein trauriges Lächeln kann ich nicht unterdrücken.

Wenn man es so liest, hört es sich schön an. Dann kann man denken, dass ich mich wirklich einfach nur freue, Sakuya als einen Freund wieder getroffen zu habe… dass ich meine Zeit hier wirklich genieße.

Wenn ich es doch wirklich einfach nur so empfinden könnte.
 

Die Mail abgeschickt, sitze ich eine Weile lang untätig vor meinem Laptop herum. Ich will nicht schon wieder nachdenken, doch was soll ich stattdessen tun?

Ein Gefühl sagt mir, dass ich Tatsuya anrufen sollte, doch das tue ich nicht. Ich sollte mit ihm reden… ich sollte ihm die Wahrheit sagen… denn er würde mir sagen, dass das alles andere als positiv ist, dass ich es verdrängen muss, unterdrücken, dass ich Sakuya nicht auf diese Weise sehen darf. Er würde mir all das sagen, was ich schon weiß, was ich mir schon die ganze Zeit selbst sage…

Aber vielleicht würde es etwas bringen, das alles von jemand anderem zu hören.

Tatsächlich greife ich nach einer Weile zum Telefon und wähle eine japanische Nummer. Doch es ist nicht Tatsuyas, es ist Lynns. Es wird mir gut tun, ein bisschen mit meiner kleinen Schwester zu reden… und ihr mache ich damit auch eine Freude.
 

Mittwoch, Donnerstag, Freitag… die Tage werden nicht besser sondern eher schlimmer. Ich frage mich ständig, was ich mit mir anfangen soll, gehe an einem Abend stundenlang durch irgendwelche Geschäfte und an den restlichen schaue ich mir irgendwelche Filme an. Ich will unter Leute doch gleichzeitig will ich irgendwie alleine sein. Ich fühle mich nicht wirklich fähig dazu, lange Gespräche zu führen oder aufmerksam zuzuhören… nicht einmal bei Rachel schaffe ich dies, weshalb sie mich am Freitag darauf anspricht. Ich lüge sie an und spüre, wie das Drücken in meinem Inneren schlimmer wird.

Am liebsten würde ich einfach alles hinausschreien.
 

Am Samstag kommt der Anruf, vor dem ich mich die gesamte Zeit gefürchtet habe. Ich erkenne die Nummer mittlerweile und darum fällt es mir schwer, den Hörer an mich zu nehmen. Die Finger bereits ausgestreckt, verklingt das Klingeln allerdings nach dem fünften Mal. Schlimmerweise kommt Erleichterung in mir auf.

Nicht lange kann diese allerdings an ihrem Platz verweilen, denn nur kurz darauf, ungefähr so lange, wie es dauert, eine Nummer zu wählen, macht mein Handy auf sich aufmerksam. Dieselbe Nummer, dieselbe Person mit wahrscheinlich derselben Frage.

Mit klopfendem Herzen und nervösem Magen nehme ich den Anruf entgegen.

„Ich bin’s, Sakuya“, meldet er sich, nachdem ich mich gemeldet habe.

„Ich weiß“, entfährt es mir, ohne es sagen zu wollen. Darum fahre ich schnell fort. „Wie geht’s?“

„Ich kann mich nicht beklagen.“ Und er klingt tatsächlich gut gelaunt. „Und selbst?“

„Viel Arbeit, wie immer, aber ansonsten geht’s gut.“

„Schön zu hören.“

„Ja.“

Es herrscht Stille. Meine Finger krallen sich in einem Couchkissen fest. Ganz so einfach ist die Art und Weise, wie wir auseinandergegangen sind, wohl doch nicht zu überwinden.

„Rufst du wegen heute Abend an?“, frage ich verkrampft.

„Genau. Wir haben an einen Spieleabend gedacht oder so was… Hast du Lust?“

„Ja.“ Mein Mund ist trocken. „Aber leider habe ich keine Zeit. Wir haben gestern einen neuen Auftrag reinbekommen und dafür muss ich heute länger bleiben…“

„Bist du noch auf der Arbeit?“ Überraschung…

„Ja.“ … und Lüge. „Es tut mir leid. Ich wäre wirklich gerne gekommen.“

Den Rest des von mir kurz gehaltenen Telefongespräches bekomme ich nur zur Hälfte mit. Mit der anderen mache ich mir Vorwürfe. Ich sollte ihn nicht anlügen. Ich sollte zu ihm gehen. Ich sollte einen lustigen Abend bei ihm erleben.

Aber ich kann ihn im Moment nicht sehen. Nicht mit diesen Gefühlen, die ich nicht unter Kontrolle habe.

Also legen wir auf, mit meinem Versprechen, dass ich mich in der nächsten Woche mit Sicherheit bei ihm melden werde. Wir legen auf und ich fühle mich schrecklich.
 

Ich kann kaum sagen, was ich das restliche Wochenende tue oder was ich die ganzen Tage danach tue. Ich lebe vor mich hin, erledige meine Arbeit mit Konzentration, da es das einzige ist, was mich ablenkt, und führe alle möglichen, komischen Gespräche.

Keines davon dreht sich wirklich um Sakuya, denn ich weigere mich, mit Rachel darüber zu reden… und auch Timothys Frage, ob ich mal wieder was mit seinem Star mache, übergehe ich schnell. Nur Ryoutas E-Mail, in der er zugibt, dass er es merkwürdig finden würde, einem „Hetero-Sakuya“ unter die Augen zu treten, beantworte ich einen kleinen Schritt ehrlicher. Aber wirklich nur einen winzigen.

Mit Tatsuya telefoniere ich in diesen Tagen zwei Mal, allerdings nur sehr kurz… Ich weiß einfach nicht, was ich ihm sagen soll, obwohl ich ihm doch so viel sagen will.
 

Als ich ein paar Tage zu spät mein Versprechen einlöse und Sakuya anrufe, schiebe ich ein weiteres Mal meine Arbeit vor. Ja, es ist wirklich viel zu tun, wir müssen lange arbeiten… aber wenn ich mir Zeit nehmen wollen würde, um Sakuya zu sehen, dann könnte ich es… es wäre kein Problem. Doch so sehr ich ihn sehen will, würde ich es doch nicht ertragen, ihm in die Augen blicken zu müssen.

„Schade“, seufzt er am anderen Ende und es hört sich so ehrlich an, dass ich am liebsten sofort mein Statement zurücknehmen würde. „Aber sag mal…“, klingt es dann auch schon wieder etwas mehr nach Elan.

„Ja?“, zögere ich.

„Bald ist wieder Thanksgiving und wir machen eine riesige Party! Da kommst du doch, oder? Immerhin musst du da ganz sicher nicht arbeiten.“ Das Grinsen auf seinem Gesicht ist deutlich zu hören.

Mir tritt es in den Bauch.

Ich reibe mir die Schläfen. Eine Sekunde lang versuche ich, mir eine Ausrede einfallen zu lassen. Dann wird mir klar, dass es nicht klappt… und noch später wird mir klar, dass ich es auch eigentlich gar nicht will.

Ich will ihn doch sehen, verdammt noch mal!

„Ich komme“, sage ich also in den Hörer hinein und frage mich, wie meine Stimme am anderen Ende wohl ankommen mag. Ob er hört, wie sehr ich gerade mit mir selber kämpfe, mit meinen hin- und hergerissenen Gefühlen?

„Wirklich?“ Es klingt fast etwas erleichtert. „Das freut mich! Und Charize wird sich sicher auch freuen!“

Charize.

Mein Magen verkrampft sich.

Schuldgefühle drängen sich hinein.

„Wer kommt denn noch alles?“, versuche ich abzulenken.

„Das ist noch nicht ganz raus. Eigentlich wollten wir ganz groß feiern… aber Kevin meinte letzt, ob es nicht schön wäre, nur mit den Engsten zu feiern… Wir sind noch am Überlegen. Lass dich einfach überraschen, okay?“

Ich schlucke. „Okay. Sakuya, ich muss jetzt auch Schluss machen.“

„Oh, na klar. Sorry, dass ich dich so lange aufgehalten habe! Wegen Thanksgiving reden wir noch mal, ne?“

„Ja.“

„Gut! Bis dann!“

„Bis dann.“

Das Tuten dringt in mein Ohr und ich lasse den Hörer fallen.

Meine Finger zittern wie Espenlaub und ich verkrampfe sie ineinander. Eine plötzliche Kälte ergreift mich und die höllische Lust danach, ganz laut zu schreien.

Ich tue es nicht, sondern zittere nur. Und ich kämpfe gegen das brennende Schuldgefühl in meinem Inneren an.

Mit den Engsten, hat er gesagt… und er mich gefragt…

Wie kann das sein?

Ich bin doch nicht… Ich kann nicht…

Ich schleudere das Nächstbeste, das mir in die Hand kommt, gegen die Wand.

„SCHEIßE! Wie kannst du nur so sein?“, brülle ich durch den Raum. „Verdammte Scheiße!“
 

Die Tage, in denen ich mich grässlich fühle, gehen weiter. Abends im Bett krame ich Erinnerungen hervor, aus meinem Kopf heraus. Bilder sehe ich vor Augen, die ich eigentlich nur vergessen will, Szenen, welche ich schon vor Jahren bis ins kleinste Detail wieder und wieder durchgegangen bin… Ich spüre Hände, die sicher heute anders zugreifen würden und fühle Lippen, welche noch immer so unglaublich sanft wirken, wie eh und je… Ich krame den Ohrring heraus, setze ihn mir ins Ohr… sehe Bilder von damals vor meinen Augen und schleudere den Ring quer durchs Bad, nur um ihn sofort danach wieder hinter dem Wäschekorb hervorzuholen.

Ich fluche ständig, mit jedem Tag mehr. Ich verwünsche mich dafür, dass ich all diese Erinnerungen habe. Ich versuche sie zu verdrängen und zur Seite zu schieben, und schreie mein Spiegelbild an, als es nicht funktioniert. Ich ertrage es kaum, die Gewissheit, dass er mich langsam in sein Leben aufnimmt, und ich dem am liebsten entflüchten würde.

Ich ertrage es nicht, dass die Sehnsucht nach ihm mit jeder Sekunde wächst.
 

Ich glaube, ich bin nicht gerade umgänglich in diesen Tagen. Rachel fragt nicht mal mehr, sieht mich nur immer wieder so an, als würde sie es gerne. Und auch Timothy ist verwirrt, wie er mit mir umgehen soll.

Wahrscheinlich bin ich unerträglich.
 

Es ist an einem Dienstagabend, als ich einen erwarteten Anruf aus Japan erhalte. Tatsuya sagte mir, dass er mir heute oder morgen bescheid sagen würde, wann sie kommen, da es sich nun endlich klären würde… Verwundert bin ich allerdings, als mich Sai am anderen Ende begrüßt.

„Hey“, klinge ich garantiert verwundert. „Wie geht es dir?“

„Sehr gut…“, kommt es gut gelaunt. „Ich konnte endlich das mit meinem Urlaub klären. Hab auch grad schon mit Tatsuya telefoniert… leider hat er heute noch ein Meeting und kann dich deshalb nicht anrufen… Da hab ich mir gedacht, dass ich das übernehme…“

„Das ist schön.“ Ich lächle. „Und? Wann kommt ihr?“

„Nächsten Mittwoch. Und wenn du nichts dagegen hast, würden wir gerne bis Sonntagmorgen bleiben.“

„Warum soll ich etwas dagegen haben?“, spüre ich ein gutes Gefühl in mir aufkommen. „Ich freue mich, dass ihr kommt!“

„Ja. Und wir haben uns gedacht, über Thanksgiving ist eine tolle Zeit. Das mal zu erleben muss echt-“

„Thanksgiving?“, entkommt es mir ungewollt.

„Ja. Nächste Woche, oder nicht? Außerdem hast du da frei, das passt dann noch besser.“

Ich spüre mein eigenes, zögerndes Nicken.

„Ja… das stimmt…“ Ich stocke.

„Kida?“

„Nichts… ich… ist das schon nächste Woche?“

„Ja. Aber solltest du das nicht besser wissen?“

„Doch.“ Ich schlucke. Wie schnell die Zeit vergeht. Ich muss mich wieder bei Sakuya melden… immerhin gehe ich zu ihnen… immerhin… „Ich bin bei Sakuya eingeladen.“

„Wann?“

„An Thanksgiving.“

„Oh… Ach, das ist aber nicht schlimm. Wir finden schon-“

„Ihr könnt mitkommen“, unterbreche ich ihn. „Ich meine… ich denke, dass ihr mitkommen könnt… ich werd ihn fragen… er hat sicher nichts dagegen…“

„Wenn es ein Problem ist-“

„Ich frage ihn einfach. Er will euch bestimmt auch mal wiederseh-“ Ich unterbreche mich selbst. „Kommt Ryouta mit?“

Ein Seufzen am anderen Ende, das Antwort genug ist. „Das ist noch nicht raus, aber bei letzten Stand, den ich habe, heißt es, eher nicht…“

„Das ist schade.“ Spätestens nach den letzten drei Mails, die ich mit ihm gewechselt habe, finde ich es richtig schade. Ich glaube, so gut hatte ich mich lange nicht mehr mit ihm unterhalten.

„Ja.“ Eine kurze Pause tritt ein… Dann: „Ich freue mich darauf, Sakuya wiederzusehen.“

Ich nicke und sage nichts. Es sind Worte, die mir bewusst machen, wie lange ich ihn jetzt schon wieder nicht gesehen habe. Es ist meine Schuld. Am Anfang wollte ich ständig etwas mit ihm machen und jetzt ziehe ich mich zurück, gehe ihm aus dem Weg… Wie kann ich so bloß zu irgendeinem Ergebnis kommen?

„Ich mich auch…“, spreche ich schließlich, ein bisschen Gedankenverloren.

Es folgt keine Antwort darauf und fast wäre es mir nicht aufgefallen, dass gerade etwas nicht stimmt, würde nicht irgendwann ein zögerndes „Kida?“ gesprochen werden.

„Ja?“, bin ich sofort wieder beim Telefon mit meinen Gedanken.

„Tatsuya macht sich Sorgen um dich.“

Ich erstarre. Damit nicht gerechnet, spüre ich sofort, wie die Schwere dieser Worte auf mir lastet.

„Ich glaube, er weiß nicht, wie er mit dir umgehen soll, da du nicht mit ihm darüber reden willst…“

„Ich…“ Weiter spreche ich nicht. Weiter kann ich nicht sprechen. Der Kloß in meiner Kehle verhindert es. Und die Gewissheit, dass es stimmt.

„Du musst mir nichts sagen, okay? Und ich verspreche dir, dass ich nichts sage, wenn du das nicht willst, aber lass mich wenigstens fragen…“

Er macht eine kurze Pause, in der ich kurz gewillt bin, den Hörer von mir zu schleudern. Ich weiß, was er fragen will… und ich will es nicht beantworten… Ich kann es nicht.

„Es geht um deine Gefühle für Sakuya, nicht wahr?“, kommt es dann. Und Sai fragt dies mit so einer Ernsthaftigkeit und Ruhe in der Stimme, dass ich wieder das Gefühl des Stricks um meine Kehle habe.

Ich schweige weiter und er wartet. In meinem Kopf lege ich mir alle möglichen Sachen zurecht, die ich jetzt sagen könnte, wie ich es abstreiten könnte… oder darüber lachen… doch im Endeffekt kann ich es nicht. Im Endeffekt will ich es auch gar nicht mehr.

„Ja“, verlässt es deshalb ganz leise meine Lippen.

Ich will mich irgendwo vergraben.

„Und du willst wirklich nicht darüber reden?“

„Nein.“ Ich schüttle den Kopf, auch wenn er das in Japan nicht sehen kann. „Ich will noch nicht mal daran denken. Und doch tue ich es die ganze Zeit. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, wie ich ihm unter die Augen treten soll… und Charize erst recht nicht. Sie ist doch so nett… Und er liebt sie so sehr… und ich… ich… will doch einfach nur ein Freund von ihm sein… mehr nicht… aber… das… in mir… das…“ Ich verstumme und ich schluchze. Tränen laufen mit einem Mal meine Wangen hinab. Schnell wische ich sie weg. „Bitte sag Tatsuya nichts. Er wird es nicht verstehen… er wird…“

„Wieso sollte er es nicht verstehen? Das mit mir war doch auch-“

„Ich weiß… aber…“ Ich zucke die Schultern, wische ein weiteres Mal die laufenden Tränen aus meinem Gesicht. „Es ist anders… irgendwie ist es anders… ich weiß nicht… sag es ihm einfach noch nicht, okay?... Bitte…“

„Okay“, kommt es leise nach einer ganzen Weile. „Aber, Kida?“

„Hm?“

„Lass dich nicht davon auffressen. Gestehe es dir ein und lebe damit, denn etwas anderes bleibt dir nicht übrig… und nur dann kannst du ihm wenigstens ein Freund sein… und das willst du doch, nicht wahr?“

„Ja.“

„Dann sei es auch! Nicht mehr, aber auch nicht weniger!“
 

Eine Nacht lang denke ich an die wenigen Worte, die Sai gesagt hat. Eine Nacht lang und fast einen Tag. Am Mittwochabend wieder Zuhause hat es mich zu dem Ergebnis gebracht, dass ich Sakuya anrufen muss. Ich meine, das müsste ich ohnehin langsam mal wieder, und jetzt, da ich an Thanksgiving Gäste habe erst recht… aber ich will es auch. Mit einem Mal will ich es tatsächlich.

Sai hat recht.

Nach all dem, was passiert ist, darf ich nicht einfach so aufgeben. Ich muss versuchen, sein Freund zu sein. Ein Freund, mit dem er lachen kann, herumalbern. Ein Freund, von dem er denkt, dass die Gefühle Vergangenheit sind, mit dem er ganz locker umgehen kann… Das muss ich sein. Nicht mehr… aber auch definitiv nicht weniger… denn dann würde ich es für immer bereuen.

„Ryan?“, meldet sich zu meiner Erleichterung auch wirklich direkt er am Telefon.

Wenn es Charize gewesen wäre, hätte ich mich mies gefühlt… und mit Kevin will ich noch nicht wieder reden. Er verurteilt wahrscheinlich ohnehin jedes Wort, welches ich sage.

Ich melde mich und sage auch gleich den Grund für meinen Anruf: Thanksgiving.

„Sag jetzt nicht, du sagst ab!“, kommt es fast etwas drohend.

„Nein, keine Sorge. Ich hab noch vor zu kommen, allerdings… könnte ich jemanden mitbringen?“

„Hast du nen Freund?“, kommt es schnell. Zu schnell. Zu gespannt. Zu freundschaftlich.

„Nein“, versuche ich das deprimierende Gefühl nicht in mir aufkommen zu lassen.

„Oh. Wen dann?“ Nun klingt er neugierig.

„Tatsuya und Sai.“

Stille.

Für einen Moment frage ich mich, ob wir, seit wir einander wieder begegnet sind, eigentlich je über die beiden gesprochen haben. Oder über jemand anderen aus unserer gemeinsamen Vergangenheit. Ich kann mich nicht daran erinnern.

„Wow“, kommt es dann. „Ich meine, klar können sie auch kommen… Ich… Sorry, das überrascht mich grad etwas…“ Eine kurze Sekunde Pause.

„Ryouta wollte vielleicht auch mitkommen…“, sage ich. „Aber ihm geht es nicht gut, deshalb wird er wahrscheinlich in Japan bleiben.“

„Was hat er denn?“

„Er ist etwas geschwächt… sein Immunsystem macht die Wetterwechsel nicht so gut mit, deshalb-“

„Wegen der Herzkrankheit?“

Es kling so unglaublich überzeugt, dass es mir in den Magen sticht. Ryouta sagte mir mal, dass er immer diese Geschichte erzähle… Also hat auch Sakuya sie einst gehört.

„Ja“, lüge ich, da es nichts bringen würde, ihm die Wahrheit zu sagen. Und wahrscheinlich will Ryouta das auch gar nicht.

„Das ist schade. Ich glaube, hätte ihn gerne mal wiedergesehen. Hm… gibst du mir seine Nummer?“

„Natürlich“, bin ich gar nicht mal unbedingt überrascht.

Aber irgendwie ein wenig gekränkt vielleicht. Wenn ich damals nur ein Freund gewesen wäre, hättest du bei mir sicher auch so reagiert, nicht wahr?

Also gebe ich ihm die Nummer durch.

„Vielleicht ruf ich ihn mal an“, bedankt Sakuya sich, seufzt dann hörbar. „Es ist schön, mal wieder was über Leute von früher zu hören… Es ist immer interessant, zu erfahren, was sie so erlebt haben!“

„Ja“, sage ich nur. Das geht mir bei dir ebenso. Doch ich habe das Gefühl, dass wir einander noch so viel eben nicht erzählt haben.

An dieser Stelle beende ich das Gespräch langsam. Ich weiß nicht, was genau es jetzt wieder ist, das mich irgendwie auf den Nullpunkt herabzieht, ich weiß nur, dass ich nicht schon wieder darüber nachgrübeln will. Überhaupt will ich nicht mehr so viel denken, ich will jetzt einfach nur noch handeln… als dein Freund handeln… als jemanden, den du mögen sollst… und nicht so leicht vergessen…

Was er am Wochenende vorhabe, frage ich also, mit dem guten Vorsatz, mich mit ihm zu treffen. Doch was hat man schon zu erwarten, wenn man es war, der sich ewig nicht hat blicken lassen?

„Sorry, ich glaub, ich kann nicht… Charize hat Geburtstag und wir haben einen Termin beim-“

Er bricht ab… und mir fällt nicht ein, wie er den Satz beenden könnte.

„Beim?“

„Ach, nicht so wichtig! Vielleicht hab ich Sonntag Zeit, aber ich kann nichts versprechen… Pressetermine und so, du kennst das ja…“

„Naja, eigentlich nicht.“

„Stimmt.“ Ein fröhliches Lachen. „Ich meld mich auf jeden Fall! Auch wegen Thanksgiving noch mal! Wahrscheinlich fangen wir irgendwann Mittags an, aber das ist noch nicht ganz raus… wie gesagt, ich melde mich noch mal.“

„Mach das. Ich warte.“

„Sehr gut! Also dann…“

„Ja… bis dann. Grüß Charize.“

„Werd ich. Fühl dich schon mal zurückgegrüßt. Bye.“

„Bye.“

Aufgelegt empfinde ich vieles und doch gar nichts. Ich stecke das Telefon in die Ladestation und gehe in die Küche. Ich mache mir etwas zu essen und versuche, nicht über das Gespräch nachzudenken.

Es war ein gutes Gespräch. Ja, das war es… doch warum fühle ich mich dann wieder so leer? Wieso brennen meine Augen? Und wieso hab ich das Gefühl, wieder so vieles nicht gesagt zu haben?

Wird es jetzt immer so sein?

Darf es so sein?

Ich schüttle den Kopf und schütte Milch in einen Topf.

Irgendwie muss ich dem Ganzen ein Ende bereiten.
 

Part 77 - Ende
 

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Passende Lexikoneinträge auf http://www.watashi-no-sekai.de/

~ Alcatraz
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 78

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Sakuya (by littleblaze)
 

Das süße Geheimnis für mich zu behalten, fällt mir deutlich schwer.

Ich werde ein Dad, mehr hatte ich mir nicht gewünscht in der letzten Zeit, und nun soll es wirklich so weit sein. Oder besser gesagt in einigen Monaten.

„Wie lange weißt du es schon? Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Warum hast du es mir nicht schon früher gesagt?“ Fragen, die ich sofort nach einem affigen Glücktanz, welchen uns durchs ganze Schlafzimmer fegte, gestellt habe. Als Antwort bekam ich, dass sie sich noch nicht hundertprozentig sicher sei und dass man das Geschlecht jetzt eh noch nicht bestimmen könne.

Der Schwangerschaftstest sei zwar positiv, aber dies habe ja oft nichts zu sagen. Sie wollte abwarten, noch ein oder zwei Wochen, dann zum Arzt gehen, um wirklich sicher zu sein. Niemand sollte schon zu früh mit hineingezogen werden, vielleicht ist ja alles nur falscher Alarm.

Im Gegensatz zu ihr glaube ich nicht daran. Ich kann mein Glück schon greifbar mit Händen fassen. Ein Baby… ich werde es in meinen Armen wiegen, ihm jeden Wunsch von den Lippen ablesen und ihm oder ihr das ganze Sortiment meiner Liebe schenken.

Ich werde ein Vater sein, ein richtiger Dad. Am liebsten hätte ich Gott und die Welt darüber informiert, es in Zeitungen gedruckt oder wäre liebend gerne mit einem dieser idiotischen Shirts rumgerannt, auf denen in großen Lettern: „Ich werde Vater!“ steht. Nicht einmal Kevin und Matthew sollen es erfahren, so ist der Deal, oder besser gesagt das Zugeständnis, welches sie mir abverlangt. Also schweige ich.
 

Ich versuche mich abzulenken, gerade jetzt würde ich die unzähligen Stunden und Tage, die vorher mit Baseball ausgefüllt waren, dringend brauchen. Ich versuche es bei Kida, aber er hat offensichtlich immer viel zu tun, wenn ich mich bei ihm melde. Bei Kevin und Matthew würde ich mir irgendwie wie das fünfte Rad am Wagen vorkommen und wahrscheinlich mehr Zeit zum Grübeln haben als wenn ich etwas anderes tue, also schiebe ich diese Möglichkeit auch immer ganz schnell beiseite. Sogar das Motorrad schafft es nicht, mich abzulenken. Anstatt an gar nichts zu denken und nur die Geschwindigkeit in mich aufzunehmen, frage ich mich, welche Farbe das Kinderzimmer bekommen soll; Überhaupt, welches Zimmer das Kinderzimmer eigentlich werden wird. Ich diskutiere mit mir selber, welche Vor- und Nachteile es haben würde, das Geschlecht schon vorher zu erfahren, oder ob ich mich doch lieber überraschen lassen möchte; Ob ich mir einen anderen Wagen zulegen werde… ob die Stufen der Terrasse besser nicht dort sein sollten… Welche Namen in die engere Auswahl kommen… und, und, und. Ich kann einfach nicht aufhören.

Sobald Charize Zuhause ist, manchmal warte ich erst gar nicht so lange und rufe sie im Büro an, konfrontiere ich sie mit meinen ganzen Gedanken. Sie schüttelt nur meist den Kopf, lässt mich reden und flüstert mir dann zärtlich zu: „Das werden wir dann alles noch sehen.“

Wie kann sie bloß so ruhig bleiben, wenn ich an nichts anderes denken kann? Ich tänzle nur noch um sie herum. Meist werde ich von Kevin oder Matthew mit irritiertem Blick angesehen, wenn ich wieder einmal vom Tisch aufspringe, um ihr irgendetwas zu holen. Sie dagegen versucht ihr Grinsen darauf zu unterdrücken.

Mir ist das egal, am liebsten würde ich sie sogar jeden Tag zur Arbeit fahren, ihre Tasche mit den schweren Akten ins Büro tragen und sie später wieder abholen; Was auch eine gute Gelegenheit wäre, dem schmierigen Fatzke in ihrem Büro noch einmal einen bösen Blick zuzuwerfen. Doch Charize meint, dass ich jetzt vollends übertreiben würde, und lässt mich dies und auch einige andere Dinge nicht in die Tat umsetzen.
 

~ * ~
 

Es ist wieder einmal einer dieser nachdenklichen Tage. Ich bin mit dem Maßband bewaffnet und krieche durch die momentanen Gästezimmer des Hauses. Kurz habe ich darüber nachgedacht, die Wand zwischen den Gästezimmern einzureißen, um den Kind ein riesiges Reich zu schenken, aber dann durchfuhr mich der Gedanke, was wäre, wenn wir noch ein zweites Kind bekämen und jedes sein eigenes Zimmer bräuchte… Das Telefon auf dem Tisch lässt mich aufschrecken. Ich fische nach dem Hörer.

„Ryan?“

„Hi, ich bin’s, Kida.“

„Ja.“ Ich grinse und setze mich auf. „Ich weiß wie sich deine Stimme anhört. Was gibt’s?“

„Ich… ich rufe an wegen Thanksgiving.“

„Sag jetzt nicht, du sagst ab!“ Sofort versetzt mir der Gedanke einen Stich. Wir haben schon seit Wochen nichts mehr unternommen und so lang dauert es eigentlich nicht mehr, bis er wieder weg ist… zurück fliegt… knappe fünf oder sind es doch nur noch vier Monate?

„Nein, keine Sorge. Ich hab noch vor zu kommen, allerdings… könnte ich jemanden mitbringen?“

„Hast du nen Freund?“, platzt es aus mir heraus. Doch nicht etwa dieser kleine Hippie, der mir so auf die Nüsse gegangen ist? Ich kann mich nur noch schwach an sein Gesicht erinnern.

Er verneint und meine Neugierde steigt.

„Oh. Wen dann?“

„Tatsuya und Sai.“

Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht damit, obwohl diese Möglichkeit doch eigentlich gar nicht so abwegig ist wie mir mein Gehirn vorspielen will. Mein erster Impuls möchte nachfragen, wie es ihnen so ergangen war, was sie so trieben, aber viel zu schnell packt mich das schlechte Gewissen. Ich habe es nicht geschafft, den Kontakt zu Kyo oder auch anderen Freunden aufrechtzuerhalten. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ob ich ein Recht habe, nachzufragen. Tatsuya ist nicht so wirklich meine Wellenlänge gewesen, jedoch hatte ich bei Sai eine Art Verbundenheit wahrgenommen und mit Ryouta habe ich… Ich stocke. Wie lange ist es her, seit ich ihm gemailt habe, dass ich mich wieder mal melden wolle?

Ein schlichtes „Wow“ kann ich erst einmal nur hervorbringen. „Ich meine, klar können sie auch kommen… Ich… Sorry, das überrascht mich grad etwas…“

„Ryouta wollte vielleicht auch mitkommen. Aber ihm geht es nicht gut, deshalb wird er wahrscheinlich in Japan bleiben.“

Danke, treib mein schlechtes Gewissen noch ein paar Grade höher.

„Was hat er denn?“

„Er ist etwas geschwächt… sein Immunsystem macht die Wetterwechsel nicht so gut mit, deshalb-“

„Wegen der Herzkrankheit?“

Ich erinnere mich. An einem Tag konnte er Bäume ausreißen und an anderen kaum den Arm heben. Immerhin hat er mir mal davon erzählt. Dass sich dieses Problem durch Medikamente oder eine neuartige Therapie immer noch nicht gelegt hatte, macht mich traurig.

„Ja.“

„Das ist schade. Ich glaube, ich hätte ihn gerne mal wiedergesehen.“ Es wäre wirklich toll gewesen. Warum habe ich es eigentlich nicht geschafft, den Kontakt aufrechtzuerhalten? „Hm… gibst du mir seine Nummer?“

Er diktiert, ich schreibe.

„Vielleicht ruf ich ihn mal an“, bedanke ich mich. Dem anhaltenden Gespräch kann ich nicht mehr wirklich folgen, ich versuche immer noch einen Grund in meiner Erinnerung zu finden. Gibt es überhaupt einen oder habe ich es einfach nur vergessen, es schleifen lassen und danach nie wieder dran gedacht? Erst als mich Kida um ein Treffen bittet, bin ich wieder ganz bei der Sache.

„Sorry, ich glaub, ich kann nicht… Charize hat Geburtstag und wir haben einen Termin beim-“

„Beim?“

Beinahe hätte ich unser kleines Geheimnis verraten. Am liebsten hätte ich es getan. Aber nicht mehr lange, sage ich mir innerlich. Nach dem Termin wissen wir endlich bescheid und dann würde mich nichts mehr halten, es der ganzen Welt mitzuteilen.

„Ach, nicht so wichtig! Vielleicht hab ich Sonntag Zeit, aber ich kann nichts versprechen… Pressetermine und so, du kennst das ja…“

Eine Lüge! Aber was Besseres fällt mir gerade nicht ein. Wir verabschieden uns und legen auf. Kurz bleibe ich an der Nummer auf dem Notizblock hängen, auf den ich zuvor in krickeliger Schrift die Maße des Zimmers geschrieben habe. Ich wende mich ab und versuche, die Gedanken zu verdrängen, krieche erneut auf dem Boden herum, nehme mir daraufhin die Fenster vor und bleibe bei der nächsten Notiz abermals an der Nummer hängen. Das schlechte Gewissen lässt sich einfach nicht beruhigen. Er ist mir ein guter Freund gewesen, war immer für mich da, wenn ich jemanden zum Zuhören gebraucht habe und ja… von seiner Seite her ist da auch mehr gewesen… der Kuss…

Ich lächle. Der Gedanke daran, die ganze absurde Vorstellung, die ich danach abgeliefert habe… wie idiotisch, voll peinlich. Was hat mich damals nur geritten, da so eine Szene draus zu machen? Und dann auch noch Ke-

Ich stocke. Umdenken, umdenken… Er war es damals schon, nicht wahr? Idiotisch, aber ich versuche, mich genau daran zu erinnern. Jeden Blick, jede kleine Bewegung will ich noch einmal aufrufen.

„Was ist passiert?“

Es war Malcolm… nein, Kevin, der zuerst bei mir war.

„Sakuya?“ Kida war natürlich auch dabei.

„NICHT... bleib da stehen, komm mir nicht zu nahe.“ Sogar an das Gefühl von Übelkeit und Schwindel kann ich mich erinnern. Ein hin und her und dann…

„...Ich küsse nur einfach gerne andere Männer.“

Ich habe Kevin einfach gepackt und ihn feste auf die Lippen geküsst. Habe ich die Augen geschlossen? Ich kann mich wenigstens nicht erinnern, ihn dabei gesehen zu haben. Und was war dann?

Ich erzählte von Ryouta, danach hatte ich Malcolm im Visier, wollte ihn ebenfalls küssen, nur um Kida wehzutun… Warum eigentlich noch mal…? Was war da zwischen uns gewesen, wieso hatte ich in diesem Moment eine solche Wut auf ihn? Ryouta hatte mir irgendetwas erzählt… aber was? Dann kann ich mich nur noch daran erinnern, dass Kevin gegangen ist und ich Malcolm aufs Hemd gekotzt habe.

Ich lehne mich an die Wand, ziehe meine Knie an und lege den Kopf hinauf.

Malcolm ist bei mir geblieben, hat mich ins Bett gebracht. Er, dessen Gefühle ich mitunter am meisten verletzt habe, blieb die ganze Zeit bei mir. Ich muss ihm ziemlich wehgetan haben, mit diesem einfachen Kuss, der für mich nicht von Bedeutung war. Und Kevin… aber… Gott verdammt, ich wusste es damals doch noch nicht! Ich hatte keine Ahnung, wie sehr er mich geliebt hat und wie sehr ich mich gehasst hätte, wenn ich an Malcolms Stelle gewesen wäre.

Ich versuche, mir den nächsten Morgen ins Gedächtnis zu rufen. Ein Streit! Eine fallende Leiter. Und plötzlich weiß ich es wieder. Kida hatte mir seine Vergangenheit mir Tatsuya verheimlicht… ein Kuss, ein Blowjob, ein weiterer Kuss. Ich spüre die tiefe Abneigung, welche ich in diesem Moment für ihn empfunden habe. Und im nächsten Moment sehe ich mich an anderer Stelle, Ryouta gegenübersitzend.

„Also, was sollte das alles?... Warum hast du mich geküsst?“

„Ich mag dich, sehr sogar.“

Er entschuldigte sich bei mir für die Umstände, aber nicht für den Kuss selbst. Irgendwie sind wir nicht weiter gekommen. Ich habe mich plötzlich unwohl in seiner Nähe gefühlt und bin gegangen.

Es folgt eine weitere, länger zurückliegende Erinnerung… Das erste Mal bei ihm zu Hause, ich war krank…

„Was ist das?“

„Ein Mundschutz.“

„Ich hasse die Dinger.“

Wir trugen beide einen, doch ich hatte das Gefühl, nicht richtig atmen zu können, wollte ihn mir vom Gesicht reißen.

„Nicht, bitte lass es dran.“

Er ist schon damals krank gewesen. Was ist es noch mal genau… doch nicht nur eine Herzkrankheit, oder? Ich suche nach der Erinnerung, wo er darüber gesprochen hat.

„Bist du krank?“ Ich hatte zuvor die Medikamente im Badezimmer entdeckt.

„Ja. Es ist eine angeborenen Herzkrankheit...“

„Musst du sterben?“ War es sein Blick, das leichte Zittern seiner Finger? Irgendetwas hat mir gesagt, dass es 'nicht einfach nur' eine Herzkrankheit ist.

„Das müssen wir alle mal, oder nicht?... Aber nein, nicht deswegen... ich kann noch sehr lange damit leben.“

Wir redeten nicht weiter darüber.

Doch mit der Zeit sind mir kleine Veränderungen aufgefallen. Körperliche Einschränkungen an einigen Tagen… und seine Stimmung wechselte so schnell wie das Wetter. Manchmal war er aufgedreht, lustig und zu allem bereit, dann wieder ruhig und ernst, und an anderen Tagen negativ, lustlos und verschlossen.

Damals habe ich nicht groß darüber nachgedacht, aber nun frage ich mich, wie eine Herzkrankheit solche Stimmungsschwankungen auslösen kann. Körperliche Einschränkungen kann ich mir ja irgendwie noch erklären, aber so was?

Ich ziehe mich an der Wand hoch, greife nach dem Notizblock und verlasse den Raum. Meine Neugier führt mich ins Arbeitszimmer, wo ich direkt dem Laptop den Saft zuspreche, den er zum Arbeiten braucht. Die kurze Wartezeit verbringe ich mit ungeduldigem Herumwippen auf dem Stuhl. Jedoch wird mir bewusst, dass mir noch etwas Notwendiges fehlt.

Schnell umrunde ich meinen eigenen Schreibtisch und wende mich Kevins zu. In der dritten Schublade von oben habe ich Erfolg, ziehe das braune Buch heraus. Weit blättern brauche ich auch nicht, bis ich meine alte Mail-Adresse samt Passwort wieder erkenne. Ein Hoch auf Kevin und seinen Ordnungsfimmel und dieses hässliche Buch, in welchem er seit Jahren alle unsere Logindaten zu sämtlichen Plattformen beisammen hält.

Warum ich damals meine Addi geändert habe, wird mir auch sofort klar. back-to-USA ist wohl nicht mehr gerade passend gewesen. Zurück am Laptop gebe ich Loginnamen und Passwort ein, doch anstatt dem üblichen Bild erscheint ein Hinweis des Betreibers: Ihr Yahoo! Mail-Account ist nicht mehr aktiv. Grund: Sie haben sich in der letzten Zeit nicht bei Ihrem Mail-Account angemeldet, oder Sie haben Yahoo! Mail beauftragt, Ihren Account zu deaktivieren.

„Scheiße“, werfe ich das Buch auf den Schreibtisch, doch bevor sich mein Finger auf dem Schließen-Button zubewegt, erweckt ein weiterer Hinweis meine Aufmerksamkeit: „Um Ihren Account zu reaktivieren, wählen Sie eine der folgenden Optionen.

Es dauert zirka eine Minute bis ich wieder in meinen damaligen Posteingang stolpere. 59 neue Mails hatte ich in den vier Monaten, bevor der Account inaktiv geworden ist, empfangen. Ich scrolle über den Eingang hinweg, lösche Werbung und andere uninteressante Mails und bleibe anschließend an drei nicht gelesene Nachrichten von Ryouta hängen. Das Datum lässt mich sofort erschrecken. Ist es wirklich schon so viele Jahre her?

Ich öffne die erste Nachricht.

Hey Sakuya,

wohl gerade viel los bei dir, was?

Da dachte ich, ich meld mich einfach mal.

Smalltalk, die neue Wohnsituation, kurz wird auch noch einmal auf Kida eingegangen.

Bis bald

Ryouta

In der nächsten Mail ist ein wenig Verwunderung herauszuhören, warum ich mich nicht melde. Der gewohnte Smalltalk und schöne Grüße von Tatsuya und Sai.

Die dritte und letzte Mail liest sich dann schon ein wenig anders:

Hey!

Ehrlich gesagt mache ich mir ein wenig Sorgen. Es sind jetzt schon fast sechs Wochen, in denen ich nichts mehr von dir gehört habe. Liegt es an mir, habe ich irgendwas Falsches gesagt, an das ich mich gerade überhaupt nicht mehr erinnern kann?

Wenn dem so ist, tut es mir leid.

Oder willst du einfach nur dieses Kapitel deines Lebens endlich hinter dir lassen? Ich weiß wie schwer die Trennung von Kida dir gefallen ist… ist es das? Möchtest du nichts mehr mit den Leuten seiner Umgebung zu tun haben, um endlich vollends loszulassen?

Irgendwie könnte ich es verstehen, doch schade fände ich es trotzdem. Du warst mir immer ein guter Freund, und ich würde nur ungern den Kontakt zu dir verlieren. Sollte es aber das Beste für dich sein… kann ich es akzeptieren.

Ryouta

Wenn es doch nur so gewesen wäre, aber leider kann ich diese Entschuldigung nicht geben. Ich habe ihn ganz einfach vergessen, nicht mehr an ihn gedacht und ganz normal weiter gelebt. Kameradenschwein ist da noch viel zu harmlos, ich fühle mich so richtig dreckig.

Mein Blick fällt ein weiteres Mal auf die Nummer auf dem Notizblocke, dann auf die Uhr. Die Zeit ist nicht perfekt, aber man kann es versuchen. Doch was sagen, wie mich erklären… Ist es nicht ziemlich idiotisch, jetzt einfach wieder anzurufen und sich zu wünschen, dass alles so ist, wie früher? Jedoch… würde es nicht noch viel schlimmer sein, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, wenn er doch mit hierher kommen sollte? Wenn er Gast in meinem Haus ist? Ist ein Telefonat da nicht die bessere Alternative für den ersten erneuten Kontakt?

Meine Finger zittern, als ich nach dem Telefonhörer greife.

Ich wähle die Nummer, warte. Schon seit langem kam mir dieses kleine, unbedeutende Geräusch nicht mehr so beängstigend vor.

„Hallo, hier Yamamoto.“

Ich schweige, will eigentlich wirklich etwas sagen, doch plötzlich weiß ich nicht mehr wie. Es ist als sei jedes japanische Wort aus meinem Gedächtnis getilgt worden. Mein Herz pocht gegen meine Brust. Ich lege auf.

Springe vom Stuhl hoch, laufe im Raum umher. Ich atme schwer und schüttle meine Arme als würde ich so die Nervosität verbannen können. Ich atme tief ein und wieder aus.

„Komm schon, du schaffst das“, sage ich mir selbst.

Ich bin ein erwachsener Mann, wovor habe ich eigentlich Angst? Ich nehme den Hörer und wähle erneut. Dieses Mal bleibe ich stehen, tipple von einem Fuß auf den anderen, um mich selber zu beruhigen.

„Yamamoto?“, klingt die Stimme ein wenig fragender.

„Hallo“, bekomme ich gerade so über die plötzlich staubtrockenen Lippen.

„Ja hallo… wer ist denn da?“

Die Annahme, dass er meine Stimme erkennen könnte, ist auch so was von absurd.

„Sakuya.“

„Sakuya?“

„Ja, ich… ich war mal mit Kida Takahama zusammen und wir ha-“

„Ich weiß, wer du bist!“, unterbricht er mich und es dauert eine ganze Weile, bis einer von uns wieder das Wort ergreift. „Warum rufst du an?“, klingt er verärgert, oder hörte sich seine Stimme schon immer so an? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

„Ich weiß nicht“, tipple ich noch nervöser umher. War es vielleicht doch ein Fehler? „Ich habe… ich weiß es nicht… ich wollte es einfach, glaube ich.“

„Na dann“, kommt es kurz. Wieder Stille seinerseits.

„Vielleicht… ich dachte…“ Wie bin ich nur auf das Hirngespinst gestoßen, dass mir schon die richtigen Worte einfallen, wenn wir erst einmal miteinander sprechen würden?

„Ja, was dachtest du denn?“, folgt es zynisch. „Vielleicht, dass du einfach mal Hallo sagst? Fragst, wie es mir so geht, ich mich ebenfalls nach deinem Befinden erkundige, und wir dann miteinander über alte Zeiten sinnieren? Oder willst du über das Jetzt sprechen? Über deine tolle sportliche Laufbahn, über dein sorgenfreies Leben?“

Meine Füße haben schon seit einer Weile aufgehört zu tippeln, eigentlich ist mein ganzer Körper in Stillstand gegangen.

„Was willst du denn bitte von mir hören? Ohhhh, Sakuya, du hast es wirklich geschafft! Ich bin ja so stolz auf dich… du bist echt der beste Typ, den ich kenne… so etwa? Aber halt, ich kenn ihn ja gar nicht…“ Ein erstickendes kurzes Auflachen. „… Ich dachte nur immer, dass ich es tue. Aber da habe ich mich ja geirrt. Entschuldigung, mein Fehler.“

Was passiert hier gerade? Mit ein bisschen Missmut habe ich ja gerechnet, aber niemals mit solcher Bissigkeit. Was habe ich ihn denn getan? Ich habe mich nicht mehr gemeldet… aber… das jetzt… was?

„Weißt du was?“, wird meine Stimme eindringlich laut. „Es tut mir leid, okay? Es war nicht in Ordnung, ich verstehe. Es tut mir wirklich leid. Auf Wiedersehen.“

Mein Finger gleitet am Hörer hinab, um die Verbindung zu unterbrechen.

„SAKUYA! WARTE!“

Ich erstarre. Nur langsam trage ich den Hörer wieder zum Ohr. Ich sage nichts, was auch? Das einzige, für was ich mich im Moment im Stande fühle, ist, angestrengt hinein zu horchen.

„Es tut mir leid.“

Was hat mich verraten? Mein Atem oder dass die Leitung nicht den bekannten Ton hergibt? Meinen beschleunigten Herzschlag kann er ja schließlich nicht wahrgenommen haben. Ich setze mich hin, da meine Beine sich wie weiche Butterstücke anfühlen. Etwas sollte ich hervorbringen… nur etwas Kleines vielleicht…

„Wirklich… es ist… nicht deine Schuld. Einfach ein schlechter Tag“, erklärt er. „Die Medikamente lassen mich manchmal ganz schön irre werden.“

Die Medikamente? Sein Herz? Seine Krankheit! Und ich weiß nicht, warum sich plötzlich die Zweifel diesbezüglich so massiv verstärken.

„Es ist nicht dein Herz, oder?“, kommt es mit leiser Stimme belegt über meine Lippen.

„Nein.“

„Was ist es?“

„HIV.“

Ich schlucke heftig. Alles, was ich jemals zu dem Thema gehört habe, durchschießt meinen Kopf, doch am stärksten durchbrechen die Worte “Unheilbar“ und “Tödlich“ das dickflüssige Schwarz, wogegen ich mich gerade versuche zu wappnen. Und dann der nächste Gedanke: Der Kuss!

Sandig und schmerzend fühlt sich meine Kehle an, als ich versuche zu schlucken. Den Hörer des Telefons kann ich nicht mehr ruhig an meinem Ohr halten. Mein Kopf versucht sich innerlich zu drehen, äußerlich zu schütteln, aber nichts passiert. Gar nichts.

Ich weiß, dass er spricht, aber die Worte dringen nicht zu mir vor. Der Kuss, HIV… was wenn-

Aber dann ganz plötzlich, als würde ein dichter Sonnenstrahl die Wolken in meinem Kopf hinweg schieben, wird mir klar, dass es nicht sein kann, dass ich mir keine Sorgen machen muss, dass ich nicht-

„Was?“, frage ich, als seine Stimme wieder deutlicher zu mir vordringt.

„Ich sagte, dass Speichel die Krankheit nicht überträgt und du dir deswegen keine Sorgen machen musst.“

„Hab ich nicht“, lüge ich, zu schnell anscheinend.

„Mmhh, na ja… wenn du meinst.“

„Warte bitte mal kurz.“

Ich drücke auf die Stummtaste, damit er mein erleichtertes Ein- und Ausatmen nicht hören kann. Mit beiden Händen umgreife ich kräftig das Telefon, gerade mit so viel Adrenalin im Blut, dass ich es leicht zerdrücken könnte. Noch nie in meinem Leben bin ich so glücklich über die halbjährlichen Untersuchungen gewesen. Ich bin hundertprozentig nicht krank, nicht mit HIV infiziert, nicht schneller als gedacht zum Tode verurteilt.

Noch einmal fülle ich meine Lungen kräftig mit Sauerstoff und noch einmal lasse ich ihn lauthals wieder hinaus strömen. Dann wende ich mich wieder dem Telefon zu.

„Bin wieder da.“

Kurz übermannt mich das Gefühl, dass er vielleicht gar nicht mehr am anderen Ende ist, als ich ihn leise ausatmen höre. Soll ich etwas sagen oder möchte er noch etwas hinzufügen?

„Sakuya?“

„Ja?“, meine Stimme scheint immer noch unter den Auswirkungen des Adrenalins zu leiden.

„Was hast du morgen vor?“

„Wieso fragst du?“

„Vielleicht rufst du morgen noch mal an… dann… dann bin ich nicht ganz so geschockt wie heute darüber, und die Chance, dass ich dann nicht irgendwas sage, was mir im Nachhinein leid täte, wäre nicht so groß.“

„Oh…“

„Also morgen?“

„Ja, morgen.“
 

Als ich den Wagen am Abend vorfahren höre, komme ich gerade aus dem Bad. Ich sitze auf dem Bett und rubble mir die Haare trocken. Abgelenkt hat mich die ganze Prozedur kein bisschen. Seit ich am Mittag den Hörer aufgelegt habe, sprangen mir immer wieder dieselben Fragen durch den Kopf:

Wie lange ist er schon krank? Wann und wo hat er sich angesteckt? Wie geht es ihm wirklich? Hat er vielleicht nicht mehr lange zu leben? Wer wusste es damals schon? Tatsuya… Sai? Kida ganz bestimmt nicht, er hat noch weniger mit Ryouta zu tun als ich. Aber hat er es später erfahren? Erfuhr er es noch, als wir zusammen waren… als ich schon in Boston war? Warum hat er es mir dann nicht gesagt? Weiß er es jetzt eigentlich? Bestimmt! Aber warum hat er mich dann heute belogen? Warum hat er es als Herzkrankheit abgesegnet und nicht endlich reinen Tisch gemacht?

Am liebsten hätte ich abermals zum Telefon gegriffen und ihn angerufen, ihn gefragt und ihm die Hölle heiß gemacht, wenn er es weiß. Was bitteschön hat er sich dabei gedacht, es mir zu verheimlichen? Ich hätte mich ja doch irgendwie anstecken können… irgendwie verdammt… ich hätte seit Jahren damit rum rennen können und keiner hätte mir bis jetzt die Wahrheit gesagt. Kein Schwein hat es interessiert, ob ich vielleicht krank geworden wär-

„Schatz?“

Ihr Kommen reißt mich hinaus. Ich lasse das Handtuch noch einmal über meinen Kopf wandern, um den verbitterten Blick aus meinem Gesicht zu vertreiben.

„Kein guter Tag?“ Sie setzt sich neben mich aufs Bett. „Du siehst traurig aus.“

„Ich habe heute mit einem alten Freund gesprochen“, kommt es geknirscht über meine Lippen.

„Aber ist das nicht eigentlich etwas Erfreuliches? Ist irgendwas passiert? War er denn ein guter Freund?“

Zu viele Fragen und mein Kopf scheint keine wirkliche Antwort parat zu haben.

„Er ist krank!“

„Was hat er denn?“ Sie beugt sich näher zu mir und versucht, in meinem Gesicht zu lesen, was ich anscheinend nicht bereit bin, ihr zu erzählen.

„Nicht heute, bitte.“ Ich presse mich an sie und wünsche mir nur, dass sie das Zittern, welches mich gerade einnimmt, mindern kann.
 

Eng aneinander gekuschelt liegen wir unter der Bettdecke. Ich immer noch nackt. Sie immer noch ihre Arbeitsgarderobe an. Es ist warm um mich herum, meine Haut schwitzt, doch in mir ersetzt immer noch ein eisiger Sturm den nächsten. Ihre Finger streicheln mir sanft durchs Haar, mein Kopf liegt nahe an ihrem Herzen.

„Weißt du-“ Sie bricht ab.

„Mmmhh?“

„Ach, nicht so wichtig.“

„Jetzt sag schon.“

„Ich dachte eigentlich, es hätte was mit dem 'unter dem Bett' zu tun. Na ja, dass du so traurig warst, als ich kam.“

„Unterm Bett?“ Ich stutze.

„Ja, ich habe es vor drei Wochen gefunden, als ich die Matratze umgedreht habe. Ich dachte, mal schauen, wann es dir auffällt.“

Ich setze mich leicht auf und schaue auf sie hinab. „Sorry, aber ich habe keine Ahnung, was du meinst.“

Sie windet sich unter mir hinaus und greift in ihre Nachttischschublade. Überreicht wird mir das alte Plättchen des Armbandes, welches sie nun mit einem neuen an ihrem Handgelenkt trägt… Ich habe es total vergessen. Als ich es damals wegschmeißen wollte und dann nicht mehr dazu kam, habe ich es einfach unter die Matratze geschoben.

„Ich wollte es eigentlich wegschmeißen“, starre ich immer noch hinauf.

„Warum denn das?“ Sie setzt sich ebenfalls auf.

„Was soll ich denn noch damit?“

Sie schließt meine Hand um das Schmuckstück, was eigentlich kein richtiges mehr ist. „Behalten.“

„Wozu denn?“

„Na, als Erinnerung zum Beispiel. Ich habe eine ganze Kiste voll mit Erinnerungen. Sogar die Kinokarten von meinem allerersten Date habe ich noch.“ Sie lächelt verlegen.

„Sind da auch Erinnerungen von mir drin?“

„Natürlich, jede einzelne… In der Kiste, sowie in meinem Herzen.“ Sie beugt sich zu mir, ich ihr entgegen und wir küssen uns sanft, fast schon verlegen. Doch schnell ist der schöne Moment wieder dahin.

„Ich will mich aber nicht erinnern.“

Sie stockt bei der Härte in meiner Stimme.

„Mach damit was du willst.“ Ich greife nach ihrer Hand und lege es hinein, schließe sie. „Trag es von mir aus oder schmeiß es weg. Ist mir schnuppe.“ Ich drehe mich weg und lasse mich wieder in die Kissen fallen.

„Aber es gehört mir nicht.“

„Mir auch nicht.“

„Sakuya!“

Wenn ich nur daran denke, dass er mich vielleicht nicht mal vor einer tödlichen Krankheit gewarnt hat, kommt mir die Galle hoch. Soll er doch verrecken… am besten an dem Scheiß Ding ersticken. Vielleicht sollte ich es nehmen und es ihm in den Hals stecken.

„Ich denke, dass wird dir irgendwann noch leid tun.“

„Lass das mal meine Sorge sein.“
 

~ * ~
 

Am nächsten Abend ist die Stimmung fast identisch. Ich liege in meinem Bett und alte, sowie neue Fragen schwirren in meinem Kopf umher. Manche konnte mir das heutige Gespräch mit Ryouta beantworten, andere traute ich mich einfach nicht zu fragen.

Mein Wissenstand wurde zweifelsohne aufgebessert. Weiß ich nun bescheid über: CD4-Zellzahl, Viruslast, Medikamentenresistenz, antiretrovirale Medikamente, Kombinationstherapie und Nebenwirkungen, bringt mir dies allerdings nicht wirklich ein beruhigendes Gefühl. Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Ich fühlt mich total hilflos. Als ich ihm Hilfe, Geld und Kontakte anbot, lachte er leicht auf: „Du kannst nicht heilen, was nicht zu heilen ist“, hat er nur gesagt.

Als ich ihm nach den Kuss fragte, schwieg er einen Moment ehe er sprach.

„Es tut mir leid“, fing er an.

„Das wollte ich nicht wissen“, nahm mich ein klein wenig Wut in die Gewalt.

„Das tut es aber… es war ja schließlich auch nicht geplant oder so. Es ist einfach passiert, ich bin schließlich auch nur ein Mensch, Sakuya.“

„Du darfst dir aber nicht erlauben, einfach nur ein Mensch zu sei-“ Erschrocken stoppte ich. Nein, so sollte es nicht rüber kommen… „… du weißt wa-“

„Ja, ich weiß nur zu gut, was du meinst. Und ich kann mich nur wiederholen: Es tut mir leid.“

Dabei beließ ich es. Was sollte ich auch anderes tun? Immerhin hat er hier den schwarzen Peter gezogen. Er muss damit leben, daran sterben… Vorwürfe sind nicht das, was er gebrauchen kann.

Ich fragte ihn noch vieles, und irgendwann blieb ich dann an der Frage hängen, die mich unter anderem am meisten interessierte, welche ich aber zähflüssig vor mir hingeschoben hatte.

„Sag mal, seit wann weiß Kida eigentlich darüber bescheid?“

„Kida?“

„Ja.“ Egal welche Antwort, ich hätte mich mit keiner zufrieden gegeben, nur mit einer… dass er es überhaupt nicht weiß.

Danach kamen wir auf Thanksgiving und den Besuch bei Kida zu sprechen. Besonders jetzt, nachdem wir miteinander gesprochen hatten, würde er sich freuen, mich wiederzusehen. Ob es wirklich dazu kommen würde, wusste er noch nicht. Es ist zwar ebenfalls ein Ticket für ihn gekauft worden, aber er will noch einige Tage aus gesundheitlicher Sicht abwarten, bis er mir eine konkrete Antwort darauf gibt.

Daraufhin fing ich an, von meinem Leben zu erzählen, von dem Haus, dem Job, den Menschen in meinem Umfeld. Und ich erzählte ihm von der Möglichkeit, dass ich Vater werden könnte. Ich hab nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei gehabt. Nachdem ich so viel von Krankheit und dem wahrscheinlichen Tod gehört hatte, fand ich es nur gerecht, von einem neuen Leben zu erzählen.
 

Als Charize ins Zimmer tritt, beäugt sie mich nervös. Wir haben gestern nicht mehr zueinander gefunden. Die Sache mit Ryouta, dem Anhänger und dem möglichen Verrat von Kida hatte mich zu sehr aufgewühlt. Was sie mit dem Anhänger anschließend gemacht hat, weiß ich nicht… ich will es auch gar nicht wissen.

Sie verlässt den Raum, um ins Bad zu gehen. Sofort folge ich ihr.

„Bist du noch sauer auf mich?“ Ich drücke mein Gesicht in ihr Haar, schiebe mich zum Ohr vor.

„Ich war nicht sauer auf dich.“

„Enttäuscht?“ Meine Hände gleiten um ihre Taille und legen sich auf ihren Unterleib. Ein kleiner Seufzer durchdringt ihre vollen Lippen. „Was wünscht du dir eigentlich zum Geburtstag?“, versuche ich das Thema hinter mir zu lassen.

„Nichts!“

„Nichts? Das ist ja genau das gleiche wie im letzten Jahr und dem Jahr davor.“ Ich drehe sie zu mir um. Ihre Augen versuchen, genervt in meine Richtung zu schauen, aber auf ihrem Mund ist der leichte Ansatz eines Lächelns deutlich zu erkennen.

„Genau, und jedes Mal hast du meinen Wunsch nicht respektiert.“

„Wie konnte ich dich nur so enttäuschen?“ Mein Blick streift ihren, holt die Erlaubnis ein, ihr nah sein zu dürfen.

Mein Kuss ist sanft und gleichzeitig eine Art Entschuldigung auf mein gestriges Verhalten. Mit ihrer Erwiderung verzeiht sie mir endgültig.
 

Noch viel später an diesem Abend entschließe ich mich doch dazu, noch einmal zu telefonieren. Nachdem ich auch Charize von Ryoutas Krankheit erzählt habe, bleibt mir nur noch eines, was mich so sehr nervt, dass ich nicht einschlafen kann.

„Takahama.“

„Hey… ich bin's.“

„Sakuya?... Was gibt es denn noch so spät?“ Es schien als sei er schon am Schlafen gewesen.

„Entschuldige, wenn ich dich gestört habe, aber mich wurmt da so ne Kleinigkeit und ich wollte… da einfach…“

„Was ist denn los?“

Innerlich steigt, nicht einmal unerwartet, Wut in mir auf. Doch ich habe mir vorgenommen, sie nicht übermäßig zu zeigen und vor allem, nicht darauf zu reagieren. Ich brauche einen Moment, um sicher zu sein, dass ich es auch schaffen werde. Leise spreche ich anschließend.

„Warum hast du es mir nicht gesagt?“

„Dir was gesagt?“, scheint er plötzlich hellwach zu sein.

„Das mit Ryouta, mit seiner Krankheit… fandest du nicht, dass ich ein Recht habe, es zu erfahren, nachdem er mich geküsst hat? Dachtest du nicht, dass es eventuell wichtig für mich gewesen wäre?“ Ich will eigentlich noch mehr Fragen hinzufügen, die sich eher nach Anklage anhören, aber ich spüre, wie meine Stimme schwindet, und ich versuche mich zu fangen.

Eigentlich habe ich damit gerechnet, dass er mein Schweigen nutzen würde, doch er tut es mir nach.

„Also?“, schwingt nun auch noch ein genervter Unterton mit.

„Was hätte ich denn sagen sollen?“ Angestrengt horche ich der leisen Stimme. „Hallo Sakuya! Sorry, dass ich dich vor geraumer Zeit verlassen habe, tut mir leid, wenn es dir dadurch schlecht ging und so, aber könntest du mir wohl einen Gefallen tun und dich beim nächstbesten Aidslabor testen lassen?“

„Vielleicht“, ist meine knappe Antwort darauf.

„Ich bitte dic-“

„Es wäre auf jeden Fall besser gewesen als gar nichts zu tun“, unterbreche ich ihn. „Was wäre gewesen, wenn ich jemand anderen angesteckt hätte?“

„Wen denn? Kevin?“ Seine Stimme klingt fast schon vorwurfsvoll. Kurz zaudere ich.

„Was spielt das für eine Rolle?“

„Du hast Recht, überhaupt keine.“

„Du hättest mir auch einen Brief schreiben können, ein singendes Telegramm, irgendetwas.“

„Wird ja immer besser.“ Den Anflug von Sarkasmus versuche ich zu überhören.

„Alles wäre besser gewesen“, erhebt sich nun doch wieder meine Tonlage. Will er es nicht verstehen?

„Es tut mir leid“, kommt es darauf unerwartet.

„Ach, vergiss es.“ Ich bin genervt, aufgedreht, ich will dieses Telefonat einfach nur noch beenden.

„Nein, es tut mir wirklich leid.“ Seine Stimme dringt ruhig, beinahe sanft an mein Ohr. „Ich… ich war wohl zu sehr mit mir selber beschäftigt, um mir darüber Gedanken zu machen. Ich habe diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht gezogen. Wenn ich nur den geringsten Gedanken diesbezüglich gehabt hätte… glaub mir… ich hätte mich gemeldet.“

Und auf einmal wünsche ich mir, er wäre jetzt hier. Sein Gesicht kann ich vor mir sehen, meine Erinnerung zeigt mir genau, wie er ausschaut, wenn er so spricht wie in diesem Moment. Entschuldigend und eindringlich. Was blieb mir da schon anderes übrig als darauf mit einem „Ok, vergessen wir’s.“ zu antworten? Im Grunde ist ja nichts passiert, niemand zu Schaden gekommen und darüber hinaus… will ich es auch gar nicht anders. Ich will nicht mit ihm streiten, obwohl irgendwas in mir ziemlich schnell in Rage gerät, sobald sein Name mit einem Konflikt in Zusammenhang fällt.

„Er hat es dir also erzählt?“

„Ja.“

„Mmhh.“

„Wie schlimm ist es wirklich?“

„Was meinst du?“

„Ich weiß nicht, ob er mir die Wahrheit sagt.“

„Keine Sorge“, kommt es gedämpft. „Im Moment geht es ihm ganz gut, abgesehen davon, dass er ein wenig gereizt ist, wegen eines neuen Medikaments.“

Kurz schweife ich gedanklich ab. Ein bitterlicher Zwang, alles zu erfahren, was in den ganzen Jahren ohne mich vorgefallen ist, nagt plötzlich an mir, jedoch aussprechen würde ich dies nie. Es kommt mir nicht richtig vor, diesen Wunsch zu äußern, nachdem ich selber beschlossen hatte, mich aus ihren Leben zu verbannen.

„Sakuya?“

„Ja?“

„Ist alles ok?“

„Na klar, ich war nur in Gedanken… ach, und wegen Thanksgiving.“

„Ja?“

„Es ist scheiße, dass ich darum bitten muss, aber… es wäre gut, wenn… wenn das Thema schwul nicht so zur Geltung kommen würde.“ Ich hasse mich in diesem Moment und kann nur hoffen, dass er versteht was ich meine, ohne dass ich ins Detail gehen muss.

„Kein Problem.“

„Nein wirklich. Ich find’s scheiße, darum bitten zu müssen, aber w-“

„Keine Panik, ich versteh schon.“

„Es ist trotzdem nicht richtig“, bin ich nun ziemlich kleinlaut.

„Mach dir einfach keine Sorgen darum, ok?“

„Danke.“ Ich bin schon gewillt aufzulegen, als mir plötzlich der gestrige Abend in den Sinn kommt.

„Noch was?“

„Nur mal interessenhalber“, lache ich auf.

„Raus damit.“

„Sag mal… hast du eigentlich so ne Kiste… mit Erinnerungsstücke und so?“

„Nein“, folgt es nach kurzem Schweigen. „Und du?“

„Ich auch nicht.“
 

~ * ~
 

Am darauffolgenden Samstag ist es endlich so weit. Ich sitze ungeduldig im Wartezimmer von Dr. Xanders, in einer Hand eine Zeitschrift, die ich nicht vorhabe zu lesen, in der anderen die Hand von Charize. Anstatt mir die Nervosität zu nehmen, unterhält sie sich freigiebig mit einer völlig Fremden, die auf ihrer anderen Seite Platz genommen hat, während der Sohn der gesprächigen Dame das Wartezimmer mit Bauklötzchen bombardiert.

Nachdem ich dem dritten erfolgreich ausgewichen bin, ziehe ich meine Herzdame zu mir.

„Noch einmal und ich leg den Winzling übers Knie.“

„Aber Schatz“, grinst sie. „Denk einfach, es wäre deiner.“

„Niemals!“, erwidere ich wohl ein wenig zu laut und ziehe damit sämtliche Blicke auf mich. Charize tätschelt mir nur die Hand und wendet sich wieder der Mutter des Ungetüms zu.

Zum Glück dauert es nach der dritten Bauklotzattacke nicht mehr lange und wir werden aufgerufen.

Ich tänzle von einem Fuß auf den anderen, während sich das Blutergebnis angeschaut und für den Ultraschall freigemacht wird. Meine Hand liegt wieder in ihrer, ein leichter Druck lenkt mich kurz ab. Und dann ist es zu sehen, ein schwarzweißes Irgendwas, mit einer Art kleinen, schwarzen Blase und inmitten dieser Blase… ein kleines, komisch wirkendes Ding, ohne richtige Form… unser Baby.

„Und da haben wir ja unseren nächsten Profi-Baseballspieler… oder Spielerin“, lächelt uns der Arzt entgegen.

In diesem Moment… ich weiß nicht, was in mir vorgeht. Ich bin sprachlos, wie in keinem Augenblick zuvor. Mein ganzer Körper vibriert und wird von einem unglaublich tollen, intensiven Gefühl durchbohrt. Ich weiß, dass Finger auf meinem Arm liegen, meine Hand die ihre hält, aber für einen Moment scheint es so als wäre ich ganz alleine in diesem Raum. Ich und der Monitor vor mir, von dem ich es nicht schaffe, meinen Blick zu nehmen. Eine unerwartete Berührung in meinem Gesicht lässt mich leicht zusammen zucken.

„Hey… Baby… nicht weinen.“

Irritiert gehen meine Finger aufwärts, verblüfft nehme ich die feuchten Partikel in meinem Gesicht wahr.

„Ist doch alles ok“, lächelt sie mir entgegen und mein Blick schwenkt noch einmal von ihr zum Bildschirm und wieder zu ihr zurück. Es ist so wirklich und trotzdem scheine ich es noch nicht wirklich begreifen zu können. Ein leichtes Zittern begleitet immer noch meine Hand, als diese sich sanft um ihr Gesicht legt. Im nächsten Monat verspüre ich nur noch das Verlangen, sie zu küssen, und dem gebe ich mich auch ohne Umschweife hin.

„Na, dann herzlichen Glückwunsch“, raunt es von der Seite.
 

„Bist du sicher, dass du fahren kannst?“

„Natürlich“, ziehe ich sie zu mir heran, reiße sie hoch und drehe mich mit ihr im Kreis. Kurz schreit sie auf, lacht und umschlingt meinen Kopf mit ihren Armen, um sich Halt zu verschaffen.

„Aaahhh, mein Schuh… Sakuya!“

Ich werde langsamer, schon, um nicht die Kontrolle zu verlieren, und bleibe kurz darauf stehen. Vorsichtig lasse ich sie an meinem Körper hinunter gleiten. Noch nicht wieder festen Boden unter den Füßen, ist sie doch mir nahe genug, um ihre Lippen mit meinen zu verschließen.

„Weißt du, was ich mir gerade wünsche?“

„Jemanden, der sich bückt und mir wieder den Schuh anzieht?“, lächelt sie.

„Schnee.“

„Warum denn das?“

„Ich weiß nicht, gerade wünsche ich mir nur, dass leichter Schneefall uns ins Gesicht fällt.“

„Du bist verrückt, weißt du das?“

„Ja, so verrückt, dass ich am liebsten die ganze Welt wissen lassen würde, wie sehr ich dich liebe.“

Erneut ergreife ich Besitz von ihren Lippen, gleichzeitig stelle ich sie kurz ab, nur um sie sofort wieder auf meine Arme zu hieven. Ich trage sie bis zum Auto.

„Mein Schuh... “

„Scheiß auf den Schuh“, lasse ich die automatische Verriegelung des Autos klicken, öffne die Tür und helfe ihr galant in den Sitz hinein.

„Aber ich mag ihn“, schmollt sie.

„Ok“, wende ich mich noch einmal um und hebe den verlassenen Schuh vom Pflaster auf.

Zurück am Auto streckt sie mir vornehm den Fuß entgegen. Ritterlich tue ich meine Pflicht. Ich lächle und schließe dann die Autotür. Ich gehe vor dem Auto zur Fahrerseite und nehme ebenfalls platz. Mein Wunschziel kenne ich genau. Zuvor war mir nicht wirklich klar, wo ich es machen will, aber in diesem Moment sehe ich es deutlich vor mir.
 

Angekommen ziehe ich sie, die kleinen, unbefestigten Treppenstufen hinauf.

„Was wollen wir denn hier?“

„Komm einfach.“

„Vielleicht hätte ich doch auf die Schuhe verzichten sollen.“

Ich drehe mich um. Nicht den kleinsten Aufschub will ich mehr gelten lassen. Abermals hebe ich sie hoch.

„Sakuya! Pass auf!“ Ihr Körper drängt sich fest an mich. Mit rasantem Tempo erklimme ich den Rest des Weges und komme leicht schnaufend oben an. Behutsam setze ich sie wieder ab.

„Wir waren schon lange nicht mehr hier“, streifen sich unsere Blicke.

Ihre Arme sind immer noch um meinen Körper geschlungen, kühler Wind gleitet um uns herum.

„Weißt du, wann wir das letzte Mal hier waren?“

„Ja.“

„Ich auch.“

Zusammen lassen wir den Blick über die Stadt wandern, über Häuser, Brücken und Wasser. Ein strahlend blauer Himmel über uns, und zu unseren Füßen eine riesige Metropole, die es nicht schafft, auch nur einen einzigen Ton zu uns herauf zu tragen.

„Weißt du… lange Zeit habe ich nicht wirklich gewusst, wo ich hingehöre“, spreche ich in ihr Ohr. Sie schaut mich an und lächelt. „Nein, warte“, halte ich sie auf, als sie versucht, mich zu küssen. Ihr Blick scheint verlegen. „Ich wollte es gerne perfekt machen“, stammelt meine Stimme kurz. „Aber schnell wurde mir bewusst, dass es eigentlich gar kein Perfekt dafür gibt… denn nichts könnte gut genug für dich sein. Nichts was ich machen, kaufen oder sagen könnte, sollte ausreichend dafür sein, um dir zu zeigen, wie viel du mir bedeutest.“ Meine Finger gleiten an ihren Armen hinunter, bis ich ihre Hände fest in meinen halte. „Gott, alles was ich sagen wollte, kommt mir gerade so unglaublich bedeutungslos vor.“

„Was willst du mir denn genau sagen?“

„Dass ich dich liebe“, streiche ich ihr mit unseren Händen durchs Gesicht. „Dass ich mir nicht vorstellen kann, jemals glücklicher mit einem anderen Menschen sein zu können, dass du alles verkörperst, was ich mir immer gewünscht habe und… das ich dich heiraten möchte.“

Plötzlich ist es raus und genauso schnell wie es ausgesprochen ist, bekomme ich ein ungutes Gefühl. Was, wenn sie noch nicht so weit ist oder einfach nicht heiraten möchte?

„Ist es wegen des Babys?“

„Was?“

„Du musst dich da jetzt nicht verpflichtet fühlen.“

„Was sagst du da?“ Ich lasse ihre Hände los und umschließe ihr Gesicht mit meinen Fingern. „Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?“ Unsicherheit verlässt ihren Blick. „Natürlich will ich alles richtig machen“, drücke ich ihr Gesicht ein wenig näher an meines heran. „Für uns, für das Baby… aber das hat mit meinen Wunsch, dich für immer bei mir haben zu wollen, nicht das geringste zu tun. Ich will dich heiraten, weil ich dich liebe, weil ich mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen kann. Verstehst du das?“ Leicht nickt sie zwischen meinen Händen, begleitet von Tränen, die unangemeldet über ihre Wangen rinnen.

„Was tust du denn?“ Eingeschüchtert versuche ich, sie hinweg zu wischen. „Ich hatte gehofft, dass dies der glücklichste Tag deines Lebens würde.“ Meine Stimme zittert.

„Das ist es.“

„Und warum weinst du dann?“ Irritiert schaue ich sie an.

„Weil ich… glücklich bin.“ Ihre Arme umschlingen mich und nehmen mich gefangen. Gerade weiß ich nicht, in welche Richtung ich denken soll, doch ihre Küsse lenken mich auf wunderbare Weise ab. Erst als wir uns Minuten später wieder voneinander lösen, kann ich wieder klar denken.

„Du bringst mich ganz durcheinander… ich war doch noch gar nicht fertig.“

„Willst du mich noch irgendwas fragen?“

„Nein, aber es soll doch wenigstens ansatzweise perfekt sein, oder?“

Ich fische in meiner Hosentasche nach ihren Geschenk, welches ich schon vor Wochen besorgt habe. Es in meiner Hand haltend, gehe ich vor ihr auf die Knie. Ich greife nach ihrer Hand und setze den kleinen, runden Gegenstand an ihrem Finger an.

„Charize Cathy Rubin Sheridan… möchtest du mich heiraten?“

„Ja, das will ich.“
 

Part 78 - Ende
 

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Part 79

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Tatsuya (by Stiffy)
 

Das Handgepäck in das irgendwie viel zu winzige Fach dafür verstaut, lasse ich mich auf meinen Sitz am Gang nieder. Ich schnalle mich an, auch wenn die Fahrt wohl erst einigen Minuten beginnt, dann will ich meinen Blick eigentlich bereits aus dem kleinen Fenster gleiten lassen, mich irgendwie seelisch auf die Stunden des Fluges vorbereiten, als eine Bewegung ganz in meiner Nähe meine Aufmerksamkeit einfängt. Mein Blick fällt auf eine junge Frau, die ihrerseits mit dem Gepäckfach kämpft. Schon bin ich fast dazu bereit, aufzustehen und ihr zur Hilfe zu kommen, als eine Hand die ihre sanft hinunterdrückt. Der dunkelhaarige Mann, der nun in mein Blickfeld tritt, küsst sie, während er den Rucksack mit einem kräftigen Schwung zwischen zwei andere befördert und anschließend die Klappe schließt. Dann, in der nächsten Sekunde, werden die beiden angerempelt, von zwei Kindern, die wohl zu ihren Plätzen stürmen wollen. Die ältere Frau, welche sich als nächstes vorbeidrückt, entschuldigt sich mit einer angedeuteten Verbeugung. Mein Blick bleibt wieder auf dem Paar hängen, welches nun in seine Plätze gesunken ist, zwei Reihen vor mir. Ich weiß nicht, weshalb ich noch immer zu ihnen sehe, doch irgendwas an dem Blick des jungen Mannes hält mich fest, als er ihr etwas ins Ohr flüstert, sie darauf kichert und er sie unglaublich liebevoll anlächelt. In einer sanften Geste fährt er ihr durchs Haar, an seinem Finger glitzert ein Ring. Ob die beiden vor kurzem geheiratet haben? Sind sie deshalb noch so verliebt?

Nun wende ich doch meinen Blick ab. Ich lasse meine Augen über das bisschen Flugplatz gleiten, das ich von hier sehen kann, doch ich kann nicht den Terminal sehen, nicht die anderen Flieger. Stattdessen habe ich den Streit des letzten Tages vor Augen, deinen traurigen Blick. Auch als du später in meinen Armen einschliefst, lag noch immer das Thema in der Luft, welches uns einfach nicht loswerden will.

Dabei haben doch auch wir einmal so verliebt ausgesehen, wie dieses Pärchen. Auch du hast mich angesehen, wie er sie ansieht, manchmal tust du es auch heute noch… und ich würde dir am liebsten zu jedem Zeitpunkt eben jene Blicke schenken, die ich doch verstecken muss; verstecken, so wie damals… so wie mein halbes Leben lang…

Ein Seufzen entweicht mir unmerklich, obwohl ich doch eigentlich nicht schon wieder darüber nachdenken wollte, dann, im nächsten Moment, nehme die Bewegung unter mir wahr, sehe auch vor Augen, wie das Flugzeug zu rollen beginnt.

Ich suche nach der Hand neben mir, und als sie sich ergreifen lässt, schaffe ich es, meine Augen zu schließen. Ich will nicht schon wieder darüber nachdenken, das tue ich in den letzten Monaten viel zu häufig, und dennoch wollen mich all diese Gedanken nicht loslassen, an uns, unsere Vergangenheit, unser Heute… daran, für wen es besser gewesen wäre, wenn ich diese Hand nie ergriffen hätte…

Muss ich wirklich die Stunden des Fluges damit fristen, es wieder und wieder von ganz vorne aufzurollen?
 

~ * ~
 

Der Tag, an dem wohl all dies begann, war ein Tag wie jeder andere, ein unbeschwerter Tag meiner Kindheit, vom dem man niemals glauben würde, dass er einmal wichtig für mein Leben werden würde. Ich kam wie jeden Morgen mit Toshi zur Schule, dachte mir bereits vor der ersten Stunde mit ihm Streiche für die Pause aus und hatte überhaupt keine Lust auf Unterricht. Was diesen Morgen vielleicht besonders, ein wenig anders machte, war der Junge, der neben unserer Lehrerin in die Klasse kam. Sofort wurde neugierig getuschelt, während seine Augen ruhelos in der Klasse herum fuhren. Dann bat die Lehrerin um Ruhe und stellte ihn vor als unseren neuen Mitschüler, acht Jahre alt, aus Yokohama: Sai Shino.

Das Getuschel begann sofort. Auch Toshi und ich stellten natürlich sofort Spekulationen über den Neuen an, was für einen blöden Namen der hatte und warum er wohl hier her kam, mitten im Schuljahr. Auch die anderen Mitschüler beteiligtem sich daran, fast die gesamte Stunde lang, in der die Lehrerin es kaum schaffte, uns ruhig zu stellen.

Unsere Ideen gingen über Prügelei bis hin zu dem Punkt, dass her rausgeekelt worden war, und während wir darüber lachten, saß er still auf seinem Platz und gab keinen Mucks von sich. Wie eine Statue, den gesamten ersten Tag lang.
 

Das war es wohl auch, was das Interesse an ihm so schnell wieder verfliegen ließ. Man erfuhr auch nach Tagen nichts über ihn, mit niemandem redete er ein Wort und war unglaublich langweilig. Er schien sich wirklich mit niemandem anfreunden zu wollen und wir fragten uns, ob er überhaupt sprechen konnte, denn auch im Unterricht schwieg er beharrlich und starrte nur vor sich hin. Und so vergaß man fast, dass es ihn überhaupt gab.

Das erste Mal wirklich bewusst seine Stimme hörte ich ungefähr drei Wochen später, als ich schon gar nicht mehr daran dachte, dass wir einen neuen Schüler in der Klasse hatten. Aus irgendeinem Grund, an den ich mich heute nicht mehr erinnere, ging ich mitten in der Pause zurück ins Klassenzimmer, wo ich ihn vorfand; alleine, einsam mit seinem Bento, in das er die Stäbchen gesteckt hatte. Als er mich bemerkte, straffte sich sein Rücken und er griff sofort nach ihnen.

So schnell ich gekommen war, wollte ich auch wieder gehen, doch seine stochernden Stäbchen fingen meine Aufmerksamkeit ein. Ich ging zu ihm rüber und ich sprach ihn an, doch ich bekam keine Antwort. Stattdessen kaute er auf irgendwas und sah an mir vorbei. Das war es, glaub ich, was mich nervte, weshalb ich ihn anstupste und das erreichte, was ich wollte: Nun sah er mich an. An seinen Blick kann ich mich nicht mehr erinnern, aber er muss kalt gewesen sein, denn seine Worte sagten mir, dass ich ihn besser in Ruhe ließe.
 

Ich war immer schon ein neugieriger Junge gewesen. Ich glaube, meine Mutter hasste diese Eigenschaft an mir. Ich fand sie toll. Sie war es immerhin, die mir so viel Neues zeigte… und sie war es, die mich so oft genau das Gegenteil von dem tun ließ, was mir gesagt wurde.

So auch in diesem Fall: Ich ließ Sai nicht in Ruhe.

Im Gegenteil. Am selben Tag noch sprachlos, blieb ich am nächsten im Klassenzimmer. Als Sai dies bemerkte, war er es, der ging – und ich folgte ihm, bis hin zum Zaun, von dem aus man die Nachbarschule sehen konnte. Hier ließ er sich mit seinem Bento nieder und ich mich neben ihm. Er sagte nichts dazu. Er ignorierte mich, aß seinen Tintenfisch und starrte auf den Hof der Schule, auf die wir später auch einmal gehen würden. Ich tat es ihm gleich und irgendwie fand ich es spannend.

Der nächste Tag lief ebenso ab und auch der Montag der folgenden Woche. Am Dienstag aber redete Sai zum ersten Mal ein paar Worte mit mir. Er sah mich dabei nicht an, aber er sprach von dem Auto seines Vaters, als ich ihm erzählte, was ich mir für eines wünschen würde. Am Mittwoch dann hätte ich ihn, glaube ich, sogar fast zum Lachen gebracht, hätte es nicht im selben Moment zum Ende der Pause geklingelt.
 

Toshi, mein bester Freund, wie ich ihn nannte, reagierte vollkommen anders als erwartet auf die gesamte Angelegenheit. Er wusste, wie ich meine Pausen verbrachte, hatte sich aber bisher vehement dagegen gewehrt, den neuen Jungen toll oder gar interessant zu finden. Dass ich ihn nun wirklich zu meinem Freund machen wollte, machte Toshi unglaublich wütend. Er pfefferte eines der Autos, mit denen wir bei mir zuhause spielten, in die Zimmerecke und sprang auf. Er schrie, was ich denn mit dem wolle, und ich sprang auf, schrie zurück. Immer wieder rief er, dass er mit einem solchen Idioten wie Shino nichts zu tun haben wollte und irgendwie machte mich das sauer. Ich schrie zurück, dass er ja gar keine Ahnung habe, bis wir schließlich von meiner Mutter gestoppt wurden, die ins Zimmer stürmte und uns verständnislos voneinander losriss.

Danach saßen wir schweigend auf dem Fußboden und schmollten. Keiner wollte nachgeben, und als Toshi knapp eine Stunde später von seiner großen Schwester abgeholt wurde, hatten wir uns noch immer nicht vertragen. Ich saß den restlichen Abend schweigend in meinem Zimmer, schob ein Modelauto hin und her und ließ es immer wieder gegen ein Tischbein fahren.
 

Auch am nächsten Tag sprach Toshi nicht wieder mit mir. Wir liefen unseren üblichen Schulweg schweigend nebeneinander her und waren viel schneller in der Schule als sonst.

An jenem Tag ging ich in der Pause nicht mit Sai, sondern verkroch mich bei den Büschen, in denen ich manchmal mit meinen Freunden spielte. Ich beobachtete die anderen beim Fußballspielen und fühlte mich allein.

Nach der Pause holte ich Toshi auf dem Weg zum Klassenzimmer ein.

„Sei wieder mein Freund“, bat ich ihn schüchtern.
 

Wieder zurück in meiner heilen Welt, ging ich die nächsten Tage nicht mehr zu Sai, weshalb alles in seine normalen Bahnen zurückkehrte - zumindest bis ich knapp eine Woche später in einer Pause mein Essen vergessen hatte und deshalb noch mal zurück ins Klassenzimmer lief. Ich dachte nicht, hier auf Sai zu treffen, doch wie schon knappe zwei Wochen zuvor saß er alleine auf seinem Platz und rührte sein Essen nicht an.

Ich wollte sofort wieder zu Toshi gehen, in Erinnerung an unseren großen Streit, doch irgendwie stockte ich, sah Sai an, wie er appetitlos dasaß. Und er tat mir leid, irgendwie. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er wirklich immer so traurig war. Hatte er nicht letzt noch fast gelacht? Er wollte doch sicher auch Freunde haben, doch aus unserer Klasse interessierte sich überhaupt niemand für ihn.

Ich zog kurz entschlossen den Stuhl zu ihm heran und setzte mich ihm gegenüber, packte mein Essen aus und begann zu essen. Sai würdigte mich keines Blickes, sah dabei irgendwie sehr traurig aus. Also begann ich mit einem Reisbällchen herumzualbern, und sah, wie er zu mir schielte. Dann machte er eine unerwartete Bewegung, die mich erschrocken innehalten und mitsamt dem Stuhl, auf dem ich herumgewippt war, umkippen ließ. Da sah ich ihn zum ersten Mal lachen.

Vielleicht war in dieser Sekunde das Eis angeknackst worden, denn in den nächsten Minuten wirkte er weniger traurig, mehr fröhlich, sagte sogar ein paar wenige Worte zu mir. Ich fragte ihn, wo er nun wohnen würde, und wir stellten fest, dass es gar nicht so weit von mir entfernt war. Gerade als ich mich aber mit ihm verabreden wollte, kam Toshi ins Klassenzimmer hinein. Es schien, als würde direkt wieder alles zu Eis gefrieren. Ich vergaß das Lachen und sah nur die Härte des Blickes meines besten Freundes, der mich den restlichen Tag nicht mehr beachtete. Auch auf dem Nachhauseweg ließ er sich nicht von mir einholen.

Ich war traurig und ich verstand es nicht. Warum war er sauer auf mich?
 

Als ich am nächsten Morgen in die Schule kam, fand ich Toshi schon an seinem Platz vor. Er würdigte mich bis zur Mittagspause keines Blickes, doch dann sah er mich mit einem Mal genau an. Er forderte eine Entscheidung von mir, die mich sprachlos machte: ihn oder Sai, wen würde ich als Freund wählen?

Ich fand die Entscheidung nicht, denn ich verstand nicht, warum ich sie treffen musste. Stattdessen sah ich mich nach Hilfe um, sah zu zwei anderen Freunden von mir hinüber, die genauso kalt blickten wie Toshi, sah zu Sai, der wie immer vor sich hin starrte, als ginge ihn das Ganze nichts an. Ich wurde noch hilfloser als ich es ohnehin schon war, stieß einen Stuhl um und rannte aus dem Klassenzimmer. Diese verflixte Flüssigkeit hatte sich in meinen Augen gebildet, die ich noch nie wirklich bezwingen konnte, und dieses Mal wusste ich noch nicht mal genau, warum.
 

Ich versteckte mich bis zum Ende der Pausen bei den Toiletten und weinte. Ich war wütend auf alle und jeden, und ich fühlte mich alleine, da ich glaubte, dass mich keiner verstand. Aber dann, als ich vor hatte, jetzt einfach nach Hause zu gehen, stand Sai vor mir, auf dem Flur, gegenüber der Tür zu den Toiletten. Er hatte meinen Rucksack in der Hand und sah mich an, als hätte er noch Stunden länger auf mich gewartet, wenn ich sie gebraucht hätte. Zumindest würde ich das heute so deuten. Damals als Kind war es mir unglaublich peinlich, da ich vollkommen verheult aussah und mir sicher war, dass er lachen würde. Doch das tat er nicht. Stattdessen reichte er mir meinen Rucksack und ergriff meine Hand. Und als ich ihn daraufhin verdutzt ansah, lächelte er plötzlich. Sofort ging es mir besser.
 

Ich folgte ihm ohne irgendeine Frage zu ihm nach Hause. Seine Eltern seien arbeiten, sprach er das erste Mal, als wir in die Bahn stiegen, und als wir sie verließen, meinte er, dass es komisch sei, dass seine Mutter nun auch arbeitete. Er erzählte mir, dass sie in Yokohama nur Zuhause gewesen war, nun würde sie aber in der Firma seines Vaters mitarbeiten.

„Sie hat Opa gehört“, waren seine letzten Worte, als wir in den Fahrstuhl stiegen, und ich sah seinen traurigen Blick, als dieser uns in die Höhe hob.

Ich traute mich nicht zu fragen, zumindest nicht in diesem Moment.

In Sais Zimmer angekommen, fragte er mich, was wir spielen wollten, und mir, der ich noch vollkommen verdattert darüber war, dass er plötzlich mit mir redete und mich sogar zu sich nach Hause mitgenommen hatte, war alles recht.

In den nächsten Stunden sprach Sai viel, fast mehr als ich. Wahrscheinlich wollte er mich ablenken, doch das erkannte ich als Kind wohl nicht, sondern war eher total überrascht über seinen Redeschwall. Er war so ganz anders als in der Schule und ich fand es schade. So hätte er bestimmt viele Freunde gefunden, wenn sie doch nur wüssten, dass er eigentlich ein witziger Junge war.

Am Mittag, als eigentlich die Schule vorbei gewesen wäre, rief ich meine Mutter an, und ich log sie an. Ich bat sie, dass ich bis zum Abend bei Meiko, einem anderen Schulfreund von mir, bleiben durfte, und Sai grinste, als ich mit einem freudigen Nicken das Telefon weglegte. Mittlerweile war seine Mutter nach Hause gekommen und machte und vorzügliche Ramen. Wir plapperten am Esstisch und lachten die ganze Zeit, lachten den ganzen Nachmittag hindurch.

Am Abend fragten wir erst Sais, dann meine Mutter ob ich bei ihm schlafen könne. Naja, eigentlich log ich meine schon wieder an, indem ich Meiko ein weiteres Mal vorschob, doch da es mir so sofort erlaubte wurde, strahlten wir Kinder übers ganze Gesicht. Die Standpauke, die ich später erhalten sollte, wog sich damit auf, doch noch dachte ich nicht daran. Sai und ich hatten uns eine Höhle gebaut und ich freute mich einfach darauf, nun darin schlafen zu können.

Die ganze Euphorie des Tages verflog erst, als es später dunkel und still wurde. Hier erzählte Sai mir die Geschichte weiter, die er im Fahrstuhl beendet hatte. Er sagte mir, dass seine Großeltern vor einigen Wochen bei einem Unfall um Leben gekommen waren, dass es für seinen Vater galt, die Firma in Tokyo zu übernehmen, und dass er deshalb alle Freunde in Yokohama hatte verlassen müssen. Plötzlich weinte er leise neben mir und ich konnte nicht anders, als ihn in die Arme zu nehmen. Dabei musste ich an Toshi denken, und an mich, wie wir zu Anfang noch Scherze über Sai gemacht hatten, und plötzlich tat es mir ganz doll leid. Ich hatte nicht geahnt, dass es wirklich Gründe für sein distanziertes Verhalten gegeben hatte.
 

Die Höhle brach über Nacht zusammen und so lagen wir am nächsten Morgen unter einem riesigen Deckenberg. Sais Mutter nahm lachend einige der Decken weg, als wir sie verwirrt anblinzelten, und sagte, dass wir langsam mal aufstehen müssten.

Das Frühstück und der Schulweg mit Sai machte Spaß. Wir plapperten die ganze Zeit und lachten viel. Ich dachte nicht an das, was mir bevorstand, bis wir im Klassenzimmer ankamen. Doch dann gefror ich sofort. Auf meinem Platz saß plötzlich Hiro und Toshi ignorierte mich vollkommen. Alles Lachen wich von mir und ich begab mich auf den leeren Platz in der zweiten Reihe, von dem ich die gesamte Stunde hindurch immer wieder traurig zu Toshi schielte, der mit Hiro am Flüstern war.

Ich fühlte mich wieder so einsam wie am Morgen zuvor.

Als die Pause anfing, bewegte ich mich keinen Millimeter. Erst als Sai kam, der ein Mädchen gebeten hatte, mit mir die Plätze zu tauschen, folgte ich ihm in die dritte Reihe neben ihn und starrte nun von hier aus Hiro und Toshi an. Ich glaube, ich dachte über nichts anderes nach, als darüber, was ich nun machen sollte. Ich wollte mich doch nicht zwischen ihm und Sai entscheiden müssen!
 

Bis zum Wochenende ging Toshi mir aus dem Weg. Ich gewöhnte mich nicht daran, auch wenn ich nun in den Pausen und auch während der Stunden viel mit Sai sprach, lachte und herumalberte. Immer wieder spürte ich die Blicke meines besten Freundes und distanzierte mich jeden Tag weiter von ihm. Dann, am Ende der nächsten Woche, war er es, der zu mir kam. Er fingerte am Ball in seinen Händen herum und fragte schüchtern, ob ich mitspielen wolle. Sai könne auch mitmachen.

Ab diesem Tag war der Streit vorbei, aber er war nicht vergessen. Ich blieb weiterhin bei Sai sitzen, verbrachte mehr Pausen mit als ohne ihn. Er wuchs nie ganz in unsere Gruppe hinein, obwohl wir uns alle wirkliche Mühe gaben. Manchmal saß er still dabei, wenn wir etwas spielten, und starrte traurig vor sich hin. Dann versuchte ich immer wieder ihn mit Grimassen oder Witzen zum Lachen zu bringen, und meistens gelang es mir auch, oder ich kitzelte ihn und wir rollten schließlich kämpfend und lauthals lachend am Boden herum.

Es war anders als mit Toshi, bei dem ich heute sagen würde, dass wir nicht wirklich die „besten“ Freunde zueinander waren, doch damals als Kind verstand ich das nicht. Ich hatte Worte wie Seelenverwandter nie gehört und wusste nicht, wie man Freundschaften voneinander unterschied. Ich glaube, ich wusste nur irgendwie, ohne dass ich es hätte in Worte fassen können, dass ich in Sai meine andere Hälfte gefunden hatte.
 

~ * ~
 

Es sollte mehr werden als nur das, Jahre später, als wir schon lange die Seite des Zaunes gewechselt hatten. Zu dem Zeitpunkt hatte ich kaum noch etwas mit Toshi zu tun. Er besuchte eine andere Schule als wir, ich traf ihn nur selten, während ich mit Sai förmlich Tag und Nacht zusammen war. Wir hatten gelernt, uns blind zu verstehen, zu vertrauen. Es gab nichts, was wir nicht teilten, keinen Streich, den wir ohne den anderen durchführten und keine Träne, die wir dem anderen verschwiegen. Es gab nichts, für das ich mich vor ihm schämen musste, ich konnte ihm alles erzählen und wusste, dass er mich immer verstehen würde. Immer… bis zu dieser einen Nacht.
 

Ich kann das Datum heute nicht mehr nennen, ich weiß, dass ich noch nicht die Vierzehn erklommen hatten, als ich eines Nachts zitternd aufwachte. Ich spürte sofort die Nässe meiner Shorts an mir kleben und sprang erschrocken auf, um sie loszuwerden. Erst als ich wieder zurück ins Bett kroch, kam die Erinnerung an den Traum zurück, und mit ihm die Erregung, die ich dabei verspürt haben musste. Ich sah Sai vor mir und ich wusste, dass ich ihn auf diese Weise noch nie gesehen hatte. Nicht mit diesem Blick, nicht mit diesen verführenden Lippen. Und noch nie hatte ich das Verlangen danach verspürt, ihn zu küssen. Noch nie, bis zu dieser Nacht, in der ich kein Auge mehr zutat, sondern alles Mögliche versuchte, um eben genau das nicht mehr zu denken.

Ich scheiterte kläglich.
 

Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich ihm einen Tag lang nicht in die Augen sehen konnte. Ich versuchte es, doch immer sah ich plötzlich Dinge an ihm, die ich zuvor nie gesehen hatte; Seine langen Wimpern zum Beispiel, die schönen Nasenflügel… dämliche, kitschige Kleinigkeiten, doch eben sie holten mich ein. Und eben sie erschreckten mich fast zu Tode.

Ich wusste schon, dass es Männer gibt, die andere Männer mögen, doch ich hatte nie weiter über so etwas nachgedacht. Es war nie ein Thema für mich gewesen, war uninteressant und nie relevant, doch plötzlich kramte ich jeden Fetzen hervor, den ich darüber in meinen Erinnerungen finden konnte. Alle Worte, die ich zu dem Thema einmal gehört hatte. Ich verglich sie mit mir, verglich sie des Nachts mit meinen Gedanken, wenn ich im Bett lag und wieder an Sai dachte, wenn ich nichts anderes tun konnte, als die Hitze zu ertragen, die meinen Körper plötzlich einholte, wenn ich unser Foto vom Schulfest sah. Ich erwischte mich dabei, daran zu denken, dass ich nie auch nur eines der Mädchen toll gefunden hatte, über die Sai immer schwärmte; erinnerte mich, dass er mal gesagt hatte, dass meine Traumfrau noch gebacken werden müsse… und vor allem wurde mir klar, dass ich es schon lange bewusst genoss, mit ihm ein Bett zu teilen oder mit ihm nach dem Sport unter den Duschen herumzualbern. Ich mochte seine Berührungen und konnte mich in seinen Augen verlieren… Wieso war es mir nie aufgefallen?
 

Ab jenem Zeitpunkt in meinem jungen Teenagerleben begann ich, eine Maske zu tragen. Es fiel schwer, dies zu lernen, da ich Sai noch nie belogen hatte, doch ich wusste, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, an dem ich es tun musste. Von nun an, immer wieder.

Ich nahm die Maske nur dann ab, wenn ich alleine war. Dann las ich Bücher aus der öffentlichen Bibliothek, die mit Homosexualität zu tun hatten. Manchmal waren es richtige Romane, manchmal Coming-Out-Hilfen oder eine Menge Mangas, doch egal was es war, des Öfteren fand ich mich darin wieder.

Meine Maske allerdings stahl ab und zu eines der Herrenmagazine, nur um es Sai später stolz präsentieren zu können, und ich lernte, wie man über Mädchen sprach. Ich stieg in Sais Schwärmereinen mit ein, auch wenn sie sich in mir wie Fremdkörper anfühlten, und sah auffällig dem ein oder anderen Mädchen hinterher, wenn es unseren Weg kreuzte. In Wirklichkeit sah ich ihm hinterher. Mit sehnsüchtigen Augen beobachtete ich jeden seiner Schritte, nahm jede Bewegung in mir auf, die er tat, und erhaschte alles, was in seinem Gesicht vor sich ging. Besser denn je konnte ich darin lesen und genau das machte es nur immer schwerer, weil es mir ständig vor Augen führte, wie unterschiedlich wir waren, tief in uns drin.

Ihm wurde dies nicht bewusst, vor ihm saß meine Maske perfekt, denn er teilte weiterhin mit mir das Bett, obwohl ich Nachts wach lag und ihn ansah, sein Gesicht mit meinen Blicken streichelte und mir nichts sehnlicher wünschte, als seine Lippen küssen zu können. Ich nahm seinen Atmen und seinen Herzschlag in mir auf, bis sie die vertrautesten Geräusche für mich waren, während er mich am nächsten Tag nur fragte, ob ich schlecht geschlafen hätte, weil ich so müde aussah.

Ich tat es ab, denn was hätte ich auch sonst tun können? Ich hatte eine solche Angst davor, dass er auch nur eine Ahnung bekommen könnte, fühlte mich pervers und schuldig, verfluchte mich immer wieder und litt an der Kette, welche sich immer enger um mein Herz schlang.

Es war die Hölle und ich durchschritt sie immer und immer wieder.
 

Dass ich mich veränderte, konnte natürlich auch die Maske nicht vollends wettmachen. Sai bemerkte es sogar ziemlich schnell und sprach mich nicht nur einmal darauf dann. Doch es brauchte nur ein Mal, um diese Fragen zu ersticken. Ein Videoabend war es, wie so viele zuvor, an dem ich seine Fragen nicht aushielt und ihn anschrie, dass er mich in Ruhe lassen solle. Ihn ginge das alles einen Scheißdreck an. Sai, perplex und sprachlos und wahrscheinlich ziemlich verletzt, sagte danach nichts mehr an diesem Abend. Er schaltete Fernseher und Licht ab, drehte sich von mir weg und schwieg, während ich mit den Tränen kämpfte und mir nichts sehnlicher wünschte, als dass er doch noch etwas sagen würde. Ich für meinen Teil konnte es nicht, denn dann hätte ich ihm die Wahrheit gesagt, und das durfte ich nicht, um keinen Preis der Welt.

Irgendwann hing Sais gleichmäßiger Atem in der Luft, schob die Barriere nur noch fester zwischen uns, und ich brach neben ihm im Bett in Tränen aus, da ich mich schrecklich fühlte wie noch nie. Ich wollte das alles nicht, wollte ihn nicht verletzten und schon gar nicht auf diese Weise verlieren, und doch sah ich keinen Ausweg.
 

Das Thema, dass ich mich so verändert hätte, kam nach dieser Nacht nie wieder zur Sprache. Sai tat bereits am nächsten Morgen, als sei nie etwas geschehen, doch ich spürte, dass ihn meine Ablehnung traurig gemacht hatte. Und mir tat die Gewissheit höllisch weh, dass ich ihm die Antwort ewig schuldig bleiben würde – zumindest hatte ich mir genau das vorgenommen.
 

~ * ~
 

Kurz nach Sais fünfzehnten Geburtstag war es, dass meine Maske auf eine harte Probe gestellt wurde. Zum ersten Mal verkündete Sai mir, dass er ein Date haben würde, mit einem Mädchen aus der Parallelklasse. Natürlich, ich hatte schon länger gewusst, dass er an ihr interessiert war, und doch war diese weiterführende Handlung wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Schlag, den ich aber trotz schmerzender Wange sofort wieder vergessen musste, denn ich musste lächeln, mich für ihn freuen, ihn gar beglückwünschen, und ich musste mit ihm Pläne für diesen bestimmten Abend schmieden, bei denen er vor lauter Euphorie nicht bemerkte, wie sehr ich neben ihm litt.

Ein wenig besser ging es mir erst wieder, als er mir nach dem Date sagte, dass nichts zwischen ihnen werden würde, und doch war etwas in mir zerbrochen, da es nun nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis er das erste Mädchen an der Hand halten würde. Das war mir klar, und es zerriss mich in tausende Stücke.
 

Es war ein knappes halbes Jahr später, dass er mir Karlin vorstellte. Sie war eine Klasse unter uns und ein wirklich niedlichen Mädchen mit großen, dunkelbraunen Augen, die Sai öffentlich anhimmelten. Ihr wollte ich dafür den Hals umdrehen, und es war mehr als nur ein bisschen Selbstbeherrschung gefragt, wenn er mir immer wieder von ihr erzählte, vorschwärmte, sie in den Himmel hob. Ich wollte sie hinabreißen, doch stattdessen zeigte ich ihm, dass ich mich für ihn freute… und heulte mir Seele erst aus dem Leib, wenn ich sicher war, dass es niemand mitbekommen würde.
 

Die beiden blieben ein knappes Jahr zusammen, in dem Karlin mehr von ihm bekam, als ich mir je für mich erhofft hätte. Er erzählte mir genau von ihrem ersten, zweiten und dritten Mal, während ich ein paar Wochen später meines erlebte und ihm dies nicht mitteilen konnte, obwohl ich es bitterlich gebraucht hätte.

Es passierte zu einer Zeit, in der Sai für ein paar Tage zu Verwandten gefahren war – mit Karlin. Ich, alleine zurückgelassen, litt Qualen, all die Gedanken an ihn zu verdrängen, und versuchte alles, um mich abzulenken. So führte mich ein Schwulenmagazin, das ich hinter Regalen versteckt in einem Buchladen verschlungen hatte, zu einem Treffpunkt meinesgleichen. Hier wurde ich von einem Junge angesprochen, welcher vielleicht zwei, drei Jahre älter war als ich, und einsam, wie ich mich fühlte, ging ich mit ihm.

Noch nie zuvor hatte ich einen Jungen geküsst und als ich nun das erste Mal die rauen Lippen eines Mannes auf meinen spürte, war es ein vollkommen neues Gefühl, so ganz anders als mit den Mädchen, die ich bisher zur Tarnung geküsst hatte. Es war viel reizvoller und es gefiel mir. Er küsste gut und ich ließ mich von ihm aufs Bett drücken, doch ab da ging dann alles viel zu schnell für meinen naiven Verstand. Unsere Kleider waren schneller Weg, als ich reagieren konnte, und sein steifes Glied ragte mir wie eine Bedrohung entgegen, als es schon kein Zurück mehr gab. Er zog mich in eine feste Umarmung und drang in mich ein, doch statt zu schreien und mich zu wehren, weinte ich nur still und ließ es über mich ergehen. Es tat höllisch weh und als es vorbei war, suchte ich das Weite, sobald das Zittern meines Körpers nachgelassen hatte. Ich stützte durch die Straßen zurück und schließlich in meinem eigenen Bett angekommen, brach ich weinend zusammen.

Noch nie hatte ich Sai so sehr gebraucht wie in diesem Moment.
 

Einige Wochen später folgte die Trennung von Karlin. Es fiel mir schwer, es mir selbst einzugestehen, doch es tat mir unglaublich gut, ihn wieder für mich alleine zu haben. Ich wollte nicht so egoistisch sein und doch wünschte ich mir insgeheim, dass er nicht so bald wieder eine Freundin finden würde.

Auch seine Eltern hofften dies, doch bei ihnen war es anderen Ursprungs, wie ich eines Abends erfuhr, als er mir durchs Telefon ins Ohr schrie, dass die beiden jetzt vollkommen irre geworden seien.

Ich forderte ihn zur Ruhe auf, sagte, er solle vorbeikommen, und nur ein paar Minuten später war er bei mir, auch wenn er sonst mindestens fünfzehn Minuten brauchte.

Nun erfuhr ich, was ihn zur Weißglut trieb: Seine Eltern hatten einen Vertrag geschlossen mit einem Geschäftspartner, und es ging darum, dass die ältesten Kinder einander heiraten würden.

Sai tobte und sprach alle möglichen Verwünschungen für seine Zukünftige und seine Eltern aus, wiederholte immer wieder, wie altmodisch das doch sei. Ich tat schwer daran, ihn wieder zu beruhigen. Eigentlich wollte ich es auch gar nicht, und hätte ihm später so gerne gesagt, dass es genau das war, was ich wollte, als er irgendwo zwischendrin sarkastisch meinte, dass er dann sogar lieber mich heiraten würde.
 

~ * ~
 

Ich glaubte lange, dass es nun immer so bleiben würde. Sai mit irgendeiner Freundin, ich mit meinen heimlichen Gefühlen… Das einzige, was mir half, damit zu leben, war, dass ich auf diese Weise immer mit ihm beisammen bleiben könnte, als Freund, als Seelenverwandter, als seine andere Hälfte, der er alles erzählen konnte und von der er dachte, dass sie ihm auch alles erzählte. Doch ich war jung und es war naiv zu glauben, dass sich nicht alles irgendwann ändern würde. Ich war naiv, zu denken, dass ich diese Gefühle für immer verstecken könnte, schätzte mich viel stärker ein als ich es doch eigentlich war. Und so kam irgendwann das, was vermutlich unausweichlich war, der Tag, an dem ich förmlich zu ersticken drohte, der Tag, an dem alles in Scherben fiel, was wir hatten.
 

Es war ein wunderschöner Abend in den Ferien im Juli. Wir lagen fast nackt auf seinem Bett und schwitzten durch die Hitze der Tage vor uns hin, philosophierten über irgendeinen Film, den wir zuvor gesehen hatten und waren uns so nahe, wie wir es immer waren.

Ich hatte gar nicht vor, die Worte zu sagen. Eigentlich dachte ich sie nur, bis ich sie plötzlich in meinen Ohren hörte und auf seinem Gesicht, welches alle Farbe verlor, widergespiegelt sah.

„Was?“ fragte er lautlos.

Ich war wie gelähmt, da mir bewusst wurde, was gerade passiert war. Und ich wusste auch, dass ich es noch leugnen könnte. Ich könnte noch darüber lachen, es als einen Scherz abtun und angewidert die Augen verdrehen. Ich könnte… doch ich konnte nicht.

Stattdessen ergriff mich irgendeine Kraft und mir war eiskalt, als ich mich über ihn beugte, ihm die Augen sah, welche ich so sehr liebte, und wiederholte, dass ich ihn nun so gerne küssen würde.

Ich tat es, direkt danach, doch es war nur der Bruchteil einer Sekunde, dass ich ihn spüren konnte, denn sofort stieß er mich von sich.

„Willst du mich verarschen?“, schrie er mit einer mir vollkommen unbekannten Abscheu. Er richtete sich auf und starrte mich aus entsetzten Augen an. Ich fühlte mein Herz gegen meinen Brustkorb hämmern, rechnete jede Sekunde mit einem Schlag von ihm. „Natürlich!“, rief er, und sein Gesicht verkrampfte sich, als versuche er zu lachen. „Sicher willst du mich verarschen! Du kannst das gar nicht ernst meinen!“

Es war ein Hilferuf seinerseits und er flehte mich förmlich an, ihn anzunehmen. Es war ein Strohhalm, an den ich mich hätte klammern können… doch ich blieb stattdessen an der Klippe hängen, von der ich mich selbst gestoßen hatte.

Ich starrte auf seine zitternden Fäuste, die noch immer bereit schienen, auf mich einzuschlagen. Noch nie hatte er das getan und ich hoffte inständig, dass es nun nicht das erste Mal sein würde, als ich eine Entschuldigung stammelte, der die Worte folgten, dass ich darüber niemals Scherze machen würde.

Es blieb still, minutenlang wie es schien. Dann sprang er auf die Beine und lief durch sein Zimmer. Ängstlich beobachtete ich ihn, fühlte mich dreckig und unnormal, wie ich es eigentlich schon lange abgelegt hatte. Vorsichtig sprach ich seinen Namen.

Er blieb stehen, augenblicklich, fuhr zu mir herum und sah mich erwartungsvoll an. „Bitte nicht!“, schrien seine Augen mich an und als ich sie so sah, kam kein Wort über meine Lippen.

„Verdammt!“ Er fiel vor mir auf die Knie und packte mich an den Schultern, schüttelte mich. Ich sollte einfach sagen, dass es nur ein Scherz war, flehte er mich an und seine Finger verspannten sich. Ich griff nach ihnen.

„Du tust mir weh, Sai“, flüsterte ich schuldbewusst und augenblicklich ließ er mich los.

In seinen Augen las ich Angst. Aber wovor hatte er Angst? Vor dem Ende unserer Freundschaft? Davor, wie es weitergehen könnte? Verdammt, begriff er nicht, dass das alle nun bei ihm lag? Ein Kloß steckte in meiner Kehle fest. Ich wollte schreien.

Die Worte, die ich irgendwann fand, waren, dass ich es ihm schon so lange hatte sagen wollen. Tränen liefen meine Wangen hinab, als er unverständig fragte, was ich meinte.

Nun schrie auch ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „Ich liebe dich!“, schluchzte ich und wusste gleichfalls, dass ich den wohl größten Fehler meines Lebens begangen hatte, kurz nach dem, mich überhaupt in ihn zu verlieben. „Schon so lange...“, murmelte ich, nahm die Hände weg und sah ihm wieder in die aufgerissenen Augen. „Ich bin verrückt nach dir, will dich küssen, will dich berühren... schon seit Jahren... du bist mir doch so wichtig, so verdammt wichtig... ich kann da doch nichts für, ich hab mir das doch nicht ausgesucht... ich will dich nicht verlieren... ich... ich…“

Ich brach ab da mir das Weinen die Stimme nahm. Ich presste die Hand an meinen Mund und biss hinein. Dieser Schmerz in mir wollte nicht aufhören. Er würde mich nun hassen. Wir hatten nie über das Thema gesprochen, und dennoch war ich mir dem so sicher; er würde mich verachten.

Ich hörte mein Schluchzen und wie er aufstand. Sein stockender Atem, seine Schritte, als er sich entfernte.

„Tatsuya... ich...“ Auch er weinte jetzt. „Ich weiß nicht... was soll ich denn jetzt tun... verdammt, was soll ich denn um Gottes Willen jetzt sagen?“

Es knallte und ich schrak zusammen, wagte nicht aufzusehen. Erneutes lautes Krachen. Zögernd hob ich den Kopf und sah, wie er mit der Faust gegen den Schrank schlug, immer und immer wieder. Tränen rannen seine Wangen hinab. Und es lag allein an mir.

Ich ertrug es, denn ich konnte nicht mehr sprechen. Und ich konnte mich nicht bewegen, konnte nur zusehen, wie er kraftlos wurde, gegen den Schrank sank und den Kopf gegen das Holz presste.

Wir weinten beide, weinten um unsere Freundschaft, die mit mir an der Klippe hing, von mir heruntergeschupst und von ihm noch nicht wieder hinaufgezogen. Würde er uns fallen lassen?

Diese Frage beantworteten irgendwann seine Worte.

Er bat mich zu gehen.
 

Über eine ganze Woche lang hörte ich nichts von ihm. In dieser ganzen Zeit vergrub ich mich und fühlte mich schrecklich. Zum ersten Mal dachte ich an Selbstmord, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, da mir keine schmerzlose und risikofreie Methode einfiel. Außerdem wollte ich ja eigentlich gar nicht sterben.

In dieser Zeit erfuhren auch meine Eltern die Wahrheit, denn meine Mutter versuchte ständig, mich aufzumuntern, fragte, wo Sai denn wäre und wollte wissen, warum es mir so schlecht ging. Eines Abends schrie ich ihr die Wahrheit ins Gesicht, schloss mich zum ersten Mal in meinem Zimmer ein, und ignorierte ihr ständiges Flehen, die laute Musik auszumachen und die Tür zu öffnen. Ich war schon lange überzeugt davon, dass sie einen schwulen Sohn niemals akzeptieren könnten. Es war mir egal. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen, ich war jetzt auf alles gefasst, doch niemals darauf, dass sie mich, als sie mich dann doch dazu gebracht hatte, die Tür zu öffnen, fest umarmte und unglaublich zärtlich sagte: „Ich hätte es wissen müssen, nicht wahr?“
 

Zwei Tage später klingelte es mich aus meinen schrecklichen Tagträumen. Zögernd betätigte ich die Gegensprechanlage und brach fast zusammen, als ich hörte, dass es Sai war.

Nun würde also über unsere Freundschaft entschieden werden?

Ich wartete im Flur auf ihn, hörte seine Schritte auf der Treppe. Warum nahm er nicht den Fahrstuhl? Ein unwichtiger Gedanke, aber er lenkte mich für ein paar Sekunden ab. Ich hob den Blick, als die Schritte mir ganz nah waren und dann verstummten. Ich erschrak, als ich ihn sah. Er war blass und hatte Augenringe. Er sah schrecklich aus. Und ich hätte nur die Arme ausstrecken müssen, um ihn darin einzuschließen, wie ich es oft getan hatte, doch ich konnte es nicht, so sehr ich es auch wollte.

Lange blieb es still, keiner wagte als erster das Schweigen zu brechen. Sai stand noch immer am Treppenabsatz und kam nicht näher an mich heran. Er fingerte an seiner Jacke herum. Ich starrte seine ruhelosen Finger an und mir stiegen Tränen in die Augen. Alles sah so sehr nach Abschied aus.

Mit zitternder Stimme sagte ich seinen Namen, was ihn dazu brachte, mir wieder in die Augen zu sehen. Auch in seinen standen Tränen, auch sie waren schmerzverzerrt, als er nun zitterte und sagte, dass er das nicht könne, dass er nicht damit umgehen könne, dass es ihm leid täte. Im selben Augenblick machte er auf dem Absatz kehrt und flüchtete.

Fast sofort stieß ich mich von der Wand ab und rannte ihm hinterher. Auf der nächsten Treppen bekam ich ihn zu fassen. Er stolperte vor Schreck, aber ich hielt ihn fest. Entsetzt sah er mich an und wand sich aus meinen Armen, drehte den Kopf weg.

„Willst du mir damit sagen, dass nun alles vorbei ist?“, spürte ich, wie es mir die Tränen über meine Wangen trieb. „Willst du alles wegwerfen, was wir hatten?“

„Du hast es weggeworfen!“, schrie er mich an und versuchte sich von mir loszureißen. Mit aller Kraft hielt ich seinen Arm fest. Verzweifelung fesselte seinen Blick. „Du warst es doch, der alles kaputtgemacht hat! Verdammt, warum musst denn ausgerechnet du schwul sein?“

Seine Stimme überschlug sich und brachte das Fass in mir zum Überlaufen. Ich hatte solche Angst, ihn zu verlieren, und trotzdem holte ich aus, um ihn zu schlagen. Seine Augen sahen mir verängstigt entgegen, doch bevor meine Hand ihn treffen konnte, hielt ich inne. Ich konnte ihm nicht einmal jetzt verletzten, egal wie sehr er mir in diesem Augenblick wehtat.

Ich schrie und schlug mit aller Wucht gegen die Wand. Ich spürte, wie meine Fingerknöchel brachen, aber es war mir egal, alles war mir in dem Moment egal.

Ich keuchte und weinte. Noch immer lag meine Hand verkrampft um sein Handgelenk. Ich wünschte mir, ihn noch viel mehr zu berühren. Nicht wie einen Liebhaber, sondern wie einen Freund, wie die Freunde, die wir doch noch vor so kurzer Zeit gewesen waren. Sollte das jetzt alles für immer vorbei sein? Konnte es denn nicht so bleiben wie zuvor?

Ob dies nun das Ende sein, flüsterte ich unter Tränen und sah ihm in die Augen, die mir so viel Kummer zeigten, dass es mich nur noch mehr quälte. Wenn er so um unsere Freundschaft trauerte, warum rettete er sie denn nicht einfach?

„Ich weiß es nicht...“, antwortete er stattdessen genauso leise, „Ich weiß nur, dass ich das nicht kann... Ich kann damit einfach nicht umgehen...“ Er zog an seinem Arm und ich ließ ihn frei.

„Bei jedem Mädchen könntest du es...“, schluchzte ich verzweifelt und seine Antwort brannte sich in meinem Kopf fest:

„Das ist etwas anderes, Tatsuya, du weißt das. Ich war noch nie einem Mädchen so nah wie dir, ganz tief hier drin... und genau deswegen kann ich es nicht...“ Er trat einen Schritt zurück, sah mich noch immer an. Warum konnten diese wunderschönen Augen mich nicht einfach akzeptieren? „Es ist besser, wenn wir uns erst mal nicht wiedersehen...“ Damit drehte er sich um und ging.

Worte blieben mir im Hals stecken, ich bekam keinen Ton heraus. Weinend brach ich auf der Treppe zusammen. Ich sah, wie er stockte, aber dann beschleunigte er seinen Schritt und rannte die Stufen hinab. Mit aller Kraft schrie ich nach ihm, doch er kam nicht zurück.

Er hatte uns die Klippe hinuntergestürzt.
 

Dachte ich, ich wäre in den Jahren des Schweigens durch die Hölle gegangen, so merkte ich in den folgenden Monaten, dass es nur die erste Ebene gewesen sein konnte.

Hatte ich noch auf ein Wiedersehen in der Schule gehofft, so wurde ich nach den Ferien bitterlich enttäuscht. Und zu allem Überfluss wusste jeder was los war, außer ich: Sai hatte die Schule gewechselt. Er würde nicht wiederkommen, an keinem Tag dieses Schuljahres.

Ich begriff dies kaum, starrte zu Anfang den leeren Platz neben mir an, als würde er jede Sekunde wieder besetzt werden. Dies wurde er auch, doch mich interessierte der Junge nicht, der ihn einnahm. Ich würdigte ihn das gesamte Schuljahr hindurch keines Blickes. Heute weiß ich nicht einmal mehr, wer es gewesen ist.

Ebenso weiß ich nicht, was in jenen Monaten unterrichtet wurde. Ich hörte den Lehrern nicht zu, blieb der Schule oft fern, sondern trieb mich irgendwo herum, an Plätzen der Erinnerungen. Ich wollte am liebsten alles kurz und klein schlagen, meine Wut so laut es nur ging, von überall herausschreien, etwas zerstören. Ich hatte eine solche Wut und Trauer in mir, dass ich nicht wusste, wie ich ihr Ausdruck verleihen sollte. Innerlich fraß es mich auf.

Ich erhielt den Abschluss im Frühjahr nur, weil mein Vater seinen Einfluss geltend machte. Es war mir egal, wie mir alles egal war. Selbst wenn ich sitzengeblieben wäre, hätte es mich nicht gekratzt. Ohne Sai hatte für mich einfach nichts mehr einen Sinn.

Das merkte jeder in meiner Umgebung. Meine Freunde, die nicht so doof waren, die Wahrheit nicht zu verstehen, konnten nichts mehr mit mir anfangen. Sie entfernten sich von mir, da ich so oder so nicht mehr in derselben Welt lebte wie sie. Ich sprach kaum noch und unternahm nichts, verkroch mich, wo ich meine Ruhe hatte und nachdenken konnte. Und ich dachte nach, viel zu viel. Erinnerte mich bewusst an alles, was ich nun besser vergessen hätte, und hielt eines von Sais Hemden an mich gepresst, welches scheußlich grün war und mir nie gefallen hatte. Jetzt war es mein kostbarster Besitz und obwohl es schon längst meinen Geruch angenommen hatte, bildete ich mir doch immer wieder ein, ihn noch immer riechen zu können.
 

Als die Schule vorbei war und ich keinen einzigen Freund mehr hatte und keine Ambitionen, irgendetwas in Angriff zu nehmen, versuchten meine Eltern alles, um mich nicht vollkommen absacken zu lassen. Eigentlich hatte sie immer gehofft, ich würde studieren gehen, doch jetzt ging es ihnen nur noch darum, mich irgendwie auf den Beinen zu halten, mich leben zu sehen, was ich kaum noch tat. So schafften sie es auch, meinen Onkel zu überreden, mich in seiner Bar arbeiten zu lassen, was garantiert schwer war, da ich aktuell alles andere als einen freundlichen Kellner abgeben würde. Doch irgendwie gelang es ihnen und so wurde ich förmlich gezwungen, nachmittags jobben zu gehen, mich unter Leute zu begeben. In den ersten zwei Wochen habe ich bestimmt ein paar Gäste mit meiner üblen Laune vergrault, bis ich eine riesige Standpauke von meinem Vater bekam. Er war ein ruhiger Mann und wurde selten wütend. Noch nie hatte ich ihn dermaßen schreien gehört, bis er mir an jenem Abend ins Gesicht brüllte, dass ich endlich aufhören sollte, mich in Selbstmitleid zu suhlen. Ich wäre erbärmlich. Kein Wunder, dass Sai mich so nicht liebte.

Seine Worte waren gemein und er nahm sie ungefähr eine Stunde später unter tausend Entschuldigungen wieder zurück, doch sie bewirkten tatsächlich einen winzigen Schritt nach vorne. Denn er hatte recht. So wie ich war, hätte Sai mich nicht mal als Freund haben wollen. So hätte er mich nie werden lassen… und so war ich eigentlich auch nicht. Das wurde mir endlich wieder klar.
 

Dem einen Schritt folgten weitere. Sie waren langsam und weit auseinander, doch ich ging vorwärts und nicht immer weiter zurück. Es dauerte fast das ganze Jahr, bis ich es schaffte, wieder ehrlich zu lachen, bis ich endlich wieder richtige Gespräche führen wollte, bis ich sogar freiwillig aufarbeitete, was ich in dem letzten Schuljahr nicht gelernt hatte. Und in dem Sommer des Jahres, in dem ich 18 geworden war, knapp eineinhalb Jahre nach dem Geständnis, schaffte ich es auch endlich wieder, mich einem anderen Menschen zu öffnen.

Zunächst war Kazumi für mich nur ein Kunde, der immer an einem ganz bestimmten Tisch in der Ecke saß und an seinem Notebook arbeitete. Er hatte nichts Interessantes an sich und ich beachtete ihn ebenso viel oder wenig wie alle anderen, bis er mich irgendwann einmal fragte, wann ich denn frei hätte.

Ich begriff seine Frage kaum, stotterte nur die Zeiten hervor und ging sofort zurück zur Theke. Als er später bezahlte, sah ich ihm das erste Mal direkt in die Augen. Auf komische Weise fingen sie mich ein und bewirkten, dass ich am Abend, als ich frei hatte, enttäuscht feststellte, dass er nicht gekommen war. Und dann, am nächsten Tag war Kazumi wieder da. Ich war nervös, als ich ihn bediente, und er lächelte mich an, blieb länger als üblich, und als meine Schicht vorbei war, winkte er mich zu sich. Zwei Stunden redeten wir, ich erfuhr, dass er in einer Bank arbeitete, schon 24 war, und lachte so viel, wie wahrscheinlich schon lange nicht mehr.

Von da an kam Kazumi täglich in die Bar, setzte sich nun immer öfter zu mir an den Tresen, wenn er nicht etwas Wichtiges an seinem Notebook zu erledigen hatte, und wir unterhielten uns stundenlang. Etwas mehr als zwei Wochen dauerte es, glaube ich, bis ich ihm von meinen letzten eineinhalb Jahren, von den kläglichen Anfängen meines Schwulseins erzählte. Zum ersten Mal seit Monaten redete ich darüber, was geschehen war.

Erst nach einem Monat trafen wir uns das erste Mal außerhalb der Bar, verabredeten uns zum Kino. Ich hatte auch wirklich vor, den Film zu sehen, aber als er anfing, konnte ich mich nicht darauf konzentrieren, denn schon nach ein paar Minuten spürte ich Kazumis Hand, wie sie nach meiner suchte, und als ich sie schließlich festhielt, konnte ich nur daran denken. Es war das erste Mal, dass wir uns direkt berührten, länger als die flüchtige Berührung beim Bezahlen. Und es kam noch mehr, da nämlich, als er sich gegen Mitte des Filmes plötzlich zu mir beugte und mich küsste. Überrascht reagierte ich nicht, so dass er sich wieder zurückzog. Auch meine Hand ließ er los.

Auf dem Heimweg schwiegen wir. Kazumi brachte mich bis zur Tür und sah mich eine Weile schweigend an, mit einem Blick, der zeigte, dass er nicht gehen wollte. Dann entschuldigte er sich und ich hielt ihn nicht auf, als er ging.

In meinem Zimmer vergrub ich mich in den Kissen und starrte in die Dunkelheit. Ich dachte an den Kuss und wusste wie schon die ganze Zeit, dass er mir gefallen hatte. Ich wollte noch mal von ihm geküsst werden und ich wollte es auch erwidern, doch ich spürte, dass mein Herz bei dem Gedanken nicht nur schneller schlug sondern auch tierisch schmerzte. Nach einer Weile schaltete ich das Licht an und griff in die hinterste Ecke meiner Nachtischschublade. Hier zog ich ein verstaubtes Foto hervor, ein Erinnerungsstück, welches ich hatte begraben wollen. Ich strich über Sais Grinsen und fragte flüsternd, ob er sauer wäre. Ich konnte nicht mal sagen wieso, aber ich hatte das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich mich in Kazumi verliebt hatte. Zwar wusste ich, dass er nie Sais Platz einnehmen könnte, doch hatte ich einen anderen für ihn gefunden und genau das fiel mir so schwer, einzugestehen. Schließlich aber küsste ich das Glas, bevor ich das Bild wieder an seinen Platz stellte, die Adresse von Kazumi rauskramte und zu ihm nach Hause ging. Ich konnte Sai nicht ewig nachtrauern, so viel Verstand hatte ich mittlerweile wieder zusammengebracht.

Kazumi war vollkommen verblüfft, als ich vor ihm stand, ihm um den Hals fiel und bat, mich noch mal zu küssen. Er tat es und irgendwo in mir fühlte es sich richtig an.
 

Von diesem Tag an gingen meine Schritte schneller vorwärts. Wir unternahmen viel und er schaffte es, mich vollkommen aus meinem Loch herauszuholen. Er lehrte mich, wie ich wieder mehr lachen und Sai vergessen konnte; zeigt mir wieder das Gute am Leben zu sehen, und nach einem halben Jahr zog ich bei Kazumi ein. Ich war glücklich, er gab meinem Leben wieder Sinn. Er war es auch, der mich dazu brachte, mit 19 doch endlich studieren zu gehen.

Dies ist einer der Punkte, für die ich Kazumi noch heute dankbar bin, doch kann eine Zeit noch so schön sein, man hat sie nicht als solches in Erinnerung, wenn sie mit einem Desaster endete. In diesem Fall war es der Punkt, dass ich lernen musste, dass Kazumi nicht der Mann war, für den ich ihn hielt. Es begann damit, dass ich ihn irgendwann mit einem anderen Kerl im Bett erwischte. Folgend versuchte Kazumi viel, um mich zu beruhigen, und er schaffte es vielleicht alleine deshalb, weil ich zu viel Angst davor hatte, wieder jemanden zu verlieren. Knapp einen Monat später allerdings erwischte ich ihn ein weiteres Mal mit derselben Person. In einem heftigen Streit erfuhr ich nun, dass er mich schon seit fast zwei Monaten betrog, und alles, was wir zusammen mit Mühe in mir aufgebaut hatten, brach in diesem Moment in sich zusammen.

Ich zog schnell aus, denn auch wenn ich noch immer bei Kazumi bleiben wollte, wusste ich doch, dass ich ihm nie wieder vertrauen könnte. Ich schlief ein paar Nächte bei meinen Eltern, bis ich mir ein eigenes, kleines Appartement suchte. Ich wollte von niemandem mehr abhängig sein, nie wieder.

Ich besuchte weiterhin die Uni, auch wenn ich in den nächsten Vorlesungen zunächst nur körperlich anwesend war. Ich musste an Kazumi denken und wünschte mir plötzlich wieder Sai herbei, auf eine andere Art, dieses Mal, auf eine vielleicht noch viel schlimmere Art. Ich hatte vor Jahren ja nicht nur den verloren, den ich liebte, sondern auch meinen besten Freund, mit dem ich über fast alles hatte reden können. Nun hätte ich ihm gerne mein Herz ausgeschüttet.
 

Es war zu der Zeit, als ich Ryouta kennenlernte, in der zweiten, schlimmeren Phasen meines Lebens. Es war seine wohl bisher Schlimmste. Das war es, was uns zusammenbrachte.

Mir fiel das fahle Gesicht sofort auf, als wir auf der Treppe der Uni ineinander rannten. Seine Augen trafen mich hilflos, einsam, und sein Lächeln war leer als habe er nie gelernt, wie es funktioniert. Ich entschuldigte mich und ging meinen Weg weiter, nicht aber, ohne mich nach dem hübschen, ausdruckslosen Gesicht noch einmal umzusehen. Es brannte sich aus irgendeinem Grund in meine Erinnerung und als ich ihn knappe zwei Wochen später in einer Vorlesung sah, suchte ich fast automatisch einen Platz in seiner Nähe. Ob er mich erkannte, wusste ich nicht, aber als ich ihn anlächelte, versuchte auch er dies. Sein Gesicht war noch immer blass, seine Augen mit dunklen Rändern umzogen und sein Körper wirkte, als würde er jede Sekunde zusammenbrechen.

Ich lud ihn zum Essen in die Mensa ein. Keine Ahnung wieso, vielleicht, weil er aussah, als habe er seit Tagen nichts gegessen, vielleicht, weil ich mit ihm das Gefühl hatte, auf dieser grausamen Welt nicht alleine zu sein. Ich war nicht der einzige, der litt. Irgendwie half mir der Gedanke, so egoistisch er sein mochte.

Ich hatte auch gar nicht vor, über irgendwelche privaten Dinge zu reden. Eigentlich versuchte ich über dem Mensafraß nur, irgendwie Konversation zu treiben, als er plötzlich die Gabel fallen ließ, nach meinen Händen griff und mir direkt in die Augen sah.

„Halt die Klappe!“, sagte er und dann küsste er mich. Mitten zwischen all den Leuten, die uns nur zu genau sehen konnten, für knappe fünf Sekunden lang, in denen ich kaum darauf reagierte. Und als er sich dann von mir entfernte, grinste er, wie ein Verrückter, nahm die Gabel wieder auf und schaufelte das Essen in sich hinein.

„Nie wieder“, hörte ich ihn irgendwo dazwischen faseln, während ich noch immer perplex dasaß. „Alles vorbei… nie wieder…“ Seine Augen zeigten Wahnsinn.
 

So bescheuert es klingen mag, zog mich aber genau dieser Wahnsinn weiter in Ryoutas Richtung. Ich hatte mehr als zuvor das Gefühl, jemanden gefunden zu haben, dem das Leben ähnlich beschissen vorkam, wie mir. Einen Verbündeten, sozusagen, einen verrückten Freund.

In den ersten Wochen unserer Freundschaft sprachen wir weder über den Kuss, von dem mittlerweile der gesamte Campus gehört hatte, noch passierte es erneut. Ich hatte auch nicht das Verlangen danach, eines davon zu ändern, und Ryouta scheinbar ebenso wenig. Zwar schloss ich aus dem Kuss, dass auch er schwul war, doch auch das wurde nicht zum Thema. Überhaupt sprachen wir in den ersten Wochen kaum über Privates, obgleich wir uns stundenlang unterhielten. Über Gott und die Welt sozusagen, nur nicht über uns, egal wie sehr es uns vielleicht interessierte, was der andere durchgemacht hatte. Im Grunde war das nicht wichtig, wir hatten einen Weg gefunden, frei miteinander zu lachen und nicht an all das zu denken, was uns einholen würde, wenn wir später alleine im Bett liegen würden. Natürlich, es war eine gewisse Art der Verdrängung, aber zumindest mir tat dies nachhaltig gut, denn so konnte ich Abstand gewinnen von meiner Vergangenheit. So konnte ich genug Abstand gewinnen, um später ohne Tränen darüber reden zu können.
 

Dieses Später folgte bei Ryouta als erstes, wobei es bei ihm nicht ohne Tränen von statten ging. Fünf oder sechs Wochen müssten ungefähr vergangen sein, bis zu jenem Abend, an dem wir auf meinem Sofa saßen und einen Film schauten. Wir brüllten uns nun schon beim Zweiten vor Lachen die Seele aus dem Leibe, hatten wir doch schnell festgestellt, dass wir exakt denselben Humor und Filmgeschmack hatten. Wir stopften Chips in uns hinein, tranken ein paar Bier und hatten Spaß, wirklichen, richtigen Spaß… zumindest bis zu dem Augenblick, als Ryouta über sich die Kontrolle verlor. Ich weiß bis heute nicht, was der Auslöser dafür war, ob es nur ein Gedanke in seinem Kopf war oder doch eine Szene des Filmes, doch plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, ließ er sein Glas fallen und krümmte sich auf dem Sofa zusammen. Als ich ihn dann auch noch berührte, stieß er mich von sich und schrie irgendetwas Unverständliches. Dann, in der nächsten Sekunde brach er in fürchterliche Tränen aus.
 

Bis zu jenem Zeitpunkt war ich mit dem Thema HIV in soweit in Kontakt gekommen, als dass ich wusste, wie gefährlich der Virus ist. Auch hatte ich in der Anfangsphase meiner bewussten Homosexualität ein bisschen was in den Büchern der Bibliothek gelesen, aber mehr, als dass schwule Männer einem erhöhtem Risiko ausgesetzt sind, und dass ich immer aufpassen sollte, mich zu schützen, schwirrte eigentlich nicht wirklich in meinem Kopf herum. Vielleicht deshalb war ich vollkommen hilflos, als er mir in jener Nacht heulend in meinen Armen gestand, dass er seit ungefähr vier Monaten HIV-positiv sei. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, als er sich an mich klammerte, wusste nicht, was er nun von mir erwartete, hatte überhaupt keinen Schimmer, wie ich ihn beruhigen, gar trösten könnte. Also tat ich das einzige, was ich konnte. Ich hielt ihn fest, strich ihm durch die Haare und hörte zu. Ich hörte mir seine Geschichte an, die noch nicht besonders lang war.

Ein Polterabend war es gewesen, die Schwester von einem seiner besten Freunde wollte heiraten und das sollte in Saus und Braus begangen werde. Teller wurden geschmissen, Tassen und Gläser… und scharf wie die Scherben waren, schnitt man sich leicht daran. Er nur ein kleines bisschen an der linken Hand, wie mir die Narbe bewies, die er mir zeigte, dieser Freund, betrunken wie er war, schlitzte sich aber fast den kompletten Oberarm auf, als er stolperte. Sofort hatte er alle von sich gestoßen, geschrien, niemand solle ihn anfassen, doch aus irgendeinem Grund hörte Ryouta nicht darauf, wollte ihm helfen, ihn verarzten… und kam so mit dem verseuchten Blut in Kontakt, ehe sein Freund reagieren konnte.

„Ich bin selbst schuld“, schluchzte er in meinen Armen, als ich ihn nun hielt. „Ich hätte auf ihn hören sollen!“ Und diese Worte sprach er noch oft in jener Nacht, in der ich mich vielleicht hilfloser fühlte als je zuvor. Ich ließ sie ihn sagen, so oft er wollte, und er ließ mich nicht ein Mal gegenteilige Sätze beenden. Er wollte sie nicht hören, er wollte einfach nur leiden... und ich war da, um auf ihn aufzupassen. Das war es, was ich tat. Und ich war froh, dass ich wenigstens so viel für ihn tun konnte.
 

Galgenhumor ist die einfachste Methode, um zu überleben. Irgendwo hatte ich das einmal gehört und nun wurde mir klar, wie wahr es doch eigentlich war. Und Ryouta war gut darin. Ich kann mir nur vorstellen, was für eine unglaublich fröhliche, erfrischende Person er gewesen sein musste, bevor der Virus den Ernst in sein Leben getrieben hatte, aber ich glaube, dass er bis zu jenem Zeitpunkt ein sehr glücklicher Mensch gewesen war. Ich glaube das deshalb, weil ich mir sonst nicht erklären kann, wie er es schafft, trotz allem doch immer irgendwie positiv zu denken, wie er es schafft, zu lachen und nicht nur den schwarzen Peter an die Wand zu malen. Natürlich, er ist ein sehr nachdenklicher Mensch, aber schon damals, als ich ihn und seine so kurze, schlimme Vergangenheit gerade kennengelernt hatte, fiel mir auf, dass er sie irgendwie sehr gut verarbeitete. Verdrängung, dachte ich erst, doch mir wurde schnell bewusst, dass er wirklich nichts davon hielt, ständig Trübsal zu blasen.

„Das macht unglücklich“, sagte er in dieser Zeit einmal zu mir. „Und man sollte die kurze Zeit, die man hat, nicht mit Trauern und schweren Gedanken zu müllen… Sie sind zwar da und sie gehören dazu, aber man darf darüber hinaus nicht alles andere vergessen.“

Nach diesen Worten lebte er, und er brachte mir bei, danach zu leben. Er brachte mir bei, wie ich nicht nur an das Ende denken konnte, sondern auch an den Anfang, an unser Zwischenstück, an die schönen Jahre, die ich gehabt hatte. Und er half mir, zu sehen, dass Kazumi mehr als nur der betrügende Ex war, sondern auch der Mann, der mich aus meinem Loch herausgeholt hatte. Er half mir, all das mit anderen Augen zu sehen, ohne zerstörte Brille, sondern so, wie es war, mit allen Fassetten. Und ich konnte in der Anfangszeit immer wieder nur dasitzen und Ryouta bewundern, wie er es schaffte, so frei zu atmen, wie er es tat, wie er es trotz allem immer noch tut.
 

~ * ~
 

Mit Zweiundzwanzig lernte ich einen weiteren Menschen kennen, den ich sehr schnell in mein Herz schloss. Seit drei Jahren studierte ich nun, arbeite wieder öfter in der Bar meines Onkels und hatte gelernt, den schwarzen Schatten meiner Vergangenheit nicht mehr nur als solchen zu sehen. Ich hatte gelernt, dass mir das Leben mehr zu bieten hat, als nur Enttäuschungen, und dass es mir auch mehr Männer zu bieten hat Ich hatte gelernt, zu unterscheiden, wer es wert war, sich mit ihm zu beschäftigen, und auf welche Anzeichen ich achten musste, um noch mehr als nur Beschäftigung zu ergelangen.

Ich würde nicht sagen, dass ich dies ausnutzte. Nur ab und an tat ich es, um nicht jede Nacht alleine verbringen zu müssen, doch oft kam es dennoch nicht vor. Ich hatte mir zwar geschworen, nie wieder eine Beziehung einzugehen, doch zugleich bin ich auf gewisse Weise schon immer eher ein Beziehungsmensch gewesen. Und da sich diese beiden Tatsachen widersprachen, gönnte ich mir ab und an meinen Spaß.

Dass ich zu dem Zeitpunkt, als ich Kida kennenlernte, mal wieder Sehnsucht nach einem menschlichen Körper hatte, mag eher Zufall gewesen sein. Doch es kann auch der Grund dafür sein, weshalb ich mir diesen abwesend wirkenden Jungen genauer ansah, weshalb ich ihn ins Auge fasste. Dass er zudem noch eine gewisse Ähnlichkeit mit Kazumi mitbrachte, zumindest was die Mundgegend anging, war da wohl eher Nebensache.

Ich weiß nicht mehr, was ich plante, als ich ihm meine Karte gab, oder was ich erwartete, als er ein paar Tage später bei mir zuhause auftauchte. Ich habe keine Ahnung, ob ich wirklich einfach so mit ihm schlafen wollte oder was in mir vorging, als es nicht dazu kam. Ich weiß nur, dass da schnell mehr war, vollkommen unbemerkt. Irgendetwas in mir hatte ihn gern, irgendetwas in mir mochte sein trauriges Gesicht nicht sehen und wünschte sich, ihn zum Lachen zu bringen. Irgendetwas in mir ließ ihn mir nicht egal sein.
 

Wenn es sich nicht so blöd anhören würde, könnte man fast sagen, dass ich in gewisser Weise Beschützerinstinkte für Kida zu hegen begann. Er erzählte mir von seinen Gefühlen für diesen, mir länger noch unbekannten Sakuya, und ich hatte das Bedürfnis, ihm zu helfen. Es war nicht mal so, dass er mich an mich selbst erinnerte. Kida war forscher als ich in dem Alter, hatte, zumindest nach seinen Erzählungen zu urteilen, viel Mut bewiesen, dem Jungen seine Gefühle zu zeigen. Ich wünschte mir einfach, dass er auch mehr Glück haben würde als ich.

Nach ein paar Wochen sah es genau danach aus, doch das Strahlen, welches ich auf Kidas Gesicht erwartet hatte, blieb aus, auch als er mit Sakuya nun irgendwie zusammen war. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich Sakuya zu Anfang eher skeptisch gegenüber stand. Ich misstraute ihm nicht direkt, aber ich kannte nun mal nur Kidas Seite der Geschichte und wusste, wie oft er zurückgewiesen worden war. Ich hatte keine Ahnung, was in diesem anderen Jungen vor ging. Erst nachdem ich die beiden ein paar Mal zusammen erlebt hatte, ließ das unerklärliche Gefühl nach, und vielleicht hätte ich mit Sakuya sogar warm werden können, wenn man mal davon absieht, dass er wiederum mich als Gefahr ansah, dass er Ryouta den Kopf verdrehte und vor allem, dass er, als Sai vor der Tür stand, so vollkommen bescheuerte reagierte.
 

~ * ~
 

In der ersten Sekunde, als Sakuya die Tür aufgerissen hatte, sah ich nur blonde Haare vor dieser und wollte schon wieder wegsehen, doch dann folgte eine weitere Sekunde und alles in mir erstarrte. Ich traute meinen Augen nicht, suchte nach Fehlern in meiner Erinnerung, suchte nach Fehlern in diesem Gesicht, doch spätestens in der Sekunde, als seine Augen meine trafen, wusste ich, dass ich keine Fehler finden würde. Er war es. Er stand vor meiner Tür. Und ich hätte sie ihm am liebsten sofort vor der Nase zugeschlagen.

Sakuya tat dies nicht. Er ließ den mir vollkommen fremden Mann in meine Wohnung. Ich spürte Ryoutas Hand an meiner Schulter, versteifte mich unter ihr nur noch mehr, und als Sai weitere Worte sprach, als er den Namen von sich gab, welchen ich jahrelang nur noch in Erinnerungen ausgesprochen hatte, wäre ich fast in Tränen ausgebrochen.

Ich erkannte seine Stimme. Selbst wenn sie nun tiefer war als früher, so hatte sie doch noch immer dieselbe Macht über mich, die mich in diesem Augenblick zittern ließ. Sein Blick traf meinen, ich konnte ihn kaum ertragen. Am liebsten hätte ich geschrien, nicht aus Freude, nicht mal aus Wut, einfach nur, um dieses merkwürdige Gefühl in meinem Innersten zu vertreiben, das plötzlich entstand. Was wollte er hier?

Wie um alles in der Welt konnte er es wagen, einfach so bei mir aufzutauchen?
 

Die Sekunden, bis wir alleine waren, vergingen verständlicherweise viel zu schnell. Ryouta hatte mich noch einmal durchdringend angesehen, mit der Frage in den Augen, ob er bleiben sollte, doch ich konnte darauf nicht reagieren. Ich war viel zu erstarrt, um auf irgendetwas zu reagieren.

Vor mir stand meine große Liebe und ich erkannte sie kaum.

Das war zu viel für meinen Verstand.

Ich hätte niemals damit gerechnet, dass ich ihn noch einmal wiedersehen würde. Ich hatte in gewisser Weise abgeschlossen mit unserer Geschichte, auch wenn ich mir eigentlich nichts mehr gewünscht hatte, als noch ein letztes Mal mit ihm sprechen zu können.

Unterbewusst war aber vielleicht auch genau das meine größte Angst.
 

Es vergingen Minuten, viele, schweigende Minuten, in denen wir uns an jenem Tag, Jahre nach unserem letzten Aufeinandertreffen, gegenüberstanden. Wahrscheinlich dachte nicht nur ich an jenem Augenblick zurück, denn Sais Augen blieben immer wieder nur für einen kurzen Moment an den meinen hängen und gaben mir jedes Mal das Gefühl, meine Beine würden mir versagen. Es war schrecklich, noch schlimmer allerdings war es, wenn er dann wieder den Blick zum Boden richtete, wenn ich ihn anstarren und mustern konnte. Seine nun blonden Haare mit dem schwarzen Ansatz waren kürzer als früher und irgendwie anders geschnitten. Dazu trug er ein enges, langärmliges Shirt in dunkelblau und eine Jeans. Er sah toll aus, noch immer. Und doch sollte ich genau das in diesem Augenblick ganz sicher nicht denken.

Aber ich wusste auch nicht, was ich stattdessen denken sollte. Ich hatte erwartet, dass ich mich freuen würde, wenn ich ihn wiedersehen würde, doch das tat ich überhaupt nicht. Das Glücksgefühl wollte sich einfach nicht einstellen, ebenso wenig wie jegliches andere Gefühl.

Ich fühlte mich leer und ausgepumpt. Noch nie war ich mir so leblos vorgekommen.

„Ich glaube“, durchfuhr es nach einer gefühlten Ewigkeit die eisige Stille, „es war keine gute Idee herzukommen.“

Ich spürte noch, wie meine Augen sich weiteten, als er sich bereits umdrehte und nach der Türklinke griff.

„Du…“

Er erstarrte, drehte sich zu meinem Wort um. Seine Augen sahen erwartungsvoll in meine.

Das war es, was meinen gesamten Körper plötzlich mit einer ungeheuren Wut ergriff.

Erwartungen? Seine?

Und was war mit mir?

„Keine gute Idee?“, brüllte ich und machte einen Satz auf ihn zu. „DU findest, dass es keine gute Idee war?“

Ich packte ihn grob, sah ihm ins Gesicht. Seine Augen waren mir ganz nah und doch sah ich nichts darin.

„Ich…“ Mehr kam nicht über seine Lippen.

„Scheiße!“ Ich stieß ihn von mir. Zerstörungswut lief durch meinen gesamten Körper. „Verschwinde, wenn du nichts zu sagen hast!“ Ich riss die Tür auf. „Raus hier! Ich will dich nie wiedersehen!“

Er trat hindurch. Sein Blick war leer, er traf meine Augen nicht. Ich zitterte am ganzen Körper und wollte nur noch diese Tür hinter ihm zuschlagen, als leise ein „Leb wohl“ seine Lippen verließ.

Wahrscheinlich waren es diese Worte, die mich nur Sekunden, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, diese wieder aufreißen ließen. Und so merkte ich zu spät, dass er natürlich noch genau davor stand. Mit seinem Namen gerade über den Lippen stieß ich gegen ihn. Wir verloren das Gleichgewicht.

Neben ihm am Boden konnte ich nicht mehr. Ich griff nach seinem Arm, der halb unter mir lag, und hielt mich daran fest, presste meinen Kopf dagegen und blieb für einen Moment einfach nur so hocken.

Ich wollte weinen.

Aber ich tat es nicht.
 

Unser erstes Gespräch nach all den Jahren. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Ich hatte mir in meinem Kopf ausgemalt, dass er sich dafür entschuldigen würde, wie er reagiert hatte, dass ich mich dafür entschuldigen würde, unsere Freundschaft mit meinen Gefühlen zerstört zu haben. Ich hatte mir vorgestellt, dass wir darüber reden würden wie zwei erwachsene Männer, dass wir vielleicht lachen könnten und dass wir uns am Ende sinnbildlich die Hand reichen würden.

Naiv. Das merkte ich schnell. Es war vollkommen naiv, solche Aussprachen im ersten Gespräch zu erwarten.

Stattdessen bewegten wir uns wie Seilartisten auf einem ganz schmalen Draht, nachdem ich meinen Zusammenbruch im Flur überstanden und ihn wieder ins Innere meiner Wohnung gebeten hatte. Er saß mir gegenüber und eröffnete die Vorstellung mit einer der wohl dämlichsten Fragen, die unser Wortschatz in diesem Augenblick zu bieten hatte.

„Wie geht es dir?“

Am liebsten hätte ich ihn in dem Moment gefragt, ob er nicht andere Sorgen hatte, doch alles, was über meine Lippen kam, war „Gut“ und ich verbesserte mich zu einem „Sehr gut“, da ich mir nicht die Blöße geben wollte, ihm die Wahrheit zu sagen. Andererseits, mir war es wirklich schon lange nicht mehr „nicht gut“ gegangen.

„Das ist schön“, lächelte er und krampfte die Hände um das Glas, welches ich ihm gereicht hatte, sagte dann, dass es ihm auch gut ginge, nachdem ich gefragt hatte. „Was machst du im Moment?“

Ich spürte deutlich, wie meine Stimme kratzte, als ich versuchte, sie vollkommen normal klingen zu lassen. Ich erzählte ihm, dass ich noch studierte, berichtete ihm zwei, drei Dinge aus meinem Studium. Oberflächliches Zeug über Prüfungen und Praktika, belanglos, aber es half, meine Stimme ruhig zu halten, bis ich fragen konnte, was er nun mache. Ich war mir nicht sicher, weshalb ich Angst davor hatte, auch nur irgendwas von seiner Gegenwart zu erfahren.

Den Abschluss gerade in der Tasche, arbeitete er zu jenem Zeitpunkt gerade seit vier Monaten in der Firma seines Vaters. Diese Aussage überraschte mich nicht wirklich, es wunderte mich eher, dass sich dieser Plan nach all den Jahren nie geändert hatte. Schon als wir gerade die Junior High beendet hatten, hatte festgestanden, dass er eines Tages genau das tun sollte. Also war es genau so gekommen, hatte sich nicht verändert.

War wohlmöglich noch mehr gleich geblieben?

„Bist du…“ Ich brachte die Frage nicht über die Lippen. Stattdessen suchte ich einen Ehering an seinem Finger. Ich fand keinen.

Stattdessen fragte ich ihn etwas zu seiner Arbeit, feige wie ich war. Ich versuchte, ein Lächeln, als er eine Anekdote zum Besten gab, versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie weh mir dieses Gespräch tat. Es war so normal, ich sollte mich freuen, doch ich hatte mir mehr erhofft. Ich hatte gedacht, dass es anders verlaufen würde. Dabei war ich einer der Faktoren, der es von diesem anders immer weiter entfernte.
 

Letztendlich blieb Sai eine knappe Stunde bei mir. In der gesamten Zeit rang ich mit mir. Ich wollte ihn fragen, weshalb er gekommen war. Woher wusste er, dass ich hier wohnte? Weshalb war er nach all den Jahren plötzlich bereit, mit mir zu reden? Aber was genau meinte ich mit bereit? Was erwartete ich? Was erwartete er?

Die Fragen alleine verwirrten mich so sehr, dass ich sie, als er feststellte, dass er nun wohl besser gehen sollte, immer noch nicht gestellt hatte. Ich folgte ihm in die Höhe und hatte das Bedürfnis, ihn festzuhalten.

Was würde hiernach kommen?

Auf dem kurzen Weg zur Tür überlegte ich erneut, wie ich die Frage am besten formulieren könnte. Sie war menschlich, sie war ganz normal. Könnte ich ihn gehen lassen, ohne sie gefragt zu haben? Woher wusste ich, dass ich eine nächste Gelegenheit haben würde, sie zu stellen?

Fast bereit, zumindest glaube ich das, riss er mich dann jedoch aus meinen Gedanken hervor.

„Kann ich wieder kommen?“, waren die Worte, die mich ziemlich unerwartet trafen, als er mir direkt in die Augen blickte. Er versuchte ein Lächeln, senkte den Blick kurz, holte etwas hervor und hielt es mir hin.

Als ich die Visitenkarte entdeckte, konnte ich nicht anders, als meinerseits zu lächeln. Die Frage in meinem Kopf schrie lauter als je zuvor, doch jetzt konnte ich sie nicht mehr stellen. Ich hatte Angst vor der Antwort.

„Gerne“, berührte ich also bloß seine Finger ganz sacht mit meinen, als ich die Karte entgegen nahm.

Seine Augen fixierten meine noch einen Augenblick lang, dann lächelte er anders als zuvor, zum ersten Mal vielleicht wirklich ehrlich. Er verabschiedete sich und ich verstand mein jüngeres Ich sofort wieder, als er sich umdrehte, und die Treppe hinunterging. Ich verstand mich wieder, weshalb ich dieses Lächeln über alles geliebt hatte.
 

Part 79 - Ende
 

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Wir würden uns sehr über einen Besuch auf der storyeigenen Homepage freuen:

http://www.watashi-no-sekai.de/

Part 80

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Kommentar:

Ja, was soll ich sagen; es hat fast genau 3 Monate gedauert und ich bin... unzufrieden.

Jedoch möchte ich das jetzt hier gar nicht breit darlegen und mich stattdessen bei euch entschuldigen, dass es tatsächlich so lange gedauert hat.

Es ist mir sehr schwer gefallen, diesen Teil der Geschichte zu schreiben, und mit jedem Tag, der verging, wurde es schwieriger....

Dennoch hoffe ich, dass einige von euch uns noch nicht verlassen haben und dieses Kapitel nun gerne lesen werden.

Unsere Bemühungen stehen, dass es schnell weiter geht, doch wirklich versprechen möchte ich euch an dieser Stelle nichts, außer wie wohl in letzter Zeit jedes Mal: es wird weiter gehen,

und hoffentlich ein wenig schneller dieses Mal ;)

Vielen Dank an allen treuen Leser... und nun viel Spaß mit diesem doch ziemlich langen Kapitel ^^**
 

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Tatsuya (by Stiffy)
 

In den ersten Tagen nach dieser ersten Begegnung mit Sai stand ich wohl vollkommen neben mir. Jeden Morgen erwachte ich mit dem Gedanken, dass es mit Sicherheit nur ein Traum gewesen war, doch dann fand ich auf meinem Nachttisch die Visitenkarte vor, auf der so deutlich „Shino Sai“ stand, dass ich nicht anders konnte, als sie minutenlang anzustarren. Ich konnte es kaum glauben und ich wusste nicht, was mich erwartete, wenn ich es irgendwann glauben würde. Ich wusste nicht, was ich dann erwarten würde, also schob ich es vor mir her, wirklich darüber nachzudenken, sprach auch mit Ryouta nur gefühlte drei Worte darüber, als er mich sorgenvoll anblickte.

Mit jedem Tag, der verging, wurde ich unsicherer, ob Sai von mir erwartete, dass ich mich meldete. Hatte er mir aus dem Grund seine Visitenkarte gegeben, weil er von alleine nicht ein zweites Mal herkommen würde? Ich war mir nicht sicher und ich wollte es auch nicht sein, denn eigentlich hatte ich Angst davor, den nächsten Schritt zu machen.

Am Ende tat ich es doch. Ich rief die Nummer an und ließ zehn Mal klingeln. Eine halbe Stunde später versuchte ich es erneut, weitere zwei Stunden später noch mal. Dieses Mal wurde abgenommen, doch es war nicht Sai, sondern irgendjemand, dessen Namen ich sofort wieder vergaß. Ich nannte meinen und dann legte ich auf. Noch einmal würde ich es nicht probieren.
 

Es war der Abend desselben Tages, als Sai genauso überraschend wie beim ersten Mal vor meiner Tür auftauchte. Ich hatte versucht anzurufen, lächelte er, und ich ließ ihn in meine Wohnung. Ich sog sein Bild in mir auf, als er mir im Sofa gegenübersaß, denn in den letzten Tagen hatte ich das Gefühl gehabt, sein heutiges Ich schon wieder aus den Augen verloren zu haben.

Zwei Sätze seinerseits verrieten, dass er ebenso wie beim letzten Mal, darauf aus war, sich normal mit mir zu unterhalten. Ich, der ich aber tagelang genau um diese Möglichkeit herumgeschlichen war, merkte nun, dass ich mich nicht bereit dazu fühlte. Ich konnte unsere Vergangenheit nicht einfach so ruhen lassen.

„Warum bist du hier?“, traf ihn meine Frage deshalb mitten im Satz.

Er wurde sofort kreidebleich, wich meinem Blick aus, sagte nichts.

„Es muss doch einen Grund geben, dass du plötzlich wieder hier auftauchst…“, hakte ich weiter nach. Ich war selbst darüber verwundert, wie sicher ich klang.

„Vor Jahren...“, begann er schließlich leise. „Vor Jahren habe ich einen Freund verloren... Ich vermisse ihn schrecklich...“ Er hob den Blick ein wenig, wagte aber noch immer nicht, mir in die Augen zu sehen. „Ich habe viel zu spät gemerkt, wie wahnsinnig wichtig er mir war...“

„Auch er hat seinen wichtigsten Freund verloren.“

Sai nickte leicht. „Ja... ich weiß, dass ich ihn sehr verletzt habe.“

„Du weißt nicht, wie sehr.“

Er fingerte am Bund seines Pullovers herum. Immer noch die gleiche, nervöse Geste. Früher fand ich sie niedlich, an diesem Tag machte sie mich wahnsinnig. Ich sprang auf, Sais Blick fuhr zu mir in die Höhe.

„Weißt du eigentlich…“ Ich verkrampfte meine Finger. Ich wollte nicht schreien, aber ich wusste, was ich ihm alles entgegenbrüllen wollte. Es staute sich in mir, schon seit so langer Zeit… wie hätte ich ruhig bleiben können?

Also blieb ich es nicht. Mit jedem Wort, das ich aussprach, wurde ich lauter, wütender. Ich schrie ihn an, wie sehr er mich damals verletzt hatte; dass ich ihm nur endlich die Wahrheit hatte sagen wollen; dass er mich so unglaublich enttäuscht hatte; dass er sich schon so viel früher wieder bei mir hätte melden müssen; wie er denn plötzlich auf die Idee käme, mir nach sechs Jahren einfach verzeihen zu können.

Er versuchte, dazwischen zu kommen, auch etwas zu sagen, doch ich ließ ihn kaum, wollte es gar nicht hören. Es tue ihm leid, das sagte er immer wieder, doch ich hörte ihm nicht zu, konnte mich plötzlich nicht mehr bremsen, während ich spürte, wie Tränen aus meinen Augen rannen und ich ihn immer noch aus tiefstem Herzen anschrie. Plötzlich war alles wieder da, aller Schmerz, meine Verzweiflung, die unbändige Enttäuschung; plötzlich war es, als hätte ich diese Gefühle niemals vergessen. Nun rissen sie mich mit.

Doch dann, in der nächsten Sekunde, spürte ich, wie sich Arme um mich schlangen. Sie kamen unerwartet, schnell, zu fest, als dass ich sie hätte fort schlagen können. Erst versuchte ich es, doch nur eine Sekunde lang, in der ich meinen Satz nicht beendete, die nächsten Worte verschluckte und dann plötzlich an seinem Körper zusammenbrach, in seinen Armen, an der Brust des Menschen, der ich wie niemanden sonst vermisst hatte.

Es war diese Gewissheit, die mich nicht aufhören ließ, zu weinen. Es brannte in meiner Brust und es war mir so unglaublich peinlich, kam mir so schrecklich schwul vor, und doch konnte ich meine Tränen an dieser Stelle nicht mehr zurückhalten. Gleichzeitig ergriff mich die Angst, dass er mich jede Sekunde von sich stoßen würde, um mir zu sagen, dass ich ihn noch immer anekelte. Hätte er es getan, hätte ich nicht gewusst, wie ich es aushalten sollte, doch zum Glück tat er es nicht. Stattdessen sprach er noch bestimmt zehn Mal dieselben Worte in mein Ohr: „Es tut mir leid.“
 

Das Gespräch, welches wir nach meinem peinlichen Nervenzusammenbruch führten, entsprach viel eher dem, welches ich erwartet hatte. Er erklärte mir zwar nicht direkt, weshalb er damals so dermaßen negativ reagiert hatte, aber sagte stattdessen immer wieder, dass er es bereut habe, dass er sich schon lange bei mir hatte melden wollen.

„Du fehlst mir“, waren die Worte, welche sich am meisten in mein Gehirn fraßen, „Es gab Zeiten, da hätte ich dich wirklich gebraucht…“

In dieser Phase unseres Gespräches kam von mir sehr wenig. Ich hörte nun mehr zu als etwas zu sagen, als noch mehr Vorwürfe laut werden zu lassen. Was hätte ich auch sagen sollen? Mein Standpunkt war klar, zumindest was unsere Vergangenheit anging… die auch das einzige war, was er wirklich ansprach. Er kam nicht auf die Gegenwart zu sprechen.

„Ich habe mich verändert...“, sprach ich also irgendwann diesen Teil des Themas an, als er geendet hatte und die Stille schon wieder versuchte, mich verrückt zu machen. „Ich bin nicht mehr wie früher... Ich liebe Männer, Sai, ich schlafe mit ihnen, weil ich es so will... Ich habe Freunde, schwule Freunde, und viele Leute wissen die Wahrheit über mich. Ich bin nicht mehr der Selbe. Das muss dir klar sein.“

Ich sah ihn an. Früher war es so leicht gefallen, sich in seinen wunderschönen Augen zu verlieren, einfach an nichts zu denken, und darin einzutauchen, doch jetzt schaffte ich es nicht. Sein Blick war dem von früher so fremd, seine Augen so anders, obwohl es doch dieselben waren. Ich wusste einfach nicht, was ich in ihnen lesen sollte. Ich erkannte nicht einmal, wo in alle dem die Wahrheit vergraben lag. Bis er lächelte, ein sanftes, ehrliches Lächeln, so unschuldig schön.

„Ich weiß.“

Mir wurde ganz heiß, als er mich nun weiterhin mit diesem Blick ansah. Ich wollte etwas sagen, doch ich wusste nicht, was. Dann kam er mir zuvor. Ich verneinte die Frage nach einer aktuellen Beziehung, und natürlich musste ich ihm nun die Gegenfrage stellen. Dabei war ich mir nicht sicher, ob ich es wissen wollte. Wollte ich hören, dass er nun verlobt war… wollte ich von dieser Chiga Hinako hören?

Mit neunzehn habe er sie kennengelernt, sprach er in meinen inneren Zwiespalt hinein. Seinen Eltern war es denkbar egal gewesen, dass er gerade eine neue Freundin gefunden hatte, sie schleiften ihn dennoch mit zu diesem Treffen. Das Thema der geplanten Heirat war in den Jahren zuvor nicht ein Mal mehr aufgenommen worden. Sai flippte aus, doch es brachte nichts, seine Braut wurde ihm dennoch vorgestellt, egal wie sehr er vor hatte, sie zu hassen.

„Versteh mich nicht falsch“, zuckte er nun mit den Schultern und sah an mir vorbei. „Hinako ist sehr sympathisch, das habe ich auch gleich gemerkt… aber kannst du dir vorstellen, wie gerne ich ihr den Hals umgedreht hätte?“

Er lächelte und ich tat es ebenso, hörte ihm weiter zu, wie er davon sprach, dass er ab sofort sozusagen dazu verpflichtet war, sich mit ihr zu treffen. Seine eigentliche Beziehung ging darüber verständlicherweise den Bach runter, während er immer wieder etwas mit dem fremden Mädchen unternahm, das der ganz langsam ins Herz schloss. Ein Jahr später zogen sie zusammen.

„Liebst du sie?“, kam es schwach über meine Lippen, als ich das Lächeln sah, welches er mittlerweile trug.

„Ja.“ Er nickte und sah mich wieder an. „Ich glaube, mittlerweile tue ich das.“
 

~ * ~
 

Ich lernte Chiga kennen, keine zwei Wochen, nachdem er mir von ihr erzählt hatte, zunächst allerdings lernte er meine Freunde kennen. Ryouta, der als einziges die Wahrheit kannte, hatte ich schon zuvor alles erzählt. Ich musste es einfach tun, musste darüber reden, was in mir vorging, musste loswerden, dass ich das Gefühl hatte, alles für diese Freundschaft zu geben, wenn sie nur bestehen bleiben würde. Ob es verrückt sei, wollte ich wissen, doch Ryouta lächelte nur und sagte mir, dass er es verstehe.
 

Ich kann mich nicht mehr ganz genau an meinen ersten Eindruck von der Frau an Sais Seite erinnern. Er war nicht negativ, aber gewiss auch nicht das Gegenteil. Sie lächelte für meinen Geschmack bereits bei unserer ersten Begegnung viel zu wenig, wirkte zu distanziert. Es ließ mich an Karlin denken und an die anderen Mädchen, die ich im Laufe unserer Freundschaft erlebt hatte. Sie waren fröhlicher gewesen, meinte ich mich zu erinnern, mitreißender. Chiga hingegen war ernst. Zwar sagte sie den typischen Satz „Schön, Sie kennenzulernen“, doch es klang nicht so, als würde sie es wirklich so meinen. Zunächst dachte ich noch, dass ihr Verhalten vielleicht mit mir speziell zusammenhing, doch ich bemerkte denselben Umgang mit Kida und Sakuya, eigentlich mit allen ihr fremden Leuten. Und das wunderte mich zunehmend. Ich hatte nicht gedacht, dass Sai eine Frau wie sie mögen könnte – doch schnell musste ich mir eingestehen, dass ich das doch eigentlich gar nicht mehr wissen konnte. Ich kannte ihn nicht mehr, ich wusste nicht, was er mochte, was ihm gefiel. Woher sollte ich wissen, wie stark sich sein Denken vielleicht verändert hatte?

Also sagte ich nicht zuletzt aus diesem Grunde nichts, sondern versuchte meinerseits, mit ihr klarzukommen, sie zum Lächeln zu bewegen, eine gewisse Freundlichkeit mit ihr zu bilden. Was sollte ich auch anderes tun? Wenn ich ein Teil von seinem Leben werden wollte, so musste ich mich mit diesem anderen Teil anfreunden. Das war schwer zu begreifen, und dennoch war es eine Tatsache.
 

Natürlich war Chiga nicht das einzig Fremde an Sai, das ich kennenlernen musste, da war noch viel mehr. Ich kannte ihn nicht als Geschäftsmann, überhaupt kannte ich ihn nicht als erwachsenen Mann. Ich tat in der ersten Zeit schwer daran, nicht ständig an früher zurückzudenken. Es war nicht mehr wie früher, würde nie mehr so sein. Wir waren beide vollkommen unterschiedliche Menschen geworden und auf dieser Basis mussten wir nun versuchen, uns anzunähern, wenn wir wirklich eine Chance haben wollten.

Also mussten wir herausfinden, welche Interessen der andere nun hatte, was er gerne im Fernsehen sah, was er gerne aß. Ganz banale Sachen und doch essentiell, um eine gewisse Ebene aufzubauen, die zumindest ich anstrebte. Aber ich glaube, er tat es auch, denn er fragte mich ebenso belanglose Dinge und hörte interessiert zu, wenn ich über langweilige Vorlesungen sprach. Wir hatten wohl beide den Entschluss gefasst, den anderen in unser Leben zu integrieren… bedeutete nicht allein das schon einen Schritt in die richtige Richtung?
 

Schwer, zumindest für mich, war jedoch weiterhin das Thema schwul. Ich vermied es nicht vollkommen, wie ich dies früher getan hatte, aber ich versuchte es dennoch so selten wie möglich zur Sprache zu bringen. Ich hatte im Grunde keine wirkliche Ahnung, was er heute darüber dachte, und da ich nicht wagte, zu fragen, war meine Angst zu groß, ihn zu überfordern. Auch wenn wir mit Kida und Sakuya oder mit Ryouta ab und an etwas unternahmen, so kam das Thema doch lange nicht auf. Stattdessen beobachtete ich Sai noch genauer als sonst, sah ihm in die Augen, wenn er mit Kida sprach, versuchte irgendetwas Negatives in Ihnen zu entdecken. Ich fand nichts und das beruhigte mich ungemein, mit jedem Treffen mehr.
 

Doch all dies Kennenlernen ging langsam vonstatten. Anders als früher waren wir beide fast den gesamten Tag beschäftigt. Die Uni nahm mich in Beschlag, ihn die Arbeit. Wenn er Zeit hatte, musste ich kellnern, und während meiner Vorlesungspausen saß er im Büro.

Aus diesem Grund wurde das doubleX unser fast üblichster Treffpunkt. Zwei bis drei Mal die Woche verbrachte Sai hier die Zeit an meiner Theke, beobachtete mich, lachte mit mir, oder saß einfach da und las eine Zeitschrift. Diese letzteren Momente ließen es zu, dass ich ihn genauer ins Auge fassen konnte. Ich benötigte weniger Aufmerksamkeit für die Arbeit als er annahm, weshalb meine Augen oft auf ihm ruhten.

Ich konnte nichts dagegen tun. Auch wenn ich ihn wieder und wieder sah, konnte ich mich nicht voll und ganz an seinen neuen Anblick gewöhnen. Das Blond, welches immer weiter wich, stand ihm ohne Frage gut, aber es war so vollkommen ungewohnt. Es wirkte auf mich manchmal, als würde er eine Perücke tragen, als wolle er irgendwas unter ihr verbergen. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte ich wochenlang das Bedürfnis, das gebleichte Haar zu berühren, wie um zu sehen, ob es wirklich zu ihm gehörte. Als ich es schließlich tat, war es nicht geplant gewesen.
 

Damals war es eigentlich wieder nur irgendein Tag in der Bar, Sai las einen Bericht über Nanotechnologie und ich hatte gerade die letzte offene Bestellung zum Tisch gebracht. Ich stellte mich neben ihn, sah ihm über die Schulter, deutete an, auch lesen zu wollen. In Wirklichkeit nahm ich kein einziges Wort auf. Ich wusste ungefähr, was in dem Bericht stand, hatte ich ihn doch bereits Tage zuvor während einer Vorlesung gelesen, doch nun war er ein willkommener Vorwand, kurz neben Sai innezuhalten. Dabei berührten wir uns nicht und dennoch sog ich die Nähe ein. Ich vermisste sie, ich wünsche mir schon lange, ihn mehr zu berühren. Ich war schon immer ein Mensch der Berührungen gewesen, doch bei ihm traute ich es mich nicht mehr, obwohl meine Hände doch ständig nach ihm zucken wollten.

Nun genoss ich den Moment, als Sai plötzlich den Kopf drehte und mich irgendwas fragte. Es war etwas Unwichtiges, hatte was mit dem Artikel zu tun, doch die plötzliche Nähe seines Blickes ließ mich die Worte nicht verstehen. Ich konnte ihn nur anstarren, der Atem blieb mir weg. So nahe erkannte ich, dass seine Augen doch dieselben geblieben waren. In ihnen lag ein mir so bekannter Ausdruck. Wochenlang hatte ich ihn nicht gesehen, doch nun war er da, und er ließ mir das Herz bis zum Halse schlagen. Ich hatte stärker als zuvor das Verlangen, ihn auf der Stelle zu berühren. Ich wollte ihm nahe sein, ganz plötzlich und unvermittelt. Ich kam selbst nicht damit klar.

Aus meiner Starre befreite mich schließlich das Schellen an der Eingangstür des doubleX. Ich zuckte zusammen und ich riss meine Hand zurück, stotterte eine Entschuldigung und trat um den Tresen herum. Während ich die zwei neuen Gäste begrüßte, spürte ich das Brennen meiner Finger. Ich hatte nicht einmal gemerkt, wie ich sie nach der blonden Haarsträhne, die ihm ins Gesicht gefallen war, ausgestreckt hatte. Ich hatte es nicht eine Sekunde lang bewusst getan, und doch konnte ich nun plötzlich die Wärme seiner Wange unter meinen Fingerspitzen fühlen. Sie war da gewesen, ebenso wie dieser Moment.

Wieso um alles in der Welt ließ er so etwas passieren?
 

Sai sprach es nicht an und auch sonst zeigte er mit keinem Blick, keiner Geste, dass es überhaupt wirklich geschehen war. Er verhielt sich die zwei Stunden, die er anschließend noch bei mir im doubleX blieb, so wie immer, und als er ging, erinnerte er mich noch mal an den geplanten Kinobesuch in zwei Tagen. Chiga würde mitkommen und ich hatte Kida gefragt; in dieser Sekunde galt für mich jedoch nur, dass er mich immer noch dabei haben wollte. Ich wusste, dass ich in den nächsten knapp 44 Stunden über nichts anderes nachdenken würde.

Und genauso war es. Der Moment der Berührung wollte meine Aufmerksamkeit nicht loslassen. Er musste es bemerkt haben. Meine Finger hatten ihn berührt, mehr als nur eine Sekunde lang, die Strähne war vor seinen Augen gewichen, die Stille zwischen uns musste auch ihm bewusst gewesen sein. Wie konnte er trotzdem ganz normal an den Kinobesuch denken, als sei nichts gewesen? Erschreckte ihn meine Berührung nicht? Verstand er nicht, dass sie nichts Normales war?

Denn das war sie ganz und gar nicht; mir bedeutete es mehr als das reine Aufeinanderlegen von Haut. Mich hatte es elektrisiert und mitgerissen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn mein Unterbewusstsein mich nicht an einem öffentlichen Ort gewusst hätte? Ob ich ihn geküsst hätte? Ich zweifelte schlimmer Weise nicht besonders stark daran.
 

Es gefiel mir nicht, das, was mir in den Stunden bis zum Kinobesuch durch den Kopf ging. Hatte ich zuvor bewusst wirklich nur an Freundschaft gedacht, hatte mich die Berührung wieder in eine andere Richtung denken lassen. Es war zwar nicht so, dass ich bereits wieder von Liebe gesprochen hätte; ich konnte ihn nicht mehr lieben, dafür war zu viel Zeit vergangen; doch war da mehr als ein rein platonisches Gefühl. Er war ein hübscher Mann geworden, das stellte ich immer wieder fest, wenn ich ihn beobachtete. Er hatte ausgeprägte, interessante Gesichtszüge, ein mitreißendes Lächeln, zumindest für mich. Hätte ich ihn nicht gekannt, hätte ich definitiv mein Auge auf ihn geworfen... eigentlich ist es nur logisch, dass ich es nun nur umso stärker tat.

Diese Gedanken machten mich verrückt. Sie gefielen mir nicht, ich kam mir vor, als würde ich ihn betrügen, der er doch immerhin eine Freundschaft mit mir aufbauen wollte. Ich jedoch entwickelte schon wieder Gefühle in eine Richtung, die uns damals zerstört hatte. Das konnte nicht so sein; nein, das durfte definitiv nicht so sein.
 

Ich hatte Angst vor dem Kinobesuch, da ich, aufgrund meiner plötzlich so verwirrten Gedanken, nicht genau wusste, wie ich auf Sai reagieren würde. Ich hatte Angst, dass man mir etwas anmerken würde, dass man merken könnte, dass mir plötzlich noch viel mehr durch den Kopf ging als nur ein paar Tage zuvor. Aus nicht zuletzt diesem Grunde war ich unglaublich froh, bereits Kida gefragt zu haben. Nun war er meine Ablenkung, die ich brauchte, der Punkt, auf den ich mich konzentrieren könnte, während ich Sai und Chiga zusammen erlebte. Letztendlich, das muss ich heute sagen, hätte es mit oder ohne ihn wohl keinen Unterschied gegeben.

Zwar klebte während und auch nach dem Kinobesuch Chiga die meiste Zeit an Sai, doch ihn hinderte das nicht daran, sich mit mir über das Programm der nächsten Woche auszutauschen, oder während des Filmes hier und da Bemerkungen in meine Richtung fallen zu lassen. Diese ungezwungene Art erleichterte mich dermaßen, dass ich über sie die andere Person an meiner Seite ein wenig vernachlässigte, was mir erst nach dem Kinobesuch wirklich bewusste wurde. Hier versuchte ich es zu ändern, bezog Kida mit ein, doch Chiga war weiterhin außen vor. Es überraschte mich, dass Sai so wenig Initiative in ihre Richtung zeige, doch gleichzeitig störte es mich nicht im Geringsten, so gemein und egoistisch das nun auch klingen mag. Erst als wir in einer kleinen Bar saßen und das Thema dermaßen wandelten, dass Chiga auch teilhaben wollte, konnte ich sie an seiner Seite in meinem Kopf nicht mehr ganz ignorieren. Zwar hatte ich es früher fast perfektioniert, seine Freundinnen wie jeden anderen Menschen auch zu behandeln, doch bei Chiga fiel mir diese Übung schwer. Selbst die ordentliche Portion Erwachsensein hielt mich nicht davon ab, mein sehnendes Gefühl in mir drin wahrzunehmen. Mit jeder Sekunde wurde es stärker und dies war es wohl, was mich letztendlich in eine andere Richtung einen Fehler begehen ließ.
 

Ich hatte nicht vorgehabt, Kida zu küssen. Ich sah ihn nicht auf diese Weise, und doch, als er in der Bahnstation zuließ, dass ich meine Arme um ihn schlang, genoss ich seine Nähe ziemlich. Sie tat mir gut und sie schürte das Verlangen nach einer anderen Nähe, die ich erwartete, nie haben zu können; sie brachte mich dazu, meine Lippen kurz auf seine zu legen und damit im Endeffekt einen größeren Sturm auszulösen, als wir beide in dieser Sekunde dachten.

Mir war so schnell, wie ich es getan hatte, bewusst, dass ich so etwas nicht tun durfte. Ich hatte bereits eine Freundschaft durch einen Kuss verloren; zwar waren in diesem Fall meine Gefühle anders, doch gerade deshalb sollte ich eigentlich nicht so dämlich sein.

Ich wusste nicht wirklich, wie ich mich bei ihm entschuldigen sollte, damit er mich verstand. Er wusste noch immer nichts von Sais und meiner Vergangenheit, ich konnte es ihm an dieser Stelle erst recht nicht sagen. Also konnte ich lediglich sagen, wie leid es mir tat, dass ich nicht in diese Richtung dachte… und ich hoffte, dass es uns nicht irgendwie verändern würde. Dass es dass erst zwei Monate später tun würde, damit rechnete ich natürlich nicht.
 

~ * ~
 

Nach dem Kinobesuch verging die Zeit für mich manches Mal wie im Zeitraffer. Oft hatte ich das Gefühl, einfach neben mir zu stehen, mir bei meinem eigenen Schauspiel zuzusehen. Dann beobachtete ich mein eigenes Lächeln, welches auf mich künstlich wirkte, beobachtete mein Herz, wie es lernte, immer schmerzhafter zu schlagen. Ich konnte das Gefühl nicht mehr unterdrücken, Sai berühren zu wollen, ich konnte nicht aufhören, an seine Lippen zu denken. Oftmals schloss ich die Augen und versuchte, mich an den damaligen Kuss zu erinnern, der uns zerstört hatte. Einerseits tat ich dies, um mich selbst zur Vernunft zu rufen, mir zu zeigen, dass meine Gefühle mich zu nichts führen würden… doch andererseits wollte ich mich so gerne an die Beschaffenheit seiner Lippen erinnern. Natürlich hatte ich noch nicht mal eine grobe Ahnung davon.

Mit der Zeit, die verging, und je öfter ich an damals zurück dachte, desto häufiger fragte ich mich, ob Sai mir je sagen würde, weshalb er damals so extrem negativ auf mich reagiert hatte. Nun, da er wieder bei mir war, konnte es keine allgemeine Abneigung gegen das Schwulsein sein, was also sonst? Was hatte ihn damals so weit getrieben, unsere Freundschaft zu beenden? Gäbe es für mich eine Möglichkeit, das herauszufinden? Würde er es mir sagen, wenn ich ihn fragte?
 

Es war der Abend von Sais 23. Geburtstag, als ich ihm tatsächlich eben diese Frage stellte. Er hatte keine Party geplant, wollte nicht feiern, doch ich hatte mich angekündigt und natürlich auch ein kleines Geschenk für ihn besorgt. Dies gab ich ihm jedoch erst, als Chiga ins Bett gegangen war und Sai und ich zusammen vor dem Fernseher saßen. Ich war nervös, da ich wusste, dass mein Geschenk langweilig und unpersönlich war. Mittlerweile war ich mir nicht mal mehr sicher, ob ich es ihm überhaupt geben wollte, doch ich hatte es gekauft und ich wäre mir wirklich blöd vorgekommen, ihm überhaupt nichts zu schenken. Also holte ich es hervor.. Er stellte den Fernseher etwas leiser und drehte sich mir zu, als ich ihm das kleine Päckchen in die Hände legte.

Es war ein Buch.

„Ich hätte dir gerne etwas Anderes geschenkt, doch noch weiß ich zu wenig, was dir heute gefällt. Ich habe nicht mitbekommen, wie du dich verändert hast, sonst wäre es persönlicher geworden.“

Sais Lächeln, das er beim Auspacken soeben noch getragen hatte, verschwand nun. Er senkte die Augen einen Moment lang und drehte den Wälzer in seinen Händen. Als er wieder aufblickte, war sein Blick traurig. Mich erschreckte es; das hatte ich nicht erreichen wollen.

„Es tut mir leid“, sagte er ganz leise und klang sehr traurig dabei.

„Das sagtest du bereits. Es ist okay“, nickte ich vorsichtig, unsicher. Ich hatte ihn nicht traurig machen wollen, ganz gewiss nicht, ich hatte nur meine blöde Wahl erklären wollen. Nun wusste ich nicht, wie ich ihm eben das erklären sollte.

„Ich weiß, aber eine einfache Entschuldigung ist so wenig... Ich würde es dir so gerne erklären, aber das würde ja eh nichts bringen, und-“

„Tu es!“, unterbrach ich ihn urplötzlich. Hatte ich nicht genau darauf gewartet?

„Was?“

„Erklär es mir.“ Ich unterdrückte das Verlangen, nach ihm zu greifen. „Sag mir, warum bist du damals gegangen?“

Seinen Augen fiel es schwer, noch immer in meine zu sehen, das erkannte ich deutlich. Er drehte das Buch erneut ein paar Mal herum, dann legte er es endlich weg. Nun hielt er sich wieder am Bund seines Pullovers fest und seine Augen senkten sich. Er schluckte hörbar.

Je länger ich ihn ansah, desto weniger verstand ich. Warum zögerte er so lange? Was war der Grund, dass er es nicht aussprechen konnte? Dacht er, ich würde ihn hassen? Wusste er denn nicht, dass ich das nie tun könnte?

„Weil ich…“, kämpfte sich schließlich etwas aus seiner Kehle hervor. „Weil ich damit nicht umgehen konnte.“

Ich sah, dass er die Augen geschlossen hatte und schwer atmete, als würde ihn all das einen Marathonlauf abverlangen.

„Aber heute kannst du es doch auch... Ich bin immer noch schwul und trotzdem tust tu-“

„Nicht du.“

Die Augen rissen auf, verzweifelt sahen sie mich an.

„Was meinst du?“ Ich war vollends verwirrt.

„Ich meine...“ Er sah weg, sah mich wieder an. Seine Stimme zitterte bei jedem Wort. „… natürlich war es komisch, dass du schwul und ausgerechnet in mich… es überforderte mich und ich hatte keine Ahnung, wie ich dich ansehen sollte… aber doch nicht deshalb...“ Er richtete sich plötzlich auf, in einer abrupten Bewegung. Sein Gesichtsausdruck war vollkommen starr. „Ich werde es dir sagen, aber danach möchte ich das Thema beenden, okay? Ich will nicht weiter darüber reden, also wenn du es wissen willst-“

„... dann sag ich nichts dazu. Einverstanden.“

Ein Nicken, ganz, ganz zögerlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, was so schlimm sein sollte. Nirgends fand ich etwas, das schlimmer sein könnte, als der Ausdruck von Verabscheuung. Doch das würde nicht kommen, da war ich mir sicher. Was war also stattdessen so schwer für ihn, auszusprechen?

„Ich konnte nicht… damit umgehen, dass ich… dass mir der Kuss gefallen hat. Ich hatte vorher nicht ein Mal über dich auf diese Weise gedacht, doch als du es getan hast… es… der Kuss… es war so normal… und ich... ich konnte mit mir nicht umgehen, verstehst du? ... Mit meinen eigenen Gefühlen.“

Das saß.

Wenn mich je im Leben etwas unvorbereitet getroffen hatte, so war es nun vergessen. Überhaupt vergaß ich alles in dem Augenblick, als wir uns auf dem Sofa gegenüber saßen und er eben diese Worte gesprochen hatte, welche ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Vorstellungen ausgemalt hatte. Sie schwirrten durch meine Sinne, durchfuhren meinen Körper, gruben meine Erinnerungen um. Seine Wut von damals flackerte vor meinen Augen auf, wie er förmlich den Schrank zusammenschlug. Hatten diese Aggressionen damals etwas gar nichts mit mir zu tun? Galten sie… ihm?

In jenem Moment, nach jener Eröffnung, war ich sprachlos. Natürlich war da der Impuls, ihn auf der Stelle zu küssen, doch das tat ich nicht, natürlich nicht. Er sprach von damals, nicht von jetzt, und außerdem... er wollte nicht... ich hatte es versprochen... ich...

Ich sprang auf, denn das war der Moment, in dem ich nicht mehr konnte. Ich konnte ihm nicht mal mehr eine Sekunde so ruhig gegenübersitzen.

Auch er sprang auf, wollte nach mir greifen, doch ich wich zurück.

„Tatsu-“

„Ich werde nicht fragen“, sprach ich mit kraftloser Stimme und hob die Hände. „Ich werde nichts dazu sagen… aber ich… ich kann auch nicht so tun, als hättest du nichts gesagt. Deshalb...“

Ich schüttelte den Kopf, verkündete dies, ohne ihm in die Augen zu sehen. Ob er sonst den Sturm hätte lesen können, der in mir tobte? Ich spürte ihn so deutlich, er schien mich umzureißen.

Ich ging und Sai hielt mich nicht auf, startete noch nicht mal den Versuch dazu.

Ich rannte bis zur Station, um mich auszupowern, um nicht in Gefahr zu laufen, jede Sekunde wieder umzudrehen; und als ich in der Bahn saß, wollte ich schreien.

Es kam mir so unwirklich vor, das konnte nicht der Wahrheit entsprechen.

Wie um alles in der Welt kam er plötzlich dazu, mir etwas Derartiges zu sagen?

Hätte er es nicht, verdammt noch mal, für sich behalten können?

Warum zum Teufen hatte ich auch fragen müssen?
 

Ich brauchte fast eine ganze Woche, bis ich das Gefühl hatte, wieder normal mit ihm reden zu können. In diesen Tagen war mir nichts anderes durch den Kopf gegangen, egal wie sehr ich versuchte, nicht daran zu denken. Ich besuchte jede einzelne Vorlesung, selbst zwei, die ich gar nicht benötigte. Ich legte Extraschichten im doubleX ein und ich verabredete mich mit allen möglichen Leuten. Ryouta war natürlich der einzige unter ihnen, der verstand, dass mein aufgesetzt lustiges Verhalten etwas mit Sai zutun hatte, doch selbst ihm konnte ich nicht sagen, was in mir vorging. Hätte ich die Eröffnung in Worte gefasst, so wäre sie noch wahrer geworden.

Ich brauchte fast eine ganze Woche, bis ich mich endlich zur Vernunft rief. Wieder und wieder hatte ich die Tatsache gewendet, sie von allen Seiten betrachtet… doch was änderte sie? Egal was der Grund gewesen war für unsere Trennung, das Entscheidende war doch immer noch, dass es mit meiner Homosexualität zusammengehangen hatte. Wenn ich Sai nie geküsst hätte, hätten wir uns nie trennen müssen. Also war es doch letztendlich immer noch mein Fehler, egal was ihn dazu veranlasst hatte, den Kontakt letztendlich zu beenden.

Dieser vernünftige Gedanke tat interessanter Weise relativ gut und brachte mich auch dazu, mich endlich wieder bei Sai zu melden. Er wirkte erleichtert, als er mir am anderen Ende entgegenkam, und wir verabredeten uns im doubleX. Hier würde ich nicht Gefahr laufen, einen Fehler zu begehen, hier würde ich das Thema nicht ansprechen. Und das tat ich auch nicht, egal wie oft es mir an diesem Abend durch den Kopf ging. Wann immer ich in seine Augen blickte, waren da wieder seine Worte in meinen Ohren. Ich erkannte sie plötzlich in dem tiefen Schwarz als habe sich der Nebel gelichtet. Plötzlich schien mir sein Blick klarer als je zuvor, auch wenn ich mir das wohl nur einbildete; dennoch, immerhin wusste ich plötzlich etwas, das ich am liebsten nie erfahren hätte.

Ich musste eine Frage immer wieder verdrängen: Was wäre gewesen, wenn ihn seine Gefühle damals nicht erschreckt hätten?
 

Wie ich es ihm versprochen hatte, sprachen wir nicht über seine Worte. Dass ich sie aber nicht vergessen konnte, merkte er mir wahrscheinlich an, da ich ihm nun öfter direkt in die Augen sah als zuvor. Und sie bewirkten, dass die Gedanken, welche schon so lange in mir schwirrten, immer stärker wurden, die Gefühle, welche ich mit Absicht nicht in Worte fasste. Sie steigerten sich von Tag zu Tag, die Sehnsucht, noch viel mehr Zeit mit ihm zu verbringen, schien mich fast wahnsinnig zu machen. Ich wollte ihn berühren, immer wieder, überall, ich wollte ihn nur ein Mal in die Arme nehmen, ihn ein Mal küssen. Wie würde er heute darauf reagieren?

Diese Gedanken stauten sich auf, immer weiter, bis zu dem Tag, als bei Sakuya die vorgezogene Silvesterparty stieg.

Ich hatte nicht gedacht, dass ich derart meine Kontrolle über mich verlieren würde.
 

Eigentlich war es von Anfang an eine schöne Party gewesen. Der Faktor, der sie mir etwas vermieste, war Chiga. Noch immer hatte ich mich nicht mit ihr anfreunden können. Ich glaube, ich habe niemanden in meinem Freundeskreis so lange mit Nachnamen angeredet wie sie. Das war ungewöhnlich für mich, doch ihr schien es anders nicht zuzusagen; wirklich böse war ich aber eigentlich gar nicht darüber. Mittlerweile hatten sich meine Gefühle für sie ausgeprägt in die negative Richtung entwickelt. Ich mochte sie einfach nicht, auch wenn ich wohl nicht ganz so objektiv bei dieser Entscheidung war, wie ich es eigentlich sein sollte. Ich konnte mit ihr einfach nichts anfangen und sie nicht mit mir. Sie verstand Sai nicht und ich verstand ihn ebenso wenig. Ich war nur froh, dass er sich von ihr nicht wirklich etwas sagen ließ. So auch an diesem Abend, an dem sie schon so früh hatte gehen wollen. Sai überredete sie, wenigstens bis nach Mitternacht zu bleiben, doch kaum war dieser Zeitpunkt erreicht, wollte sie definitiv los.

Ich hatte nicht erwartet, dass er sich gegen sie stellen würde, doch Sai war angetrunken, sehr gut drauf. Er wollte einfach noch nicht gehen und ich, der ich noch länger mit ihm zusammenbleiben wollte, hatte natürlich überhaupt nichts dagegen.

„Spaßverderberin“, murrte Sai, als seine Verlobte endlich gegangen war und er anschließend mit einer von Kidas Freundinnen ausgelassen die Tanzfläche erkundet hatte. Er lehnte bei mir an der Theke und beobachtete mich. „Gut, dass du nicht so bist!“

„Meinst du nicht, du solltest ihr nach?“, ging ich nicht darauf ein, sondern versuchte, vernünftig zu sein. In den letzten Minuten, in denen ich ihn beobachtet hatte, war mir klar geworden, dass es mir nichts bringen würde, wenn Chiga sauer auf Sai war. Im Endeffekt würde sie mich nur noch mehr hassen.

„Nö.“ Plötzlich zog er an meiner Hand. „Lass uns tanzen.“

„Ja klar.“ Ich schüttelte die Hand ab. „Das würde reichlich komisch aussehen.“

„Find ich nicht“. Er schmollte und ich bereute, dass ich nicht mehr Alkohol getrunken hatte, um einfach zu vergessen, was ich Sakuya im Bezug aufs Schwulsein bei dieser Party versprochen hatte.

Ich hätte so gerne mit Sai getanzt.

„Dann lass uns reden...“ Er musste gegen die laute Musik ankommen mit diesen Worten, was sie nicht gerade überzeugend machte. Ich lehne mich ihm über die provisorische Theke entgegen.

„Worüber?“

Er zuckte nur die Schultern und sah mich aus seinen alkoholgetränkten Augen an. Irgendetwas in ihnen verstand ich nicht. Gerade als ich jedoch etwas sagen wollte, presste er sich plötzlich die Hände an die Ohren.

„Laut!“, fauchte er mit zusammengekniffenen Augen, bevor er meine Hand ergriff.

So schnell wie er mich von der Theke wegzog, musste ich aufpassen, nichts umzuwerfen. Ein paar Sekunden später fanden wir uns dann auch schon in einem kleinen Raum wieder. Hier nahm Sai nun auch die andere Hand von seinem Ohr. Er grinste mich an, lehnend an der Wand direkt neben mir.

„Und worüber wollen wir jetzt reden?“

„Ich weiß nicht.“

Er drehte den Kopf noch ein wenig mehr und nahm meine Augen gefangen. Seine wirkten feucht, schwimmend… und doch, je länger ich in sie sah, desto klarer wurden sie. Der Ausdruck in diesen Augen wurde klarer und ich erinnerte mich mit einem Mal daran, wie wir damals auf dem Bett gelegen hatten. Er war mir ähnlich nahe gewesen wie jetzt, auch da hatte ich nur meine Fingerspitzen nach ihm ausstrecken müssen, um die warmen Wangen zu berühren. Damals hatten sie weniger geglüht und dennoch hatte ich mich nach ihrer Hitze gesehnt.

Ich musste schlucken. Ich wusste, dass ich ihn jetzt nicht anfassen durfte und doch tat ich es. Und er ließ mich gewähren.

Sanft strich ich ihm einige Haarsträhnen hinters Ohr, holte sie wieder hervor, zwirbelte sie. Ich betastete seine Ohrmuschel, erinnerte mich kurzzeitig daran, wie er damals seinen Ohrring direkt am gleichen Tag wieder hatte entfernen müssen. Sein Vater wollte es nicht, ihn hat es aufgeregt… und mich ließ es nun lächeln.

„Was?“, erkannte ich das Wort eher an seiner Mundbewegung als am Ton.

Noch immer drangen die Musik und die Geräusche der Gäste laut an uns heran.

Ich schüttelte bloß den Kopf und tastete weiter, fuhr über seine Augenbraue hinweg und hielt den Atem an, als er mich über sein geschlossenes Augenlied streichen ließ. Als ich die Nase hinabstreifte, öffneten sich die Augen wieder und schienen mir plötzlich noch näher als zuvor. Ich konnte seinen Atem spüren.

Seine Lippen hatte ich nicht vorgehabt, zu berühren, und dennoch konnte ich nicht anders, als sie mit meinem Finger zu erforschen. Ein wenig öffnete er seine dabei und mir schlug das Herz bis zum Halse. Was ließ er mich hier tun? Wusste er nicht, wie gefährlich das war?

Ich wusste es genau und dennoch konnte ich nicht anders, musste ihn immer weiter berühren. Noch nie hatte ich einen anderen Menschen auf diese Weise erforscht, noch nie hatte ich so winzige Details mit meinen Fingerspitzen wahrgenommen wie in diesem Moment. Und noch nie war ein Blick so fesselnd wie seiner gewesen.

Ehe ich noch länger darüber nachdenken konnte, drehte ich Sai ein wenig und trat vor ihn. Er sah mich immer noch direkt an und er wusste, was ich tun wollte, das spürte ich. Ich suchte in seinen Augen nach etwas, das mich davon abhalten würde, doch ich fand nichts. Nichteinmalmehr der Alkohol stand in diesem Blick, nur noch der Ausdruck, den ich auch bei mir vermutete. Langsam, fast wie in Zeitlupe, um ihm allen Freiraum zu lassen, beugte ich mich vor. Und dann küsste ich ihn. Ich teilte mit meiner Zunge seine Lippen, er ließ mich gewähren und kaum hatte ich seine berührt, krallte er plötzlich seine Finger in meinen Pullover. In diesem Moment tat er etwas, auf das ich fast ein Jahrzehnt gewartet hatte; er küsste mich.
 

Natürlich passierte damals nicht mehr als dieser Kuss. Wir kosteten ihn lange und anschließend standen wir sicher minutenlang einfach nur da, mit zwei Herzen, die so laut schlugen, dass ich das Gefühl hatte, die Musik nicht einmal mehr zu vernehmen. Das Blut rauschte mir in den Ohren, durch den Körper, und ich wusste nicht, was jetzt passieren würde. Ihn so direkt bei mir zu spüren, machte mich hilflos wie nie zuvor.

Letztendlich trennten wir uns ziemlich abrupt, in dem Moment nämlich, als im Obergeschoss Geschrei losbrach. In Sekunden war ich zur Treppe gestürzt, wie auch einige andere. Es war Sai, der noch genug Versand mit in die Situation brachte. Er verscheuchte die neugierigen Blicke, zischte mich an, ihm zu helfen. Was auch immer dort oben vor sich ging, es war nichts für die Augen der Gäste.
 

Auf diese Weise endete der Abend, die Sylvesterparty ganz anders als geplant. Nicht Sakuya war es, der seine Gäste verabschiedete, sondern Sai, Sanae und ich, die wir versuchten, der Situation, die wir nicht wirklich verstanden, Herr zu werden. Wir verließen das Haus mit dem Bild eines verzweifelten Kidas vor Augen und Sanae versuchte mit mir zu ratschlagen, was passiert sein könnte. Natürlich kamen wir zu keinem Ergebnis, doch ich versuchte, diese Konversation am Laufen zu halten. Sie brachte mich fort von anderen Gedanken, denen ich mich noch früh genug würde stellen müssen. Sai, der schweigend neben uns lief, stellte sich ihnen wahrscheinlich schon die ganze Zeit.

Nachdem wir Sanae verabschiedet hatten, blieben wir in einer merkwürdigen Atmosphäre zurück. Wir saßen in der Bahn und wagten weder zu sprechen, noch uns anzusehen. Ich starrte auf die gegenüberliegende Bank und versuchte, das Muster zu erforschen, während ich doch die physische Nähe neben mir genau wahrnahm. Psychisch jedoch schien Sai mit einem Mal unendlich weit entfernt.

Meine Station kam als erstes. Ich wollte nicht aussteigen, ich wollte ihn fragen, ob er mit käme, doch beides blieben Gedanken. Wir verabschiedeten uns knapp und mein letztes Bild von ihm in jenem Jahr blieb das eines vollkommen verzweifelten Mannes, der gerade den größten Fehler seines Lebens begangen hatte.
 

~ * ~
 

Sylvester selbst verbrachte ich wie immer bei meinen Eltern. Ich fuhr bereits einen Tag vorher zu ihnen, weil ich mir sicher war, dass ich hier wenigstens ein bisschen Ablenkung erhalten würde. Ich wollte nicht ständig mein Telefon anstarren, wollte mich nicht jede Minute fragen, wie es nun weiter gehen würde, und ich wollte mich auch nicht ständig wieder an den atemberaubenden Kuss erinnern. Doch all das tat ich auch in meinem Elternhaus. Ich war kein besonders netter Umgang, glaube ich, viel anfangen konnte man mit mir zumindest nicht. Und wann hatte ich mir je gewünscht, an Mochi zu ersticken?

Am ersten Tag des neuen Jahres erzählte ich meiner Mutter wenigstens endlich, dass ich Sai wieder getroffen hatte. Hätte ich mich nicht so miserabel gefühlt, hätte ich mich über ihren Gesichtsausdruck sicher herrlich amüsiert. Sie quetschte mich sogleich aus, wie es ihm ging, ob ich ihn oft sah, was er denn nun machte. Sie war Feuer und Flamme und sosehr es auch schmerzte, tat es auch gut, das zu sehen. Es ließ mich für kurze Zeit an unsere Freundschaft zurückdenken, an ihn als meinen Bruder, wie wir immer gesagt hatten, mein siamesischer Zwilling, wie meine Mutter es gerne ausgedrückt hatte. Dass mich eben dieser Gedanke nur Sekunden später fast zu Tränen trieb, damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich überspielte es irgendwie, zwang mich zum Lachen und bejahte ihre Frage schnell, ohne wirklich hinzuhören. Erst im nächsten Augenblick wurde mir klar, dass ich soeben zugestimmt hatte, ihn einzuladen. Warum ich sofort darauf auch schon den Kopf schüttelte, verstand meine Mutter nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass ich ihr die Nummer in die Hand drückte und sagte, sie müsse ihn schon selbst einladen. Sie tat es dennoch und ich hoffte, dass er absagen würde. Dass er es nicht tat, überraschte mich nicht nur sondern machte mich vollkommen fertig.
 

Das Wiedersehen mit meinen Eltern war damit zu vergleichen, als könnten sie endlich wieder ihren verlorenen Sohn in die Arme schließen. Sais und mein Blick trafen sich über die Umarmungen hinweg. Ich hatte keine Ahnung, wie ich beschreiben sollte, was ich in seinen Augen erkannte.

Natürlich sprachen wir an diesem Tag in meinem Elternhaus kein einziges Wort über die vergangene Situation; ohnehin sprachen wir sehr wenig direkt miteinander. Die meiste Konversation trieb meine Mutter, während ich mit mir rang, ob ich froh war, ihn das nächste Mal auf diese Weise gesehen zu haben, oder ob ich mir lieber Zweisamkeit gewünscht hätte. Zu einem Ergebnis war ich noch nicht mal gekommen, als Sai sich schließlich wieder verabschiedete. Dies wurde auch der erste Moment, den wir wieder alleine verbrachten, als ich ihn zu seinem Auto begleitete. Ähnlich überfordert wie ich sah er mich an.

„Wir müssen reden“, brachte ich es als erster über die Lippen.

„Ja.“

„Wann?“

„Ich weiß es nicht.“

Plötzlich war die Luft ganz dicht und ich konnte kaum Atmen. Ich wollte ihn umarmen, aber natürlich ließ ich es sein und ließ ihn gehen.
 

Das Gespräch kam, doch bis dahin sollten Wochen vergehen. Wir sahen uns in diesen Wochen, doch wir sahen uns nicht oft und wenn dann nur unverbindlich im doubleX. Ich verstand den Grund dafür gut, doch mit ihm umgehen konnte ich schlecht. Ich mochte den Abstand zwischen uns nicht, wir hatten es doch gerade erst geschafft, uns wieder näher zu sein, auf freundschaftliche Art. Sie wollte ich zurück und wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich mit dutzende Male für den Kuss entschuldigt, doch ich wusste, dass das nichts bringen würde. Ich verstand es, weil er an seinem Geburtstag ehrlich mit mir gewesen war. Damals konnte er mit seinen eigenen Gefühlen nicht umgehen… und nun war es ebenso. Er vertrug es nicht gut, dass er es zu dem Kuss hatte kommen lassen, dass er ihn gar erwidert hatte. Und aus dem Grund versuchte ich auch nicht, das Gespräch zu beginnen. Ich musste ihm Zeit geben, mit sich selbst ins Reine zu kommen, wenn ich mir eine zukünftige Freundschaft wünschte; ich musste abwarten.
 

Dass ausgerechnet Sakuya der Grund sein würde, warum Sai das Gespräch suchte, damit hatte ich natürlich auch nicht gerechnet. Ich war sogar ziemlich überrascht, als Sai plötzlich bei mir Zuhause auftauchte. Mit unergründlichem Gesichtsaudruck stand er vor meiner Tür, bemerkte, dass er gerade Sakuya getroffen habe, und fragte mich dann, ob er reinkommen könnte. Vollkommen irritiert ließ ich ihn ein, beobachtete ihn genau, als er langsam zum Sofa ging und sich hineinsetzte. Er verschränkte die Hände und auf seiner Stirn stand eine tiefe Falte.

Ich setzte mich in den Sessel und schwieg. Noch immer hielt ich daran fest, dass ich ihm Zeit geben musste. Er war nun hier, zeigte das nicht, dass es in die richtige Richtung ging? Ich hoffte es sehr.

„Er… hat uns gesehen.“

„Sakuya?“

„Ja.“

„Wann? Wo?“ Ich war verwirrt, ich verstand nicht, was er meinte.

„Auf der Sylvesterparty… als wir…“

Er sprach es nicht aus, nur ein bedeutungsschwerer Blick traf mich.

„Meinst du er wird-“

„Nein.“ Sai schüttelte den Kopf, sah nun wieder an mir vorbei. „Er hat mich gefragt, was mit Hinako ist… ob ich sie liebe… und da war mir klar, dass wir endlich reden müssen… das geht so nicht weiter.“

Die plötzliche Energie in seiner Stimme ließ mich den Rücken anspannen. Was würde jetzt kommen? Ich konnte es mir nicht vorstellen.

„Wegen des Kusses...“ Das Wort über seine Lippen kommen zu hören, schien nicht nur mir Kraft zu kosten. Sai atmete tief durch und dann sah er mich endlich wieder an, streckte die Schultern durch. „Er hat mir gefallen.“ Ein weiterer tiefer Atemzug. Ich wagte es nicht, selbst einen zu nehmen. „Aber Tatsuya… es war nur ein Kuss. Ich meine... ich bin mit Chiga zusammen, ich liebe sie... dass wir uns geküsst haben, war ein Unfall... Ich will nicht, dass du dir irgendwie Hoffnungen machst... Ich...“ Er zuckte mit den Schultern, wirkte irgendwie ratlos.

Ich spürte das Ziehen in meiner Brust. Seine Worte taten weh, natürlich, obwohl ich mir ihrer doch bewusst gewesen war. Ich hatte mir keine Hoffnungen gemacht, zumindest nicht bewusst, und dennoch war es schwer, es auf diese Weise zu hören.

„Es tut mir-“

Sai griff nach meiner Hand. Die plötzliche Berührung erschreckte uns beide, doch sofort sprach er weiter.

„Bitte entschuldige dich nicht bei mir. Es war mein Fehler, ich hätte dich davon abhalten sollen, aber das habe ich nicht... Es ist meine Schuld und es tut mir leid...“ Er schluckte und sah mir in die Augen. „Ich will dich deshalb nicht verlieren, nicht noch einmal, verstehst du?“

Ich konnte nur nicken, während er noch immer meine Hand hielt. Seine war kalt und irgendwie fühlte sie sich feucht an. Ich empfand das Bedürfnis, sie fester zu drücken.

„Darf ich dir… eine Frage stellen?“, kam es leise.

„Ja.“ Ich brachte das Wort kaum über die Lippen.

„Bin ich für dich… wieder ein Freund?“ Fast würde ich sagen, dass er ängstlich klang.

Nun drückte ich die Hand doch ein wenig.

„Ja.“

Ein zögerndes Nicken, sein Daumen streifte ein Mal über meinen Handrücken hinweg.

„Bin ich… mehr als das?“

Mein Herz blieb stehen. Überhaupt schien alles für einen winzigen Augenblick zu gefrieren. Ich wollte den Kopf schütteln, doch ich konnte es nicht. Ich hatte mit einem Mal Bauchschmerzen, mir wurde schlecht. Ich hielt mich an dem Schwarz seiner Augen fest, obwohl ich ihm entkommen wollte. Das Ziehen in meiner Brust schien unerträglich zu werden.

Ich öffnete die Lippen, schon halb dabei, den Kopf zu schütteln, schon halb bei einer Verneinung, als die Hand meine plötzlich fester hielt.

„Bitte Tatsuya, sei ehrlich mit mir.“

Ich sah noch immer in seine Augen hinein.

Ich hätte nicht einmal mit den einfachsten oder kompliziertesten Worten sagen können, was es war, dass mich so empfinden ließ. Es war so vieles und es war jede Kleinigkeit. Ich wusste nicht was es war, das ich in den letzten Jahren tief in mir drin immer wieder vermisst hatte. Es war einfach Er, der mir gefehlt hatte, obwohl ich genug Leute hatte, die mir Liebe geben konnten, die auch ich geliebt habe, und doch war es nie das Selbe gewesen. Nur er konnte es sein, das wusste ich jetzt, nur seine Liebe war es, die ich wollte. Auch wenn er die einzige Person im Universum wäre, die mich nie lieben würde, würde ich doch immer nur ihn wollen.

Genau das begriff ich in diesem Moment, als ich seine Hand hielt und mich in seinen Augen verlor. Ich wusste, dass es kein Zurück mehr gab, dass es das vielleicht nie gegeben hatte. Und ich wusste auch, dass ich nichts anderes konnte, als einfach ehrlich mit ihm zu sein.

„Ja“, sagte ich deshalb und hörte selbst, wie schwach meine Stimme war. „Ja, ich liebe dich.“
 

~ * ~
 

Manchmal, in den Nächten meiner Jugend, hatte ich mich gefragt, was wohl aus Sai und mir werden würde, wenn ich ihm meine Liebe gestände. Oft hat er in diesen Vorstellungen negativ reagiert, ein paar Mal hat er positiv reagiert und häufig habe ich mir vorgestellt, dass sich nichts ändern würde. Ich glaubte nicht daran, dass er mich annehmen würde, doch der Gedanke, dass er mich abstoßen könnte, schmerzte zu sehr, weshalb ich die Zwischenlösung in meinen Gedanken perfektionierte. Ich stellte mir vor, wie es wäre, an seiner Seite zu leben, in der Gewissheit, dass er meine Gefühle akzeptierte. Wäre es nicht einfacher für mich, als mich einfach zu verstecken? Würde es nicht alles um ein vielfaches lockerer machen?

Ob ich eine Antwort darauf fand? Nicht in meinen jugendlichen Vorstellungen, dafür aber Jahre später in der Realität.
 

Nun, da Sai von meinen Gefühlen wusste, war es in gewisser Hinsicht wirklich einfacher, neben ihm zu leben. Ich musste meine Blicke nicht vollkommen untergraben, musste mich nicht jedes Mal davor warnen, ihm bloß nicht zu lange in die Augen zu sehen. Vor allem aber erleichterte das Gefühl, ihn nicht anlügen zu müssen. Ich musste ihm nichts vorspielen, ich konnte sein, wie ich war.

Was ich damals, in meinen Jugendnächten, jedoch nicht erwartet hatte, war, dass es die Gefühle schwerer machen könnte. Einmal ausgesprochen, standen sie zwar nicht zwischen uns, doch über mir hingen sie wie ein Fluch. Der Gedanke, dass Sai mich auf diese Weise akzeptierte, war so schrecklich, wie er schön war, denn er zeigte mir auch, dass keine Hoffnung bestand. Solange Liebe unausgesprochen ist, gibt es immer einen kleinen, optimistischen Teil in einem selbst, an den man sich klammern kann… doch nun ging dies nicht mehr. Er hatte mich akzeptiert, doch mehr würde daraus nicht werden, davon war ich überzeugt.
 

Dennoch ging es mir gut damit, denn dazu, dass Sai meine Gefühle akzeptierte, kam auch noch, dass er sich nicht von mir distanzierte. Eher das Gegenteil war der Fall. Waren bisher Berührungen, Umarmungen immer von mir ausgegangen, initiierte er sie nun auch das ein oder andere Mal. Er berührte meinen Arm während Gesprächen oder klopfte mir auf den Rücken, wenn ich mich verschluckt hatte. Alles kleine Gesten, doch sie gefielen mir, sie taten mir gut.

Ich nahn an, dass Sai dies tat, um mir zu zeigen, dass er wirklich kein Problem mit mir hatte. Ich vermutete, dass es seine Art war, wieder gutzumachen, wie weh er mir damals getan hatte.

Mir gefiel diese Seite an ihm, da es früher auch so gewesen war. Wir waren nie berührungsscheu gewesen, auf diese Weise gab er uns ein Stück mehr Normalität zurück, auch wenn ihm sicherlich ebenso klar war wie mir, dass ich bei all dem nicht nur bloße Freundschaft empfand. Wenn wir uns umarmten, konnte mein Herz nie anders, als ein kleines bisschen schneller zu schlagen, doch wenigstens konnte ich ihm hinter ganz normal in die Augen sehen.
 

Während der nächsten Monate, in denen ich für die Prüfungen lernte und versuchte, Kida in seiner bisher schwersten Phase eine Stütze zu sein, wuchs die Freundschaft zwischen Sai und mir auf ein Maß an, das eine Person fast in den Wahnsinn trieb. Noch immer hatte ich nicht erforschen können, was es war, das Chiga nicht an mir mochte, doch mittlerweile war es mir auch egal. Hätte Sai mich nicht darum gebeten, es nicht zu tun, hätte ich ihr vermutlich auch schon längst meine Gefühle ihrem Verloben gegenüber auf die Nase gebunden, einfach, um sie noch ein wenig mehr ihren Hexenkessel schüren zu lassen. Andererseits verstand ich auch, dass Sai sich rigoros dagegen wehrte. Er wollte sich nicht anhören müssen, was sie dann alles sagen würde, ihm fiel es so doch schon schwer genug, dass wir einander nicht ausstehen konnten.
 

So gehässig man es auch nennen mag, gefiel es mir natürlich schon ein bisschen, dass zwischen Chiga und Sai nicht alles rosig lief. Auf diese Weise verbrachte er immer öfter eine Nacht bei mir, da er sagte, er würde den Streit nicht aushalten können. Dass er dennoch immer noch bei ihr blieb, sah ich als Zeichen seiner starken Liebe, was mir wiederum weniger gefiel.

„Es hat sich so vieles verändert…“, sprach Sai eines Abends, nachdem die beiden mal wieder einen Lappalienstreit gehabt hatten.

„Inwiefern?“, fragte ich und trat näher an ihn, der er am Geländer meines Balkons lehnte, heran.

„Naja… Sie ist viel ernster geworden und total eifersüchtig… Sie lacht kaum noch, vergräbt sich in ihre Arbeit… In manchen Momenten weiß ich nicht, wie ich mit ihr umgehen soll...“

Er sah mich aus traurigen Augen an. Ich hätte ihm so gerne geholfen, aber ich konnte es nicht. Was sollte ich denn auch sagen? Auch wagte ich nicht zu fragen, ob dieser Wandel erst nach dem Wiedersehen mit mir stattgefunden oder vielleicht schon zuvor begonnen hatte.

„Du weißt, dass ich der Falsche bin, um dir Ratschläge für deine Beziehung zu geben…“, war deshalb das einzige, was ich dazu sagen konnte.

Er hielt sich fester am Geländer fest, ein Lächeln huschte über seine Lippen, dann war es wieder weg.

„Ich weiß...“, flüsterte er. „Es tut mir leid, dass ich damit ausgerechnet zu di-“

Ich hatte meine Hand nach ihm ausgestreckt, was ihn verstummen ließ. Sanft berührte ich seine Haare, er schloss für eine Sekunde die Augen.

„Nein.“ Ich strich sanft über seine Wange. „Du weißt doch, dass du mit mir über alles reden kannst… Ich bin immer für dich da.“

„Deshalb tut es mir leid, Tatsuya…“

Ich trat näher an ihn heran, legte ihm einen Kuss auf das geschlossene Augenlid. Dann ließ ich von ihm ab.

„Sage ihr das, was du mir gesagt hast… Sei ehrlich zu ihr… Das ist alles, was ich dir dazu raten kann.“

Damit drehte ich mich um und ging in die Küche zurück. Als ich nach dem Messer griff, zitterten meine Finger, doch wenigstens konnte ich mir sagen, dass ich nicht gehässig gehandelt hatte.
 

Jenes Gespräch auf meinem Balkon war das letzte Mal, dass Sai mit mir über solche Probleme sprach. Ich war mir sicher, dass es nicht daran lag, dass es keine Probleme mehr gab, sondern weil er mich nicht belasten wollte. Ich sah ihm an, dass es ab und zu Streit gegeben hatte, aber er tat es immer als unwichtig ab. Ich wusste schon bald nicht mehr, was er genau fühlte, was mit Chiga los war, ob es wieder besser oder schlechter lief. Doch ich sprach ihn irgendwann auch nicht mehr darauf an. Das Thema war einfach vorbei.
 

Ein weiterer Zwischenfall in diesen freundschaftlichen Monaten, an den ich immer mal wieder denken muss, ereignete sich an einem Abend Anfang Oktober. Kida hatte gerade das Studium an meiner Uni begonnen und war nach den Vorlesungen noch kurz bei mir vorbei gekommen. Langsam ging es bei ihm gefühlstechnisch wieder bergauf, nur selten noch wollte er über das vergangene sprechen, doch an jenem Nachmittag fiel dennoch der ein oder andere Satz darüber, wie sehr er Sakuya vermisste. Er fragte mich rhetorisch, ob dies wohl noch lange der Fall sein würde, woraufhin ich ihm nur schwer die Wahrheit sagen konnte. Ich wollte ihm nicht sagen, wie lange ich an meiner Liebe zu Sai geknabbert hatte, es würde ihm nichts helfen, ihn wohl nur wieder ein Stück zurückziehen. Irgendwann während dieses Gesprächs tauchte Sai bei mir auf. Zu dritt verbrachten wir einen lustigen Fernsehabend, und während Kida sich irgendwann dazu entschloss, zu gehen, entschied Sai, dass er die Nacht mal wieder bleiben würde.

Dass er so überhaupt kein Problem damit hatte, ein Bett mit mir zu teilen, war für mich nach all der Zeit noch immer nicht normal geworden.

Ich ging als erstes ins Bad und duschte kurz. Dabei musste ich an Kidas Worte denken, an seine Frage, ob es wohl noch lange so weitergehen würde… Ich hoffte es nicht für ihn, er sollte Sakuya nicht so lange hinterher trauern wie ich Sai. Waren wir doch wenigstens im selben Land gewesen, trennten ihn noch viel größere Abstände von seiner Liebe. Was würde es ihm bringen, sich ewig an ihr festzuhalten? Er würde sie nie wieder sehen…

Der Gedanke machte mich unergründlich traurig und als ich das Bad verließ und Sai in eine Decke gehüllt auf meinem Balkon stehen sah, konnte ich nicht anders.

„Entschuldige...“, flüsterte ich und zog ihn im selben Moment an mich heran.

Erschrocken fuhr er zusammen und versuchte instinktiv sich umzudrehen. Doch ich ließ es nicht zu, hielt ihn einfach weiterhin fest, mit geschlossenen Augen und mein schlagendes Herz bestmöglich beruhigend. Ich hoffte inständig, dass er sich jetzt nicht losreißen würde, mich einfach einen Moment lang seine Nähe genießen ließe.

„Was ist los?“, fragte er nach einer Weile leise. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

„Nichts…“

Ich sog den Geruch seiner Haare in mich hinein. Sie waren nun wieder schwarz und kurz, nachdem die Farbe weit genug herausgewachsen war. Am liebsten hätte er sie wieder gebleicht, doch sein Vater hatte ihn wohl schon beim letzten Mal fast massakriert, weshalb er es nicht erneut riskieren würde. Er fand dies schade und ich eigentlich auch, denn irgendwie hatte ich mich an das Blond gewöhnt, mochte es sehr. Das Schwarz nun ließ ihn wieder jünger wirken und erinnerte mich noch ein Stück mehr an unsere Vergangenheit. Aus dem Grunde wohl hätte ich gerne die Veränderung ganz offensichtlich vor Augen gehabt.

Sai bewegte sich ein wenig in meinen Armen, legte den Kopf zurück. Ich konnte sehen, dass er die Augen geschlossen hatte.

„Wie geht es Kida?“, fragte er leise.

„Es geht… er vermisst ihn halt…“

Ein zögerndes Nicken, seine Haare kitzelten meinen Hals.

„Hoffentlich findet er bald wieder jemanden…“

„Ja.“ Ich zweifelte irgendwie daran.

„Meinst du, dass es wieder ein Junge wird?“

„Ich denke schon.“

„Also ist er wirklich schwul?“

Noch immer war es komisch, dies Wort aus Sais Mund zu hören.

„Ja.“

Ein erneutes Kitzeln an meinem Hals, eine Hand ertastete meine. Unsere Finger verschlangen sich.

„Tatsuya?“

„Hm?“

„Wann hast du gemerkt, dass du schwul bist?“

Eben noch die Berührung seiner Finger genossen, fühlte sie sich plötzlich eiskalt an. Ein Windzug ergriff meinen Körper und die Wärme in meinen Armen schien zu schwinden.

Ich schluckte, während Sai seinen Daumen über mein Handgelenk streifen ließ. Eine so vertraute Berührung, wie konnte er bloß ausgerechnet jetzt diese intime Frage stellen? Konnte er sich nicht denken, was meine Antwort sein würde?

„Es kam ganz einfach so...“, antwortete ich schließlich, noch in Gedanken meine nächsten Worte formulierend. Ich musste die Wahrheit sagen, er wollte sie hören. „Es gab da jemanden, der mir sehr viel bedeutete und daraus wurde mehr… Ich hab mich in ihn verliebt… Es passierte einfach…“

„War es… schwer für dich?“

„Ja. Am Anfang wollte ich es nicht wahrhaben, doch letztendlich konnte ich es nicht unterdrücken… Ich hab mich ziemlich lange verflucht gefühlt, auch, weil ich mit niemandem darüber reden konnte…“

Stille… dann plötzlich eine schnelle Bewegung. Sai drehte sich in meinen Armen, die Decke glitt zu Boden, kalte Hände fanden mein Gesicht.

„Es tut mir leid.“

Seine Augen glitzerten. Es war mir peinlich, dass er sich bei mir entschuldigte. Sanft schüttelte ich den Kopf und berührte die Hand an meiner Wange. Während ich dies tat, schwand etwas in seinen Augen. Wieder verschlangen sich unsere Finger miteinander, unsere Gesichter waren sich plötzlich unglaublich nah. Ich konnte seinen heißen Atem spüren wie er über meine Lippen strich, stockend, nervös. Wie konnte er sich bloß in eine solche Gefahr bringen? Warum tat er das? Wie weit wollte er mir noch zeigen, dass für ihn meine Gefühle okay waren? Wusste er nicht, dass er mir im Endeffekt mehr wehtat als mir zu helfen?

Doch auch wenn ich das selbst wusste, konnte ich nicht anders, als seinem Gesicht noch näher zu kommen. Ich sah ihm in die nachtschwarzen, glänzenden Augen. Ich liebte sie so sehr, aber genau in diesem Moment waren sie es, die mich erschreckten, als ich seine Lippen nur ganz kurz berührte.

„Es... es tut mir leid“, stammelte ich und ließ ihn augenblicklich los.

Ich wich zurück und verschwand in meiner Wohnung. Ich hörte, wie er mir hinein folgte, doch während ich im Schlafzimmer verschwand, ging er ins Bad. Ich war froh darüber, als ich mich im Bett verkroch und versuchte, meinen erregten Körper zu beruhigen.

Jeder normale Mann hätte mich schon längst von sich gestoßen, warum hatte ausgerechnet er dies nicht getan? Es wäre alles so viel leichter, wenn er mich einfach auf Abstand halten würde…Wieso um alles in der Welt ließ er solche Nähe zu?
 

~ * ~
 

Auch wenn es in dem Sinne bereits ein Kuss gewesen war, weigerte ich mich, derart darüber zu denken. Überhaupt wollte ich mich nach einer schier schlaflosen Nacht nicht mehr daran erinnern. Was würde es auch bringen, sich darüber Gedanken zu machen? Es würde nichts ändern, denn ich glaubte an keinen meiner Wünsche, welche während dieser paar Sekunden auf dem Balkon geboren worden waren. Also sprach ich nicht mit mir selbst darüber und mit Sai, der bereits nach seiner Dusche so tat, als sei nichts gewesen, erst recht nicht.
 

Im Januar erzählte Kida mir das erste Mal von Rie. Ich freute mich sehr für ihn, dass er wenigstens oberflächlich wieder jemanden gefunden hatte, doch gleichzeitig erinnerte es mich an mein eigenes leeres Beziehungsleben. In zwei Monaten würde ich 24 Jahre alt werden, ein vollkommen normales Alter, um eine längere Beziehung zu beginnen… doch ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Wie würde ich mein Herz je einem anderen Menschen schenken können, wenn Sai doch immer an meiner Seite war?

Vor eben diese Frage konnte ich mich selbst stellen, als Sai mir verkündete, dass er für drei Monate nach Sapporo gehen würde. Es war eine Geschäftsreise, die ihn dorthin, in die Außenstelle der Firma seines Vaters, trieb. Noch immer befand er sich in der Ausbildung, um eines Tages die Firma übernehmen zu können. Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem es heißen würde, immer mal wieder die Koffer zu packen. Ich wusste noch aus unserer Jugendzeit, dass Sais Vater sehr viel unterwegs gewesen war. Meistens innerhalb Japans, doch manchmal auch für einen Monat Übersee. Als sein Nachfolger würde dies nun auch immer öfter auf Sai zukommen.

„Ich hab keine Lust darauf“, verkündete Sai mir am letzten Abend vor seiner Abreise als der Film, welchen wir uns angesehen hatten, zu Ende war. Es war mir sehr schwer gefallen, mich überhaupt auf diesen zu konzentrieren.

„Du hast es dir ausgesucht…“, grinste ich bloß und versuchte, den Ernst etwas aufzulockern.

„Naja, das waren wohl eher meine Gene…“ Er verdrehte die Augen. „Ich mein, der Job macht ja Spaß… aber trotzdem…“ Er sah auf die Uhr.

„Nun geh schon, sie wartet sicher ganz ungeduldig…“

„Ich weiß…“ Er stand auf, doch weiter machte er keine Anstalten, sich zu bewegen.

„Tatsuya?“

„Ja?“ Ich kam zu ihm in die Höhe.

„Ich werde dich vermissen.“

Ich musste lächeln. „Ich dich auch.“

Ich empfand das Bedürfnis, ihm wie einem Jungen durch die Haare zu wuscheln, doch es verschwand sogleich, als ich den Ausdruck in seinen Augen erkannte.

„Nein, wirklich.“ Etwas Unbekanntes hatte von ihm Besitz ergriffen. „Ich werde dich wirklich-“

Nun berührte ich ihn doch, wenn auch nur leicht seine Schläfe, seine Haare.

„Du kannst mich jederzeit anrufen“, flüsterte ich und sah ihm tief in die Augen.

Als Antwort bekam ich nur ein zaghaftes Nicken.

„Wirklich, Sai, egal wann, okay?“

„Ja.“

Ich lächelte und zog meine Hand zurück. Ihn brachte dies dazu, sich umzudrehen und nach seiner Jacke zu greifen. Ich folgte ihm zur Tür. Er sah mein trauriges Gesicht nicht und ich lächelte ihm wieder zu, als er mich ansah.

„Meld dich, wenn du im Hotel bist, okay?“.

„Mach ich.“

Ich öffnete die Tür, er trat hinaus. Hier wollte ich noch irgendetwas sagen, doch ich wusste beim besten Willen nicht was.

„Lass uns den Film irgendwann noch mal gucken... Ich kann mich an kaum etwas erinnern...“, gestand dann aber er mit flacher Stimme.

Ich sah Sai an und plötzlich war da etwas, das aber sofort wieder verschwand.

„Ich auch nicht...“, flüsterte ich leise.

Ehe ich fragen konnte, schlang er plötzlich seine Arme um mich und hielt mich fest.

„Es tut mir leid...“, drang es an mein Ohr.

Warum entschuldigte er sich bei mir? Ich verstand ihn noch weniger, als zuvor. Was war hier los? Ich schloss meine Arme um ihn, ohne etwas zu sagen. Was hätte ich denn auch sagen sollen?

Irgendwann löste er sich von mir. Seine Gedanken schienen ganz weit weg zu sein, ganz woanders. Ich wollte zu ihm, aber er ließ es nicht zu, denn er sah mich nicht an. Nur eine Sekunde lang klärte sich sein Blick und im selben Moment spürte ich auch schon seine Lippen auf meinen.

Genauso schnell waren sie wieder weg. Er riss sich von mir los und wollte weg. Ich bekam ihn am Arm zu fassen.

„Lass mich los“, sagte er leise ohne sich umzudrehen.

Ich tat es und er flüchtete die Treppe hinab.
 

~ * ~
 

Die Monate ohne Sai fielen mir schwerer als ich es erwartet hatte. Ich stürzte in kein Loch oder so, doch ich spürte deutlich, dass mir etwas fehlte. In der letzten Zeit vor seiner Abreise hatten wir einander fast täglich gesehen oder wenigstens miteinander telefoniert; dass ich nun vielleicht zwei Mal in der Woche ein winziges Telefonat mit ihm führte, war mir wirklich nicht genug. Außerdem sprach er in diesen viel von Chiga. Ich wusste nicht, ob es seine Absicht war, mir so zu zeigen, dass der Kuss nichts zu bedeutet hatte, doch selbst wenn nicht, fasste ich es im Endeffekt genau so auf. Zwar verstand ich nicht, weshalb er mich in erster Linie geküsst hatte, doch gleichzeitig war da die Gewissheit der Frau an seiner Seite. Zudem war ich mir sicher, dass er niemals einen Mann lieben könnte.
 

Meinen Geburtstag verbrachte ich mit Ryouta, Kida und Rie, und zwar in Shinjuki Ni-Chome, um das ich sonst meist einen riesigen Bogen machte. Dennoch war es dieses Mal meine Idee gewesen, denn nach dem kurzen, relativ kühlen Telefongespräch um Mitternacht war mir klar, dass ich diesen Tag unter Menschen verbringen wollte, unter vielen, und am besten unter schwulen. Rie führte uns zur Bar eines Freundes und hier ließ ich mich vollaufen. Ich blamierte mich wahrscheinlich bis aufs Blut, doch mir war das egal. Die Männer flirteten mit mir, anders als Sai zeigten sie deutlich ihr Interesse. Nicht weiter verwunderlich also vielleicht, dass ich am kommenden Morgen in einem vollkommen fremden Bett aufwachte. Die Tatsache der benutzten Kondome am Boden unterstützte meine Vermutung nur, als ich schockiert aus dem Bett sprang. Noch nie hatte ich so viel getrunken, dass ich mich nicht mehr an den Sex erinnern konnte.

Der junge Mann, mit dem vermutlich ausgedachten Namen Itsuki, steckte mir seine Nummer zu, als ich fast fluchtartig seine Wohnung verließ und sofort Ryouta anrief. Wieso er mich nicht aufgehalten habe, wollte ich wissen, doch ich konnte die Frage nur der Mailbox stellen. Erst später erfuhr ich, dass ich nicht der einzige war, der in jener Nacht jemanden kennengelernt hatte.
 

In den darauffolgenden Wochen telefonierte ich noch weniger mit Sai. Es tat weh, jedes Mal, wenn ich seine Stimme hörte, zudem hatte ich das dämliche Gefühl, ihn betrogen zu haben. Schwer nur konnte ich mit mir selbst vereinbaren, dass ich mit einem anderen Mann ins Bett gegangen war, dabei würde es Sai wahrscheinlich nicht einmal etwas ausmachen. Vielleicht war das genau der Grund, weshalb ich den Kontakt minimierte. Ich ertrug es kaum, nicht bei ihm zu sein, doch die wenigen Sätze am unpersönlichen Telefon ertrug ich noch schlechter.
 

Ich sah Itsuki wieder, denn eines Tages stand er plötzlich vor meiner Tür, fast einen Monat nach unserem Zusammentreffen in Ni-Chome. Während ich gewillt war, die Tür wieder zuzumachen, erklärte er mir, auf welche Weise er an meine Adresse gekommen war. Der erste Schritt dazu war meine Telefonnummer gewesen, und die hatte er sich in der Nacht aus meinem Handy abgeschrieben.

„Ich dachte, du würdest anrufen“, meinte er nun mit Schmollmund.

Ich ließ ihn noch immer nicht in meine Wohnung.

„Warum sollte ich?“

„Na wegen Sex!“

„Bist du ein Callboy?“

„Nein, aber wenn du willst-“

„Hau ab.“ Ich war genervt, ich war schlecht drauf. Meine Prüfungen litten schon seit Wochen unter meiner schlechten Stimmung und ich litt darunter, dass ich meinen Abschluss auf diese Weise versauen könnte.

„Ach komm schon!“ Plötzlich hatte er einen Schritt vor gemacht, er schlang die Arme um meinen Nacken. „Nur noch ein Mal…“ Seine eine Hand wanderte tiefer, er kam mir näher.

Ich schob sein Gesicht von mir, spürte seine feste Hand an meinem Schritt. Er hatte tiefschwarze Augen.

„Ohne küssen.“

„Kein Problem.“
 

Die nächste Woche verging damit, dass ich mich vor mir selbst schämte, und dennoch ließ ich Itsuki drei weitere Male in meine Wohnung kommen. Es ließ mich daran denken, dass Kida mit Rie nun auch schon drei Monate zusammen war und dass er ihn in gewisser Weise mochte, egal wie sehr er Sakuya noch liebte. Ihm hatte ich dabei gut zugesprochen, er könne nicht ewig der gleichen Person hinterher trauern… doch mir selbst machte ich Vorwürfe. Ich wollte niemanden außer Sai und dieser war wenigstens in meiner Nähe… normalerweise.

„An was denkst du?“

„An nichts.“

Spielende Finger strichen über meine Brust hinweg.

„Ach nein?“

„Ich hab Hunger“, erwiderte ich nur und wollte aufstehen.

„Warte …“

Damit griff er nach dem Hörer, der seit Sais Abreise immer in meiner Nähe verweilte, und rief einen Lieferservice an. Anschließend, das Telefon auf meinen Schreibtischstuhl gepfeffert, zu weit entfernt für mich, um es einfach zu erreichen, wie ich widerwillige feststellte, krabbelte er über mich.

Seine Lippen fanden meinen Hals, meine Brust, mein Glied. Ich stöhnte und sah Sai vor mir, wofür ich mich jedes Mal verfluchte. Wenn er wüsste, wie ich ihn in Gedanken beschmutzte… wie sollte ich ihm morgen bloß in die Augen sehen?

Nachdem wir einander befriedigt hatten, stand ich endlich auf.

„Zieh dich an“, erklärte ich und ging ins Bad.

Kaum hatte ich das Wasser angedreht, klingelte es. Mein Magen meldete sich im Einklang, ich hatte wirklich Hunger.

„Essen ist da“, rief ich und riss die Tür auf. Im selben Moment rammte sich eine imaginäre Faust in meinen Magen.

„Sai! Was machst du denn-“

„Überraschung.“ Ein sanftes Lächeln, mir wurde schlecht. Ich bemerkte die Koffer. „Ich konnte es nicht-“

Weiter kam er nicht, denn etwas hinter mir fand seine Aufmerksamkeit, oder jemand. Ich schloss für eine Sekunde die Augen. Das durfte nicht wahr sein.

„Wer… ist das?“, kam es im Flüsterton.

Nun öffnete ich die Augen wieder. Sai war kreidebleich, die Tüte in seiner Hand, die ich erst jetzt bemerkte, drohte hinunterzufallen. Ich atmete tief ein und aus und versuchte, mir selbst und der Situation Herr zu werden. Ich drehte mich um und wollte Itsuki anfahren, er solle verschwinden, doch er war schon nicht mehr zu sehen. Im selben Augenblick nahm ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr.

„Sai! Warte!“

Ich ergriff seinen Arm, nun fiel die Tüte tatsächlich zu Boden. Irgendwas darin zerbrach.

„Lass mich los!“, zischte er.

„Du verstehst das falsch, er-“

„Lass mich los, hab ich gesagt!“ Er schrie und wirbelte herum. Seine Hand traf mich im Gesicht, im selben Moment erkannte ich seine Tränen. Sie ließen es zu, dass ich sein Handgelenk noch mehr umklammerte. Mit schmerzender Wange zog ich ihn an mich.

Er kämpfte in meinen Armen und fluchte, seine Wangen glühten und seine Augen liefen über. Er schlug mich ein weiteres Mal, weniger fest als zuvor, dann schaffte ich es endlich, jegliches Aufbäumen von ihm zu stoppen. Ich untergrub all das mit einem einzigen Kuss.

„Bitte beruhige dich…“, flüsterte ich danach sanft und drückte sein Gesicht an mich.

Gleichzeitig nahm ich wahr, wie Itsuki an uns vorbeischlüpfte. An dieser Situation war wohl nicht sehr viel falsch zu verstehen. Das war es ja noch nicht mal für mich… Eine Tatsache, die mich mehr als alles andere überforderte.

Irgendwann nahm ich wahr, wie Sai sich in meinen Armen beruhigte. Er schob mich von sich und sah zu Boden.

„Lass uns reingehen“, bat er.

Und das taten wir. Er ließ sich aufs Sofa sinken, ich schaffte das Gepäck rein. Gerade als ich die Tür schließen wollte, kam der Lieferservice. Ich gab ihm sein Geld und ließ die Bestellung anschließend links liegen. Nun endlich alleine in meinen vier Wänden hatte ich nur noch Augen für die winzige Gestalt auf meinem Sofa. Zögernd ging ich zu ihr hinüber.

Ich sank in den Sessel, schob mich mit ihm näher an Sai heran, und doch weit genug weg, um ihm Freiraum zu lassen. Ich versuchte, in seine Augen zu sehen, doch er hatte den Kopf zu tief gesenkt. Nur seine glühend roten Wangen konnte ich sehen.

Ich fragte mich, wie ich anfangen sollte, und tat es schließlich mit der Wahrheit.

„Er heißt Itsuki. Ich habe mit ihm geschlafen… aber es war nur Sex.“

„Nur Sex?“, kam es schwach, fast aber abschätzend.

„Ja.“

„Wieso?“

„Weil ich schwul bin und Sex mit Männern habe, das habe ich dir von Anfang-“

„Als ich noch hier war, hast du da auch…?“

„Nein!“ Ich sah in die Augen, welche er plötzlich zu mir gehoben hatte. Ich griff nach seiner Hand, betete, die Situation nicht falsch zu verstehen.

„Wieso dann… jetzt?“

Ich zuckte mit den Schultern, innerlich noch immer kaum bereit, dies alles zu glauben. Dabei war es so offensichtlich.

„Du warst nicht hier… ich hab mich… alleine gefühlt…“

„Das hab ich auch, aber ich hab nicht-“

Dieses Mal stoppte ihn mein Finger auf seinen Lippen. Schon wieder hatte seine Stimme verzogen geklungen, doch ich wollte nicht noch mehr Tränen sehen.

„Ich liebe dich, Sai. Ich habe mit ihm geschlafen, doch das war alles. Jede Minute habe ich dich vermisst. Für mich gibt es niemanden, außer dir, verstehst du das, Sai? Verstehst du es?“

Seine Augen zitterten, als er mich genauer ansah, als seine Augen etwas zu suchen schienen und als er schließlich nickte. Jetzt erst nahm ich den Finger von seinen Lippen.

„Ich liebe dich auch“, erklang es da. „Vielleicht habe ich das schon immer getan.“
 

Was tut man, wenn das, was man sich schon immer gewünscht hat, endlich in Erfüllung geht? Wie geht man mit etwas um, von dem man nie erwartet hat, dass es je eintreffen könnte? Sollte man es sofort mit beiden Händen ergreifen oder nur vorsichtig betasten, um es nicht zu verschrecken?

Und wie versichert man sich, dass man nicht eben in einem Traum festsitzt?

Ich versicherte mir dies nicht, doch Sai tat es, als sich die Überraschung in meinem Blick geklärt hatte. Er zog mich sanft zu sich aufs Sofa und berührte mich. Mit noch immer feuchten Augen sah er mich an, während seine Finger über meine Unterarme glitten. Ich konnte kaum an mir halten, ihn nicht sofort zu küssen.

„Wieso jetzt?“, brachte ich heraus.

„Weil ich in einem Schrein gelesen habe, dass man etwas, das man sich wünscht und das man bekommen kann, mit beiden Händen festhalten soll. Man soll darauf acht geben, sonst entrinnt es den Fingern wieder. Nichts sei ein größerer Fehler als wenn man etwas abschlägt, was man sich immer gewünscht hat.“ Noch immer erkundeten seine Finger meine Haut. „Also wollte ich es dir sagen…“

„Seit wann hast du… seit wann…“ Ich konnte die Frage nicht formulieren.

„Ich weiß es nicht… Bereits nach dem Kuss an Sylvester war ich verwirrt, aber es war Alkohol im Spiel… doch dann… ich wollte immer… deine Nähe, deine Berührungen… ich hab mich so danach gesehnt. Ich habe es kaum ertragen, in deiner Nähe zu sein, ohne es dir zu sagen…“

„Aber du hättest doch jederzeit-“

Ein Kopfschütteln unterbrach mich.

„So einfach ist das nicht…“

„Wieso nicht?“

„Weil sich nichts ändern darf.“

„Was soll das heißen?“

„Dass wir so weiter machen müssen, wie bisher.“

„Bitte was?!“ Ich schlug seine Hände weg. Augenblicklich wich ich vor ihm zurück. „Sag, dass das nicht dein Ernst ist!“

Er tat es nicht. Er sah mich nur an.

Ich sprang vom Sofa auf und ich schrie. Es war irgendein konfuses Zeug, das ich von mir gab, es waren teils schon fast Beschimpfungen, es war Verzweiflung, der Ausdruck meiner Liebe. Wie konnte er mir so etwas antun? Wie konnte er mir seine Liebe gestehen und fast im selben Atemzug sagen, dass wir sie nicht leben könnten? Das hatte er doch gesagt, oder? Was glaubte er denn, wie das gehen sollte?

Während ich schrie, sank Sai in sich zusammen. Er wehrte sich nicht gegen meine Worte, widersprach mir nicht, ließ meine Wut über sich ergehen. Vermutlich hatte er gewusst, wie ich reagieren würde. Er kannte mich mittlerweile doch so gut wie niemand sonst.

Wie lange mein Ausbruch währte, weiß ich nicht, doch irgendwann verließ mich die Kraft. Ich sank in den Sessel zurück und zitterte am ganzen Körper. Außerdem hatte ich irgendwann angefangen zuweinen.

Nun, da ich die Tränen nicht mehr halten konnte, sie hinter meinen Händen vergrub und das Schluchzen unterdrückte, spürte ich wieder Sai, der zu mir kroch. Ich ließ mich von ihm in die Arme schließen und ich fragte ihn, ob er dachte, dass es wirklich genug sei, mir von seinen Gefühlen nur zu erzählen.

„So war der Spruch nicht gemeint!“, protestierte ich verzweifelt. „Das passt so nicht!“

Doch auch darauf reagierte er nicht, sondern wartete einfach ab, bis ich ruhiger wurde. Als ich ihn dann ansah, strich er mir die Wangen trocken und küsste meine Schläfe. Mir war dies nicht genug. Ich zog ihn hinunter und küsste ihn fest. Für den Moment ließ er es zu.
 

In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Ich hielt Sai in meinen Armen, der ebenso wach lag wie ich, und konnte nicht aufhören, immer wieder und wieder seinen Nacken oder seine Lippen zu küssen. Das hatte ich den ganzen Abend lang getan, während des Essens, während seiner Erzählungen über die Dienstreise. Ich konnte nicht von ihm lassen und ich war so froh, dass er mich kein einziges Mal zurück hielt. Nein, stattdessen erwiderte er die Küsse leidenschaftlich, voller Hingabe. Ich schwor mir, jeden kleinen Millimeter seines Mundes zu erkunden, doch jedes Mal hatte ich das Gefühl, es sofort wieder vergessen zu haben.

Irgendwann im Bett, bis auf die Shorts entkleidet, mit dem warmen Körper des anderen an der eigenen Haut, sprachen wir lange über die Situation. Hier erklärte er mir, dass er sich nicht von Chiga trennen würde. Weshalb nicht, wollte ich wissen, ob er sie zu sehr liebte.

„Nein“, hatte er gesagt und anschließend fest in meine Augen gesehen. Ich sah, dass er die Wahrheit sprach: „Ich liebe sie, auf gewisse Weise tue ich das… aber dir habe ich mein Herz geschenkt, Tatsuya. Ich glaube, es hat schon immer dir gehört.“

Die Firma und seine Familie waren das Problem, waren Antwort auf alles. Schon vor seiner Geburt war geplant gewesen, dass er die Erstgeborene des Firmenpartners heiraten würde. Es handelte sich um eine Kooperation, die damit besiegelt werden würde. Würde die Hochzeit platzen, wäre alles hinfällig und vielleicht triebe die Firma seines Vaters dem Ruin entgegen. Ob das nicht übertrieben sei, wollte ich wissen, doch Sai belehrte mich eines besseren. Und er sagte mir auch, dass er seine Familie nie verstoßen könnte.

Nach diesen Sätzen, nach einem letzten Kuss, versuchten wir Schlaf zu finden, doch er kam nicht über uns. Ich hatte Angst vor ihm, hatte Angst davor, am nächsten Tag aufzuwachen und mich alleine vorzufinden. Ich spürte die Wärme von Sais Körper und wusste, dass ich sie nie wieder hergeben wollen würde. Ich würde alles dafür aufgeben… warum er nicht?
 

Es muss schon Morgen gewesen sein, als ich tatsächlich nicht länger hatte wach bleiben können. Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, sofort nach Sai greifen wollte, fand ich ihn nicht. Kälte überkam mich, bis ich ihn in der nächsten Sekunde auf meinem Schreibtischstuhl entdeckte. Er sah mich an und nun lächelte er.

„Ich liebe dich“, glitt es durch den Raum und wärmte mein Herz ein wenig.

Noch ein paar Momente lang sahen wir einander an, dann erhob er sich langsam.

„Bleib noch etwas liegen… Ich muss los, Hinako erwartet mich heute zurück.“ Es war wie ein Stich ins Herz.

„Wann kommst du wieder?“ Sofort saß ich im Bett, griff nach seiner Hand.

Seine Finger umgriffen meine fest.

„Ich weiß nicht… ich… wäre es nicht besser, wenn wir uns erstmal nicht-“

„Bitte Sai, ich kann das nicht. Vielleicht kann ich versuchen, dein Freund zu sein, doch dich gar nicht zu sehen… das ertrage ich nicht.“

Er seufzte leise.

„Ich wahrscheinlich auch nicht.“ Noch immer hielt er meine Hand. „Arbeitest du morgen?“

„Erst wieder übermorgen.“

„Dann komme ich ins doubleX. Wir sollten erstmal…“ Er sprach nicht weiter.

„Ich kann das nicht.“

„Wir müssen es versuchen.“

„Weshalb?“

„Das weißt du.“

„Ich verstehe es aber nicht.“

„Bitte, Tatsuya, versuche es. Ich hab keine andere Wahl.“

„Man hat immer eine andere Wahl.“

„Ich nicht.“
 

~ * ~
 

In den folgenden Monaten fiel es mir schwer, jeden neuen Atemzug zu nehmen. Hatte ich gedacht, ich sei bereits zuvor an meine Grenzen gestoßen, so merkte ich, dass ich es erst jetzt wirklich tat. Ich ertrug es kaum, in Sais Nähe zu sein, doch nicht bei ihm zu sein, fiel mir noch schwerer. Wir berührten einander, doch wir küssten uns nie, taten auch sonst nichts, was Liebespaare taten. Nicht einmal die Worte dazu sprachen wir mehr. Eigentlich waren wir wirklich nur Freunde, so wie wir es immer gewesen waren… doch wie lebt man diesen Zustand in dem Wissen, dass man einander liebt?

Ich für meinen Teil stolperte ständig hin und her zwischen Verlangen, Sehnsucht, Verzweiflung und Wut. Ich war wütend auf Sai, das bekam er häufig mit, er sah es vermutlich auch in meinen Blicken. Ich verstand ihn nicht, seine Beweggründe, so sehr ich sie auch drehte und wendete. Ich war nicht wie er, ich fühlte anders, liebte anders. Ich war mir sicher, dass ich alles stehen und liegen lassen würde, wenn er nur nach meiner Hand greifen würde und sagte, dass wir weggingen und nie zurück kommen würden. Doch das tat er nicht. Und je mehr Zeit verging, je mehr Wochen und Monate ins Land strichen, desto besser verstand ich, dass er es nie tun würde.
 

In diesen Nervenfressenden Zeit machte ich meinen Abschluss und bestand ihn nur deshalb mit einer guten Note, weil Sai mich am Ende fast zum Lernen zwang. Anschließend bekam ich ziemlich schnell einen Job, was gut war, denn es lenkte mich ab, zumindest ein kleines bisschen. Es hielt wenigstens für ein paar Stunden die Gedanken von mir fern, die Fragen, welche ich ihm nicht stellen wollte. Ich wollte nicht beantwortet wissen, wie seine Gefühle für Chiga waren, wie oft er sie küsste oder ob er noch immer mit ihr schlief. Ich konnte allein dem Gedanken daran kaum standhalten.

Irgendwann erzählte ich Ryouta von der ganzen Situation. Seit unserem Abend in Ni-Chome war er nun glücklich liiert mit einem Mann namens Kaname; ein sehr freundlicher, stiller Mann, der ebenfalls HIV-positiv war und der Ryouta oft zum Lachen brachte. Es war schön, ihn endlich mal so glücklich zu sehen, doch erinnerte es mich jedes Mal daran, was ich haben könnte, wenn Sai doch nur ein kleines bisschen anders denken würde.

Ryouta gab mir keinen Ratschlag, das konnte er nicht. Was hätte er auch sagen können, was ich nicht schon längst wusste? Dass ich die Option hatte, Sai aufzugeben? Das wusste ich nur zu gut, doch ich glaubte nicht, dass ich das jemals können würde… Außerdem hätte ich zu Sais Vater oder Chiga gehen können, um die Bombe platzen zu lassen, doch auch das war außer Frage. Nicht nur, dass es ja nicht mal sicher war, ob sie mir überhaupt glauben würden; viel mehr noch wollte ich Sais Vertrauen nicht auf diese Weise missbrauchen. Würde ich diesen Schritt unternehmen, hätte ich in jedem Fall eine Beziehung vergessen können… und selbst wenn nicht, wie hätte ich Sai je wieder in die Augen blicken können?

Doch wenn beides keine Optionen für mich waren… was blieb mir dann noch außer das Ertragen der Situation? Natürlich, oft spielte ich mit dem Gedanken, Sai zu fragen, ob wir nicht heimlich diese Beziehung führen könnten, doch ich tat es nie. Ich glaubte nicht, dass er einen solchen Vertrauensbruch Chiga gegenüber begehen könnte. Also versuchte ich einfach immer nur weiter zu atmen.
 

Nicht nur einmal gelangte ich während der Zeit an den Punkt, an dem ich daran zweifelte, ob Sai mich überhaupt wirklich liebte. In solchen Phasen zog ich mich vor ihm zurück, vergrub mich in mir selbst und versuchte nur, diesen Gedanken zu ertragen. Er war schwerer als die Zeit zuvor, in der ich gar nicht erst mit Gefühlen gerechnet hatte. Nun, da er mir allerdings gesagt hatte, er würde mich lieben, tat es höllisch weh, daran zu zweifeln.

Doch wie hätte ich nicht zweifeln können? Er sagte es mir nicht, er zeigte es mir kaum mit Blicken und harmlosen Berührungen. Wie konnte ich wirklich sicher sein, dass dieser Mann dasselbe empfand wie ich?

Ich war es nicht und das war der Grund, weshalb ich mich irgendwann immer weiter von ihm distanzierte. Wenn ich bei ihm war, schwirrte immer diese eine Frage in meinem Kopf herum, und ich konnte ihm kaum noch normal ins Gesicht sehen; also sagte ich so manches Treffen ab, hielt unsere Telefonate knapp, warf ihm dann und wann vor, wie er nur so mit mir umgehen könnte. Schließlich ging ich nicht mal mehr dran, wenn er anrief. Ich benahm mich wie ein pubertierendes Kind, das wusste ich ganz genau, doch in diesen Wochen konnte ich mit ihm einfach nicht anders umgehen. Ich hoffte, dass er es verstehen würde, wenn er mich nur genug liebte… womit ich schon wieder bei meinen Zweifeln ankam.
 

Der Tag, der alles veränderte, war ein eiskalter Dezembertag. Ich war gerade von meiner ersten einwöchigen Dienstreise zurück, hatte kaum meine Klamotten abgelegt, als es auch schon an der Tür klingelt. Vor mir stand ein zitternder Sai, dessen Gesicht wutverzerrt war. Seit nun fast zwei Wochen hatte ich nicht mehr mit ihm gesprochen; die vielleicht längste Phase, die es während unserer Freundschaft je gegeben hatte. Und auch jetzt, da er vor mir stand, wollte ich ihn nicht sehen, denn ich wollte ihn küssen, ihn festhalten und nie wieder loslassen. Ehe ich jedoch auch nur irgendetwas tun konnte, stieß er mich zur Seite und trat in die Wohnung. Er schlug meine Tür zu, atmete schwer und ich sah, dass er kurz vorm Weinen war. Gerade als ich etwas sagen wollte, packte er mich am Kragen.

„Liebst du mich noch?“, presste er hervor und die ersten Tränen fanden ihren Weg.

Verwirrt konnte ich nur nicken.

„Wirklich?“ Seine Finger krallten sich fester.

„Ja, natürlich liebe ich dich noch.“

„Ich liebe dich auch! Verdammt noch mal, ich liebe dich auch!“

Er sank zu Boden und ich ging mit ihm. Ich verstand gar nichts mehr. Woher diese Verzweiflung, was war denn geschehen? Mir gefiel es so ganz und gar nicht.

„Sai, was ist de-“

„Hast du mit Ryouta gesprochen?“, kam es unter Tränen. Er klammerte sich am Boden an mir fest.

„Nein, wieso?“

Ich war gerade erst angekommen. Mein Handy hatte ich absichtlich Daheim gelassen, um nicht in Versuchung zu kommen, Sais Anrufe zu erwidern. Das hatte ich Ryouta aber gesagt.

„Aids“, traf das Wort mich unvorbereitet, noch während ich in Gedanken mein Handy suchte. „Es ist ausgebrochen. Er ist im Krankenhaus und-“

„Er ist was?“ Mit einem Mal stand ich wieder auf den Beinen. Plötzlich stach mir die Ziffer auf meinem Anrufbeantworter entgegen. 30, das Maximum. Sofort war ich da und hörte die Nachrichten ab. Sai kauerte noch immer bei der Tür und bewegte sich keinen Millimeter.

Die ersten Nachrichten waren nur von Verzweiflung geprägt, bereits drei Tage waren sie alt. In der vier- oder fünften dann kam die eigentliche Nachricht… und das Schlimmste war, dass es mich voller Erleichterung traf.

„Kaname hat Aids“, so ungefähr lautete sie unter Ryoutas grässlich verzehrter Stimme.

Sein Freund, nicht er.

Das Herz schmerzte mir in der Brust.
 

Die nächsten zwei Stunden vergingen damit, dass ich mit Ryouta telefonierte. Ich wollte zu ihm, doch er sagte, er sei im Krankenhaus und gerade sei das keine so gute Idee. Er weinte am Telefon und ich fühlte mich schrecklich, da ich kaum wusste, was ich sagen sollte. Sai saß neben mir und hielt die ganze Zeit meine Hand. Wann immer ich ihn ansah lag Verzweiflung in seinem Blick. Ich hatte das Gefühl, die Nachricht habe ihn noch mehr mitgenommen als mich.

Ich versicherte Ryouta, dass er jederzeit anrufen oder vorbeikommen könnte, versprach ihm dann, am nächsten Tag zu ihm zu kommen. Ich wollte kaum auflegen, doch er ließ mich von Kaname grüßen, der nun wieder aufgewacht sei, und verabschiedete sich schließlich.

Danach begrub Sai und mich die Stille.

Ich glaube, es vergingen zwei Ewigkeiten bis jemand etwas sprach, und es war mein Magen, der dies tat. Sais Hand in meiner lockerte sich sofort.

„Ich hab heute noch nicht wirklich was gegessen…“, erklärte ich zögernd und stand auf.

Eigentlich wollte ich viel lieber sitzen bleiben, Sai an mich ziehen und seinen Geruch in mir aufnehmen. Ich wollte sein Wärme spüren, mir versichern, dass es ihm gut ging… ich wollte sein Herz spüren wie in dem kurzen Moment an der Tür. Nun war dieser vergangen und ich war mir sicher, dass er nicht zurückkehren würde.

Sai ließ mich los, als ich stand; sein Blick zeigte Sehnsucht, zumindest kam es mir so vor. Ich konnte mich schwer davon trennen, bis mein Magen sich erneut meldete.

Zögernd begab ich mich die paar Schritte bis zur Küchenzeile.

„Möchtest du auch etwas essen?“

Keine Antwort, ich machte daraus ein Ja.

Seinen Blick im Rücken spürend, holte ich zwei Schüsseln aus dem Gefrierfach und stellte sie in die Mikrowelle. Mir war nicht nach kochen zumute, eigentlich hatte ich noch nicht mal Appetit. Ich stützte mich auf die Küchenzeile und hörte noch immer Ryoutas verzweifelte Stimme tief in mir drin. Es fraß mich auf, ihn so zu hören… wie ertrug er das Atmen bloß gerade?

Ich riss mich los und drehte mich zu Sai. Reglos saß er da und sag mich an. Nun plötzlich vernahm ich wieder seine Liebesbekundung und einen Moment lang fragte ich mich, ob ich ihn darauf ansprechen sollte. Irgendwas schien in seinem Innersten zu brodeln. Würde er es herauslassen, wenn ich einen Schritt in seine Richtung machte?

Die Mikrowelle meldete sich und störte mich in meiner Entscheidungsfindung. Ich belud zwei Teller und trug sie zum Tisch, mich fragend, was wir wohl für eine Konversation treiben würde. Überhaupt irgendeine? Ich holte noch eine Schüssel mit Reis und hatte sie fast abgestellt, als Sais Worte mich ohne jegliche Vorwarnung trafen.

„Ich will mit dir schlafen.“

Der Inhalt und die Scherben der Schüssel ergossen sich über den Boden, doch keiner von uns beachtete sie auch nur eine Sekunde lang.

Ich glaube, ich stand mit offenem Mund da. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn anzustarren, während die Worte in meinem Kopf Karussell fuhren. Ich nahm sie auseinander, setzte sie wieder zusammen. Es kam immer dasselbe dabei heraus. Und gleichzeitig traf mich der sehnsüchtige Blick aus einem roten Gesicht und den schönsten Augen der Welt.

„Sai, das…“ Endlich richtete ich mich auf. Ich schloss die Augen und als ich sie wieder öffnete, musste ich ihn einfach fragen, ob das sein Ernst war.

„Ja“, sagte er bloß und stand auf. Er trat über die Scherben hinweg und griff nach meiner Hand. „Bitte, ich kann nicht mehr.“
 

Noch nie in meinem Leben hatte ich eine derartige Angst etwas falsch zu machen wie an diesem Abend; und ich war wohl noch nie derart nervös gewesen. Nachdem Sai mich an der Hand ins Schlafzimmer gezogen hatte, begriff ich die Situation überhaupt erst wirklich und gefror zur Salzsäule.

Ich hatte mir unzählige Male vorgestellt, wie es sein würde, das erste Mal mit Sai zu schlafen. In meinen Träumen war es das schönste Erlebnis meines Lebens, Sai und ich die glücklichsten Menschen der Welt. Dass ich allerdings vollkommen ratlos sein und Sai zuerst die Initiative ergreifen würde, nein, damit hatte ich nicht gerechnet.

Er streckte die Arme nach mir aus und küsste mich sanft. Ich klammerte mich an die Lippen, hatte ich sie doch seit Monaten nicht mehr berühren dürfen. Ich hing an Ihnen wie ein ertrinkender, klammerte mich an meinen Rettungsanker und sankt schließlich mit ihm aufs Bett hinab. Hier übersäte ich mehr als seine Lippen mit sanften Küssen. Ich zog ihm die Kleider fast gänzlich vom Leib, ließ meine Hände wandern, genoss das leise Stöhnen, das seine Lippen verließ.

Sais Haut fühlte sich herrlich an, so schön, wie ich sie in Erinnerung hatte, wenn nicht noch um so vieles heißer. Ich konnte nicht aufhören, sie zu berühren, zu liebkosen. Ich verstand kaum, was vor sich ging, dass es tatsächlich seine Hand war, die sanft in meine Shorts glitt, mir ein Stöhnen entlockte.

„Ich liebe dich so sehr“, flüsterte ich ihm ins Ohr, während auch ich ihn zaghaft berührte, während er sich unter meinen Händen wand.

Dass es allerdings genau diese Worte sein würden, die alles zum Kippen brachten, das hatte ich nicht erwartet.

Mit einem Mal sah er mich wieder anders an, seine Bewegungen stoppten, seine Hände verließen tiefe Gegenden, um sich in meine Schultern zu graben. Plötzlich war sein Gesicht wieder schmerzverzerrt.

„Es tut mir leid“, keuchte er und drückte sich an mich. „Ich wollte nicht… ich… aber ich… Tatsuya… das ist… es tut mir… verdammt!“

Plötzlich konnte ich ihn kaum noch halten. Er wand sich unter mir, nun nicht mehr aus Extase. Er schlug die Hände vors Gesicht und brach mit einem Mal wieder in Tränen aus.

„Ich werde es ihnen sagen“, schluchzte er. „Ich kann das so nicht! Ich kann nicht… ich will…“

Ich riss die Hände von seinem Gesicht zurück und drückte sie an meine Brust. Mit mir zog ich ihn in die Höhe, küsste ihn hier, befreite eine Hand und zog ihn an mich. Er schluchzte an meiner Brust.

„Es ist okay“, flüsterte ich ihm ins Ohr, während sein Körper bebte. „Ich bin bei dir, verstehst du? Ich verlass dich nicht.“
 

Wir schliefen in dieser Nacht nicht miteinander, ich dachte nicht einmal mehr daran. Stattdessen sagte er mir immer und immer wieder wie sehr er mich liebe. Und er redete von Ryouta, von Chiga, von den letzten Monaten. Plötzlich verstand ich, dass auch er gelitten hatte. Nicht nur mir war es schlecht ergangen, nicht nur ich hatte kaum Atem finden können. Wieso war ich so blind gewesen und hatte seine Sehnsucht nie gesehen?

Dass Sai irgendwann mitten im Satz einschlief, bewies nur seine Erschöpfung. Seit drei Tagen nun hatte er wieder und wieder vor meiner Tür gestanden, hatte nicht gewusst, wann ich wieder da sein würde, hatte scheinbar sogar Angst gehabt, ich würde nicht zurück kommen. Die menschliche Vergänglichkeit durch Kaname vor Augen geführt, hatte ihm furchtbare Angst eingejagt, so sehr, dass er sich selbst in den Träumen an mich klammerte.

Ich streichelte noch lange sein Haar, bis auch mich endlich der Schlaf übermannte.
 

Der nächste Morgen war der erste, an dem ich aufwachte und Sai in den Armen hielt. Wie lange hatte ich es mir gewünscht? Kaum konnte ich die Wirklichkeit glauben. Doch sie war es, das bewies mir das sanfte Lächeln des Mannes, den ich liebte, und der mich nun schon eine ganze Weile beobachtete.

„Ich sehe dir gerne beim Schlafen zu“, lächelte er und küsste mich. „Das habe ich schon immer getan.“

Dieser Eröffnung traf mich überraschend, lief mich ihn fester küssen.

Konnte man einen Menschen mehr lieben als ich ihn? Ich glaubte nicht daran.

„An was hast du gedacht?“, fragte ich, als ich mich wieder von ihm gelöst hatte.

Dass sein Blick wieder traurig werden würde, hatte ich nicht erwartet. Er bewegte sich ein bisschen, setzte sich nun auf.

„Ich werde es ihm sagen.“

„Wem? Was?“ Unverständnis, oder besser gesagt wollte ich nicht verstehen. Hatte ich doch ewig auf diese Worte gehofft, so trafen sie mich jetzt voller Unbehagen.

„Meinem Vater, das mit uns.“ Er stand auf.

Sprachlos konnte ich ihm nur dabei zusehen, wie er das Schlafzimmer verließ. Erst als ich die leise piepsenden Tasten des Telefons hörte, stand auch ich auf.

Das Zimmer verlassen, stieg mir der Geruch von erkaltetem Essen in die Nase. Jetzt erst sah ich die Bescherung des gestrigen Abends, doch ebenso wenig wie da beachtete ich sie jetzt. Stattdessen setzte ich mich zu Sai, der das Telefon anstarrte.

Ich wollte ihm sagen, dass er das nicht tun musste, doch die Worte verließen meine Lippen nicht. Ich hatte es mir gewünscht, oder nicht? Wie hätte ich ihn aufhalten können?

Also sah ich zu, wie er die Taste bestätigte, wie er den Hörer ans Ohr führte und für ein paar Sekunden die Augen schloss. Es war so leise um uns herum, dass sogar ich hörte, wie jemand ab nahm. Sai bat, zu seinem Vater durchgestellt zu werden. Nun öffnete er die Augen wieder; sie blickten direkt in meine.

Dieser Blick war es, der mich vorschnellen ließ. Innerhalb von Bruchteilen hatte ich ihm den Hörer aus der Hand gerissen, aufgelegt und das Ding von uns geschleudert. In der nächsten Sekunde presste ich Sai an mich wie noch nie zuvor.

„Verdammt!“, flüsterte ich, und klammerte mich an seine nackte Haut. „Verdammt, verdammt, verdammt!“

Sai sagte nichts, stattdessen ließ er mich fluchen. Und das tat ich, sicher Minuten lang.

Ich war es, den ich verfluchte, denn ich hatte eine Entscheidung getroffen.

Ich würde alles für Sai aufgeben, dass hatte ich mir schon lange geschworen. Nun wusste ich, was es war, das ich aufgeben musste. Ich würde meine Freiheit aufgeben, mein Leben ohne Versteckspiele. Ich würde es aufgeben, je in der Öffentlichkeit seine Hand halten zu können, würde es aufgeben ihn allen stolz als meinen Freund vorzustellen. Ich würde das Leben aufgeben, welches ich mir erträumt hatte. Es war nur ein kleiner Preis für das, was ich stattdessen bekam. Ich bekam ihn, das verstand ich nun. Ich musste nur ein paar kleine Opfer bringen, dann würde ich nie wieder diese Verzweiflung und Angst in seinen Augen sehen müssen, wie in dem Moment, als er den Hörer mit zitternder Hand ans Ohr gehalten hatte. Es war ein Blick gewesen, den ich nie erwartet hatte, den ich nie wieder sehen wollte. Und dafür durfte ich nur eines nicht tun; ich durfte ihn nicht von seiner Familie losreißen.
 

~ * ~
 

Der Dezember ging, das neue Jahr kam… und mit ihm eine Zeit, die ich mir damals, als ich noch fünfzehn gewesen war, aufs sehnlichste erträumt hatte. Gut, es lief anders ab als in schönen Jugendträumen, weniger rosarot, problembehafteter, einfach realistischer halt… und doch verstand ich mit jedem Tag das, was Sai damals in diesem Tempel gelesen hatte:

Es gibt keinen größeren Fehler als etwas, das einem gegeben wird, abzuschlagen, wenn man es sich immer gewünscht hat.

Ich schrieb dies auf einen Bogen Papier und hängte es gerahmt über mein Bett, genau an die Stelle, an der es noch immer hängt, heute, Jahre später. Und es ist noch immer genauso wahr.

Natürlich gab es dennoch oft genug Tage, an denen die Worte einem nicht halfen, den Kopf zu heben. Am schlimmsten von uns allen traf es dabei zweifellos Ryouta. Die letzten Monate seines Freundes waren der Graus. Man sah den hübschen Mann förmlich im Bett verfallen, während Ryouta bleich und abgemagert neben ihm saß und nichts tun konnte, als bei ihm zu sein und seine Hand zu halten. Ich verbrachte in diesen Monaten viel Zeit bei den beiden, bei Ryouta. Ich wusste nicht, wie ich ihn auffangen sollte, doch ich wollte ihn wenigstens stützen so gut es ging. Sein Lachen verlor, Kaname merkte, wie künstlich es war, wenn er es ihm schenkte. Wir alle merkten es und die Situation zerriss uns. Doch wir konnten nichts dagegen tun.
 

Es ist im Leben immer so, dass einen die schwersten Zeiten zusammenschweißen. Sai und mir hatte sie, so banal das klingen mag, das letzte Stück Weg geebnet und sie zeigte uns immer deutlicher, dass wir uns nicht zerreißen lassen wollten. Natürlich wurde dies aber mehr als nur ein Mal auf die Probe gestellt. Zwar wussten wir nun für uns, dass wir ein Paar waren, doch sonst wusste es fast niemand. Chiga begriff nicht, weshalb wieder eine Zeit anbrach, in der Sai immer öfter bei mir war; und doch sah ich ihn gleichzeitig nur selten, denn seine Arbeit forderte ihn zunehmend. Wir konnten nichts anderes tun, als die Minuten, die wir gemeinsam hatten, zu genießen, auszukosten, zu erinnern. Wir lachten dann und versuchten zu vergessen, welche Schwere um unsere Beziehung wog, wir versuchten uns, eingesperrt in meinen vier Wänden, frei zu fühlen.

Als wir schließlich das erste Mal miteinander schliefen, fast einen Monat nach dem ersten Anlauf, entsprach es doch ein wenig mehr den Vorstellungen, die ich gehabt hatte. Es war schön, wir genossen die sanften Berührungen und ich hatte einen anderen Menschen noch nie so intensiv wahrgenommen wie ihn. Beim ersten Mal, nun nicht mehr durch die Sehnsucht betrunken, war Sai sehr schüchtern. Er sagte mir vorher, dass er ein wenig Angst davor hatte, dass er sich nicht sicher war, ob er es wirklich können würde, obwohl er es so sehr wollte. Ich versicherte ihm nur immer wieder, dass ich ihn zu nichts drängen würde, und letztendlich teilten wir einen Moment, der intimer kaum hätte sein können. Es war, als würde sein Herz ausgebreitet vor mir liegen. Ich konnte alles sehen, jedes Puzzelteil seines Seins. Nun würde uns nichts mehr trennen können, plötzlich war ich mir dessen sicher.

Doch diese Sicherheit schwand, dann und wann, in manchen Situationen. Die wohl heftigste davon traf uns im September; neun Monate lang hatten wir unser Versteckspiel feinsäuberlich gespielt, hatten es fast perfektioniert. Wir waren uns sicher, niemand würde uns für mehr als nur Freunde halten, wenn wir es nicht wollten… und dennoch gab es einen Riss in dieser Maske, einen unachtsamen Augenblick. Man kann sagen, fast hätte er alles zerstört.
 

Es war nach einer von Sais Dienstreisen. Eine kürzere, bereits die dritte in diesem Jahr. Wir hatten abgemacht, dass ich ihn von der Arbeit abholen würde und ich freute mich schon die ganze Zeit darauf… doch an jenem Tag passierte etwas, das man sonst nur in Büchern liest oder Filmen sieht. Im eigentlichen Sinne war es einfach nur ein Zufall, doch einer, über den keiner von uns lachen konnte; noch heute kann ich das nicht.

Wir waren unvorsichtig, das waren wir tatsächlich. Gerade im Auto angekommen, mitten in einem nahezu verlassenen Parkhaus, ließen wir uns zu einem Kuss hinreißen; ein leidenschaftlicher, eindeutiger Kuss. Wie hatten wir nur so leichtsinnig sein können?

Heute kann man von Glück sagen, dass es nur Chiga war, die uns sah, damals jedoch schien es, als würde die Welt untergehen. Die Fernlichter des Autos blendeten uns, wir fuhren auseinander, und als das Licht erlosch, erkannten wir wohl in der selben Sekunde, welches Auto es war, das soeben mitten auf der Parkhausfahrbahn gehalten hatte.

Sai neben mir erstarrte zu Stein, ich suchte nach einem Fluchtweg, doch nichts davon half natürlich, denn Chiga hatte bereits alles gesehen, was es zu verstehe gab, man erkannte es deutlich in ihrem Blick, als sie aus dem Auto stieg.

Ich war der erste, der es schaffte, unser Auto zu verlassen. Ich wollte sie aufhalten, ihr sagen, dass ich es gewesen war, der Sai überrumpelt hatte. Er habe es nicht gewollt. Für einen Moment war ich bereit, uns zu verleugnen, damit nicht sein ganzes Leben in Scherben zerfallen würde. Chiga jedoch hörte scheinbar kein Wort von dem, was ich sagte. Sie riss die Fahrertür auf und zerrte Sai heraus. Sie schlug ihm ins Gesicht, zwei Mal, dann schrie sie Verwünschungen, abfällige Worte; der Hass dieser Frau war geschürt und schlimmer weise verstand ich sie nur zu gut. Sie liebte Sai; er hatte ihr das vielleicht Schlimmste angetan, was sie sich hatte vorstellen können.

Die nächsten Momente vergingen sehr schnell und während Sai und Chiga mit ihrem Auto davon fuhren, trotte ich zur Bahn und konnte mir nur ausmalen, was nun passieren würde. Alles malte ich mir aus, egal wie unrealistisch es war; in meinen Vorstellungen war Chiga die Hexe, die Sai buchstäblich zerstückelte. Ich fragte mich, auf welche Weise wir einander wohl wieder sehen würden. Würde ich ihn je wieder berühren dürfen?

Fast eine Woche lang dauerte es bis ich Sai das nächste Mal sah. Bis zu dem Tag konnte ich mich nur an die SMS klammern, welche er mir noch am selben Tag geschrieben hatte.

Ich werde uns nicht aufgeben, stand darin. Es half mir, Hoffnungen zu behalten.
 

Ich erfuhr nie wortwörtlich, was zwischen den beiden geredet wurde an jenem Abend. Sai erzählte es mir mit seinen Worten und dann bat er mich, dass wir nie wieder über dieses Thema reden würden. Er wollte nicht zu oft in Worte fassen, dass er seine Seele verkauft hatte; zumindest er nannte es so.

Das Ergebnis des Ganzen sah so aus, dass er innerhalb des nächsten Jahres zum Altar schreiten würde.

Mir verschlug es die Sprache, als er dies sagte. Ich konnte es kaum glauben, bis er mir die Umstände genauer darlegte.

Sie würde nichts sagen, sie würde dichthalten und weiterhin seine Freundin, Verlobte, Frau, Geliebte mimen, doch dafür musste er sie heiraten. Sie wollte einen Preis für ihr Schweigen, wollte das, was ihr seit Jahren versprochen war. Auf diese Weise würde sie für ewig an ihn gebunden sein; sie würde zu ihm gehören, anders, enger als ich. Das war ihre Rache an uns beide.

„Und sie will ein Kind“, flüsterte Sai schließlich, konnte mich dabei kaum ansehen, „nicht so bald, aber irgendwann… wenn ich ihr diese Wünsche erfülle, bleibt alles wie bisher.“

„Wie bisher?“ Nun war ich es, der ihn anschrie, während in meiner Brust mein Herz zerriss. „Weißt du eigentlich, was das heißt?“

Ich konnte nicht anders als wütend auf ihn zu sein. Neun Monate lang hatte ich es akzeptiert, dass ich eigentlich nur so etwas wie die Affäre war, weil es einfach nicht anders ging… doch jetzt verkaufte er sich tatsächlich an sie. Er war bereit, den Schritt zu gehen, von dem es kein Zurück mehr geben würde.

„Es geht noch immer nicht anders!“, versuchte er es verzweifelt, doch an diesem Abend wollte ich ihm nicht zuhören, vergaß kurzzeitig die Entscheidung, die ich neun Monate zuvor getroffen hatte.

Es ging immer anders, das musste er nur endlich begreifen.
 

~ * ~
 

Am 23. März, drei Monate darauf, genau an meinem Geburtstag, gaben sich Sai und Chiga im festlichen Rahmen das Eheversprechen. Er hatte alles versucht, einen anderen Termin zu finden, doch sie hatte nur mit den Wimpern klimpern müssen, da hatte sein Vater den Termin für die öffentliche Trauung genau auf dieses Datum gelegt. Ich verabscheute sie dafür, ihr machte es sichtlich Spaß, was sie mir mit nicht nur einem gehässigen Blick bewies. Sais Blick traf mich an diesem Tag kein einziges Mal und er gratulierte mir auch nicht zum Geburtstag, da er genau wusste, dass ich diese Worte nicht von ihm hören wollte. Bereits seit Tagen hatte er mir wieder und wieder versichert, dass sich nichts zwischen uns ändern würde. Er liebte mich, mir gehörte sein Herz, das würde sich nie ändern, egal ob mit oder ohne Trauring an seinem Finger. Ich glaubte ihm und dennoch fühlte ich mich wie maßgeschneidert auf unserer Bank der Verlassenen. Kida hatte sich vor einigen Monaten von Rie getrennt und Kaname war im November gestorben. Ryouta hatte zwar wieder Farbe angenommen und dennoch sah er so aus, wie ich mich fühlte. Natürlich ist es ungerecht, etwas Derartiges zu denken, und dennoch konnte ich an diesem Tag nicht anders, als ich sah, wie Sai den Ring an den Finger gesteckt bekam. Noch nie in meinem Leben hatte ich mir so sehr gewünscht, einfach von dieser Welt verschwinden zu können.

Ich sah nicht einen Tag Zukunft für uns.
 

Doch die Welt drehte sich weiter und ich mit ihr. Ich versuchte, meine Gefühle in mir zu verschließen und nur das zu sehen, was ich bekam. Ich wollte nicht undankbar sein; er war noch immer bei mir, küsste mir, sagte mir immer wieder seine Liebe… und dennoch konnte ich nicht anders, als immer und immer wieder daran zu denken, dass er nie ganz mir gehören würde, dass wir nie zueinander gehören würden… dass es eine Entfernung zwischen uns gab, die niemals überwunden werden würde.

Und diese Entfernung wurde größer. Sai hatte mir zwar versprochen, dass sich nichts ändern würde, doch ganz konnte er dieses Versprechen nicht halten. Direkt nach der Hochzeit veranlasste sein Vater, dass er mit Chiga in ein Haus zöge, ein Stück abseits, in einen ruhigerer Teil von Tokyo. Auf diese Weise wohnte Sai nun nicht mehr nur dreißig sondern fast sechzig Bahnminuten von mir entfernt. Zudem häuften sich die Termine, die Geschäftsreisen. Nun vollkommener Teil der Firma, musste er sich für diese hergeben, für sie werben und etliche Überstunden arbeiten. Zwar verbrachte er wann immer es möglich war seine Zeit bei mir, doch immer wieder beanspruchte auch Chiga ihn für sich. Sie wollte hier zu einer Ausstellung, da zu einer Feier, immer mit ihrem hübschen Ehemann und dem Wissen, dass sie uns auf diese Weise auseinander riss.

Sie wusste mit Sicherheit genau, dass sie uns auf diese Weise immer näher an die Klippe trieb.
 

Ich muss gestehen, dass ich mir in den ersten Wochen, gar Monaten oft vorstellte, dass es auch wieder besser werden würde, noch während ich den Abgrund vor mir sah. Wir würden wieder mehr Zeit füreinander finden, vielleicht sogar ab und an zusammen Urlaub machen können. Doch dem war nicht so und letztendlich sieht es so aus, dass diese Woche San Francisco das erste Mal ist, dass wir für längere Zeit zusammen wegfahren. Ich habe keine Ahnung wie Sai es geschafft hat, die Erlaubnis seiner Frau dafür einzuholen, doch ich will es auch nicht wissen. Wir sprechen ohnehin kaum über die Situation. Wenn wir es tun, dann streiten wir oft, und das wollen wir beide vermeiden. Außerdem schmerzen die Worte, weshalb wir die Minuten, die Stunden und Nächte, die wir dann und wann teilen können, lieber versuchen, zu genießen. Doch es ist schwer… und ich hab das Gefühl, dass es von Tag zu Tag schwerer wird.

Ob es wirklich ewig so weitergehen kann?
 

~ * ~
 

Meine Brust zieht sich zusammen, mit einem schweren Atemzug ringe ich nach Luft und versuche das Gefühl von Tränen zu unterdrücken. Ich weiß schon lange, dass es nichts bringt, zu weinen oder überhaupt traurig zu sein. Ich sollte glücklich sein, für solche Momente wie diese, in denen ich deine Hand halten kann…

Meinen innerlichen Schmerzensstich bemerkt, siehst du mich nun an. Ich erwidere deinen Blick, streife dabei leicht mit meinem Daumen deinen Handrücken. Dass du diese Berührung in dieser Flugzeugöffentlichkeit zulässt, ist dass deine Entschuldigung für gestern Nacht? Ich versuche ein Lächeln, nun, da ich in deine Augen blicke. Sie zeigen noch immer diese Liebe zu mir, welche ich in ihnen erkenne, seit jenem Tag unseres ersten wirklichen Kusses. Manchmal jedoch habe ich das Gefühl, dass mich die Liebe zu dir auffrisst, irgendwann. Ich weiß, dass ich glücklich bin, dein Herz bei mir zu wissen, wo immer du bist, doch ich weiß nicht, ob mir das auf ewig genug sein kann.

Ich wende den Blick wieder ab, dein Kopf bettet sich an meiner Schulter, deine Hand verfestigt sich ein bisschen.

Du weißt wie ich fühle, du kennst die Zweifel, die ich hege. In den letzten Monaten haben wir häufig darüber diskutiert; mit jedem Jahr, das vergeht, fällt es mir schwerer, diese Distanz zu dir zu halten. Es gibt Wochen, in denen wir uns gar nicht sehen, Zeiten, in denen wir kaum telefonieren können. Ich vermisse dich höllisch in jeder dieser Sekunden, merke, wie es immer mehr von mir zerfrisst. Ich bin auf gewisse Weise ein anderer Mensch geworden als ich es früher war. Ich sehe viele Dinge heute mit anderen Augen, sehe nicht alles als selbstverständlich an, weiß, wie dankbar man sein sollte, für all das, was einem gegeben wird. Ich bin erwachsener geworden, natürlich bin ich das, doch die fast fünf Jahre, die unser Versteckspiel nun dauert, verlangen mir mehr als nur etwas Energie ab.

Sanft beginnst du nun mit deinen Fingern, meine Haut zu streicheln. Dass du mich von meinen Gedanken so nicht ablenken kannst, das weißt du, doch ich weiß, dass du alles tust, um mir zu zeigen, dass du bei mir bist. Jede Minute, die wir miteinander verbringen, willst du mir zeigen, dass es der Ort ist, an dem du dich am wohlsten fühlst… das weiß ich und dennoch kann ich dich jedes Mal kaum gehen lassen, denn jedes Mal erneut kommt die Frage in mir auf: kann dies wirklich ewig so weitergehen?

Du weißt genau, dass diese Frage in mir brennt, denn ich lüge dich nicht, ich sage dir alles von mir, und selbst wenn ich es nicht täte, würdest du alles verstehen. Es gibt niemanden, der mich besser kennst als du. Das ist eine Tatsache, die ich niemals ändern möchte.

Und dennoch… Natürlich habe ich oft genau über diesen Punkt nachgedacht; über das Ändern. Auch du hast das, erwähntest in der Anfangszeit häufig, dass du verstehen würdest, wenn ich mir jemand anderen suchen würde. Oft gab es Streit um diesen Punkt, weil ich nicht begriff, wie du in diese Richtung überhaupt denken konntest. Immer und immer wieder versicherte ich dir, dass ich nie einen anderen Menschen sehen würde. Und so denke ich immer noch, auch wenn mein Verstand mir manches Mal sagt, dass es anders ratsamer wäre. Es würde mir auf Dauer besser tun, wenn ich mich von dir fernhielte, wenn ich versuchen würde, mein eigenes Leben ohne dich zu führen. Ich weiß, dass das stimmt, doch noch kann ich mir nicht vorstellen, dass ich diesen Schritt irgendwann gehen will.

Ich habe einmal zu dir gesagt, dass ich dich nie verlassen würde, und noch immer halte ich daran fest. Ich bin immer für dich da, egal wie die Eifersucht mich zerfrisst, egal wie weh es irgendwann tun wird, dich mit deinem Kind auf den Armen zu sehen. Ich werde immer an deiner Seite stehen und dich stützen, auch wenn ich unter der Last zu zerbrechen drohe. Ich bin stark, daran glaube ich, daran muss ich glauben.

Ich führe deine Finger zu meinen Lippen und lege sanft einen Kuss hinauf. Sie warme Haut schmiegt sich an meine Lippen.

Vielleicht war es ein Fehler, diese Hand ergriffen zu haben, doch ich möchte sie nie wieder loslassen.

Ich drehe den Kopf ein Stück und sehe dir in die Augen. Ich forme Worte, die nur du verstehst, und für einen winzigen Moment schlägt mein Herz schneller, als ein Lächeln deine Züge erreicht.

Diese Augenblicke sind es, für die ich weitermache, die mich all den Streit, all das Getrenntsein vergessen lassen; es sind diese winzigen Momente, in denen du mir dein Lächeln schenkst und mir zeigst, dass auch du es nicht bereust, meine Hand ergriffen zu haben. Noch sind diese Momente, die nur uns gehören, alles was ich brauche, um durchzuhalten, und ich bete dafür, dass es immer so bleiben wird, trotz meiner Angst vor jeder neuen Sekunde, die auf uns wartet.
 

Part 80 - Ende
 

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Von:  risuma
2009-08-12T08:52:06+00:00 12.08.2009 10:52
Hallo, ihr Beiden!

Lange hats gedauert, aber nun bin ich endlich zum lesen gekommen *freu*

Stiffy, das ist wirklich wieder ein wunderschönes Kapitel geworden, so voller Emotionen...

Viel ist geschehen, zwischen Tatsuya und Sai -
nach Jahren der Trennung, in denen sie ihre eigenen Wege gehn und sich weiterentwickeln, hält es Sai nicht mehr länger aus, und sucht seinen ehemals besten Freund auf.
Tatsuya ist darüber so überrascht, dass seine Gefühle Berg-und-Tal-Bahn fahren, zu sehr hat er Sai vermisst...
Aber dieser ihn auch...

Es ist schön zu sehen, wie sich die beiden Freunde langsam wieder näher kommen, und dabei nicht alles mit der Brechzange erledigen - die Vergangenheit wird Stückchenweise zum Gespräch gebracht und aufgearbeitet - doch es braucht lange, bis Tatsuya akzeptiert, wenn überhaupt, dass Sai in EINEM keine Wahl hatte und hat -
der Wahl seiner Ehefrau...

Dafür, dass die Eltern schon vor ihrer Geburt bestimmt hatten, dass der älteste Sohn des einen die älteste Tochter des anderen heiraten würde, kann Sai nichts - doch er LIEBT seine Familie ZU sehr, als dass er sich dagegen auflehnen könnte.
Er hat sogar Gefühle für sie, doch sie nicht mit dem zu vergleichen, das Tatsuya für ihn bedeutet...
Es ist trotzdem ein langer Prozess für Sai, bis er erkennt, dass er seinen Freund schon immer geliebt hat...

Am schwersten fällt es Sai Tatsuya zu gestehen, weshalb er sich so abrupt von ihm getrennt hatte - der Kuss hatte ihm gefallen, sehr gut gefallen, zu gut gefallen - und hat damit den ihm vorbestimmten Weg total in Frage gestellt.
Und weder damals, noch heute, ist Sai in der Lage mit seiner Familie zu brechen, so bleiben den beiden Freunden nur gestohlene heimliche Stunden - und die immerwährende Sehnsucht nacheinander...

Für Tatsuya ist es auch ein langer Weg, bis er versteht, dass Sai eben doch keine andere Wahl hat, auch wenn er lange versucht, dies ihm einzureden, und versteht, WIEVIEL Sai seine Familie bedeutet...

Leider haben Tatsuya und Sai etwas Pech - nach einer längeren Trennung, durch eine Geschäftsreise bestimmt, ist die Sehnsucht nach einander größer, als alle Vorsicht, und sie werden von Chisa entdeckt -
sie lässt sich ihr Schweigen teuer erkaufen - Sai muss sie endlich heiraten...
und sie schmiert ihren neuen Rang Tatsuya ständig voller Schadenfreude unter die Nase...

Danke für dieses wunderschöne Kapitel,
ich weiß zwar nicht, warum du unzufrieden damit bist, Stiffy, mir hat es gefallen, es ist so stimmig, wie alles von euch *nick*

Ich freu mich schon darauf, wie es in San Franzisko weitergehen wird, mit diesen Beiden, aber auch mit all den Andern^^

Bis zum nächsten Kapitel

lg, eure risuma
Von:  UmbrellaXD
2009-07-17T17:33:08+00:00 17.07.2009 19:33
T_____________________T

das kapitel war sowas von... wunderschön.
das lange schreiben daran hat sich echt gelohnt und ja... könnte man hier einzelne kapitel auch favorisieren, würde ich es nun tun xD;

echt, das war einfach sehr ehm... ergreifend ; A ;

ich hoffe, dass nächste kapitel kommt trotzdem schneller xD;
Von:  risuma
2009-05-06T13:10:01+00:00 06.05.2009 15:10
Dienstag hat nicht mehr geklappt^^, ist Mittwoch geworden *grins*

Danke, dass du uns überhaupt am Leben von Tatsuya teilhaben lässt *knuddel*
Denn er ist doch neben Kevin die wichtigste Nebenperson in der Watashi...
und es hat mich schon immer interessiert, WAS für eine Beziehung Sai und er zueinander hatten, seit Sais erstem Auftritt *nick*

Beim ersten durchlesen dieses Kapitels hatte ich mich nur riesig darüber gefreut, über Tatsuya zu lesen, doch beim zweiten, musste ich unweigerlich an Kevin und Sakuya denken...
Kevin hatte es geschafft, seine Liebe zu und seine Gefühle für Sakuya in freundschaftliche Bahnen zu lenken, und es stellte sich mir die Frage, ob ihm das auch gelungen wäre, wenn Sakuya seinerzeits nicht das Land verlassen und jeden Kontakt zu ihm abgebrochen hätte...

Wäre es ihm gelungen, ihm seine Liebe weiterhin zu verheimlichen?
Oder wäre er, wie Tatsuya, nicht doch irgendwann damit herausgeplatzt?

Nun, Tatsuya hat so lange er es schaffte, die Unschuld seiner Freundschaft zu Sai erhalten, auch wenn er unwahrscheinlich darunter litt...
Und es dann genau so war, wie er es immer befürchtet hatte...

Sicher wäre es besser gewesen, wenn er mit Sai wenigsten darüber geredet hätte, dass er schwul ist...
dann hätte Sai wenigstens Zeit gehabt, sich damit auseinanderzusetzen, ohne zu wissen, dass sein Seelenpartner in ihn selbst verliebt ist...
aber, als Außenstehender weiß man ja sicher immer alles besser, nicht wahr? *grins*

Ich bin mir sicher, dass das Loch, in das Sai gefallen ist, nicht weniger groß war, als das Tatsuyas, doch er hat es geschickter überspielt...
Tatsuya hingegen wollte nur noch... sterben, wenn er dann doch nicht so am Leben gehangen hätte.
Die Reaktion von Tatsuyas Mutter gefällt mir unwahrscheinlich gut:
"Ich hätte es wissen müssen, nicht wahr?"

Es ist ein langer Weg, bis Tatsuya aus diesem schwarzen Loch heraus findet, doch er hat es schließlich geschafft -
- dank seines Onkels: >>...dass ich endlich aufhören sollte, mich in Selbstmitleid zu suhlen. Ich wäre erbärmlich. Kein Wunder, dass Sai mich so nicht liebte.<<
- dank Kazumi, ihm half wieder ins Leben zurück zu finden und der ihn an die Liebe glauben ließ...
- und schließlich dank Ryouta, der ihm zeigte, dass es noch andere Menschen auf dieser Welt gab, die ihr Päckchen zu tragen hatten, und denen das Leid ins Gesicht geschrieben stand.

Ryouta schließlich ist es, der ihm hilft seine Vergangenheit zu bewältigen, sie loszulassen und im Heute zu leben...

Und dann trifft er auf Kida...
und Sakuya...
Sakuya wiederum bringt sein ganzes Leben wieder durcheinander...
Ich würde einmal sagen, die Eifersucht Sakuyas auf Tatsuya beruht auf Gegenseitigkeit...
denn auch Tastuya ist eifersüchtig auf Sakuya...
Sakuya lässt Sai in die Wohnung und somit reißen alte Wunden bei Tatsuya wieder auf...

Ich bin froh, dass Sai den Weg zu Tatsuya gefunden hat, wenn es mich auch, ebenso wie Tatsuya, brennend interessiert, wieso jetzt, woher er weiß, wo Tatsuya wohnt, was er von ihm will...
Auch wenn Tastuya, nach dem er den ersten Schock überwunden hat, es nicht geschafft hat, Sai diese Fragen zu stellen, so scheint es nicht aussichtlos zu sein, dass er Antworten auf seine Fragen erhalten wird.
Immerhin hat Sai gefragt, ob er wiederkommen darf.

Ich freu mich jetzt schon auf den zweiten Teil von Tatsuyas Geschichte - und nein, es ist überhaupt nicht schlimm, dass du es geteilt hast...
sind immerhin schon 8 Seiten^^
Außerdem laufen Kida und Sakuya uns gewiss nicht davon^^

Bis zum nächsten Kapitel

lg, eure risuma
Von: abgemeldet
2009-05-02T00:09:57+00:00 02.05.2009 02:09
wunderschön und auch trauriges kapi *tränen wegwisch*
ich war soooooo froh endlich wieder weiterlesen zu können >.<

muss euch an dieser stelle mal ein RIEßENGROSSES LOB geben und DANKE sagen *denn watashi no sekai is meine absolute lieblings-ff, was hab ich schon mit ihr mitgelitten *und vor allem wie oft hab ich immer und immer wieder die einzelnen kapis gelesen*

wünsche euch viele schaffenskraft *nervennahrung zuwerf* für den nächsten teil ^///^

ich werde geduldig waten, bis es weitergeht
glg
eure kawaiimaus
Von:  ai-lila
2009-04-18T16:03:54+00:00 18.04.2009 18:03
Hi ^____^

Das war ein sehr trauriges Kapi.
Denn HIV ist nun ein mal endgültig.
Heißt zwar heute nicht mehr gleich den Tod in den nächsten paar Monaten, aber Jahre lang mit der Angst zu leben, wann diese dusselige Krankheit ausbricht ist auch furchtbar.

... und das mit Sai ... also ich persönlich mag keine Überraschungsbesuche. <.<
Obwohl, wenn der sich versucht hätte anzumelden, wäre die Tür vielleicht zu geblieben.

Das Kapi hat mir sehr gut gefallen. ^______^b
Freue mich schon auf das Nächste.
lg deine ai
Von:  UmbrellaXD
2009-04-15T09:45:35+00:00 15.04.2009 11:45
Auch wenn es so lange gedauert hat, ich bin froh, dass es überhaupt weiter geht >O<

Und ich hätte nciht gedacht, dass mir bei diesem Kapitel an einer Stelle sogar Tränen kamen ; A ;
Ich mag Tatsuya und Sai, daher find ich es nciht schlimm,dass ihr ihre Seite auch noch mit einbezieht >O<

Viel Erfolg mit dem zweiten Teil ^^
Von:  UmbrellaXD
2009-02-04T22:55:11+00:00 04.02.2009 23:55
das war so toll *~*

ich fand dieses kapitel diesmal dermaßen spannend, ich hab es regelrecht verschlungen * A *
(nicht, dass die andren nicht toll sind, aber dieses war iwie... weiß nciht.. besser geschrieben? vlt informatioen drin, die mcih mehr interessiert haben? was weiß ich , aber es war einfach toll * A *)

hoffe, das nächste kapitel lässt nciht lang auf sich warten <333
Von:  risuma
2009-01-08T12:43:09+00:00 08.01.2009 13:43
Das Kida so leidet, verwundert mich nicht im Geringsten.
Ihn haben die alten Gefühle so sehr überrollt, dass er leiden muss -
besonders in Erkenntnis seiner eigenen Schuld.
Aber auch, WAS Sakuya zu ihm gesagt hatte...

Nein, der Ausflug nach Boston lief ganz gewiss nicht so ab, wie er es sich erwünscht hatte...
statt mehr Nähe zu Sakuya zu bekommen, herrscht plötzlich Gewitterstimmung zwischen ihnen...
aber auch Kevin und seine Bemerkungen machen ihm stark zu schaffen...

Kida flüchtet sich förmlich in seine Arbeit, nur um nicht nachdenken zu müssen,
und lügt alle an, erzählt ihnen, was sie zu hören wünschen, nur die Wahrheit nicht.
Auch nicht, als Tatsuya anruft, und es ihm fast die Kehle zuschnürt...

Sein Liebeskummer, die Erkenntnis SEINER Einsamkeit, seine ungeweinten Tränen, nehmen ihm die Luft zum Atmen...
Schließlich ist es Sai, der den Knoten zum platzen bringt und Kida endlich weint...

Ob Kida es am Ende schaffen wird, seine Liebe zu Sakuya so zu einer Freundschaft umzubauen, wie Kevin es die ganzen Jahre getan hat?
Ich wünsch es ihm so - es scheint das einzige zu sein, das er von und mit Sakuya noch haben kann, wenn er ihn nicht endgültig und ganz und gar verlieren möchte.
(Auch wenn ich persönlich es mir anders gewünscht hätte^^)

Nun, das Thanksgivingfest birgt ein gewaltiges Pulverfass, wie mir scheint,
ich bin gespannt, was an dem Wochenende so alles laufen wird.

Eine kleine Vermutung hab ich ja, aber die behalte ich noch für mich ^^

Danke für dieses ach so emotionale Kapitel *knuddel*
Kida hat schon immer mein ganzes Mitgefühl gehabt *nick*
Auch wenn ich es damals nicht verstanden habe, warum er sich nicht von seinen Freunden hat trösten lassen...
sie um Rat gefragt...
gewiss wäre er dann nicht in der Situation, in der er heute ist *nick*
Aber, das war höchstwahrscheinlich von euch so gewollt *grins*

Nun warte ich wie immer gespannt auf die Fortsetzung

vlg, eure risuma


P.S. Das ich ein neues Kap zuerst auf mexx lesen konnte, kam bisher auch noch nicht vor *grins*

P.P.S. Alltag und Lustlosigkeit sind Dinge, die uns alle begleiten *nick*
also macht euch mal keinen Kopf daraus, wenn es nicht im Wochentakt weitergeht *nick*

Von:  UmbrellaXD
2009-01-08T09:32:57+00:00 08.01.2009 10:32
yey, neues kapitel <3

kida tut mir iwie voll leid, dass er sich so allein fühlt ;___;
aber cih finds toll, das tatsuya und sai ihn bald besuchen kommen. das kapitel wird mcih besonders interessieren... was so passiert, wenn sie denn endlich da sind >.<
Von:  UmbrellaXD
2008-12-28T20:46:31+00:00 28.12.2008 21:46
endlich gehts weiter >O<

vlt war die pause sogar gut, weil ich hab das gefühl, das kapitel war iwie besser als sonst XDDD aber hoffe, demnächst kommen die updates wieder schneller * A *

nein, sie soll nciht schwanger sein D: ich will immernoch nciht, dass sakuya und charize zusammen sind D: iwie.. mag cih sie nciht XD


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