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Watashi no Sekai

von

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Part 78

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Sakuya (by littleblaze)
 

Das süße Geheimnis für mich zu behalten, fällt mir deutlich schwer.

Ich werde ein Dad, mehr hatte ich mir nicht gewünscht in der letzten Zeit, und nun soll es wirklich so weit sein. Oder besser gesagt in einigen Monaten.

„Wie lange weißt du es schon? Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Warum hast du es mir nicht schon früher gesagt?“ Fragen, die ich sofort nach einem affigen Glücktanz, welchen uns durchs ganze Schlafzimmer fegte, gestellt habe. Als Antwort bekam ich, dass sie sich noch nicht hundertprozentig sicher sei und dass man das Geschlecht jetzt eh noch nicht bestimmen könne.

Der Schwangerschaftstest sei zwar positiv, aber dies habe ja oft nichts zu sagen. Sie wollte abwarten, noch ein oder zwei Wochen, dann zum Arzt gehen, um wirklich sicher zu sein. Niemand sollte schon zu früh mit hineingezogen werden, vielleicht ist ja alles nur falscher Alarm.

Im Gegensatz zu ihr glaube ich nicht daran. Ich kann mein Glück schon greifbar mit Händen fassen. Ein Baby… ich werde es in meinen Armen wiegen, ihm jeden Wunsch von den Lippen ablesen und ihm oder ihr das ganze Sortiment meiner Liebe schenken.

Ich werde ein Vater sein, ein richtiger Dad. Am liebsten hätte ich Gott und die Welt darüber informiert, es in Zeitungen gedruckt oder wäre liebend gerne mit einem dieser idiotischen Shirts rumgerannt, auf denen in großen Lettern: „Ich werde Vater!“ steht. Nicht einmal Kevin und Matthew sollen es erfahren, so ist der Deal, oder besser gesagt das Zugeständnis, welches sie mir abverlangt. Also schweige ich.
 

Ich versuche mich abzulenken, gerade jetzt würde ich die unzähligen Stunden und Tage, die vorher mit Baseball ausgefüllt waren, dringend brauchen. Ich versuche es bei Kida, aber er hat offensichtlich immer viel zu tun, wenn ich mich bei ihm melde. Bei Kevin und Matthew würde ich mir irgendwie wie das fünfte Rad am Wagen vorkommen und wahrscheinlich mehr Zeit zum Grübeln haben als wenn ich etwas anderes tue, also schiebe ich diese Möglichkeit auch immer ganz schnell beiseite. Sogar das Motorrad schafft es nicht, mich abzulenken. Anstatt an gar nichts zu denken und nur die Geschwindigkeit in mich aufzunehmen, frage ich mich, welche Farbe das Kinderzimmer bekommen soll; Überhaupt, welches Zimmer das Kinderzimmer eigentlich werden wird. Ich diskutiere mit mir selber, welche Vor- und Nachteile es haben würde, das Geschlecht schon vorher zu erfahren, oder ob ich mich doch lieber überraschen lassen möchte; Ob ich mir einen anderen Wagen zulegen werde… ob die Stufen der Terrasse besser nicht dort sein sollten… Welche Namen in die engere Auswahl kommen… und, und, und. Ich kann einfach nicht aufhören.

Sobald Charize Zuhause ist, manchmal warte ich erst gar nicht so lange und rufe sie im Büro an, konfrontiere ich sie mit meinen ganzen Gedanken. Sie schüttelt nur meist den Kopf, lässt mich reden und flüstert mir dann zärtlich zu: „Das werden wir dann alles noch sehen.“

Wie kann sie bloß so ruhig bleiben, wenn ich an nichts anderes denken kann? Ich tänzle nur noch um sie herum. Meist werde ich von Kevin oder Matthew mit irritiertem Blick angesehen, wenn ich wieder einmal vom Tisch aufspringe, um ihr irgendetwas zu holen. Sie dagegen versucht ihr Grinsen darauf zu unterdrücken.

Mir ist das egal, am liebsten würde ich sie sogar jeden Tag zur Arbeit fahren, ihre Tasche mit den schweren Akten ins Büro tragen und sie später wieder abholen; Was auch eine gute Gelegenheit wäre, dem schmierigen Fatzke in ihrem Büro noch einmal einen bösen Blick zuzuwerfen. Doch Charize meint, dass ich jetzt vollends übertreiben würde, und lässt mich dies und auch einige andere Dinge nicht in die Tat umsetzen.
 

~ * ~
 

Es ist wieder einmal einer dieser nachdenklichen Tage. Ich bin mit dem Maßband bewaffnet und krieche durch die momentanen Gästezimmer des Hauses. Kurz habe ich darüber nachgedacht, die Wand zwischen den Gästezimmern einzureißen, um den Kind ein riesiges Reich zu schenken, aber dann durchfuhr mich der Gedanke, was wäre, wenn wir noch ein zweites Kind bekämen und jedes sein eigenes Zimmer bräuchte… Das Telefon auf dem Tisch lässt mich aufschrecken. Ich fische nach dem Hörer.

„Ryan?“

„Hi, ich bin’s, Kida.“

„Ja.“ Ich grinse und setze mich auf. „Ich weiß wie sich deine Stimme anhört. Was gibt’s?“

„Ich… ich rufe an wegen Thanksgiving.“

„Sag jetzt nicht, du sagst ab!“ Sofort versetzt mir der Gedanke einen Stich. Wir haben schon seit Wochen nichts mehr unternommen und so lang dauert es eigentlich nicht mehr, bis er wieder weg ist… zurück fliegt… knappe fünf oder sind es doch nur noch vier Monate?

„Nein, keine Sorge. Ich hab noch vor zu kommen, allerdings… könnte ich jemanden mitbringen?“

„Hast du nen Freund?“, platzt es aus mir heraus. Doch nicht etwa dieser kleine Hippie, der mir so auf die Nüsse gegangen ist? Ich kann mich nur noch schwach an sein Gesicht erinnern.

Er verneint und meine Neugierde steigt.

„Oh. Wen dann?“

„Tatsuya und Sai.“

Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht damit, obwohl diese Möglichkeit doch eigentlich gar nicht so abwegig ist wie mir mein Gehirn vorspielen will. Mein erster Impuls möchte nachfragen, wie es ihnen so ergangen war, was sie so trieben, aber viel zu schnell packt mich das schlechte Gewissen. Ich habe es nicht geschafft, den Kontakt zu Kyo oder auch anderen Freunden aufrechtzuerhalten. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ob ich ein Recht habe, nachzufragen. Tatsuya ist nicht so wirklich meine Wellenlänge gewesen, jedoch hatte ich bei Sai eine Art Verbundenheit wahrgenommen und mit Ryouta habe ich… Ich stocke. Wie lange ist es her, seit ich ihm gemailt habe, dass ich mich wieder mal melden wolle?

Ein schlichtes „Wow“ kann ich erst einmal nur hervorbringen. „Ich meine, klar können sie auch kommen… Ich… Sorry, das überrascht mich grad etwas…“

„Ryouta wollte vielleicht auch mitkommen. Aber ihm geht es nicht gut, deshalb wird er wahrscheinlich in Japan bleiben.“

Danke, treib mein schlechtes Gewissen noch ein paar Grade höher.

„Was hat er denn?“

„Er ist etwas geschwächt… sein Immunsystem macht die Wetterwechsel nicht so gut mit, deshalb-“

„Wegen der Herzkrankheit?“

Ich erinnere mich. An einem Tag konnte er Bäume ausreißen und an anderen kaum den Arm heben. Immerhin hat er mir mal davon erzählt. Dass sich dieses Problem durch Medikamente oder eine neuartige Therapie immer noch nicht gelegt hatte, macht mich traurig.

„Ja.“

„Das ist schade. Ich glaube, ich hätte ihn gerne mal wiedergesehen.“ Es wäre wirklich toll gewesen. Warum habe ich es eigentlich nicht geschafft, den Kontakt aufrechtzuerhalten? „Hm… gibst du mir seine Nummer?“

Er diktiert, ich schreibe.

„Vielleicht ruf ich ihn mal an“, bedanke ich mich. Dem anhaltenden Gespräch kann ich nicht mehr wirklich folgen, ich versuche immer noch einen Grund in meiner Erinnerung zu finden. Gibt es überhaupt einen oder habe ich es einfach nur vergessen, es schleifen lassen und danach nie wieder dran gedacht? Erst als mich Kida um ein Treffen bittet, bin ich wieder ganz bei der Sache.

„Sorry, ich glaub, ich kann nicht… Charize hat Geburtstag und wir haben einen Termin beim-“

„Beim?“

Beinahe hätte ich unser kleines Geheimnis verraten. Am liebsten hätte ich es getan. Aber nicht mehr lange, sage ich mir innerlich. Nach dem Termin wissen wir endlich bescheid und dann würde mich nichts mehr halten, es der ganzen Welt mitzuteilen.

„Ach, nicht so wichtig! Vielleicht hab ich Sonntag Zeit, aber ich kann nichts versprechen… Pressetermine und so, du kennst das ja…“

Eine Lüge! Aber was Besseres fällt mir gerade nicht ein. Wir verabschieden uns und legen auf. Kurz bleibe ich an der Nummer auf dem Notizblock hängen, auf den ich zuvor in krickeliger Schrift die Maße des Zimmers geschrieben habe. Ich wende mich ab und versuche, die Gedanken zu verdrängen, krieche erneut auf dem Boden herum, nehme mir daraufhin die Fenster vor und bleibe bei der nächsten Notiz abermals an der Nummer hängen. Das schlechte Gewissen lässt sich einfach nicht beruhigen. Er ist mir ein guter Freund gewesen, war immer für mich da, wenn ich jemanden zum Zuhören gebraucht habe und ja… von seiner Seite her ist da auch mehr gewesen… der Kuss…

Ich lächle. Der Gedanke daran, die ganze absurde Vorstellung, die ich danach abgeliefert habe… wie idiotisch, voll peinlich. Was hat mich damals nur geritten, da so eine Szene draus zu machen? Und dann auch noch Ke-

Ich stocke. Umdenken, umdenken… Er war es damals schon, nicht wahr? Idiotisch, aber ich versuche, mich genau daran zu erinnern. Jeden Blick, jede kleine Bewegung will ich noch einmal aufrufen.

„Was ist passiert?“

Es war Malcolm… nein, Kevin, der zuerst bei mir war.

„Sakuya?“ Kida war natürlich auch dabei.

„NICHT... bleib da stehen, komm mir nicht zu nahe.“ Sogar an das Gefühl von Übelkeit und Schwindel kann ich mich erinnern. Ein hin und her und dann…

„...Ich küsse nur einfach gerne andere Männer.“

Ich habe Kevin einfach gepackt und ihn feste auf die Lippen geküsst. Habe ich die Augen geschlossen? Ich kann mich wenigstens nicht erinnern, ihn dabei gesehen zu haben. Und was war dann?

Ich erzählte von Ryouta, danach hatte ich Malcolm im Visier, wollte ihn ebenfalls küssen, nur um Kida wehzutun… Warum eigentlich noch mal…? Was war da zwischen uns gewesen, wieso hatte ich in diesem Moment eine solche Wut auf ihn? Ryouta hatte mir irgendetwas erzählt… aber was? Dann kann ich mich nur noch daran erinnern, dass Kevin gegangen ist und ich Malcolm aufs Hemd gekotzt habe.

Ich lehne mich an die Wand, ziehe meine Knie an und lege den Kopf hinauf.

Malcolm ist bei mir geblieben, hat mich ins Bett gebracht. Er, dessen Gefühle ich mitunter am meisten verletzt habe, blieb die ganze Zeit bei mir. Ich muss ihm ziemlich wehgetan haben, mit diesem einfachen Kuss, der für mich nicht von Bedeutung war. Und Kevin… aber… Gott verdammt, ich wusste es damals doch noch nicht! Ich hatte keine Ahnung, wie sehr er mich geliebt hat und wie sehr ich mich gehasst hätte, wenn ich an Malcolms Stelle gewesen wäre.

Ich versuche, mir den nächsten Morgen ins Gedächtnis zu rufen. Ein Streit! Eine fallende Leiter. Und plötzlich weiß ich es wieder. Kida hatte mir seine Vergangenheit mir Tatsuya verheimlicht… ein Kuss, ein Blowjob, ein weiterer Kuss. Ich spüre die tiefe Abneigung, welche ich in diesem Moment für ihn empfunden habe. Und im nächsten Moment sehe ich mich an anderer Stelle, Ryouta gegenübersitzend.

„Also, was sollte das alles?... Warum hast du mich geküsst?“

„Ich mag dich, sehr sogar.“

Er entschuldigte sich bei mir für die Umstände, aber nicht für den Kuss selbst. Irgendwie sind wir nicht weiter gekommen. Ich habe mich plötzlich unwohl in seiner Nähe gefühlt und bin gegangen.

Es folgt eine weitere, länger zurückliegende Erinnerung… Das erste Mal bei ihm zu Hause, ich war krank…

„Was ist das?“

„Ein Mundschutz.“

„Ich hasse die Dinger.“

Wir trugen beide einen, doch ich hatte das Gefühl, nicht richtig atmen zu können, wollte ihn mir vom Gesicht reißen.

„Nicht, bitte lass es dran.“

Er ist schon damals krank gewesen. Was ist es noch mal genau… doch nicht nur eine Herzkrankheit, oder? Ich suche nach der Erinnerung, wo er darüber gesprochen hat.

„Bist du krank?“ Ich hatte zuvor die Medikamente im Badezimmer entdeckt.

„Ja. Es ist eine angeborenen Herzkrankheit...“

„Musst du sterben?“ War es sein Blick, das leichte Zittern seiner Finger? Irgendetwas hat mir gesagt, dass es 'nicht einfach nur' eine Herzkrankheit ist.

„Das müssen wir alle mal, oder nicht?... Aber nein, nicht deswegen... ich kann noch sehr lange damit leben.“

Wir redeten nicht weiter darüber.

Doch mit der Zeit sind mir kleine Veränderungen aufgefallen. Körperliche Einschränkungen an einigen Tagen… und seine Stimmung wechselte so schnell wie das Wetter. Manchmal war er aufgedreht, lustig und zu allem bereit, dann wieder ruhig und ernst, und an anderen Tagen negativ, lustlos und verschlossen.

Damals habe ich nicht groß darüber nachgedacht, aber nun frage ich mich, wie eine Herzkrankheit solche Stimmungsschwankungen auslösen kann. Körperliche Einschränkungen kann ich mir ja irgendwie noch erklären, aber so was?

Ich ziehe mich an der Wand hoch, greife nach dem Notizblock und verlasse den Raum. Meine Neugier führt mich ins Arbeitszimmer, wo ich direkt dem Laptop den Saft zuspreche, den er zum Arbeiten braucht. Die kurze Wartezeit verbringe ich mit ungeduldigem Herumwippen auf dem Stuhl. Jedoch wird mir bewusst, dass mir noch etwas Notwendiges fehlt.

Schnell umrunde ich meinen eigenen Schreibtisch und wende mich Kevins zu. In der dritten Schublade von oben habe ich Erfolg, ziehe das braune Buch heraus. Weit blättern brauche ich auch nicht, bis ich meine alte Mail-Adresse samt Passwort wieder erkenne. Ein Hoch auf Kevin und seinen Ordnungsfimmel und dieses hässliche Buch, in welchem er seit Jahren alle unsere Logindaten zu sämtlichen Plattformen beisammen hält.

Warum ich damals meine Addi geändert habe, wird mir auch sofort klar. back-to-USA ist wohl nicht mehr gerade passend gewesen. Zurück am Laptop gebe ich Loginnamen und Passwort ein, doch anstatt dem üblichen Bild erscheint ein Hinweis des Betreibers: Ihr Yahoo! Mail-Account ist nicht mehr aktiv. Grund: Sie haben sich in der letzten Zeit nicht bei Ihrem Mail-Account angemeldet, oder Sie haben Yahoo! Mail beauftragt, Ihren Account zu deaktivieren.

„Scheiße“, werfe ich das Buch auf den Schreibtisch, doch bevor sich mein Finger auf dem Schließen-Button zubewegt, erweckt ein weiterer Hinweis meine Aufmerksamkeit: „Um Ihren Account zu reaktivieren, wählen Sie eine der folgenden Optionen.

Es dauert zirka eine Minute bis ich wieder in meinen damaligen Posteingang stolpere. 59 neue Mails hatte ich in den vier Monaten, bevor der Account inaktiv geworden ist, empfangen. Ich scrolle über den Eingang hinweg, lösche Werbung und andere uninteressante Mails und bleibe anschließend an drei nicht gelesene Nachrichten von Ryouta hängen. Das Datum lässt mich sofort erschrecken. Ist es wirklich schon so viele Jahre her?

Ich öffne die erste Nachricht.

Hey Sakuya,

wohl gerade viel los bei dir, was?

Da dachte ich, ich meld mich einfach mal.

Smalltalk, die neue Wohnsituation, kurz wird auch noch einmal auf Kida eingegangen.

Bis bald

Ryouta

In der nächsten Mail ist ein wenig Verwunderung herauszuhören, warum ich mich nicht melde. Der gewohnte Smalltalk und schöne Grüße von Tatsuya und Sai.

Die dritte und letzte Mail liest sich dann schon ein wenig anders:

Hey!

Ehrlich gesagt mache ich mir ein wenig Sorgen. Es sind jetzt schon fast sechs Wochen, in denen ich nichts mehr von dir gehört habe. Liegt es an mir, habe ich irgendwas Falsches gesagt, an das ich mich gerade überhaupt nicht mehr erinnern kann?

Wenn dem so ist, tut es mir leid.

Oder willst du einfach nur dieses Kapitel deines Lebens endlich hinter dir lassen? Ich weiß wie schwer die Trennung von Kida dir gefallen ist… ist es das? Möchtest du nichts mehr mit den Leuten seiner Umgebung zu tun haben, um endlich vollends loszulassen?

Irgendwie könnte ich es verstehen, doch schade fände ich es trotzdem. Du warst mir immer ein guter Freund, und ich würde nur ungern den Kontakt zu dir verlieren. Sollte es aber das Beste für dich sein… kann ich es akzeptieren.

Ryouta

Wenn es doch nur so gewesen wäre, aber leider kann ich diese Entschuldigung nicht geben. Ich habe ihn ganz einfach vergessen, nicht mehr an ihn gedacht und ganz normal weiter gelebt. Kameradenschwein ist da noch viel zu harmlos, ich fühle mich so richtig dreckig.

Mein Blick fällt ein weiteres Mal auf die Nummer auf dem Notizblocke, dann auf die Uhr. Die Zeit ist nicht perfekt, aber man kann es versuchen. Doch was sagen, wie mich erklären… Ist es nicht ziemlich idiotisch, jetzt einfach wieder anzurufen und sich zu wünschen, dass alles so ist, wie früher? Jedoch… würde es nicht noch viel schlimmer sein, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, wenn er doch mit hierher kommen sollte? Wenn er Gast in meinem Haus ist? Ist ein Telefonat da nicht die bessere Alternative für den ersten erneuten Kontakt?

Meine Finger zittern, als ich nach dem Telefonhörer greife.

Ich wähle die Nummer, warte. Schon seit langem kam mir dieses kleine, unbedeutende Geräusch nicht mehr so beängstigend vor.

„Hallo, hier Yamamoto.“

Ich schweige, will eigentlich wirklich etwas sagen, doch plötzlich weiß ich nicht mehr wie. Es ist als sei jedes japanische Wort aus meinem Gedächtnis getilgt worden. Mein Herz pocht gegen meine Brust. Ich lege auf.

Springe vom Stuhl hoch, laufe im Raum umher. Ich atme schwer und schüttle meine Arme als würde ich so die Nervosität verbannen können. Ich atme tief ein und wieder aus.

„Komm schon, du schaffst das“, sage ich mir selbst.

Ich bin ein erwachsener Mann, wovor habe ich eigentlich Angst? Ich nehme den Hörer und wähle erneut. Dieses Mal bleibe ich stehen, tipple von einem Fuß auf den anderen, um mich selber zu beruhigen.

„Yamamoto?“, klingt die Stimme ein wenig fragender.

„Hallo“, bekomme ich gerade so über die plötzlich staubtrockenen Lippen.

„Ja hallo… wer ist denn da?“

Die Annahme, dass er meine Stimme erkennen könnte, ist auch so was von absurd.

„Sakuya.“

„Sakuya?“

„Ja, ich… ich war mal mit Kida Takahama zusammen und wir ha-“

„Ich weiß, wer du bist!“, unterbricht er mich und es dauert eine ganze Weile, bis einer von uns wieder das Wort ergreift. „Warum rufst du an?“, klingt er verärgert, oder hörte sich seine Stimme schon immer so an? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

„Ich weiß nicht“, tipple ich noch nervöser umher. War es vielleicht doch ein Fehler? „Ich habe… ich weiß es nicht… ich wollte es einfach, glaube ich.“

„Na dann“, kommt es kurz. Wieder Stille seinerseits.

„Vielleicht… ich dachte…“ Wie bin ich nur auf das Hirngespinst gestoßen, dass mir schon die richtigen Worte einfallen, wenn wir erst einmal miteinander sprechen würden?

„Ja, was dachtest du denn?“, folgt es zynisch. „Vielleicht, dass du einfach mal Hallo sagst? Fragst, wie es mir so geht, ich mich ebenfalls nach deinem Befinden erkundige, und wir dann miteinander über alte Zeiten sinnieren? Oder willst du über das Jetzt sprechen? Über deine tolle sportliche Laufbahn, über dein sorgenfreies Leben?“

Meine Füße haben schon seit einer Weile aufgehört zu tippeln, eigentlich ist mein ganzer Körper in Stillstand gegangen.

„Was willst du denn bitte von mir hören? Ohhhh, Sakuya, du hast es wirklich geschafft! Ich bin ja so stolz auf dich… du bist echt der beste Typ, den ich kenne… so etwa? Aber halt, ich kenn ihn ja gar nicht…“ Ein erstickendes kurzes Auflachen. „… Ich dachte nur immer, dass ich es tue. Aber da habe ich mich ja geirrt. Entschuldigung, mein Fehler.“

Was passiert hier gerade? Mit ein bisschen Missmut habe ich ja gerechnet, aber niemals mit solcher Bissigkeit. Was habe ich ihn denn getan? Ich habe mich nicht mehr gemeldet… aber… das jetzt… was?

„Weißt du was?“, wird meine Stimme eindringlich laut. „Es tut mir leid, okay? Es war nicht in Ordnung, ich verstehe. Es tut mir wirklich leid. Auf Wiedersehen.“

Mein Finger gleitet am Hörer hinab, um die Verbindung zu unterbrechen.

„SAKUYA! WARTE!“

Ich erstarre. Nur langsam trage ich den Hörer wieder zum Ohr. Ich sage nichts, was auch? Das einzige, für was ich mich im Moment im Stande fühle, ist, angestrengt hinein zu horchen.

„Es tut mir leid.“

Was hat mich verraten? Mein Atem oder dass die Leitung nicht den bekannten Ton hergibt? Meinen beschleunigten Herzschlag kann er ja schließlich nicht wahrgenommen haben. Ich setze mich hin, da meine Beine sich wie weiche Butterstücke anfühlen. Etwas sollte ich hervorbringen… nur etwas Kleines vielleicht…

„Wirklich… es ist… nicht deine Schuld. Einfach ein schlechter Tag“, erklärt er. „Die Medikamente lassen mich manchmal ganz schön irre werden.“

Die Medikamente? Sein Herz? Seine Krankheit! Und ich weiß nicht, warum sich plötzlich die Zweifel diesbezüglich so massiv verstärken.

„Es ist nicht dein Herz, oder?“, kommt es mit leiser Stimme belegt über meine Lippen.

„Nein.“

„Was ist es?“

„HIV.“

Ich schlucke heftig. Alles, was ich jemals zu dem Thema gehört habe, durchschießt meinen Kopf, doch am stärksten durchbrechen die Worte “Unheilbar“ und “Tödlich“ das dickflüssige Schwarz, wogegen ich mich gerade versuche zu wappnen. Und dann der nächste Gedanke: Der Kuss!

Sandig und schmerzend fühlt sich meine Kehle an, als ich versuche zu schlucken. Den Hörer des Telefons kann ich nicht mehr ruhig an meinem Ohr halten. Mein Kopf versucht sich innerlich zu drehen, äußerlich zu schütteln, aber nichts passiert. Gar nichts.

Ich weiß, dass er spricht, aber die Worte dringen nicht zu mir vor. Der Kuss, HIV… was wenn-

Aber dann ganz plötzlich, als würde ein dichter Sonnenstrahl die Wolken in meinem Kopf hinweg schieben, wird mir klar, dass es nicht sein kann, dass ich mir keine Sorgen machen muss, dass ich nicht-

„Was?“, frage ich, als seine Stimme wieder deutlicher zu mir vordringt.

„Ich sagte, dass Speichel die Krankheit nicht überträgt und du dir deswegen keine Sorgen machen musst.“

„Hab ich nicht“, lüge ich, zu schnell anscheinend.

„Mmhh, na ja… wenn du meinst.“

„Warte bitte mal kurz.“

Ich drücke auf die Stummtaste, damit er mein erleichtertes Ein- und Ausatmen nicht hören kann. Mit beiden Händen umgreife ich kräftig das Telefon, gerade mit so viel Adrenalin im Blut, dass ich es leicht zerdrücken könnte. Noch nie in meinem Leben bin ich so glücklich über die halbjährlichen Untersuchungen gewesen. Ich bin hundertprozentig nicht krank, nicht mit HIV infiziert, nicht schneller als gedacht zum Tode verurteilt.

Noch einmal fülle ich meine Lungen kräftig mit Sauerstoff und noch einmal lasse ich ihn lauthals wieder hinaus strömen. Dann wende ich mich wieder dem Telefon zu.

„Bin wieder da.“

Kurz übermannt mich das Gefühl, dass er vielleicht gar nicht mehr am anderen Ende ist, als ich ihn leise ausatmen höre. Soll ich etwas sagen oder möchte er noch etwas hinzufügen?

„Sakuya?“

„Ja?“, meine Stimme scheint immer noch unter den Auswirkungen des Adrenalins zu leiden.

„Was hast du morgen vor?“

„Wieso fragst du?“

„Vielleicht rufst du morgen noch mal an… dann… dann bin ich nicht ganz so geschockt wie heute darüber, und die Chance, dass ich dann nicht irgendwas sage, was mir im Nachhinein leid täte, wäre nicht so groß.“

„Oh…“

„Also morgen?“

„Ja, morgen.“
 

Als ich den Wagen am Abend vorfahren höre, komme ich gerade aus dem Bad. Ich sitze auf dem Bett und rubble mir die Haare trocken. Abgelenkt hat mich die ganze Prozedur kein bisschen. Seit ich am Mittag den Hörer aufgelegt habe, sprangen mir immer wieder dieselben Fragen durch den Kopf:

Wie lange ist er schon krank? Wann und wo hat er sich angesteckt? Wie geht es ihm wirklich? Hat er vielleicht nicht mehr lange zu leben? Wer wusste es damals schon? Tatsuya… Sai? Kida ganz bestimmt nicht, er hat noch weniger mit Ryouta zu tun als ich. Aber hat er es später erfahren? Erfuhr er es noch, als wir zusammen waren… als ich schon in Boston war? Warum hat er es mir dann nicht gesagt? Weiß er es jetzt eigentlich? Bestimmt! Aber warum hat er mich dann heute belogen? Warum hat er es als Herzkrankheit abgesegnet und nicht endlich reinen Tisch gemacht?

Am liebsten hätte ich abermals zum Telefon gegriffen und ihn angerufen, ihn gefragt und ihm die Hölle heiß gemacht, wenn er es weiß. Was bitteschön hat er sich dabei gedacht, es mir zu verheimlichen? Ich hätte mich ja doch irgendwie anstecken können… irgendwie verdammt… ich hätte seit Jahren damit rum rennen können und keiner hätte mir bis jetzt die Wahrheit gesagt. Kein Schwein hat es interessiert, ob ich vielleicht krank geworden wär-

„Schatz?“

Ihr Kommen reißt mich hinaus. Ich lasse das Handtuch noch einmal über meinen Kopf wandern, um den verbitterten Blick aus meinem Gesicht zu vertreiben.

„Kein guter Tag?“ Sie setzt sich neben mich aufs Bett. „Du siehst traurig aus.“

„Ich habe heute mit einem alten Freund gesprochen“, kommt es geknirscht über meine Lippen.

„Aber ist das nicht eigentlich etwas Erfreuliches? Ist irgendwas passiert? War er denn ein guter Freund?“

Zu viele Fragen und mein Kopf scheint keine wirkliche Antwort parat zu haben.

„Er ist krank!“

„Was hat er denn?“ Sie beugt sich näher zu mir und versucht, in meinem Gesicht zu lesen, was ich anscheinend nicht bereit bin, ihr zu erzählen.

„Nicht heute, bitte.“ Ich presse mich an sie und wünsche mir nur, dass sie das Zittern, welches mich gerade einnimmt, mindern kann.
 

Eng aneinander gekuschelt liegen wir unter der Bettdecke. Ich immer noch nackt. Sie immer noch ihre Arbeitsgarderobe an. Es ist warm um mich herum, meine Haut schwitzt, doch in mir ersetzt immer noch ein eisiger Sturm den nächsten. Ihre Finger streicheln mir sanft durchs Haar, mein Kopf liegt nahe an ihrem Herzen.

„Weißt du-“ Sie bricht ab.

„Mmmhh?“

„Ach, nicht so wichtig.“

„Jetzt sag schon.“

„Ich dachte eigentlich, es hätte was mit dem 'unter dem Bett' zu tun. Na ja, dass du so traurig warst, als ich kam.“

„Unterm Bett?“ Ich stutze.

„Ja, ich habe es vor drei Wochen gefunden, als ich die Matratze umgedreht habe. Ich dachte, mal schauen, wann es dir auffällt.“

Ich setze mich leicht auf und schaue auf sie hinab. „Sorry, aber ich habe keine Ahnung, was du meinst.“

Sie windet sich unter mir hinaus und greift in ihre Nachttischschublade. Überreicht wird mir das alte Plättchen des Armbandes, welches sie nun mit einem neuen an ihrem Handgelenkt trägt… Ich habe es total vergessen. Als ich es damals wegschmeißen wollte und dann nicht mehr dazu kam, habe ich es einfach unter die Matratze geschoben.

„Ich wollte es eigentlich wegschmeißen“, starre ich immer noch hinauf.

„Warum denn das?“ Sie setzt sich ebenfalls auf.

„Was soll ich denn noch damit?“

Sie schließt meine Hand um das Schmuckstück, was eigentlich kein richtiges mehr ist. „Behalten.“

„Wozu denn?“

„Na, als Erinnerung zum Beispiel. Ich habe eine ganze Kiste voll mit Erinnerungen. Sogar die Kinokarten von meinem allerersten Date habe ich noch.“ Sie lächelt verlegen.

„Sind da auch Erinnerungen von mir drin?“

„Natürlich, jede einzelne… In der Kiste, sowie in meinem Herzen.“ Sie beugt sich zu mir, ich ihr entgegen und wir küssen uns sanft, fast schon verlegen. Doch schnell ist der schöne Moment wieder dahin.

„Ich will mich aber nicht erinnern.“

Sie stockt bei der Härte in meiner Stimme.

„Mach damit was du willst.“ Ich greife nach ihrer Hand und lege es hinein, schließe sie. „Trag es von mir aus oder schmeiß es weg. Ist mir schnuppe.“ Ich drehe mich weg und lasse mich wieder in die Kissen fallen.

„Aber es gehört mir nicht.“

„Mir auch nicht.“

„Sakuya!“

Wenn ich nur daran denke, dass er mich vielleicht nicht mal vor einer tödlichen Krankheit gewarnt hat, kommt mir die Galle hoch. Soll er doch verrecken… am besten an dem Scheiß Ding ersticken. Vielleicht sollte ich es nehmen und es ihm in den Hals stecken.

„Ich denke, dass wird dir irgendwann noch leid tun.“

„Lass das mal meine Sorge sein.“
 

~ * ~
 

Am nächsten Abend ist die Stimmung fast identisch. Ich liege in meinem Bett und alte, sowie neue Fragen schwirren in meinem Kopf umher. Manche konnte mir das heutige Gespräch mit Ryouta beantworten, andere traute ich mich einfach nicht zu fragen.

Mein Wissenstand wurde zweifelsohne aufgebessert. Weiß ich nun bescheid über: CD4-Zellzahl, Viruslast, Medikamentenresistenz, antiretrovirale Medikamente, Kombinationstherapie und Nebenwirkungen, bringt mir dies allerdings nicht wirklich ein beruhigendes Gefühl. Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Ich fühlt mich total hilflos. Als ich ihm Hilfe, Geld und Kontakte anbot, lachte er leicht auf: „Du kannst nicht heilen, was nicht zu heilen ist“, hat er nur gesagt.

Als ich ihm nach den Kuss fragte, schwieg er einen Moment ehe er sprach.

„Es tut mir leid“, fing er an.

„Das wollte ich nicht wissen“, nahm mich ein klein wenig Wut in die Gewalt.

„Das tut es aber… es war ja schließlich auch nicht geplant oder so. Es ist einfach passiert, ich bin schließlich auch nur ein Mensch, Sakuya.“

„Du darfst dir aber nicht erlauben, einfach nur ein Mensch zu sei-“ Erschrocken stoppte ich. Nein, so sollte es nicht rüber kommen… „… du weißt wa-“

„Ja, ich weiß nur zu gut, was du meinst. Und ich kann mich nur wiederholen: Es tut mir leid.“

Dabei beließ ich es. Was sollte ich auch anderes tun? Immerhin hat er hier den schwarzen Peter gezogen. Er muss damit leben, daran sterben… Vorwürfe sind nicht das, was er gebrauchen kann.

Ich fragte ihn noch vieles, und irgendwann blieb ich dann an der Frage hängen, die mich unter anderem am meisten interessierte, welche ich aber zähflüssig vor mir hingeschoben hatte.

„Sag mal, seit wann weiß Kida eigentlich darüber bescheid?“

„Kida?“

„Ja.“ Egal welche Antwort, ich hätte mich mit keiner zufrieden gegeben, nur mit einer… dass er es überhaupt nicht weiß.

Danach kamen wir auf Thanksgiving und den Besuch bei Kida zu sprechen. Besonders jetzt, nachdem wir miteinander gesprochen hatten, würde er sich freuen, mich wiederzusehen. Ob es wirklich dazu kommen würde, wusste er noch nicht. Es ist zwar ebenfalls ein Ticket für ihn gekauft worden, aber er will noch einige Tage aus gesundheitlicher Sicht abwarten, bis er mir eine konkrete Antwort darauf gibt.

Daraufhin fing ich an, von meinem Leben zu erzählen, von dem Haus, dem Job, den Menschen in meinem Umfeld. Und ich erzählte ihm von der Möglichkeit, dass ich Vater werden könnte. Ich hab nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei gehabt. Nachdem ich so viel von Krankheit und dem wahrscheinlichen Tod gehört hatte, fand ich es nur gerecht, von einem neuen Leben zu erzählen.
 

Als Charize ins Zimmer tritt, beäugt sie mich nervös. Wir haben gestern nicht mehr zueinander gefunden. Die Sache mit Ryouta, dem Anhänger und dem möglichen Verrat von Kida hatte mich zu sehr aufgewühlt. Was sie mit dem Anhänger anschließend gemacht hat, weiß ich nicht… ich will es auch gar nicht wissen.

Sie verlässt den Raum, um ins Bad zu gehen. Sofort folge ich ihr.

„Bist du noch sauer auf mich?“ Ich drücke mein Gesicht in ihr Haar, schiebe mich zum Ohr vor.

„Ich war nicht sauer auf dich.“

„Enttäuscht?“ Meine Hände gleiten um ihre Taille und legen sich auf ihren Unterleib. Ein kleiner Seufzer durchdringt ihre vollen Lippen. „Was wünscht du dir eigentlich zum Geburtstag?“, versuche ich das Thema hinter mir zu lassen.

„Nichts!“

„Nichts? Das ist ja genau das gleiche wie im letzten Jahr und dem Jahr davor.“ Ich drehe sie zu mir um. Ihre Augen versuchen, genervt in meine Richtung zu schauen, aber auf ihrem Mund ist der leichte Ansatz eines Lächelns deutlich zu erkennen.

„Genau, und jedes Mal hast du meinen Wunsch nicht respektiert.“

„Wie konnte ich dich nur so enttäuschen?“ Mein Blick streift ihren, holt die Erlaubnis ein, ihr nah sein zu dürfen.

Mein Kuss ist sanft und gleichzeitig eine Art Entschuldigung auf mein gestriges Verhalten. Mit ihrer Erwiderung verzeiht sie mir endgültig.
 

Noch viel später an diesem Abend entschließe ich mich doch dazu, noch einmal zu telefonieren. Nachdem ich auch Charize von Ryoutas Krankheit erzählt habe, bleibt mir nur noch eines, was mich so sehr nervt, dass ich nicht einschlafen kann.

„Takahama.“

„Hey… ich bin's.“

„Sakuya?... Was gibt es denn noch so spät?“ Es schien als sei er schon am Schlafen gewesen.

„Entschuldige, wenn ich dich gestört habe, aber mich wurmt da so ne Kleinigkeit und ich wollte… da einfach…“

„Was ist denn los?“

Innerlich steigt, nicht einmal unerwartet, Wut in mir auf. Doch ich habe mir vorgenommen, sie nicht übermäßig zu zeigen und vor allem, nicht darauf zu reagieren. Ich brauche einen Moment, um sicher zu sein, dass ich es auch schaffen werde. Leise spreche ich anschließend.

„Warum hast du es mir nicht gesagt?“

„Dir was gesagt?“, scheint er plötzlich hellwach zu sein.

„Das mit Ryouta, mit seiner Krankheit… fandest du nicht, dass ich ein Recht habe, es zu erfahren, nachdem er mich geküsst hat? Dachtest du nicht, dass es eventuell wichtig für mich gewesen wäre?“ Ich will eigentlich noch mehr Fragen hinzufügen, die sich eher nach Anklage anhören, aber ich spüre, wie meine Stimme schwindet, und ich versuche mich zu fangen.

Eigentlich habe ich damit gerechnet, dass er mein Schweigen nutzen würde, doch er tut es mir nach.

„Also?“, schwingt nun auch noch ein genervter Unterton mit.

„Was hätte ich denn sagen sollen?“ Angestrengt horche ich der leisen Stimme. „Hallo Sakuya! Sorry, dass ich dich vor geraumer Zeit verlassen habe, tut mir leid, wenn es dir dadurch schlecht ging und so, aber könntest du mir wohl einen Gefallen tun und dich beim nächstbesten Aidslabor testen lassen?“

„Vielleicht“, ist meine knappe Antwort darauf.

„Ich bitte dic-“

„Es wäre auf jeden Fall besser gewesen als gar nichts zu tun“, unterbreche ich ihn. „Was wäre gewesen, wenn ich jemand anderen angesteckt hätte?“

„Wen denn? Kevin?“ Seine Stimme klingt fast schon vorwurfsvoll. Kurz zaudere ich.

„Was spielt das für eine Rolle?“

„Du hast Recht, überhaupt keine.“

„Du hättest mir auch einen Brief schreiben können, ein singendes Telegramm, irgendetwas.“

„Wird ja immer besser.“ Den Anflug von Sarkasmus versuche ich zu überhören.

„Alles wäre besser gewesen“, erhebt sich nun doch wieder meine Tonlage. Will er es nicht verstehen?

„Es tut mir leid“, kommt es darauf unerwartet.

„Ach, vergiss es.“ Ich bin genervt, aufgedreht, ich will dieses Telefonat einfach nur noch beenden.

„Nein, es tut mir wirklich leid.“ Seine Stimme dringt ruhig, beinahe sanft an mein Ohr. „Ich… ich war wohl zu sehr mit mir selber beschäftigt, um mir darüber Gedanken zu machen. Ich habe diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht gezogen. Wenn ich nur den geringsten Gedanken diesbezüglich gehabt hätte… glaub mir… ich hätte mich gemeldet.“

Und auf einmal wünsche ich mir, er wäre jetzt hier. Sein Gesicht kann ich vor mir sehen, meine Erinnerung zeigt mir genau, wie er ausschaut, wenn er so spricht wie in diesem Moment. Entschuldigend und eindringlich. Was blieb mir da schon anderes übrig als darauf mit einem „Ok, vergessen wir’s.“ zu antworten? Im Grunde ist ja nichts passiert, niemand zu Schaden gekommen und darüber hinaus… will ich es auch gar nicht anders. Ich will nicht mit ihm streiten, obwohl irgendwas in mir ziemlich schnell in Rage gerät, sobald sein Name mit einem Konflikt in Zusammenhang fällt.

„Er hat es dir also erzählt?“

„Ja.“

„Mmhh.“

„Wie schlimm ist es wirklich?“

„Was meinst du?“

„Ich weiß nicht, ob er mir die Wahrheit sagt.“

„Keine Sorge“, kommt es gedämpft. „Im Moment geht es ihm ganz gut, abgesehen davon, dass er ein wenig gereizt ist, wegen eines neuen Medikaments.“

Kurz schweife ich gedanklich ab. Ein bitterlicher Zwang, alles zu erfahren, was in den ganzen Jahren ohne mich vorgefallen ist, nagt plötzlich an mir, jedoch aussprechen würde ich dies nie. Es kommt mir nicht richtig vor, diesen Wunsch zu äußern, nachdem ich selber beschlossen hatte, mich aus ihren Leben zu verbannen.

„Sakuya?“

„Ja?“

„Ist alles ok?“

„Na klar, ich war nur in Gedanken… ach, und wegen Thanksgiving.“

„Ja?“

„Es ist scheiße, dass ich darum bitten muss, aber… es wäre gut, wenn… wenn das Thema schwul nicht so zur Geltung kommen würde.“ Ich hasse mich in diesem Moment und kann nur hoffen, dass er versteht was ich meine, ohne dass ich ins Detail gehen muss.

„Kein Problem.“

„Nein wirklich. Ich find’s scheiße, darum bitten zu müssen, aber w-“

„Keine Panik, ich versteh schon.“

„Es ist trotzdem nicht richtig“, bin ich nun ziemlich kleinlaut.

„Mach dir einfach keine Sorgen darum, ok?“

„Danke.“ Ich bin schon gewillt aufzulegen, als mir plötzlich der gestrige Abend in den Sinn kommt.

„Noch was?“

„Nur mal interessenhalber“, lache ich auf.

„Raus damit.“

„Sag mal… hast du eigentlich so ne Kiste… mit Erinnerungsstücke und so?“

„Nein“, folgt es nach kurzem Schweigen. „Und du?“

„Ich auch nicht.“
 

~ * ~
 

Am darauffolgenden Samstag ist es endlich so weit. Ich sitze ungeduldig im Wartezimmer von Dr. Xanders, in einer Hand eine Zeitschrift, die ich nicht vorhabe zu lesen, in der anderen die Hand von Charize. Anstatt mir die Nervosität zu nehmen, unterhält sie sich freigiebig mit einer völlig Fremden, die auf ihrer anderen Seite Platz genommen hat, während der Sohn der gesprächigen Dame das Wartezimmer mit Bauklötzchen bombardiert.

Nachdem ich dem dritten erfolgreich ausgewichen bin, ziehe ich meine Herzdame zu mir.

„Noch einmal und ich leg den Winzling übers Knie.“

„Aber Schatz“, grinst sie. „Denk einfach, es wäre deiner.“

„Niemals!“, erwidere ich wohl ein wenig zu laut und ziehe damit sämtliche Blicke auf mich. Charize tätschelt mir nur die Hand und wendet sich wieder der Mutter des Ungetüms zu.

Zum Glück dauert es nach der dritten Bauklotzattacke nicht mehr lange und wir werden aufgerufen.

Ich tänzle von einem Fuß auf den anderen, während sich das Blutergebnis angeschaut und für den Ultraschall freigemacht wird. Meine Hand liegt wieder in ihrer, ein leichter Druck lenkt mich kurz ab. Und dann ist es zu sehen, ein schwarzweißes Irgendwas, mit einer Art kleinen, schwarzen Blase und inmitten dieser Blase… ein kleines, komisch wirkendes Ding, ohne richtige Form… unser Baby.

„Und da haben wir ja unseren nächsten Profi-Baseballspieler… oder Spielerin“, lächelt uns der Arzt entgegen.

In diesem Moment… ich weiß nicht, was in mir vorgeht. Ich bin sprachlos, wie in keinem Augenblick zuvor. Mein ganzer Körper vibriert und wird von einem unglaublich tollen, intensiven Gefühl durchbohrt. Ich weiß, dass Finger auf meinem Arm liegen, meine Hand die ihre hält, aber für einen Moment scheint es so als wäre ich ganz alleine in diesem Raum. Ich und der Monitor vor mir, von dem ich es nicht schaffe, meinen Blick zu nehmen. Eine unerwartete Berührung in meinem Gesicht lässt mich leicht zusammen zucken.

„Hey… Baby… nicht weinen.“

Irritiert gehen meine Finger aufwärts, verblüfft nehme ich die feuchten Partikel in meinem Gesicht wahr.

„Ist doch alles ok“, lächelt sie mir entgegen und mein Blick schwenkt noch einmal von ihr zum Bildschirm und wieder zu ihr zurück. Es ist so wirklich und trotzdem scheine ich es noch nicht wirklich begreifen zu können. Ein leichtes Zittern begleitet immer noch meine Hand, als diese sich sanft um ihr Gesicht legt. Im nächsten Monat verspüre ich nur noch das Verlangen, sie zu küssen, und dem gebe ich mich auch ohne Umschweife hin.

„Na, dann herzlichen Glückwunsch“, raunt es von der Seite.
 

„Bist du sicher, dass du fahren kannst?“

„Natürlich“, ziehe ich sie zu mir heran, reiße sie hoch und drehe mich mit ihr im Kreis. Kurz schreit sie auf, lacht und umschlingt meinen Kopf mit ihren Armen, um sich Halt zu verschaffen.

„Aaahhh, mein Schuh… Sakuya!“

Ich werde langsamer, schon, um nicht die Kontrolle zu verlieren, und bleibe kurz darauf stehen. Vorsichtig lasse ich sie an meinem Körper hinunter gleiten. Noch nicht wieder festen Boden unter den Füßen, ist sie doch mir nahe genug, um ihre Lippen mit meinen zu verschließen.

„Weißt du, was ich mir gerade wünsche?“

„Jemanden, der sich bückt und mir wieder den Schuh anzieht?“, lächelt sie.

„Schnee.“

„Warum denn das?“

„Ich weiß nicht, gerade wünsche ich mir nur, dass leichter Schneefall uns ins Gesicht fällt.“

„Du bist verrückt, weißt du das?“

„Ja, so verrückt, dass ich am liebsten die ganze Welt wissen lassen würde, wie sehr ich dich liebe.“

Erneut ergreife ich Besitz von ihren Lippen, gleichzeitig stelle ich sie kurz ab, nur um sie sofort wieder auf meine Arme zu hieven. Ich trage sie bis zum Auto.

„Mein Schuh... “

„Scheiß auf den Schuh“, lasse ich die automatische Verriegelung des Autos klicken, öffne die Tür und helfe ihr galant in den Sitz hinein.

„Aber ich mag ihn“, schmollt sie.

„Ok“, wende ich mich noch einmal um und hebe den verlassenen Schuh vom Pflaster auf.

Zurück am Auto streckt sie mir vornehm den Fuß entgegen. Ritterlich tue ich meine Pflicht. Ich lächle und schließe dann die Autotür. Ich gehe vor dem Auto zur Fahrerseite und nehme ebenfalls platz. Mein Wunschziel kenne ich genau. Zuvor war mir nicht wirklich klar, wo ich es machen will, aber in diesem Moment sehe ich es deutlich vor mir.
 

Angekommen ziehe ich sie, die kleinen, unbefestigten Treppenstufen hinauf.

„Was wollen wir denn hier?“

„Komm einfach.“

„Vielleicht hätte ich doch auf die Schuhe verzichten sollen.“

Ich drehe mich um. Nicht den kleinsten Aufschub will ich mehr gelten lassen. Abermals hebe ich sie hoch.

„Sakuya! Pass auf!“ Ihr Körper drängt sich fest an mich. Mit rasantem Tempo erklimme ich den Rest des Weges und komme leicht schnaufend oben an. Behutsam setze ich sie wieder ab.

„Wir waren schon lange nicht mehr hier“, streifen sich unsere Blicke.

Ihre Arme sind immer noch um meinen Körper geschlungen, kühler Wind gleitet um uns herum.

„Weißt du, wann wir das letzte Mal hier waren?“

„Ja.“

„Ich auch.“

Zusammen lassen wir den Blick über die Stadt wandern, über Häuser, Brücken und Wasser. Ein strahlend blauer Himmel über uns, und zu unseren Füßen eine riesige Metropole, die es nicht schafft, auch nur einen einzigen Ton zu uns herauf zu tragen.

„Weißt du… lange Zeit habe ich nicht wirklich gewusst, wo ich hingehöre“, spreche ich in ihr Ohr. Sie schaut mich an und lächelt. „Nein, warte“, halte ich sie auf, als sie versucht, mich zu küssen. Ihr Blick scheint verlegen. „Ich wollte es gerne perfekt machen“, stammelt meine Stimme kurz. „Aber schnell wurde mir bewusst, dass es eigentlich gar kein Perfekt dafür gibt… denn nichts könnte gut genug für dich sein. Nichts was ich machen, kaufen oder sagen könnte, sollte ausreichend dafür sein, um dir zu zeigen, wie viel du mir bedeutest.“ Meine Finger gleiten an ihren Armen hinunter, bis ich ihre Hände fest in meinen halte. „Gott, alles was ich sagen wollte, kommt mir gerade so unglaublich bedeutungslos vor.“

„Was willst du mir denn genau sagen?“

„Dass ich dich liebe“, streiche ich ihr mit unseren Händen durchs Gesicht. „Dass ich mir nicht vorstellen kann, jemals glücklicher mit einem anderen Menschen sein zu können, dass du alles verkörperst, was ich mir immer gewünscht habe und… das ich dich heiraten möchte.“

Plötzlich ist es raus und genauso schnell wie es ausgesprochen ist, bekomme ich ein ungutes Gefühl. Was, wenn sie noch nicht so weit ist oder einfach nicht heiraten möchte?

„Ist es wegen des Babys?“

„Was?“

„Du musst dich da jetzt nicht verpflichtet fühlen.“

„Was sagst du da?“ Ich lasse ihre Hände los und umschließe ihr Gesicht mit meinen Fingern. „Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?“ Unsicherheit verlässt ihren Blick. „Natürlich will ich alles richtig machen“, drücke ich ihr Gesicht ein wenig näher an meines heran. „Für uns, für das Baby… aber das hat mit meinen Wunsch, dich für immer bei mir haben zu wollen, nicht das geringste zu tun. Ich will dich heiraten, weil ich dich liebe, weil ich mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen kann. Verstehst du das?“ Leicht nickt sie zwischen meinen Händen, begleitet von Tränen, die unangemeldet über ihre Wangen rinnen.

„Was tust du denn?“ Eingeschüchtert versuche ich, sie hinweg zu wischen. „Ich hatte gehofft, dass dies der glücklichste Tag deines Lebens würde.“ Meine Stimme zittert.

„Das ist es.“

„Und warum weinst du dann?“ Irritiert schaue ich sie an.

„Weil ich… glücklich bin.“ Ihre Arme umschlingen mich und nehmen mich gefangen. Gerade weiß ich nicht, in welche Richtung ich denken soll, doch ihre Küsse lenken mich auf wunderbare Weise ab. Erst als wir uns Minuten später wieder voneinander lösen, kann ich wieder klar denken.

„Du bringst mich ganz durcheinander… ich war doch noch gar nicht fertig.“

„Willst du mich noch irgendwas fragen?“

„Nein, aber es soll doch wenigstens ansatzweise perfekt sein, oder?“

Ich fische in meiner Hosentasche nach ihren Geschenk, welches ich schon vor Wochen besorgt habe. Es in meiner Hand haltend, gehe ich vor ihr auf die Knie. Ich greife nach ihrer Hand und setze den kleinen, runden Gegenstand an ihrem Finger an.

„Charize Cathy Rubin Sheridan… möchtest du mich heiraten?“

„Ja, das will ich.“
 

Part 78 - Ende
 

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  UmbrellaXD
2009-02-04T22:55:11+00:00 04.02.2009 23:55
das war so toll *~*

ich fand dieses kapitel diesmal dermaßen spannend, ich hab es regelrecht verschlungen * A *
(nicht, dass die andren nicht toll sind, aber dieses war iwie... weiß nciht.. besser geschrieben? vlt informatioen drin, die mcih mehr interessiert haben? was weiß ich , aber es war einfach toll * A *)

hoffe, das nächste kapitel lässt nciht lang auf sich warten <333


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