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Die Monochroniken

02 :: Der Junge und das Seil
von

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Prolog

Ein Tag und eine Nacht
 

Der Rauhreif glitzert in den ersten hellen Momenten, warmer Atem verdampft jetzt sichtbar in flüchtigen Nebelschwaden. Die Feuchte der Nacht kriecht langsam aus den Grashalmen und Blütenkelchen. Das Leben erwacht mit den ersten Sonnenstrahlen, die den trüben Himmel in sanftes, milchiges Licht tauchen.

Ein zögerndes Zirpen, ein leises Rascheln, die Natur streckt gähnend ihre Glieder und macht sich schlaftrunken daran, sich für diesen neuen Tag zu rüsten. Das Seil ist klamm vor Kälte und Nässe, schmiegt sich an die knorrige Rinde der alten Eiche. Die ersten Ameisen lugen aus ihren verzweigten Höhlen, machen sich sofort auf die Suche nach Nahrung oder Baumaterial, erklimmen dabei ohne Probleme den rauhen Hosenstoff. Manche finden auch einen Weg hinein, klettern die Hosenbeine entlang, doch kitzeln sie nicht. Die Haut ist zu kühl von der Nacht.
 

Versteckte Käfer klettern die Rinde hinunter, ein leises Zwitschern aus einiger Entfernung weckt den Schlafenden. Sofort versucht er sich zu bewegen, doch die Glieder sind steif und gehorchen ihrem Besitzer nicht. Seine Augen suchen die Umgebung ab, der trübe Morgenschimmer zeigt ihm dasselbe Fleckchen Erde wie schon vor Stunden. Ein Tag und eine Nacht.
 

Lautloses Seufzen kommt über die starren Lippen, die im gleichen Atemzug nach der feuchten Luft schnappen. Das Seil spannt sich, straff zerrt es an der abgescheuerten Rinde unter sich, wetzt helles Holz wie Fleisch darunter hervor. Kleine Ästchen rascheln, eine Brise Wind schüttelt sanft die Blätter aus dem Schlaf. Gutmütig knarrt die alte Eiche, als sich der junge Körper mit aller Kraft dagegen stemmt, keuchend aufgibt. Das gescheuerte Holz wird warm von der Reibung, Fasern zerreissen ungehört. Tautropfen fallen nach unten, als eine scharfe Bö die Zweige der Eiche schüttelt; über den verkrampften Muskeln stellen sich die spärlichen, zarten Haare. Der Leib senkt sich wieder, die Knie werden angezogen, um dem Wind weniger Fläche zu bieten.
 

Der erste, bellende Laut bricht aus der Kehle, der Körper schüttelt sich durch die Heftigkeit des Ausbruchs. Wieder rollt eine Triade unnatürlicher Töne durch den Wald, doch bald ersetzen fröhliche Vogelstimmen diese mißtönenden Klänge. Ermattet konzentriert er sich auf's Luftholen und bleibt so wohl eine ganze Weile sitzen. Um ihn beginnen die Blumen sich in Zeitlupe zu entfalten, strecken ihre Blütenblätter der wärmer werdenden Sonne entgegen. Auch die kühle Haut des Jungen erwärmt sich schnell, beginnt jedoch zu jucken, da sich mittlerweile eine Menge Insekten unter seiner Kleidung verlaufen haben. Deshalb strampelt er eine Weile, bis die kleinen Tiere entweder tot oder verscheucht sind. Neben ihm im Gras lauert eine helle Spinne in ihrem kunstvoll gewebten Netz auf unvorsichtige Beute. Die drei Grashalme, die ihrem Netz die Basis bilden, erzittern. Gleich darauf sind Netz und Spinne im kniehohen Gras verschwunden.
 

Er hat Angst vor Spinnen. Überhaupt hat er sehr viel Angst. Vor allem, was krabbelt, kriecht, summt oder mehr als vier Beine hat. Aber das ist nicht seine größte Angst. Seit gestern hat er zum ersten Mal Angst um sein Leben.
 

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