Der Geist des Heiligen Schwertes
Die Tasse sauste durch die Luft und knallte an die Wand. Ein Scherbenregen
ging lautstark zu Boden und der Rest des Tees hinterließ einen dunklen,
feuchten Fleck auf der Holzvertäfelung.
"Ich KANN hier nicht tatenlos herumsitzen, verdammt noch mal! Ihr redet
und redet und in dieser Zeit tun sie Madoka-chan wer weiß was an!"
Takeo stand mit hochroten Wangen und blitzenden Augen mitten im Raum, sein
Atem ging sehr schnell, als hätte er einen Sprint hinter sich. Er trug den
linken Arm in einer Schlinge. Um seine Stirn lag ein straff angelegter
Verband, in welchem frisches Blut einen dunklen Fleck hinterlassen hatte;
das lange Haar war offen, fiel ihm lang den Rücken hinab und reichte fast
bis zu den Kniekehlen. Die rechte Hand hatte er zur Faust geballt und
erhoben. Er trug lediglich seine Hakama, wodurch man sehen konnte, wie blass
er eigentlich war und wie viele kleinere Blessuren er noch über den ganzen
Oberkörper verteilt von dem Angriff davongetragen hatte. Trotzdem stand er
aufrecht und entschlossen da, drauf und dran sofort loszustürmen.
Sein Kopf flog herum, das lange Haar schwang in einer getreulichen
Nachahmung der Bewegung um seinen schlanken Körper, und er taxierte wütend
Arashis Gesicht. Die junge Frau stand noch immer in der Tür und wartete
scheinbar ab, dass er sich beruhigte.
"Ich verstehe euch einfach nicht!", rief er erregt. "Worauf warten wir
noch? Jetzt, so kurz nach dem Angriff, rechnen sie niemals damit, dass wir
zurückschlagen! Wir sollten sofort aufbrechen!"
Arashi schloss mit einem nachsichtigen Seufzer die Augen. "In deinem
Zustand? Ich denke, DU gehst heute nirgendwo hin."
"Das werden wir sehen!", schnaubte Takeo. "Ich werde den Teufel tun und
die Hände in den Schoß legen, während sie Madoka..."
"...NICHTS antun werden.", unterbrach ihn Arashi fest. Sie hielt seinem
zornigen Blick mühelos stand. "Solange sie das Schwert noch trägt, können
sie ihr nichts tun."
Der junge Mann begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen, wie ein
Raubtier in einem Käfig, aus dem es keinen Ausweg gab.
"Seid ihr sicher, dass SIE es ist?" Er klang jetzt ruhiger, überlegter,
aber auch bedrückt, sogar niedergeschlagen.
Arashi blieb das nicht verborgen. Sie betrat endlich den Raum, ging auf
ihn zu und legte schließlich in einer tröstenden Geste die Hand auf seine
unverletzte Schulter.
"Jetzt haben wir Gewissheit. Die Sakurazuka hätten nicht solch ein
Interesse sie zu entführen, wenn sie nicht die Trägerin des neuen heiligen
Schwertes wäre."
Takeo ließ den Kopf hängen. Mit einem Mal waren all der Tatendrang und die
Entschlossenheit verflogen. Er fühlte sich schwach und genau so, wie er es
im Augenblick wohl auch sollte: Verletzt und erschöpft.
"Ich konnte sie nicht schützen. Es tut mir Leid. Ich hätte bei ihr bleiben
sollen. Das war meine Aufgabe." Er hob die Hand und fuhr sich damit über
das Gesicht. "Ich habe versagt."
"Rede nicht so einen Unsinn!", sagte Arashi grob. "Das hätte jedem von uns
passieren können! Und jetzt hör auf dir Vorwürfe zu machen! Da gefiel mir
der Takeo von gerade eben besser!" Sie warf einen bezeichnenden Blick auf
den Scherbenhaufen an der gegenüberliegenden Wand. "Außerdem hilft es
niemandem, wenn du jetzt einfach kopflos zu Madokas Rettung eilst, wo du
selbst kaum in der Lage bist zu laufen, und womöglich am Ende wirklich
noch... ernsthaft Schaden nimmst..."
"... oder getötet wirst. Sprich es ruhig aus Arashi. Er kann das
vertragen." Vollendete eine volltönende Stimme von der Tür her den Satz.
Takeo und Arashi drehten sich herum und sahen sich Tamanosuke gegenüber.
"Kommst du, Arashi? Subaru hat einen... Plan entwickelt, wie wir vorgehen
könnten, um die Sakurazuka zu finden."
"Ich komme mit!", verkündete Takeo entschlossen.
"DU bleibst hier und versuchst noch ein wenig zu schlafen.", sagte sein
Bruder unbeirrt. "Du musst dich erholen..."
"Ich habe den ganzen Tag geschlafen! Madoka ist nun schon über vierundzwanzig
Stunden fort! Ich werde mich NICHT wie ein störrisches Kind wieder ins
Bett verfrachten lassen, diese Zeiten sind vorbei, BRUDER." Takeos Stimme
troff vor Hohn, während er das letzte Wort aussprach.
"Aber genau so benimmst du dich: Wie ein kleines Kind." Tamanosuke
schüttelte den Kopf. "Nun ja, ich denke, ich werde dich nicht los, wenn
wir hier nur weiter herumstehen und diskutieren. Dann komm eben mit."
Takeo eilte, das linke Bein leicht nachziehend, zurück zum Bett, wo er den
vergangenen Tag verbracht hatte, ergriff sein Hemd und mühte sich einen
kurzen Moment hilflos damit ab, es irgendwie über die Armschlinge
anzuziehen. Schließlich erbarmte sich Arashi und half ihm beim Ankleiden.
Als sie hintereinander den Raum verließen, bat er sie, sein Haar
zurückzubinden. Sie nahm das Lederband, das er ihr reichte, raffte seine
lange Mähne zu einem Zopf zusammen und schlang das Band darum, noch
während sie langsam weitergingen.
"Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dein Haar schneiden zu
lassen?", fragte sie. Takeos Schultern sackten herab und er konnte sich
einen genervten Seufzer nicht verkneifen.
Bevor er jedoch irgendetwas erwidern konnte drehte Tamanosuke den Kopf und
sagte lachend im Weitergehen: "Du dürftest die einzige Person auf dem
gesamten Campus sein, die diese Frage bisher noch NICHT gestellt hat,
Arashi-dono. Er ist ein waschechter Samurai. Jedenfalls bildet er sich das
ein. Und als solcher will er das Haar traditionell weiterhin so tragen.
Wir haben es alle aufgegeben, ihn darauf hinzuweisen, dass es zweifellos
sehr viel unkomplizierter und praktischer mit kurzem Haar wäre, und dass
er später wahrscheinlich längere Zeit im Bad verbringen wird als seine
zukünftige Frau, wenn er es so bleiben lassen sollte."
Takeo gab ein undefinierbares Geräusch von sich, sagte jedoch nichts. Und
sogar die sonst so kühle Arashi musste plötzlich lächeln.
Kurz bevor sie die Diele erreichten, stieß Yuzuriha zu ihnen, die, eine
Decke über dem Arm tragend, aus einem Zimmer heraustrat und die Tür hinter
sich zuschob. Sie trug ein dickes Pflaser auf der linken Wange. Inuki lief
bellend auf die Gruppe zu und sprang an Arashis langen Beinen hinauf. Sie
schien er besonders gern zu mögen. (Also Arashi, nicht die Beine... Ähhhmm...^^)
Arashi bückte sich und kraulte ihn flüchtig hinter dem Ohr.
Yuzuriha trat lächlend an Takeos Seite und ging mit ihnen gemeinsam
weiter.
"Wie geht es dir denn jetzt, Takeo-kun? Hast du Schmerzen?"
Takeo warf ihr einen Seitenblick zu und schaute dann weiter stur zu Boden.
"Mmmmh.", brummte er bloß.
"Darf ich dich mal etwas... Persönliches fragen?" Sie wirkte wie immer
übereifrig und schien nicht im Mindesten durch seine ablehnende Haltung
eingeschüchtert.
"Mmmmh."
"Madoka-chan... Sie bedeutet dir viel, oder?" Yuzuriha war stehen
geblieben und fiel zurück. Arashi verlangsamte ihre Schritte ebenfalls und
sah ihn aufmerksam an. Takeo warf Yuzuriha einen kurzen, überraschten
Blick zu, wandte den Kopf dann aber gleich wieder nach vorn und ging ohne
zu zögern weiter, sodass sie seine geröteten Wangen nicht sehen konnten.
"Und wenn es so wäre?", murmelte er leise.
Yuzuriha freute sich. Ein strahlendes Lächeln huschte über ihre Züge. Auch
Arashi lächelte wieder. Er konnte ihre Blicke in seinem Rücken spüren.
"Dann ist es ja gut!", rief die junge Frau ausgelassen und lief hinter ihm
her, tanzte um ihn herum.
"Kannst du mir mal verraten, was das soll?", fragte Takeo mürrisch.
"Du bist verliebt! Ver-liiiiiiebt!", sang Yuzuriha lachend. Der junge Mann
schüttelte den Kopf.
"Du bist ja verrückt."
"Bin ich nicht! Ich habe nur Augen im Kopf!" Sie grinste.
"Kommt ihr nun Kinder, oder braucht ihr eine Extra-Einladung?", fragte
Tamanosuke von der Diele und dem Eingang zu dem Raum her, indem sie am
vorigen Abend bereits gesessen hatten. Das Wort "Kinder" hatte er
besonders genüsslich betont.
Takeo ließ einen erleichterten Stoßseufzer hören und beeilte sich an ihm
vorbei das Zimmer zu betreten. Die anderen folgten ihm.
"Nein, Inuki. Heute wartest du bitte hier draußen, ja? Sei brav." Yuzuriha
bedeutete dem Hund sich vor der Tür niederzulassen und zu warten. "Es ist
besser so."
Takeo runzelte die Stirn ob dieser Aussage, schwieg aber weiterhin.
Als sich alle im Zimmer auf den Sitzkissen auf dem Boden niedergelassen
hatten, betraten noch Subaru und ein anderer Mann den Raum. IHN hätte
Takeo hier am allerwenigsten erwartet.
"Aoki-san!", er sprang auf (nicht ohne schmerzhaft das Gesicht zu
verziehen) und humpelte dem hochgewachsenen, schlanken Mann im
khakifarbenen Anzug entgegen. Seijiro Aokis Gesicht, wie immer von seiner
Gelehrten-Brille (wie Takeo sie früher gern genannt hatte) geschmückt,
hellte sich auf, als er den jungen Mann sah. Das dunkelbraune Haar trug er
kurzgeschnitten. Wie gewöhnlich hatte er eine Aktentasche bei sich. Takeo
und er hatten sich immer schon sehr gut verstanden. Auch Aoki-san war ein
Himmelsdrache, der Kamui Shiro im letzten Gefecht des ausklingenden
Jahrtausends zur Seite gestanden hatte. Außerdem war er ein sogenannter
Windmagier und konnte mit seinen magischen Fähigkeiten die Luftströme
lenken und zu seinem Vorteil einsetzen. Er hatte eine Frau und
mittlerweile zwei Kinder. Was also tat er hier? Takeo - und sicher nicht
nur er - hatte angenommen, dass Aoki-san sich nach dem Ende des Kampfes
nur noch auf seine familiären Pflichten besann. Zu groß war die Gefahr,
dass ihm etwas zustieß und er seine Frau und die Kinder allein zurückließ.
Die beiden Männer umarmten sich kurz, aber herzlich.
"Takeo! Ich habe gehört was passiert ist. Geht es dir gut?", frage Seijiro
dann besorgt.
"Es ist alles in Ordnung. Du kennst mich doch. Bei mir heilen Verletzungen
immer sehr schnell." Dies entsprach der Wahrheit. Takeo hatte nicht die
geringste Ahnung, warum das so war, aber seid er denken konnte, war nicht
ein einziges Mal ernsthaft krank gewesen und wenn er sich tatsächlich mal
eine Verletzung zugezogen hatte, war diese innerhalb weniger Tage, sogar
Stunden, verschwunden gewesen.
"Und Madoka-chan?" Seijiro sah ihn mifühlend an.
Takeo schüttelte nur stumm den Kopf.
"Das tut mir Leid. Ich hätte auch hier sein müssen. Gemeinsam hätten
wir..."
"... nicht verhindern können, was passsiert ist, glaube mir." Arashi stand
ebenfalls auf und begrüßte Aoki-san.
"Arashi! Ist es möglich, dass du noch schöner geworden bist?" Seijiro
lächelte sie strahlend an. Die junge Frau seufzte und setzte sich wieder
auf ihr Kissen. Nacheinander begrüßten sie sich alle. Es war wie ein
Klassentreffen, bei dem man nach fünf Jahren seine ehemaligen Kameraden
plötzlich reifer und erfahrener antraf. Nur, dass der Anlass ein nicht
ganz so freudiger war.
"Ich habe euch alle, auch dich Seijiro, hierher gebeten, weil ich denke,
dass wir jede Hand, jede Hilfe gut gebrauchen können.", ließ sich Subaru
mit seiner ruhigen, wohlmodulierten Stimme vernehmen, als sie endlich alle
Platz genommen hatten.
"Wir haben nun endlich den verborgenen Schrein der Sakurazukamori
ausfindig machen können."
Ungläubiges Gemurmel erhob sich am Tisch.
"Wie ist das auf einmal so schnell gelungen?", wollte Yuzuriha wissen.
"Wir haben Jahre danach gesucht und nichts entdeckt."
"Das lag einfach auch an der Tatsache, dass sie sich, genau wie wir, nach
dem letzten großen Kampf zurückgezogen und nicht mehr gezeigt hatten.
Niemand konnte ihre Spuren zurückverfolgen. Nicht, dass genau dies nicht
schon Generationen vor uns getan hätten. So lange, wie es unsere
Clan-Fehde gibt haben die Sakurazukamori ihren Aufenthaltsort regelmäßig
wechseln müssen, da sie von den Sumeragi irgendwann entdeckt wurden,
während wir immer auf diesem Campus-Gelände blieben. Das bedeutet nicht
mehr und nicht weniger, als dass wir uns letztenendes immer gegen die
Sakurazuka behaupten konnten, wussten sie doch sehr wohl, wo sie UNS
finden konnten."
Subaru ließ seine Worte wirken und fuhr schließlich fort:
"Es scheint so, als müssten sie sich bald wieder ein neues Domizil
suchen. Da sie jetzt wieder so aggressiv in Aktion getreten sind, was wohl
mit dem näherrückenden Zeitpunkt der Geburt des neuen heiligen Schwertes
zusammenhängt, hatten wir die Möglichkeit sie zurückzuverfolgen und ihren
momentanen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Die Sakurazuka sind
unaufmerksam gewesen. Unmittelbar nach dem ersten Angriff der Shiki, habe
ich mich mit Aoki-san in Verbindung gesetzt und ihn gebeten, zu uns zu
stoßen. Es war ihm möglich, nach einem dieser Überfälle, den Shiki zu
folgen. Wir wissen nun wo sie sich momentan aufhalten, sind ihnen
gegenüber also ein winziges Stück im Voraus, sollten Sie jedoch keinesfalls
unterschätzen. Noch nie ist mir ein Mitglied des Sakurazuka-Clans
begegnet, das so mächtig war wie die Person die Madoka entführt hat."
Alle schwiegen betroffen. Wenn der junge Yin-Yang-Meister so etwas sagte,
dann sollte das bereits etwas heißen.
Dann fragte Takeo: "Und wo ist das Nest dieser Mörder nun?"
"Unterhalb des Tokio-Tower. In den verlassenen Katakomben der alten
Abwasseranlagen.", antwortete Subaru.
"Hnn! Dort, wo es hingehört...", zischte der junge Mann verächtlich.
"Diese alten Gewölbe da unten werden schon lange nicht mehr genutzt.",
führte Aoki-san aus. "Und sie sind viel größer, als wir es uns vorstellen
können. Es gibt dort unten Abschnitte, die seit ihrer Erbauung um die
Wende des 15./16. Jahrhunderts nicht mehr betreten wurden. Niemand weiß
genau, wie groß das Netz der Tunnel wirklich ist. Mittlerweile hat man ein
neues System entworfen, dass nicht ganz so tief in der Erde liegt. Die alten
Katakomben sind praktisch ohne Nutzen - ein perfektes, dunkles Versteck."
"Gut, dann lasst uns aufbrechen! Wir haben keine Zeit mehr zu..."
"Nun mal langsam mit den jungen Pferden, Takeo-kun.", unterbrach ihn
Tamanosuke. "Ich denke, Sumeragi-san ist noch nicht fertig. Und es nutzt
keinem, wenn wir planlos losstürzen."
Takeo, schon halb aufgestanden, setzte sich wieder, leise vor sich hin
murmelnd.
"Ich habe vor, noch heute Nacht zum Tokio-Tower aufzubrechen, Takeo-san.",
beschwichtigte Subaru mit einem leichten Lächeln.
"Also, hört mir bitte genau zu. Ich habe mir folgendes gedacht..."
Und in der nächsten Stunde schilderte das junge Sumeragi-Oberaupt, wie er
sich die Aushebung des Versteckes der Sakurazukamori vorgestellt hatte.
Madoka hatte Schmerzen.
Stundenlang war sie orientierungslos durch lichtlose, finstere Gänge geirrt, hatte verwzeifelt einen Augang aus diesem unterirdischen Labyrinth gesucht - und war schließlich doch bloß wieder an ihrem Ausgangspunkt, dem Zimmer mit ihrem Bett, angekommen. Die ganze Zeit war sie im Kreis gelaufen! Hätte sie etwas zum Markieren der Gänge gehabt, ein Stück Kreide, irgendetwas, dann wäre ihr das nicht passiert. So aber war sie zu schwach, um noch weitergehen zu können. Während der gesamten Zeit war sie nicht einer Menschenseele hier unten begegnet. Und DAS war wirklich unheimlich. Wenn dies der geheime Schrein der Sakurazukamori war, wo hielten sich seine Mitglieder dann auf, wenn nicht hier?
Oder...
WAR dies am Ende gar nicht wirklich ihr Domizil? Hatten sich die Sakurazuka bereits wieder einen neuen Unterschlupf gesucht und sie selbst nur hier festgehalten, um Sumeragi-san und die anderen in eine wohl ausgeklügelte Falle zu locken? Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter und ein erneuter Krampf ließ sie den Gedanken nicht weiter verfolgen.
Dass sie Krämpfe in ihrem Unterleib hatte war an
sich nichts besonderes - sie war eine Frau. Aber DIESE Schmerzen waren
jenseits all dessen, was sie bisher an Beschwerden gehabt hatte.
Angefangen hatte es vor ein paar Stunden. Der Tag war dahingekrochen, während sie immer weiter umhergeirrt war.
Das erkannte sie lediglich an der Zeit, die auf ihrer Armbanduhr verstrich,
denn in keinem Zimmer oder Gang, den sie bisher gesehen hatte, gab es
Fenster, sodass sie sehen konnte, wie die Sonne stand oder ob es überhaupt
noch hell war. Sie vermutete, dass sie sich in irgendeinem unterirdischen Kellergewölbe befand, welches die Sakurazuka sich zunutze gemacht hatten (allerdings einem gigantischen Kellersystem, bedachte man die Größe der unheimlichen
Kapelle, in welcher sie zum ersten Mal erwacht war).
Sie rollte sich auf dem Bett, an welches sie zuvor gefesselt gewesen war, zusammen und beobachtete, wie die Kerze herunterbrannte. Die Schmerzen hatten schon vorher angefangen, doch jetzt war sie zu kraftlos, um aufzustehen, geschweige denn weitergehen zu können. Es war zunächst nichts weiter,
als ein unangenehmes Ziehen an ihren Eingeweiden gewesen. So begannen auch ihre
allmonatlichen Schmerzen, daher hatte es sie nicht wirklich beunruhigt.
Doch die Krämpfe hatte ein Ausmaß angenommen, dass sie sich jedes Mal,
wenn ein neuerlicher Schmerz sie durchfuhr, gepeinigt zusammenkrümmte und
wimmerte. Irgendwann wurde es so schlimm, dass sie aufstand und
im Raum umherlief, in der Hoffnung, dass sich ihr Körper lockerte,
aber das Gegenteil war der Fall. Sie brach vor dem Bett in die Knie
und übergab sich. Sie zitterte und war in Schweiß
gebadet. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie vergrub ihr Gesicht in
der Bettdecke und erstickte einen schmerzerfüllten Schrei. Hatte das mit
der Prophezeiung zu tun, dass sie das neue heilige Schwert gebären sollte?
Eine andere Erklärung gab es nicht für ihren Zustand, der sich so rasch so
stark verschlechtert hatte. Sie seufzte erleichtert, als das Reißen in
ihrem Unterleib für einen Moment inne hielt. Sie fühlte etwas warmes,
feuchtes an ihren Schenkeln herunterlaufen und stellte voller Entsetzen
fest, dass sie in einer beängstigend großen Blutlache saß! Die nächste
Attacke folgte ohne Vorwarnung. Sie schrie nun wirklich.
Draußen hörte sie Schritte. Jemand sprach. Dann wurde die Tür aufgerissen
und ein Mann in einem weißen Arztkittel - der einen völlig verstörten und
verängstigten Eindruck machte - trat ein, gefolgt von Madokas Bruder
Daisuke.
Während der Arzt verwirrt stehen blieb und mit großen Augen das Blut
betrachtete, das sich in kleinen Rinnsalen bis zur Tür hinzog, sog Daisuke
scharf die Luft ein und stürzte zu Madoka.
"Um Himmels Willen! Madoka! Was...?"
'Zu früh! Es ist viel zu früh!', schoss es ihm durch den Kopf, während er
neben seiner Schwester niederkniete und sie zu sich herumdrehte. Jede
Bewegung schien ihr noch mehr Schmerzen zu verursachen. Ihre kalten Hände
krallten sich in den dünnen Stoff seines schwarzen Hemdes.
"Ta...keo?", keuchte sie. "Hilf mir!"
In seiner Hilflosigkeit und Verwirrung schlang Daisuke den Arm um ihre
Schultern und korrigierte sie nicht. "Ich bin ja hier, Madoka. Ganz ruhig.
Ich helfe dir."
Sein Blick schoss in Richtung des noch immer wie gelähmt dastehenden
Arztes. "Verdammt, was stehen sie da so herum! Helfen sie mir!"
Der Arzt, ein Mann mittleren Alters mit bereits ergrauendem, schwarzen
Haar und Schnauzbart, zuckte zusammen, als hätte er einen Stromschlag
erhalten und blinzelte. Dann reagierte er jedoch rasch. Gemeinsam hoben
die beiden Männer den sich windenden Körper den Mädchens hoch und trugen
ihn aus dem Zimmer, den Gang hinunter und in eine Art Büroraum, dessen
Schreibtisch nun kurzerhand zum Behandlungstisch umfunktioniert wurde.
"Es ist noch zu früh!", sagte Daisuke erregt, während er Madoka dem
verblüfften Arzt in die Arme drückte und mit der Rechten die
Schreibutensilien und Akten vom Tisch fegte. "Das kann einfach noch nicht
sein! Doktor, sie müssen es aufhalten!"
Der Arzt legte die junge Frau auf die freie Tischplatte und trat
stirnrunzelnd zurück.
"Ich weiß zwar noch immer nicht genau, was hier vor sich geht -
schließlich werde ich nicht oft mitten am Tage aus meiner Praxis entführt
- aber diese junge Dame ist eindeutig sehr krank!" Er legte die Hand auf ihre
Stirn, während Daisuke sich mit Macht beherrschen musste, nicht ein
ironisches "Nein, wirklich?" von sich zu geben. "Sie hat hohes Fieber. Ich
bräuchte ein Ultraschallgerät, um feststellen zu können, was in ihrem
Körper vor sich geht, da ich solche Mittel aber nun nicht hier habe..." Er
sah sich um und gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Er bückte sich
nach einem Brieföffner, den Daisuke zuvor mit auf den Boden befördert
hatte.
"Haben sie die Möglichkeit mir wenigstens frisches Wasser und saubere
Handtücher, Desinfektionsmittel und Verbandmaterial zu besorgen?"
Daisuke nickte. "Ich werde alles Nötige veranlassen. Aber können sie
nicht..."
"...es aufhalten? Also, das hier können keine normalen Wehen sein. Wenn
sie in der Tat schwanger ist...Ich hab so etwas noch nie gesehen! Schauen
sie sich das an!" Der Arzt hatte den Brieföffner dazu benutzt, Madokas
Kleidung über Brust, Bauch und Unterleib aufzutrennen. Daisuke trat näher
und gewahrte haarfeine, vielfach verästelte Linien in ihrer Haut, wie bei
zu trockenem Wüstenboden, der an vielen Stellen schon aufgerissen war. Sie
bluteten. Nicht sehr stark, aber doch sichtbar.
"Mein Gott! Es ist so, als würde das Kind mit Gewalt durch die Bauchdecke
brechen wollen!" Der Arzt erbleichte.
"Ich sagte ihnen doch schon, Doktor. Es handelt sich hier um keine normale
Schwangerschaft. Mehr brauchen sie nicht zu wissen. Sie sollen es bloß
aufhalten! Und dafür sorgen, dass sie nicht stirbt!", sagte Daisuke
heftig.
"Kunststück, wenn ich nicht wirklich weiß, was mit ihr los ist!", schrie
der Arzt ihn an. "Das Mädchen stirbt, wenn sie mir nicht augenblicklich
sagen, was sie da in sich trägt! Ein Kind jedenfalls nicht! Der Leib ist
nicht einmal im Ansatz gewölbt! Und die Risse ziehen sich nicht bloß über
ihren Unterleib und Bauch, sondern auch über ihre Brust! Wenn ich ihr
helfen soll, dann müssen sie mir entgegenkommen, verdammt noch mal!"
Madoka zuckte zusammen, schrie markerschütternd und sackte dann plötzlich,
wie vom Blitz getroffen, beunruhigend leblos in sich zusammen. Vollkommen
still lag sie da.
"Sie stirbt!", schrie Daisuke.
Der Arzt begann sofort mit den Wiederbelebungsmaßnahmen, beatmete sie und
führte Herzmassage durch.
Madoka schwebte. Sie fühlte sich leicht und unbeschwert. Nichts schien
mehr von Bedeutung, in dieser warmen, alles umfassenden, wattigen
Dunkelheit. Sie fühlte sich geborgen und sicher, wie in der Umarmung einer
Mutter oder eines Geliebten. 'Bin ich tot?', dachte sie heiter. 'Dann sehe
ich Takeo wieder.' Sie lächelte.
"Madoka?" Eine Stimme, so sanft und warm, wie ihre Umgebung, und doch
mächtig und allumfassend.
"Madoka, was tust du hier?"
Die junge Frau sah sich um, konnte die samtene Schwärze jedoch nicht mit
Blicken durchdringen. "Wer ist da?
"Jemand, der auf dich gewartet hat. Ich habe dich jedoch nicht so früh
hier erwartet."
"Wer bist du?", fragte Madoka leise.
Die Stimme schien zu lachen. Es war seltsam, aber sie konnte nicht
ausmachen, welchen Geschlechts sie war.
"Das brauchst du nicht zu wissen, Mädchen. Noch nicht
jetzt. Nicht jetzt."
Madoka war verwirrt. "Bin ich also noch nicht tot?"
"Nein. Was du gespürt und durchgemacht hast wurde lediglich durch den
Stress und die Angst hervorgerufen, die deinen Körper gemartert haben. Die
Geburt des heiligen Schwertes wurde beschleunigt, darf aber noch nicht stattfinden. Ich habe sie
aufgehalten. Die Manifestation des Schwertes findet zu einem festgelegten, vorherbestimmten Zeitpunkt statt.
Du wirst wissen, wenn es soweit ist."
Madoka war verwundert. Was war das für eine... beruhigende, freundliche Aura in ihr selbst und um sie herum.
"Wer immer du auch bist, bist du ein Teil von mir?"
"Warum wundert dich das?", fragte die Stimme in ihrem Kopf. "Das Schwert
nimmt viele der Eigenschaften seines... Wirtes an, wenn es ausgetragen
wird. Dennoch es ist eine Waffe, dazu geboren zu töten, unabhängig davon,
ob es aus guter, oder böser Absicht geschieht. Nicht mehr und nicht
weniger."
"DU? Du bist das Schwert?"
"Nein. Jedenfalls noch nicht.", war die Antwort.
"Warum kann ich nicht bleiben?", fragte die junge Frau traurig.
"Weil es noch etwas zu tun gibt für dich. Nicht nur der Zeitpunkt ist
ungünstig, du hast auch noch etwas zu erledigen, bevor du gehst."
Etwas erschütterte die warme, wundervolle Illusion die sie umgab. Madoka
glaubte, eine andere Stimme zu hören, die wie aus weiter Ferne zu ihr
herüberklang.
"Geh nun und erfülle dein Schicksal, kleines Mädchen. Wir werden uns
wieder begegnen. Allerdings wirst du dann NICHT hier bleiben wollen."
Die letzten Worte, rätselhaft und voll von dunklen Vorahnungen, hallten
noch lange in ihr nach, selbst als sie schon längst und sehr schmerzvoll
wieder zu atmen bekonnen hatte und sie blinzelnd, hustend und keuchend
wieder ins Leben zurückgefunden hatte. Daisukes blasses Gesicht war direkt
über ihr. Sie konnte in seinen Augen ehrliche Sorge erkennen - und
verstand es nicht. Wie konnte dieser Mensch ihr sorgenvoller, liebender
Bruder sein? Dieser Mörder, der sie so brutal entführt hatte? Sie wollte
zurück in die samtene Schwärze der Bewusstlosigkeit und nicht darüber
nachdenken.
"Gott sei Dank, Madoka. Du bist wieder zurück."
Madoka erkannte hinter Daisukes Gestalt den Arzt und noch eine weitere
Person, die mit einer Schüssel und Handtüchern beladen dastand.
Erleichtert stellte sie fest, dass sie wieder frei atmen konnte. Auch der
grelle Schmerz war einem zwar unangenehmen, jedoch erträglichen dumpfen
Pochen gewichen.
"Bleib liegen, ich werde dich gleich wieder ins Bett bringen. Ruh dich
aus. Der Arzt hat dir ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt. Gleich
wirst du schlafen können."
Noch während sie Daisukes Lippenbewegungen folgte, merkte sie, wie eine
leichte Mattigkeit von ihr Besitz ergriff. Ihre Lider wurden schwer und
sie sah sein Gesicht leicht verschwommen. Sie fühlte sich nicht schlecht,
aber sie merkte sofort, was er mit "starkem Beruhigungsmittel" gemeint
hatte. Als ihr dieses Mal die Sinne schwanden, wusste sie, dass es
einfacher Schlaf war und gab sich dessen Umarmung widerstandslos hin..