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Eternity II - Die Rückkehr des Rächers

Auch tot noch gefährlich...
von

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Pilze

Kapitel 2: Pilze
 

Als der Elementarkreis sich beim Baumhaus einfand - fast gegen Mittag - hatte Valerian den toten Seeigel gefunden und beseitigt. Eikyuu hatte sich etwas übergezogen, sodass er zumindest auf einem Stuhl sitzen konnte, um die anderen zu begrüßen. Annemone, die ihn noch nie zuvor gesehen hatte, war hingerissen vor Bewunderung, gleichzeitig wurde sie immer ganz schüchtern, wenn er sie ihn nur ansah. Verstohlen sah sie auf seinen linken Fuß, der vorsichtig bandagiert und immer noch dick war.

"Ja, das wäre sehr nett von dir," sagte er zu ihr, und sie lief mit rotem Gesicht davon. Nimburia sah ihn fragend an. "Sie hat sich nicht getraut, vorzuschlagen, das sie mir die Stacheln herausziehen könnte," erklärte er.

"Oh, das kann sie gut," bestätigte Nimburia. "Ich bin oft mit ihr am Strand. Irgendjemand tritt sich immer irgendwas ein, besonders Kinder. Sie hat Übung. Und kleine, geschickte Finger."

"Geht ihr oft von hier fort? Es ist hier bestimmt ziemlich öde für ein Kind," erkundigte Eikyuu sich.

Die Windmagierin nickte. "Ja, Noctivagus trägt uns freundlicherweise einmal im Monat nach Athrya und holt uns nach einer Woche wieder ab. Manchmal lasse ich Annemone dort."

"Dann ist es gut," meinte Eikyuu.

"Ich werde sie suchen und ihr erklären, dass du Gedanken lesen kannst, sie scheint sich etwas erschrocken zu haben," beschloss die blonde Frau.

Der Magier blieb mit Valerian allein zurück.

"Ich dachte, ich dürfte mich um deinen Fuß kümmern," schmollte der Lehrling.

"Ich weiß," entgegnete Eikyuu. "Aber Annemone kann es wahrscheinlich wirklich besser. außerdem will ich, dass sie ihre Scheu vor mir überwindet und merkt, dass sie gebraucht wird. Es ist gut für Kinder, wenn sie Erwachsenen helfen können, das stärkt ihr Selbstbewusstsein." Er zögerte kurz, forderte dann aber doch Valerian auf, sich zu ihm zu setzen. "Val... mein Vater hat dich gern und schätzt dich sehr, aber... er will mir eine Frau vorstellen."

Die Farbe wich aus Valerians Gesicht. Er fand zunächst keine Worte, daher sprach Eikyuu rasch weiter: "Ich habe angedeutet, dass er es ruhig versuchen kann, wenn es ihn glücklich macht. Verstehst du, ich kann mich nicht prinzipiell weigern. Aber die Sache wird keine Folgen für uns haben, ganz sicher. In einer Woche findet ein Treffen aller Drachen statt, wie alle zehn Jahre. Deshalb konnte ich meinen Job als Kelchhüter einem Vertreter anvertrauen, aber nur vorübergehend. Das Treffen dauert acht Tage. Wenn du willst, nehme ich dich mit."

Valerian war erleichtert nach diesem Angebot. "Ich nehme an, jene Frau wird auch dort sein."

"Ja. Und es könnte nicht ganz einfach für dich sein, als Mensch unter Drachen, obwohl sie alle Menschengestalt annehmen werden. Aber viele halten sich für was Besseres."

"Ich bin ein Magier und kann mich wehren. Du kannst ja sagen, ich stünde unter deinem Bann."

"Dann kommst du mit?"

"Klar."

Eikyuu freute sich. "Pass aber auf und nimm dich vor Leuten in acht, die Kyuu heißen," warnte er ihn.

Valerian hob fragend eine Augenbraue. "Ich merke doch schon, wenn jemand meine Gedanken lesen will."

"Die Fähigkeiten eines Seelenlesers gehen viel weiter, und einiges wirst du nicht merken. Ich könnte dich dazu bringen, dich selbst zu ertränken, und du wärst davon überzeugt, es aus freiem Willen zu tun."

"Na, dann höre ich eben rechtzeitig auf, wenn ich plötzlich Dinge tue, die ich sonst nicht tue," meinte Valerian leichthin.

Eikyuus Blick blieb ernst. "Sieht aus, als müsste ich dir eine Lehre erteilen." Er griff nach Valerians Arm und zog ihn zu sich heran. "Aber erst einmal habe ich Hunger. Kochst du was?"

"Kein Problem. Ich gehe in den Wald und besorge was." Der Schwarzhaarige stahl sich einen Kuss, ehe er seine Worte in die Tat umsetzte.

Valerian war noch nicht lange weg, als sich Annemone schüchtern hereinwagte. "Meister Eikyuu, stimmt es, dass Ihr Gedanken lesen könnt?"

Er nickte. "Ich mache es aber nicht immer. Nur wenn ich es für angebracht halte, zum Beispiel, wenn sich jemand nicht zu sprechen traut. Du kannst mit mir telepathisch reden, wenn du willst."

"Nein... lieber nicht," befand sie. "Soll ich jetzt... nach Eurem Fuß schauen? Oder lieber später?"

"Nun, ich habe gerade Zeit. Aber der Fuß ist noch geschwollen, also wirst du nicht alle gleich erwischen. Versuch es einfach," schlug er vor. Er legte sein Bein auf einen Hocker, wobei er den Fuß überstehen ließ, so dass nichts auf die verletzten Stellen drückte und Annemone von allen Seiten herankam. "Im Regal ist etwas, das du auf die Stellen auftragen kannst, die kleine Schale dort." Er zeigte auf das Gefäß, in das Kyuujo den Rest seiner Salbe vom Vortag gegeben hatte.

Das Mädchen holte es sich und breitete außerdem den Inhalt einer gepolsterten Stoffrolle auf einem kleinen Tablett aus, das sie ebenfalls in dem Regal fand. Bei den Sachen handelte es sich um verschiedenen Nadeln und zwei unterschiedlich große Pinzetten sowie einige kleinere, saubere Stoffstücke, um Blut wegzutupfen.

"Ihr habt großes Pech gehabt," stellte sie angesichts der Stachelmenge fest.

"Ja," grinste er ironisch. "Bin irgendwie noch gestolpert und noch mal gegen das Vieh gestoßen. Dumm gelaufen."

Die Kleine begutachtete seinen malträtierten Fuß weiter. "Es eitert an vielen Stellen schon, wenn wir Glück haben, werden die Stacheln rausgeschwemmt. Ich muss Euch aber wahrscheinlich ein bisschen wehtun..."

"Ich beiße nicht. Tu, was nötig ist."

"Okay..."

Annemone nahm seine Worte ernst. Sie drückte an seinem schmerzenden Fuß Eiter aus, nahm ihre Nadeln zu Hilfe und zog so einen Stachel nach dem anderen heraus. Eikyuu schwieg und sah ihr zu. Die Schmerzen waren weit unter dem, was er als wirklich schlimm empfand. Ab und zu rutschten ihre kleinen Finger ab fügten ihm dadurch unnötigerweise zusätzlichen Schmerz zu. Annemone erschrak dann immer und entschuldigte sich unzählige Male, bis er sie soweit hatte, dass sie sich keine Sorgen deswegen mehr machte. Er konnte spüren, dass sie ihn für seine Tapferkeit bewunderte. Für ein Kind in ihrem Alter musste es eine grausige Vorstellung sein, so viele Seeigelstacheln im Fuß zu haben. Er fand es lediglich ziemlich dumm.

Das Mädchen war noch lange nicht fertig, als Valerian mit einem Arm voll schrumpliger Pilze zurückkam.

"Lass dich nicht stören und mach einfach weiter," kam Eikyuu Annemone zuvor, die sich daraufhin verkniff, den angehenden Allmeister darauf hinzuweisen, dass "Greisenhäupter" ungenießbar waren.

Valerian kochte die Pilze in einer Brühe aus weiteren Zutaten, die man sonst nicht ins Essen tat, außer man wollte es verderben. Annemone verzog bei dem sich ausbreitenden Geruch das Gesicht, sagte aber nichts. Nach einer Weile tat sich Valerian etwas davon auf einen Holzteller und kostete sein Werk. Annemone ließ von Eikyuus Fuß ab, um den jungen Mann ungläubig anzustarren. Dieser aß drei der hässlichen, übel riechenden Pilze auf, ehe er sich an seine Manieren erinnerte und den anderen auch etwas anbot.

"Du kannst sie ruhig alle haben," sagte Eikyuu gönnerhaft.

Valerian freute sich und aß noch zwei weitere. Als er einen neuen zum Mund führte, hielt er plötzlich inne. "Urgh, was mache ich denn da! Da muss ein Greisenhaupt unter die Pilze gekommen sein!"

"Eins? Du hast schon fünf gegessen!" erinnerte Annemone ihn.

Er starrte sie an, dann Eikyuu, der mit unschuldiger Miene eine Fliege an der Decke betrachtete. "Kyuu! Was...?!"

Die Silberaugen wandten sich ihm zu. "Glaubst du mir jetzt, dass Seelenleser gefährlich sind?"

Valerians Hand fuhr zum Mund. Sein Gesicht verfärbte sich grünlich. "Du... du meinst...?"

Eikyuu und Annemone nickten.

Valerian würgte, hielt sich den Mund zu und eilte hinaus. Sie hörten, wie er sich übergab. Annemone kümmerte sich derweil wieder um ihre Aufgabe. Nach einer weiteren längeren Zeitspanne war sie fertig: Mindestens zwanzig Stacheln lagen auf dem Tablett, die größten von der Länge einer Stecknadel (die größeren hatte Val bereits entfernt).

"Ich glaube, es sind noch viele ganz kleine drin, an die ich nicht heran kann, bis die Schwellung zurückgeht. Sie werden von allein herauswachsen, aber wenn Ihr wollt, versuche ich, sie zu erwischen, wenn der Fuß wieder normal groß ist," sagte sie fachmännisch, wobei sie Salbe auftrug.

"Wie kann ich mich denn bei dir dafür bedanken, Annemone?" erkundigte Eikyuu sich.

Sie lief rot an. "Nicht doch... ich hab doch gar nichts gemacht!" Plötzlich wurde sie wieder so verlegen wie vorher. Ihre Aufgabe hatte ihr wohl vorübergehend die Schüchternheit genommen. Rasch machte sie sich aus dem Staub.

Einige Minuten danach kam Valerian wieder herein. "Kyuuuuuuuu! Dafür wirst du bestraft! Aber verdammt... hart!!"

"Du warst gewarnt, ich bin mir keiner Schuld bewusst," entgegnete Eikyuu. "Im Übrigen könnte es ja sein, dass aus *hart* nichts wird, hm? Oder ich könnte dich zum Höhepunkt bringen, ohne dich anzufassen. Ein Seelenleser kann seine Gabe vielfältig missbrauchen."

Valerian seufzte. "Schon gut, schon gut, ich hab' verstanden."

"Brav. Warum nicht gleich so, hör auf deinen Meister." Eikyuu lächelte entschuldigend. "Das war nur eine Warnung, Val. Ich werde dir sowas nie wieder antun, versprochen. Und... ich werde jede Strafe akzeptieren..." Seine Stimme hatte diesen bestimmten Unterton.

Sein Geliebter hob eine Augenbraue. "So? Warum isst du dann nicht den letzten Pilz?"

Eikyuus Gesichtsausdruck verzog sich zu einer Grimasse. "Sagte ich jede? Also gut..."

"Nur ein Scherz!" rief Valerian erschrocken. "Du hättest das wirklich getan?"

"Natürlich. Aber ich habe mir schon gedacht, dass du dir lieber eine andere Strafe für mich aussuchen würdest. Eine, von der du auch was hast. Oder sehe ich das falsch?"

Valerian leckte sich über die Lippen. "Nein, ganz richtig... ich werde dich mir unterwerfen, Drache..." Er hob den Allmagier vom Stuhl und trug ihn zum Bett. "Erwarte keine Schonung, bloß weil dein Fuß etwas wund ist."

"Da braucht es mehr, bis ich um Rücksichtnahme bitte."

Valerian wollte sich über ihn hermachen, doch plötzlich hielt er inne. "Hm, nicht jetzt. Ich habe mich gerade übergeben und schmecke vielleicht noch nach Pilz... Außerdem hattest du heute noch nichts zu essen..."

Eikyuu seufzte. "Das ist wahr. Stört mich aber nicht weiter. Allerdings kommen gerade Undan und Noctivagus hierher."

"Wie schade."

Es stimmte, die beiden Magier kamen, um zu verkünden, dass sie etwas gekocht hatten. Das wiederum kam gerade recht, und so begaben sich alle zu einem Lagerfeuer auf einer nicht weit entfernten Lichtung, wo über einem Lagerfeuer Geflügel gebraten wurde. Eikyuu ging mit seinem provisorisch verbundenen Fuß vorsichtig, das pieksende Gefühl ignorierend.

"Vater, Val wird mich zur Zusammenkunft begleiten," eröffnete er Kyuujo.

Dieser verschluckte sich fast an seinem Essen. "Was? Spinnst du? Das geht nicht! Viele von uns verachten Menschen! Er wird nicht willkommen sein!"

"Umso wichtiger, den Betreffenden klarzumachen, dass Menschen nicht weniger wert sind als wir. Im Übrigen werde ich nicht der Einzige in menschlicher Begleitung sein, denk an die Flammentänzer-Sippe. Viele sind mit Menschen zusammen, von denen sie Draconerkinder haben. Und die Donnerflügel haben doch nur noch Draconer," entgegnete Eikyuu.

"Kommen auch Draconer dorthin?" erkundigte Valerian sich. "Vielleicht Annemone? Nimburia, gehst du hin?"

"Ich überlege noch. Annemones Vater hat es uns schon angeboten," antwortete die Windmagierin.

"Wir sollten Valerian in den Drachenbannen unterrichten," warf Noctivagus ein.

"Ja, ich wollte dich und Nimburia sowieso um Mithilfe bitten," sagte Eikyuu. "Und dich auch, Vater."

Kyuujo war nicht allzu begeistert. "Als Versuchskaninchen, schätze ich." Er seufzte. "Geht ja wohl nicht anders."

"Kann Papa auch helfen? Ich rufe ihn!" schlug Annemone eifrig vor.

"Wir können nachher gemeinsam über das Meer fliegen," bot Eikyuu ihr an.

Die Kleine strahlte. "Ich darf mit Euch...? Supertoll!"

"Worum geht es hier eigentlich?" mischte sich Valerian ein. "Redet ihr von den Zaubern, die man gegen Drachen anwenden kann?"

"Ganz genau," nickte Eikyuu. "Ich will, dass du zu deinem Schutz ein paar lernst."

Valerian widersprach nicht mehr, seit er wusste, was Seelenleser ihm antun konnten. Und so ging er am Nachmittag mit Eikyuu und Annemone zum Strand. Die Kleine trug nur einen Badeanzug, der Magier lediglich eine Robe, die wie ein langes Hemd aussah. Es war zweckmäßig, ließ sich leicht ausziehen, denn bei seiner Verwandlung ging seine Kleidung sonst kaputt.

Valerian hielt Eikyuu zurück, als Annemone bereits vorging, um in den Wellen zu planschen. "Kann ich nicht auch mitkommen?"

"Eifersüchtig?" grinste Eikyuu.

"Ich habe dich nur zweimal als Drache gesehen. Als du gegen Claudius gekämpft hast und als ich mich vor sechs Jahren von dir verabschieden musste. Ich möchte einmal mit dir fliegen, ohne dass etwas passiert, und dich in deiner ganzen Pracht betrachten, solange ich will," erklärte Valerian.

Eikyuu streichelte gerührt seine Wange. "Wenn das dein Wunsch ist, darfst du es, nachdem wir Sensui herbeigerufen haben. Doch danach müssen wir endlich ernsthaft arbeiten. Du vernachlässigst schon wieder deine Lehre, seit ich hier bin."

"He, das ist erst seit heute!"

"Eben, es kann nur schlimmer werden! Wenn ich meinen Stirnreif wieder trage, solltest du respektvoller mit mir reden, denn als dein Meister will ich mal sehen, was du so draufhast!" Eikyuu zog sich die Robe über den Kopf und warf sie Valerian zu. Für wenige Sekunden erlaubte er ihm, ihn anzusehen, ehe er die Verwandlung vollzog. Der Drache breitete seine Flügel aus.

"Kyuu!" rief Valerian und stürzte auf ihn zu. "Warte! Beim letzten Mal, als du weggeflogen bist, war es für sechs Jahre! Es ist kindisch von mir, aber..."

//"Nein, ich nehme dich nicht mit, dieser Flug ist nur für Annemone,"// übermittelte der verwandelte Magier ihm telepatisch. Der Drache senkte seinen großen, gehörnten Kopf und rieb seine Nase an Valerians Brust. //"Warte hier auf mich. Es dauert kaum eine Stunde, wenn überhaupt."//

"Wenn nicht, komme ich dich mit Kyuujo suchen, damit er dich über's Knie legt," drohte der junge Mann.

Der Drache schubste ihn, dass er rücklings hinfiel, und stapfte dann zum Wasser, wo Annemone schon wartete. Valerian sah, wie sie auf Eikyuus Rücken kletterte, etwas schüchtern wie immer, aber auch aufgeregt vor Freude. Der Wind, den die Drachenflügel beim Start verursachten, wehte Valerian feine Sandkörner ins Gesicht. Wie vor sechs Jahren... Er blickte ihm mit klopfendem Herzen nach. "Komm zurück zu mir, ich warte..."
 

Während Valerian so am Strand stand und in den Himmel starrte, gesellte sich Noctivagus zu ihm. "Du willst ihn wirklich zu der Zusammenkunft begleiten?"

Valerian hob eine Augenbraue. "Ja... klar!"

"Nun, während du wartest, könnte ich dir ja einen ersten Trick beibringen, was meinst du? Er wird dir helfen, dass dein Drache dir nicht davonfliegt."

Da war Valerian natürlich dabei, und der Schattenmeister lehrte ihn einen Bann, der einen Drachen in seine menschliche Gestalt zwingt. Als angehender Allmeister fiel es ihm nicht allzu schwer, den Zauber zu erlernen. Die Ausführung klappte freilich nicht sofort. Noctivagus stellte sich als Versuchsperson zur Verfügung, doch die Zeit, bis Eikyuu zurückkehrte, war dafür viel zu kurz und verging wie im Fluge.

Als sie den Drachen nahen sahen, legte der düstere Mann dem Lehrling eine Hand auf die Schulter. "Versuch es doch mal bei ihm, auch wenn du den Spruch gerade erst gelernt hast. Kann sein, dass das Überraschungsmoment auf deiner Seite ist. Wenn er sich wehrt, wird es jedoch schief gehen, schätze ich... Viel Glück."

Valerian grinste und winkte, als Noctivagus sich entfernte, um seine Kleidung zu finden. "Vielen Dank!"

Er schirmte seine Gedanken ein wenig ab, damit Eikyuu sie nicht gleich lesen konnte.

Der Drache war allein. //"Annemone schwimmt mit ihrem Vater hierher. Sie brauchen eine Weile, aber wir sollen ihnen Klamotten bereitlegen."//

"Ich kümmere mich darum," rief Noctivagus, der gerade zum Strand herabkam und so tat, als wäre er zufällig in diesem Moment eingetroffen. Er bemerkte Eikyuus misstrauischen Blick, gab sich jedoch ganz gelassen und unauffällig.

Valerian ließ die Robe seines Meisters im Schatten seines Umhanges verschwinden. "Dann kann ich ja noch meinen Ausflug machen. Danke, Noctivagus," freute er sich. Er rannte auf den purpurn schimmernden Drachen zu und schmiegte sich an die geschuppte Schulter.

//"So muss es sich in etwa anfühlen, ein Junges zu haben,"// neckte Eikyuu ihn.

"Na, vom Alter her würde es ja hinkommen. Du bist hundertmal so alt wie ich, Kyuu," entgegnete Valerian. Er kletterte ohne viel Mühe auf den Rücken des großen Wesens. Eikyuu war zwar kleiner und schlanker als die meisten Drachen, aber das fand der junge Mann gerade gut. Er rutschte weit nach vorne, so dass er Eikyuu buchstäblich im Nacken saß und sich an den beiden langen Hörnern festhalten konnte. "Bin ich froh, dass du ein Seelenleser bist, da findet man wenigstens Halt," grinste er.

//"Dann muss ich ja nicht darauf achten, dass du oben bleibst,"// stellte Eikyuu fest und schwang sich in die Luft. Es war ein echter Gewaltstart, und Valerian hielt sich krampfhaft fest. //"Es hat Vorteile, klein zu sein!"// lachte die Stimme des Drachen in seinem Kopf. Der Flug wurde nun ruhiger und gleichmäßiger, bis Eikyuu sanft dahinschwebte.

Valerians Hände klebten an den Hörnern. "Spinnst du, mich so zu erschrecken?!" Er entspannte sich nur allmählich.

//"Ich würde doch nie zulassen, dass du fällst,"// versicherte Eikyuu. Er schwebte bequem auf einem Windsstrom.

"Wie schnell kannst du denn fliegen?" wollte sein Reiter wissen.

//"Mal sehen,"// murmelte der Drache und beschleunigte ein wenig, dann etwas mehr.
 

Das Meer sauste unter Valerian dahin, dann Landmassen und Städte. Er vergaß, dass er sich vor Höhen fürchtete, und blickte fasziniert hinunter. Strähnen seines Haares lösten sich aus den Zöpfen und peitschten ihm ins Gesicht. Valerian jauchzte vor Freude, doch der Wind riss die Töne von seinen Lippen.

Eikyuu ging ein bisschen tiefer, damit sein Partner die beeindruckenden Felsformationen einer Steilküste sehen konnte, die links von ihnen vorbeizog. Es gab eine Höhle in der fast senkrecht zum Meer hin abfallenden Kalksteinwand, nur ein kleiner Vorsprung war davor. Wahrscheinlich hausten Vögel darin. Valerian sah hin, während der Drache vorbeischoss, und glaubte, Licht darin zu erkennen. Aber das war unmöglich, oder?

Plötzlich schrie Eikyuu wie unter Schmerzen auf. Für andere mochte es ein gewöhnliches Drachengebrüll sein, doch nicht für Valerian. Die Muskeln unter ihm verkrampften sich, der Flügelschlag wurde unregelmäßig. Eikyuu überschlug sich, als sein schneller Flug dermaßen gestört wurde. Valerian kreischte entsetzt und klammerte sich an den Hörnern fest. Sie stürzten auf das Meer zu. Aus dem Wasser würde Eikyuu nicht wieder in die Luft kommen...

Im Herumwirbeln sah Valerian vom Land her zwei Drachen auf sich zu kommen. Er schrie ein Wort, obwohl es auf den Gedanken ankam, und hoffte, dass er nichts Falsches tat.

Eikyuu bäumte sich in der Luft auf, stieß ein überraschtes Quieken aus und nahm seine Menschengestalt an. Valerian packte ihn mit festem Griff und rief den Wind zu Hilfe. Bereitwillig wirbelte die Luft sie empor. Endlich nun fand der angehende Allmeister Zeit für das andere Problem: die beiden Drachen. Er erkannte einen der ungehörnten Nachtgänger, dunkelblau schimmernd über dem helleren Meer, und einen silbrigen, dornengekrönten Eisfang, dessen Zähne wie Eiszapfen blitzten, als er das Maul aufriss.

Ein Kälteschwall schlug Valerian entgegen, obwohl der Drache noch fast dreihundert Meter entfernt war, doch das änderte sich beängstigend schnell. Valerian beschwor Feuer herauf und veranlasste den Wind, es in Richtung des Angreifers zu pusten. Die Flammen wirbelten auf den Eisfang zu; er wurde von dem heißen Sturm aus der Bahn geworfen. An seiner Stelle war plötzlich der Nachtgänger und übernahm den Angriff. Valerian hatte noch nie einen ernsten Magiekampf ausgetragen, außer den Übungen, die er mit seinen Lehrern veranstaltet hatte. Trotzdem zögerte er nicht: Seine Hand erstrahlte in Licht, und er ließ einen Blitz aus purer Helligkeit auf den Gegner los. Sein anderer Arm hielt Eikyuu umfasst, aber dank des Windes, der sie beide trug, war der Magier kaum eine Last.

Eikyuu regte sich ein wenig und sah den Drachen entgegen. Diese verwandelten sich auf einmal in Menschen und stürzten kreischend ins Wasser. Beide waren Männer, aber außer den Haarfarben, die den Schuppenfarben fast glichen, konnte Valerian auf die Schnelle nichts erkennen, ehe sie auch schon verschwunden waren.

"Du hast mich mit deinem kleinen Trick inspiriert," murmelte Eikyuu. Er zitterte. "Lass uns zu der Höhle fliegen."

Auf dem Wind schwebten sie zu dem Vorsprung, auf dem gerade genug Platz für sie war. Valerian wollte sogleich hineingehen, um von dem zweifelhaften Landeplatz wegzukommen, doch Eikyuu hielt ihn auf.

"Warte. Was du sehen wirst, ist grauenvoll. Obwohl du nicht alles sehen wirst, was ich gesehen habe..." er krallte sich an Valerians Umhang fest.

Der Schwarzhaarige hatte ihn noch nie so verstört gesehen. "Zieh dir erstmal was an," schlug er vor, wobei er die Robe seines Meisters unter dem Umhang hervorholte. Eikyuu zog sie an, ohne wirklich zu merken, was er tat.

Valerian betrat die Höhle, dicht gefolgt von seinem Partner, und erschuf dabei eine kleine Lichtkugel. Ein schmaler Gang führte wenige Meter tief ins Innere. Auf halbem Wege versperrte ein Gitter aus Licht den Durchgang, doch es behelligte die beiden nicht. Es sollte offenbar jemanden oder etwas am Hinausgehen hindern.

Gestank schlug ihnen entgegen. Es roch stark nach Blut, Schweiß und Fäkalien. Am Boden lagen zwei Fackeln, von denen eine noch glühte. Der Geruch des ölgetränkten Lappens kam noch dazu. Da es ohne die Fackeln dunkel war, erschuf Valerian ein magisches Licht, das neben ihnen her schwebte.

Die beiden Männer betraten eine kleine Steinkammer. Der Blick fiel sofort auf zwei Ketten, die von der niedrigen Decke hingen. Und auf den Mann, der daran gefesselt war. Die beiden Drachen - oder Draconer - mussten ihn in ihrer Eile einfach hängengelassen haben.

Valerian starrte ihn fassungslos und entsetzt an. Der arme Teufel war schrecklich mager, und seine Knochen wurden von einer Haut überspannt, die aussah wie ein ausgebleichter Flickenteppich, denn sie bestand nur noch aus blassem Narbengewebe, wenn man von ein paar frischen Schrammen absah. Sogar das Gesicht musste entstellt sein, doch das verfilzte, schiefergraue Haar verdeckte einen Großteil davon.

Valerian konnte nicht anders, als ihn weiter zu betrachten. An den Beinen lief Blut herunter, und noch etwas anderes, das auch auf den Boden gekleckert war, farbloses, schleimiges Zeug. Er fing an zu begreifen, was diesem Gefangenen außer vergangener Folter kürzlich noch angetan worden war, doch wahrscheinlich war das nur die Spitze des Eisberges. Plötzlich sah er, dass der Mann keine Hoden hatte. Eine verwachsene Narbe wies jedoch darauf hin, dass er nicht als Eunuch geboren worden war. Valerian trat näher heran, zerstörte die Ketten und fing den Mann auf. Er war sehr leicht, Haut und Knochen. Eikyuu holte eine durchlöcherte Decke, die am Rande lag, und darauf legten sie den Gefolterten. Als seine Haare aus dem Gesicht rutschten, blickten ihnen zwei leere Augenhöhlen entgegen. Endlich bemerkte Valerian den Brechreiz, der ihm schon die ganze Zeit in der Kehle saß. Er rannte nach draußen und übergab sich.

Inzwischen erlangte der fremde Mann das Bewusstsein wieder. Außer an ein paar zuckenden Bewegungen war das kaum zu bemerken. Er rührte sich nicht.

"Shisei! Hörst du mich? Es ist vorbei. Wir holen dich raus," sprach Eikyuu.

Der Gefolterte stöhnte vernehmlich. Sprechen konnte er nicht, denn er besaß keine Zunge mehr. Der Magier wusste es nur zu gut. Er war ein Seelenleser, was manchmal zum Fluch werden konnte. Im Vorbeifliegen war er zufällig von Shiseis verzweifeltem Geist gefunden worden. Eine keineswegs angenehme Erfahrung.

//"Töte mich!"// sagte eine helle, telepathische Stimme. //"Ich flehe dich an, töte mich!"// Die schwachen Finger klammerten sich um sein Handgelenk. Brüchige Nägel bohrten sich in Eikyuus Haut.

Der Magier weinte. "Ich würde dir den Gefallen gerne tun, aber du bist der letzte deiner Art, Shisei. Du musst leben, bis wieder Rächer auf der Welt sind."

//"Ich kann keine Kinder mehr zeugen,"// erwiderte der Entstellte. //"Ich kann gar nichts mehr... Sie haben dafür gesorgt. Sie brauchten einen Schuldigen und eine Strafe, die alle Rachegelüste befriedigte... Ich bitte dich, mach dem ein Ende!"//

"Ich kann nicht. Du wirst im Tod keinen Frieden finden."

//"Doch. Wenn ihr mich rächt."//

Valerian kehrte taumelnd zurück. "Lass uns verschwinden," drängte er.

Sein Blick fiel in eine Ecke, in der eine Essensschale und ein Eimer für die Notdurft standen. Letzterer war halb gefüllt. Überall in der Höhle war Blut angetrocknet. Valerian ekelte sich.

"Wir nehmen dich mit, Shisei. Halt noch etwas durch," bat Eikyuu. Er zog seine Robe aus und legte sie dem Halbtoten an. "Val, hilf ihm!"

Gemeinsam brachten sie Shisei auf die Beine und mussten ihn stützen, damit er nicht vor Schwäche gleich wieder hinfiel. Eikyuu konnte gut verstehen, dass dieser Drache sich den Tod ersehnte. Er stürzte sich von dem Vorsprung und verwandelte sich im Fall. Valerian schwebte mit Hilfe eines Windzaubers zu ihm hin.

Das magische Gitter hatte ihnen keine Probleme gemacht. Es hatte sich sogar aufgelöst, als er hinausgegangen war. Shiseis Peiniger konnten nicht wissen, dass sie es mit einem Bannbrecher zu tun hatten. Sie mussten denken, der Gefangene war noch in der Höhle, weil das Gitter ihn nicht freigelassen hatte... oder weil man ihm seinen Todeswunsch erfüllt hatte. Bevor Eikyuu seine beiden Reiter davontrug, spie er eine grellweiße Flamme in die Höhle, die daraufhin in sich zusammenstürzte. Dieser Ort würde nicht mehr als Gefängnis dienen.

Die Rückreise war hektisch und auf direktem Weg, ohne Gelegenheit zur Landschaftsbewunderung. Valerian wollte fragen, wen sie da aufgelesen hatten, da Eikyuu seinen Namen wusste, doch er hob sich das für später auf. Es war schwierig genug, den schlaffen Körper festzuhalten.
 

***

Fortsetzung folgt.
 

Namensbedeutung:
 

Sensui:

Japanisch, "Quelle".

Shisei:

Japanisch, zwei Zeichen: Shi (Tod), sei (Leben). In den Wörterbüchern steht immer "Leben und Tod", aber von der Zeichenreihenfolge her ist es umgekehrt.

Ach ja, ich weise nochmal darauf hin, dass "ei" nicht wie das Hühnerei ausgesprochen wird, sondern mehr wie ein verlängertes "e". Und das "s" ist in japanischen Wörtern stimmlos.
 

EXTRA:

Outtakes

(Beide von mir, hat denn sonst keiner Ideen?)
 

Zu 01) Wasser und Sand
 

***

Ein Schatten fiel auf ihn, als etwas Großes über ihn hinweg flog. Er hörte Geräusche von starken Schwingen, blickte nach oben... Der Drache machte kehrt und kreiste zwei Runden über ihm, ging dabei im Segelflug tiefer. Und dann... dann verwandelte er sich in der Luft in seine menschliche Form und stürzte dicht bei Valerian ins Wasser, dass der Schwarzhaarige eine regelrechte Flutwelle aus Spritzern abbekam.
 

Eikyuu (liegt da und hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den rechten Fuß): "Verdammt, ich bin umgeknickt..."
 

***

Danach wurde der angehende Allmeister endlich geküsst, wie einen nur ein Drache küssen kann. Er teilte Eikyuus Atem und glaubte, von innen zu verglühen, während kühles Meerwasser seinen Körper umspülte. Der Magier drängte ihn sanft, aber bestimmt zu Boden, bis er auf dem Strand lag, gerade so, dass die Wellen nicht sein Gesicht überfluteten. Seine Füße und der größte Teil seines Körpers jedoch lagen im Wasser, und mit jeder Welle stand es ihm bis zum...

Valerian (hustet und keucht, spuckt Wasser aus): "Urgh, das war doch zu weit im Wasser...!"
 

***
 

Die Outtakes wurden inspiriert von Jacky Chan, der immer welche am Ende seiner Filme bringt. Wenn euch welche zu einer Episode einfallen, schickt sie mir bitte per ENS. Die lustigsten erscheinen am Ende der nächsten Folge, natürlich mit dem Namen des Erfinders. Danke!



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  jyorie
2013-11-18T05:29:18+00:00 18.11.2013 06:29
Hallo (ˆ⌣ˆ‎)

*lacht* da hat sich Eikyuu aber was lustiges mit den Greisenhaupt-Pilzen ausgedacht, um zu zeigen, das sich Valerian noch gar nicht bewusst ist, was ein Seelenleser alles unbewusst für Inceptions machen kann...

Der Angriff der beiden Drachen, als Val und Kyuu über dem Meer waren kam total unverhofft. Ich fand es gut, wie du seine Mittel beschrieben hast, mit denen Valerian schon kämpft und wie wandlungsfähig und agil er inzwischen ist. Hast du toll beschrieben.

Als Eikyuu gesagt hat, ihn erwartet etwas schlimmes, hatte ich nicht damit gerechnet, wie sie Shisei den letzten und gefolterten Rächer finden. Das war wirklich heftig.

Liebe Grüße, Jyorie


*lacht* auch wenn deine Outtakes wohl nicht mehr gelten ... ich hätte diesmal sogar einen...
(da ja alles nur gespielt ist und sich keiner echt verletzt hat...) Anemone will gerade die Stacheln aus dem Fuss ziehen, als sich Eikyuu schon vor Lachen kringelt, noch bevor sie ihn überhaupt angefasst hat. Sie könnte dann etwas schmollen und meckern, vielleicht albern sie dann extra, oder sie knufft ihn und hält ihn fest und beide fallen gemeinsam auf den Boden...

Von:  Furu
2005-04-20T17:14:53+00:00 20.04.2005 19:14
Erstmal muss ich sagen, dass ich Annemone voll gern mag. Ich fand zuckersüß wie sie sich um Eikyuus Fuß gekümmert hat. *ls* Aber die kleine Abschiedssequenz, selbst wenn es nur für ne kurze Weile war fand ich richtig traurig. *keine Abschiede mag* Aber ich mochte, dass Val dann noch zu seinem Flug auf Eikyuu gekommen ist.
Die Sache in der Höhle war richtig gruselig. *nick* Allerdings hat mir mal jemand erzählt, dass man stirbt, wenn einem die Zunge rausgeschnitten wirde. Aber ist ja immerhin nur ne Geschichte und wie immer hab ich festgestellt, dass ich aufhören muss mir immer alles so bildlich vorzustellen. *g*

Furu
Von:  Kiki1966d
2005-04-12T08:40:55+00:00 12.04.2005 10:40
Ich habe mich köstlich über Val amüsiert!

Ich frage mich, wie grausam man sein muss, um einem Kind so etwas antun.
Ich hoffe doch, das Shisei seine Rache bekommen wird.

Einfach ein tolles Kapitel.

LG
Kiki
Von:  Nurija
2005-04-10T14:28:05+00:00 10.04.2005 16:28
oh gott, wie kann man nur so grausam sein?? *tränen in den augen hat*...der arme shisei...ich würde an seiner stelle auch sterben wollen *hoil*...
böser eikyuu *lach*...muss echt eklig gewesen sein diese pilze zu essen...armer val *kicher*...
nja...kapitel war wieder super *lob* und ich freue mich auf mehr *lächl*...

ba ba
nurija


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