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Liebe, Leid und Leben

Mamorus Jugend
von

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Motoki entdeckte sie zuerst. Ihm fiel wortwörtlich die Kinnlade herunter bei dem unbeschreiblichen Anblick, der sich ihm bot. Er war so überwältigt wie selten zuvor in seinem Leben. Und das auch noch von der Frau, über die er die ganze Zeit so abfällig gesprochen hatte.

Zunächst wusste Mamoru nichts mit Motokis undefinierbarem Gesichtsausdruck anzufangen. Erst, als er dem Blick seines Freundes folgte, blieb auch ihm vor lauter Staunen die Spucke weg. Hikari war bereits herangetreten, als Mamoru sich endlich umwandte, und das absolut Hinreißendste sah, was ihm je in seinem Leben untergekommen war. Hikari hatte leichte Wellen in ihr sonst so glattes Haar gezaubert, und ihre Frisur gekonnt hochgesteckt. Nur zwei lange, sanft gelockte Strähnen hingen vor ihren Ohren herunter, wie ein Rahmen für ihr Gesicht. Auf unbeschreibliche Art hatte sie es geschafft, ihre Wimpern und ihre vollen Lippen geschickt zur Geltung zu bringen, ohne gleich wie ein Paradiesvogel auszusehen. Sie wirkte sehr erwachsen und attraktiv. Momentan verbarg sie ihren Körper noch unter einem langen, schwarzen Mantel, der sie wie ein finsterer Schleier umhüllte, um den kostbaren Inhalt vor unwürdigen Blicken zu schützen. Glitzernde Schneeflocken ruhten auf dem Mantel und in ihrem Haar, und sie wirkte irgendwie unwirklich, wie ein Wesen aus einer andren Welt, wie eine Schneemagierin.

Eigentlich hasste Mamoru den Schnee und die Kälte mehr als alles, aber heute war diese weiße Pracht wie ein willkommener Bruder. Das weiße Funkeln des Schnees wurde nur noch durch eines überboten: Hikaris blütenreines, strahlendes Lächeln. Die pure Freude schillerte aus ihren leuchtenden grünen Augen, und die warme Sanftheit und die Anmut, die auf ihrem Gesicht lagen, blieben so unübertroffen, dass jeder Versuch, sie näher zu beschreiben, eine Beleidigung war.

Mamoru realisierte, wie Motoki Hikari weiterhin anstarrte. Er verpasste seinem Freund unter dem Tisch einen Tritt vors Schienbein, um ihn wieder zu wecken. Gerade, als Motoki sich beschweren wollte, schnitt ihm Mamoru sämtliche Worte ab: "Was für ein Zufall, dass Du uns gerade jetzt verlassen willst."

Das war kein Wink mit dem Zaunpfahl mehr, das war schon ein Rumgefuchtel mit dem gesamten Gehege. Und die Eifersucht, die förmlich aus den Worten sprang, hätte nicht mal ein blinder Maulwurf übersehen.

Motoki brummelte einen Abschied und verschwand irgendwo in der Menschenmenge. Mamoru achtete darauf schon nicht mehr. Er sprang auf, um Gentleman zu spielen, und seinem Gast den Mantel abzunehmen. Hikari ließ es mit Freuden zu und schälte sich mit einem verführerischen "Danke" aus ihrem Gewand. Was zum Vorschein kam, übertraf Mamorus kühnste Erwartungen: Trotz der eisigen Kälte draußen hatte sie ein hauchdünnes weißes, langärmeliges Kleid angezogen, auf dessen linker Schulter, nur knapp über dem Herzen, eine riesige, aufgestickte Rose prangte. Es handelte sich um eine wundervolle Arbeit, überall an den Blütenrändern waren schillernde Pailletten angebracht, und die Blüte selbst erstrahlte regelrecht in allen Rottönen, die man sich nur denken konnte. Das Kleid lag sehr figurbetont an, hatte einen tiefen, wenn auch nicht zu gewagten Ausschnitt, und verlief bis knapp über Hikaris Fußknöchel, die sich in schwarzen, ledernen Stöckelschuhen verbargen. Offensichtlich war sie nicht zu Fuß gekommen, sondern mit dem Auto gefahren worden. Denn anders hätte sie sich in dieser Eiseskälte da draußen bestimmt die zierlichen Füße abgefroren.

Hikari setzte sich hin. Mamoru stand mehr oder weniger wie gelähmt da und war schier fassungslos vor Freude.

<Ich halte tatsächlich ihren Mantel in meinen Händen! Wow!>

Als sie ihm einen koketten Augenaufschlag entgegenwarf, fing er sich wieder, hängte behutsam ihren Mantel über eine Stuhllehne und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

"Ich freue mich, dass Du gekommen bist, Hikari. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, wo Du bleibst", begrüßte er sie endlich.

Sie sah ihn einige Sekunden mit einem spitzbübischen Lächeln an, ehe sie erwiderte: "Lass mich Dir gleich zu Anfang einen guten Tipp geben: eine Dame darf zu spät kommen; ein Herr sollte warten können."

"Verzeihung", sagte Mamoru. Er ließ sich dadurch aber nicht aus der Ruhe bringen. Hikari war nun mal so ein Mensch, der alles geradeheraus sagte. Und das war ihm gerade recht so. Auf diese Art und Weise konnte er mehr lernen, als wenn sein Gegenüber nur freundlich nickend alles hingenommen hätte. Er legte ein ehrliches Lächeln auf und versuchte sich mit einem Kompliment: "Du siehst wirklich fabelhaft aus. Dein Kleid steht Dir ausgezeichnet."

"Das Kleid?" Sie lachte vergnügt auf. "Und ich dachte, Dich interessiert der Inhalt. Versuch es noch mal."

Mamoru konnte gar nicht genug von ihren Ratschlägen haben. Es war wie Unterricht, aber viel interessanter. Er hatte einen Lehrer vor sich, der mehr als jeder andere von seinem Fach verstand. In Gedanken machte er sich tausend Notizen. Er sog die Worte förmlich in sich auf.

"Tja, also, äääh, ich meine,..." Er räusperte sich. "Du hast mit diesem Kleid einen wirklich guten Geschmack bewiesen. Und es passt hervorragend zu Deiner Augenfarbe." Er wurde ganz verlegen. Immerhin war er gar nicht mit Hikari zusammen und umgarnte sie schon in den ersten fünf Minuten, als sei sie Helena von Troja. Und sie amüsierte sich dabei königlich.

"Nun ja", überlegte sie, "hast Dich ja ganz gut aus der Affäre gezogen. Für den Anfang gar nicht mal so übel."

Sie strahlte übers ganze Gesicht, und ihre Heiterkeit wirkte ansteckend. Auch Mamoru begann vergnügt zu schmunzeln.

"Was erheitert Dich so?", fragte er nach.

"Mich stimmt die Tatsache glücklich, dass Du heute alles bezahlen wirst."

"Nur das?", vergewisserte er sich mit hochgezogener Augenbraue.

Sie zuckte mit den Schultern. "Ist doch schon ein ganz guter Grund", erklärte sie sehr direkt.

Er nahm es hin. Im Augenblick konnte ihn gar nichts mehr stören. Neben ihm hätte ein hungriger Löwe stehen können, er hätte es vermutlich erst gar nicht bemerkt. Und wenn er es bemerkt hätte, hätte er vermutlich nicht gezögert, sich mit Kampfgebrüll auf die wilde Bestie zu stürzen, um Hikari vor ihr zu beschützen.

Er bot ihr die Getränkekarte an. "Was möchtest Du denn gerne haben?"

Sie verbrachte einige Minuten mit dem Studium der Karte, ehe sie sich entschied. Mamoru bestellte für sie einen Cappuccino und für sich selbst eine heiße Schokolade.

Dann entstand eine gewisse, leicht peinliche Stille. Das war eigentlich die Zeit für eine Konversation, das war Mamoru bewusst, und gerne hätte er munter drauf los geplappert, aber er wusste nicht so recht, worüber. Das Wetter? Einfallslos. Ihre Beziehung zu Chikara? Zu direkt. Die Musik, die gerade gespielt wurde? Dazu hatte er zu wenig Musikverständnis und außerdem fehlte ihm jegliche Kenntnis über Hikaris Geschmack.

So fragte er schließlich etwas hilflos: "Und, wie ist Dein Tag so verlaufen?"

Sie zuckte mit den Schultern. "Nichts Außergewöhnliches. Eigentlich hab ich die Zeit nach der Schule damit verbracht, die Hausaufgaben zu machen..."

<Oh, Scheiße. Da sagst Du was.>

"...und mich auf unser Treffen vorzubereiten. Und Du?"

Verblüfft wies er auf sein blaues Auge. "Sieht man das nicht?"

"Doch, klar sieht man es. Na und? Ist das was Beachtenswertes?", fragte Hikari.

Enttäuschung machte sich in Mamoru breit. Er hatte auf etwas Mitgefühl gehofft. Er hatte vielleicht so was wie ein bestürztes <Was ist passiert?> erwartet. Aber anscheinend berührte es sie gar nicht. Sie erkundigte sich nicht einmal, wer ihm das angetan hat. Auf Mitleid wartete er vergebens.

Gerade wurden ihnen die Getränke gebracht. Das verschaffte Mamoru etwas Zeit, sich wieder zu sammeln und sich kurz einige Worte zurecht zu legen. Vielleicht konnte er doch noch ein klein wenig Anteilnahme ergattern.

"Du hast Chikara doch nichts von diesem Treffen gesagt, oder? Ich meine, er hat mich nicht deswegen in die Zange genommen?"

"Chikara war's also? Hätte ich mir denken können. Das trägt so ziemlich seine Handschrift", meinte Hikari mit einer Spur von Gleichgültigkeit in der Stimme.

Unsicher fragte Mamoru nach: "Und das lässt Dich völlig kalt?"

Hikari lachte ungeniert auf und funkelte Mamoru an. "Was interessiert mich, wer Deine Fresse poliert? Du musst schon selbst auf Dich acht geben. Sonst tut das nämlich keiner, weißt Du?"

Mamoru nickte. Das war gerade ein derber Schlag gewesen. Er begrüßte zwar Hikaris Ehrlichkeit, aber sie musste ja nicht gleich so deutlich zeigen, dass sie Spaß daran fand, rücksichtslos auf seinen Gefühlen und seiner körperlichen Unterlegenheit herumzutrampeln.

Sie fuhr ungerührt fort: "Und nein, von mir hat er gar nichts erfahren. Sonst wäre ich jetzt nicht hier, glaub mir. Das hätte er niemals zugelassen", erklärte sie.

"Er hätte es nicht zugelassen?" Mamoru horchte auf. "Du meinst doch nicht, er hätte... er wäre... ähm..."

"Er wäre brutal geworden?", erkundigte sich Hikari und sah von ihrer Tasse auf, aus der sie gerade noch einen Schluck getrunken hatte. "Da mach Dir mal keine Sorgen. So was tut er mir nicht an. Das traut er sich gar nicht. Dazu bin ich ihm zu kostbar. Nein, nein, er hätte mich nur so zugelabert, bis ich ihm sogar abgekauft hätte, die Erde sei eine Scheibe. Oder er wäre mir hinterher gedackelt und hätte Dich eiskalt auseinander genommen. Aber weißt Du was? Es ist richtig niedlich von Dir, dass Du Dir solche Sorgen um mich machst. Total süß."

Mamorus Wangen liefen rot an. Hikari überraschte ihn von Sekunde zu Sekunde mehr. Sie war ein außergewöhnliches Mädchen.

Nach einem weiteren Schluck ihres Cappuccinos sagte sie: "Aber eines würde ich ganz gerne von Dir wissen, und Du musst ehrlich antworten."

Lächelnd beugte sie sich zu ihm vor. Auch er kam ihr entgegen, bis ihr Parfüm in seine Nase stieg. Es roch sehr angenehm. Mamoru war von diesem atemberaubenden Duft gefangen, und sein Herz schlug viel schneller, jetzt, wo sie ihm so nahe war, dass er sie ohne größere Schwierigkeiten hätte küssen können. Doch er ließ es natürlich. Er wollte noch ein paar Tage länger leben.

Sie kam ihm näher und näher. Ihre sanfte Wange streifte an seiner vorbei. Er erschauderte unter der Berührung. Ihre Lippen erreichten beinahe sein Ohr, hielten an und flüsterten: ""Sag mir, was denkst Du über Chikara?"

Mit dieser Frage hatte er überhaupt nicht gerechnet. Er zuckte erschrocken zusammen, nur ganz wenig, aber so, dass Hikari es noch fühlen konnte. Wahrscheinlich hatte sie es genau so beabsichtigt. Sie wollte ihn schocken, und sie wollte seinen Schrecken spüren. Sie wollte seine Reaktion testen. Und ihre Prognose war bestätigt worden, mit der höchsten Auszeichnung.

Sie sank wieder auf ihre Bank und lehnte sich kaltblütig lächelnd zurück.

Mamoru senkte betreten den Kopf und starrte seine Finger an, die unablässig und nervös am Tischtuch herumzupften. Sie zitterten und waren schweißnass.

Er wusste nicht recht, was er antworten sollte. Zum einen musste er ehrlich sein, und zum andren wollte er nichts Beleidigendes sagen. Verständlicher Weise hatte er gar kein gutes Bild von Chikara. Er seufzte unschlüssig.

"Das letzte Mal bist Du mir böse geworden, als ich meine Meinung über Chikara kundgetan habe", beschwerte er sich hilflos.

"Das letzte Mal", erklärte Hikari geduldig, "hast Du einfach so über ihn abgelästert. Aber dieses Mal fordere ich Dich dazu auf, von Deiner Meinungsfreiheit gebrauch zu machen. Sag, was Du denkst, aber bleib objektiv. Begründe, was Du sagst."

Erneut wies er auf sein blaues Auge. "Reicht das nicht als Begründung?"

"Ich bitte Dich. Tu einfach, was ich Dir sage, Ok? Deswegen sind wir doch hier, richtig? Um klare Verhältnisse zu schaffen. Und ich hätte ganz gerne, dass Du anfängst. Also, leg los. Worauf wartest Du?"

Seufzend fügte er sich in sein Schicksal. Hikari hatte in diesem Gespräch einfach die Oberhand. Daran war nichts zu rütteln.

<Einfach drauflos. Nicht großartig denken, nur alles ehrlich beantworten. Ohne Rücksicht auf Verluste.>

"Also, dann wollen wir doch mal sehen", fing er an, "ich halte Chikara für jemanden, der weiß, wie man sich Respekt verschafft. Er sieht gut aus, und er weiß das auch. Das macht ihn arrogant. Er ist dominant und brutal. Das typische Alphamännchen. Aber er ist auch ein ziemlich kluges Kerlchen, muss ich zugeben. Ich habe ja nicht sehr viel mit ihm zu tun, aber aus den Antworten, die er im Unterricht gibt, würde ich schließen, dass er alles andre als auf den Kopf gefallen ist. Ich glaube, er... er ist genauso alleine wie ich. Aber auf eine andre Art und Weise. Er ist alleine, weil es niemanden gibt, der es wagt, sich mit ihm zu messen. Und er will auch ein Stück weit alleine sein, um ein gewisses Image zu wahren; um cool zu sein. Ich hingegen bin alleine, weil es keinen gibt, der auf meiner Wellenlänge ist. Außer Motoki. Tja... ich drücke es mal so aus: Chikara ist alleine, aber ich bin einsam. Der Unterschied ist der: er will es so, um cool zu wirken. Aber ich will es so, um meine Ruhe zu haben. Und vielleicht... will ich es auch gar nicht wirklich, sondern... es ist einfach so. Verstehst Du?"

Hikari nickte verständnisvoll. Sie lächelte, und nun wirkte es nicht mehr kalt und abweisend, sondern eher sanft und freundlich.

"Fällt Dir was auf?", fragte sie, "Du hast gerade mehr gute als schlechte Eigenschaften an ihm aufgezählt. Und es waren außerdem viele Gemeinsamkeiten dabei, die Dich mit ihm verbinden. Zumindest so, wie ich Dich einschätze. Meinst Du nicht, ihr könntest Freunde werden?"

Seelenruhig nippte sie an ihrem Getränk. Und das, obwohl ihr höchstwahrscheinlich bewusst war, welche Urgewalten sie mit ihrer Aussage geweckt hatte. Mamoru und Chikara, Freunde? Das war doch unmöglich...

Und doch, je länger Mamoru darüber nachdachte, um so fassungsloser wurde er, denn ihm wurde bewusst, wie viel Wahrheit in Hikaris Worten steckte. So ähnlich musste es sich anfühlen, die Erleuchtung zu erfahren: Mamoru wurde von einer gewaltigen Flut an Gedanken und neuen Optionen überschwemmt. Es war eine so gewaltige Menge an Information vorhanden, dass er sie gar nicht bewältigen konnte. Es war, als sei er sich dessen schon seit Ewigkeiten bewusst gewesen, aber irgendwas hatte den Weg zu seinem Bewusstsein versperrt. Waren es Vorurteile? Oder war es selbst herbeigeführte Verblendung? Was es auch immer war, der Damm war gesprengt, und die Idee, die gerade auf Mamorus Gehirn einstürmte, war so bizarr, so surreal, so überwältigend und mächtig, dass sein Kopf auf einmal wie leergefegt war. Es fühlte sich an wie die späte Erkenntnis, im Delirium eines Drogenrausches etwas Furchtbares getan zu haben. Es war ein purer Schock. Eine gewisse Übelkeit überkam Mamoru. Er musste schwer schlucken. Er soll Chikara ähnlich sein? Ihm? Seinem schlimmsten Feind? Den er immer so sehr gefürchtet hatte?

"Das kann nicht sein", flüsterte er in heiserer Fassungslosigkeit, "Du musst Dich irren, Hikari! Das kann... das darf nicht sein..."

"Warum nicht?", fragte sie wie selbstverständlich nach. "Wieso darf es nicht sein? Etwa, weil es mit einem Mal alles über den Haufen wirft, was Du schon seit... ich weiß nicht wie langer Zeit mitmachst? Deswegen etwa? Mamoru, der Mensch hat immer Angst vor dem Neuen und Unbekannten. Ganz besonders dann, wenn es sein Weltbild mit einem gewaltigen Schlag völlig zerstört. Aber das heißt nicht unbedingt, dass das neue Weltbild, das da entsteht, falsch und schlecht sein muss. Im Gegenteil."

Mamoru zog daraus eine völlig neue Erkenntnis. Mit einem Schlag war alles um ihn herum vergessen. Als hätte es nie existiert. In unendlicher Leere gab es nur noch Mamorus Bewusstsein, Hikari, und eine alles entscheidende Frage:

"Wenn das alles tatsächlich so einfach ist; wenn das wahr ist, was Du da sagst, Hikari; wenn er und ich uns wirklich so sehr ähneln; gibt es dann... eine reelle Chance... für mich, ...von Dir... von Dir ...geliebt zu werden?"

Es machte keinen Sinn mehr, es zu leugnen. Die Wahrheit war zu offensichtlich. Und Mamoru war sich inzwischen völlig sicher, dass sich Hikari durchaus seiner Gefühle für sie bewusst war. Und er selbst war sich in diesem Moment auch so sicher wie nie zuvor in seinem Leben. Alle Zweifel und alle Ängste waren wie weggeblasen. Warum sollte er seine Empfindungen weiter verstecken? Hikari war seine erste große Liebe, das fühlte er tief in sich drin.

Behutsam griff sie nach seiner Hand. Vorsichtig und sachte streichelte sie darüber. Es war für Mamoru unmöglich zu bestimmen, wie lange genau dieser Moment anhielt. Sie warf ihm einen langen, angenehm warmen Blick entgegen. Dann sagte sie: "Nun bin ich wohl an der Reihe, alles raus zu lassen, was?"

Sie ließ seine Hand nicht los. Unablässig fuhr sie ruhig über seinen Handrücken. Dieses Gefühl unendlicher Fürsorge brachte ihn beinahe um den Verstand. Hikari wusste seine Konzentration völlig in ihren Bann zu ziehen. Ein Gefühl von fast unerträglicher Hitze durchfloss seinen Körper.

Seine Blicke hafteten ohne Unterlass an ihren Lippen, als sie zu erklären begann:

"Im Großen und Ganzen stimmt Deine Sicht, was Chikara betrifft, stark mit meiner überein. Er ist dominant, eingebildet, und ziemlich brutal. Aber er kümmert sich um mich, als sei ich der größte Schatz auf Erden..."

<Das bist Du auch...>

"...Das mag für Dich jetzt befremdlich klingen, aber er ist so unglaublich liebenswürdig und fürsorglich. Du hast Recht, er ist alleine. Ein kleiner, allein gelassener Welpe, der so herzerweichend jault, dass man sich einfach um ihn kümmern muss. Aber das zeigt er selbstredend nur im Privaten. Ich war anfangs selbst überrascht, wie sehr sich ein Mensch von der ersten Sekunde auf die nächste doch verändern kann. Er hat zwar oft Schwierigkeiten, seinen Gefühlen Worte zu verleihen, aber glaube mir, die Emotionen sind wirklich da! Er kann einem so wahnsinnig gut zuhören, und er würde mir bedingungslos jeden Wunsch erfüllen. Absolut jeden. Selbst, wenn das sein Untergang wäre."

Eine kleine Pause entstand. Hikari konnte Mamoru aus irgend einem Grund nicht in die Augen sehen. Er hatte nur dagesessen und ganz ruhig zugehört. Er hätte seinen Gefühlszustand selbst nicht beschreiben können. Er stand auf dem unendlich schmalen Grad zwischen Verständnis und Wahnsinn.

Hikari holte noch einmal tief Luft, ehe sie fortfuhr: "Du hast mich heute morgen gefragt, ob ich ihn lieben würde. Nun, die Antwort lautet: Ja. Er ist sehr liebenswürdig. Und ich habe ihn ins Herz geschlossen wie keinen vor ihm. Aber etwas fehlt ihm noch, und das ist die Fähigkeit, Emotionen und Persönlichkeit zu zeigen. Ich will weder einen Granitblock haben, der zu keinen Gefühlsregungen imstande ist, noch brauche ich ein Weichei, das nur Ja und Amen sagt. Was ich will, ist eine Kombination aus Leidenschaft und Herausforderung. Ich will mich auch mal ein wenig zanken. Ich will jemanden haben, der auch mal Nein zu mir sagt. Nicht ständig, versteht sich, aber ich will... ich will jemanden an meiner Seite, der auch eine eigene Meinung hat. Verstehst Du das?"

Erst jetzt sah sie ihn direkt an. Ihrem Gesichtsausdruck war eine gewisse Erleichterung abzulesen. Es war ihr offenkundig sehr schwer gefallen, die absolute Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Und nun, wo sie es geschafft hatte, konnte sie endlich getrost aufatmen.

Mamoru zögerte lange mit der Reaktion. Er musste das alles erst mal richtig verdauen. Für einen einzigen Tag hatte er schon sehr viel erlebt.

Schließlich nickte er. "Ich denke schon, dass ich Dich verstehen kann. Immerhin bist Du für mich eine Herausforderung; und was für eine! Aber, Hikari, was würdest Du sagen, wenn... nun ja, wenn das Schicksal Chikara sozusagen als eine Art Vorboten gesandt hat, damit Du mich kennen lernst? Was ist, wenn ich genau der bin, den Du suchst?"

Hikari lachte auf. Es war mehr ein Ausdruck der Bekümmerung, der Bitternis und der Ironie. Ganz so, als hätte sie die Suche nach ihrem Traummann bereits als <unmöglich> zu den Akten gelegt.

"Ich glaube nicht an das Schicksal. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass die Zukunft schon geschrieben sein soll und ich gar keinen freien Willen habe."

"Und wenn schon", warf Mamoru ein, "Das ist doch jetzt völlig belanglos. Du beantwortest meine Frage nicht. Was wäre, wenn ich Dein Typ wäre?"

"Das, mein Lieber", funkelte sie ihn an, "müsstest Du mir erst beweisen."

"Wie?", fragte er nach.

Sie ließ jetzt erst seine Hand los und lehnte sich wieder zurück, bevor sie ihm antwortete:

"Das kann Dir nur Dein Herz sagen. Du selbst müsstest Dir etwas Außergewöhnliches einfallen lassen, wenn ich wirklich etwas an Dir finden soll."

Sie grinste geheimnisvoll. Noch immer lag ein leicht bitterer Ausdruck in ihren Augen. Sie änderte ihre Launen und ihr Verhalten schneller, als Mamoru bis drei zählen konnte. Doch davon ließ er sich nun nicht mehr entmutigen. Im Gegenteil, es machte sie für ihn nur noch interessanter. Ihr Verhalten war so unvorhersagbar. Ihm würde mit ihr wohl nie langweilig werden.

"Das heißt also prinzipiell, Du lässt mir eine Chance, es zu versuchen?", fragte er verunsichert.

Sie lächelte. Sie lachte amüsiert auf. Aus dem Lachen wurde schnell purer Hohn. Sie lachte ihn aus. Sie verspottete ihn nach allen Regeln der Kunst.

"Dir eine Chance geben?", echote sie, "wofür hältst Du mich? Ich soll mich mit Dir abgeben? Das ist einfach nur lachhaft! Hast Du es noch nicht kapiert? Selbst, wenn Du der hübscheste Mann der Welt wärst, was Du nicht bist, hätte ich doch beim besten Willen besseres zu tun, als mich von Dir langweilen zu lassen. Ist die Nachricht nun angekommen? Lass mich in Ruhe! Falls nicht, solltest Du Dir schon mal ein hübsches, lauschiges Plätzchen auf dem Friedhof aussuchen, Du verstehst?"

Enttäuscht ließ Mamoru den Kopf hängen. Sie hatte ihn wirklich zum Narren gehalten! Hatte ihm Interesse vorgeheuchelt! Sie hatte die ganze Zeit nur mit seinem Herzen gespielt! Ein teuflisches Spiel.

<Just a fool to believe, I have anything she needs... She's like the wind...>

Es war so ziemlich alles gesagt, was gesagt werden musste. Nur aus diesem Grunde haben sich die Beiden getroffen. Sämtliche Missverständnisse und Unsicherheiten waren aus der Welt geräumt.

Hikari stand derweil auf, legte sich ihren Mantel wieder an und meinte abschließend: "Danke für den Cappuccino. Es hat Spaß gemacht, mit Dir zu reden. Du siehst so niedlich aus, wenn Du Dir Hoffnungen machst."

Lachend entschwand sie im Zwielicht des Cafés.

Wie versteinert saß Mamoru noch auf der Bank und starrte seine Tasse an. Die Schokolade darin war inzwischen abgekühlt. Aber sie war nicht annährend so kalt wie Hikari. Wie konnte sie ihm das alles nur antun? Wie konnte sie ihn nur so demütigen, so sehr verletzen?

Er war so unbeschreiblich gekränkt, dass er noch nicht einmal weiter an der Tischdecke herumfummeln konnte. Er saß nur völlig geschockt da und spürte eine große Übelkeit in sich aufsteigen.

Erst sehr viel später bemerkte er, dass jemand bei ihm war. Motoki war herangetreten und hatte tröstend die Hand auf Mamorus Schulter gelegt. Dieser sah den Freund nun an. Er versuchte, dankbar zu lächeln, doch seine Gesichtszüge schienen völlig erstarrt.

"Mach Dir nichts draus", sagte Motoki in beruhigendem Ton. "Ich wusste ja, es würde so kommen. Es tut mir Leid für Dich. Alles Ok, Kumpel?"

Mamoru nickte. Oder vielmehr: er wog den Kopf leicht auf und ab. Er brachte kein Wort über die Lippen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass auf der andren Seite des Tisches jemand saß. Er hatte die Person zunächst gar nicht bemerkt. Doch nun sah er einer jungen, hübschen Frau in die Augen. Müde, aber dennoch fragend blickte er Motoki an. Dieser grinste leicht. "Darf ich Dir vorstellen? Das ist Reika. Ich hab sie grad eben hier kennen gelernt. Des einen Freud, des andern Leid, wie es so schön heißt. Zufällig wohnt Reika bei mir in der Gegend. Ist das nicht ein toller Zufall?"

Wortlos nickte Mamoru Reika zu. Sie sah wirklich schön aus, wenn sie lächelte. Sie trug die Frisur ganz ähnlich wie Hikari, jedoch waren Reikas Haare nussbraun. Außerdem hatten ihre Augen einen sehr dunklen Grauton. Ihr rotes Kleid passte irgendwie sehr gut zum Rest. Doch das alles interessierte Mamoru gerade nicht. Viel wichtiger war ihm zu erfahren: "Was zum Teufel tust Du eigentlich hier, Motoki?"

Der Gefragte zuckte grinsend mit den Schultern. "Deine Tante wollte, dass ich auf Dich aufpasse. Und Du wolltest, dass ich Dich in Ruhe lasse. Ich hab den perfekten Kompromiss gefunden: Ich habe an der Theke gesessen, war also weit genug weg von Dir, hatte Dich trotzdem recht gut im Blickfeld und habe so ganz nebenbei eine wundervolle Person kennen gelernt." Er zwinkerte Reika zu. Diese errötete leicht und lächelte freundlich.

"Komm", forderte Motoki seinen niedergeschlagenen Freund auf, "ich bringe Dich nach Hause. Ich denke, heute war ein langer Tag, und Du solltest jetzt erst mal schlafen. In Ordnung?"

Mamoru nickte wortlos, zog sich seine Jacke an, bezahlte die Getränke und zog mit Motoki und Reika von dannen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2008-10-09T17:09:48+00:00 09.10.2008 19:09
Huhu!!! Ab heute hast du einen neuen Fan! :)

Hab heute angefangen deine Story zu lesen! Bis Kapitel 13 bin ich schonmal gekommen! :)
Ich finds echt genial, mal eine Story zu lesen, wo es an sich komplett um Mamoru geht! Ich finde zwar, dass er mir momentan nicht wie 16 vorkommt, sondern eher 10-12, aber das wird sich sicherlich auch noch ändern! :D sonst wär er jetzt nicht so, wie er jetzt halt ist! ^^ vllt. liegt das auch daran, dass er so von seiner tante betüdelt wird! hihi

ich freu mich auf jeden fall, dass ich noch genügend lesestoff habe, bis ich am letzten kapi angekommen bin und dass du dann auch schneller weiterschreibst! hab gesehn, das vorletzte kapi lag ja dann doch schon "ein weilchen" zurück! :)

Sei lieb gegrüßt von der dleeni :)
Von:  RallyVincento
2005-04-26T11:06:57+00:00 26.04.2005 13:06
diese blöde weib Hikari ist doch ne zumutung, soll die doch mit diesem Schlägertyp glücklich werden *groll*

schreib schgnell weiter...
Von: abgemeldet
2005-04-15T18:43:22+00:00 15.04.2005 20:43
Hi,
Hikari ist ne blöde Kuh, der arme Mamoru, seufz, aber er wird ja sein GLück finden ^^ *freu.

Einfach klasse dieses Kapitel, jetzt hat Hikari ihren wahren Charakter gezeigt. Ich hoffe, das es noch ein Kapitel gibt. Finde ich auch gut, das du Reika mit reingebracht hast, sozusagen das erste kennen lernen. Schreib bitte schnell weiter!

lG Steffi


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