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Ein ganz normales Leben

Dritter Platz Herbst-FF Wettbewerb 2004
von

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Kois und andere Rindviecher

Kapitel 2: Kois und andere Rindviecher
 

"Moment... damit ich das noch mal zum Mitpinseln wiederholen kann..." Colt tigerte vom Geschirrspüler zum Fenster und wieder zurück. Sein Cowboyhut lag auf dem Küchentisch und er fuhr sich aufgebracht durch seine Haare, während er April musterte, als wäre sie es, die langsam den Verstand verlor. Sie, nicht er.

"Jesse Blue hat Amesy..."

"Amnesie, Gedächtnisverlust." Korrigierte ihn April, die am Tisch saß und ihn müde anblinzelte. Es war spät, sie hatte bereits ein wenig Schlaf gefunden und wollte so schnell wie möglich unter ihre warmen Decken zurück.

"Unterbrich mich nicht! Jesse Blue hat also Am... Gedächtnisverlust. Der Jesse Blue, der unser Feind ist, auf dem Schlachtfeld nie zögert, auf uns zu schießen, der Saber letztes Jahr böse verletzt hat und keine Möglichkeit auslässt, uns zu beleidigen. Der Jesse Blue, der dich, April, am liebsten für seine perversen Spielchen entführen würde, schläft jetzt ein Stockwerk höher in einem Zimmer, das direkt neben meinem liegt? In meinem Schlafzeug?" Colt wendete am Fenster und April konnte die Fassungslosigkeit in dem Blick des Cowboys sehen. "Hab ich hier irgendwas verpasst? Ist es auf einmal normal, dass ich nachts nach Hause komme und einen meiner ärgsten Feinde im Flur antreffe?"

"Colt..."

"Wieso ist diese Pfeife nicht im Gefängnis? Hat sich das Kavallerieoberkommando nicht gemeldet? Oder haben die keine Zelle frei? Er ist doch ein gesuchter Verbrecher!" Colts rechte Hand tastete unbewusst zu seinem Blaster, der wieder an seinem Gürtel hing. Vor ungefähr einer halben Stunde hatte er damit den blauhaarigen Eindringling noch erschießen wollen, aber dieser verdrehte plötzlich seine Augen und sackte bewusstlos zusammen. Colt hatte erschrocken geflucht, während Fireball Jesse auffing, eine Reaktion, die aus jahrelanger Kampferfahrung herstammte, nicht aus Besorgnis dem menschlichen Outrider gegenüber. Laut hatte der Cowboy geflucht und damit April geweckt, die erst verschlafen aus ihrem Zimmer getapst kam und schließlich aufgeregt zu ihnen gelaufen war. Nicht etwa, um sie zu Hause willkommen zu heißen. Nicht etwa, um Colt kurz zu umarmen und Fireball etwas länger. Nicht etwa, um fröhlich zu sein, dass sie sich beeilt hatten und zwei Tage eher aus Japan zurück kamen. Nein, April hatte sich um den bewusstlosen Jesse Blue gekümmert und Befehle erteilt. Diese besagten jedoch nicht, dass sie das Kavallerieoberkommando anrufen und einen entlaufenen Ex-Star Sheriff verhaften lassen sollten, sondern sie wurden angehalten, den Ohnmächtigen nach oben in eines der Gästezimmer zu tragen.

Anschließend wollte April die nagenden Fragen auf morgen verschieben, sie sah wirklich sehr müde aus, aber Colt konnte nicht einfach so in demselben Haus schlafen wie Jesse Blue, ohne zu wissen, wie er zu dieser Ehre kam.

"Wieso ist er dann also noch hier? Ich kann mich nicht erinnern, dass wir irgendwo unterschrieben haben, bei Platznot unsere Quartiere für Überläufer hergeben zu müssen!" Colts Hand umklammerte nun den Griff seines Blasters und stellte sich breitbeinig vor den Tisch, seine grünen Augen blitzten wütend.

"Er hat Amnesie, Colt..." versuchte April, ihn nun zum zehnten Mal zu erklären, aber erneut wurde sie von ihm unterbrochen.

"Na und? Ich hatte letzten Monat eine fürchterliche Erkältung. Aber ich glaube kaum, dass mich die Outrider deswegen aufgenommen hätten!"

"Amnesie bedeutet, dass er sich an nichts mehr erinnern kann. Weder, dass er für die Outrider gearbeitet hat, noch, was Outrider überhaupt sind. Er kannte nicht einmal mehr seinen eigenen Namen, bis wir ihn im Krankenhaus..."

"Und das soll ich glauben? Das passiert doch nur in Johnnys Serie! Der spielt uns bestimmt nur was vor! Am besten, ich geh hoch und klär das ein für alle Mal!" Colt ballte seine Fäuste und wollte zur Tür hinausstürmen, aber Fireball stellte sich ihm in den Weg. Der Japaner musterte ihn schweigend und drückte ihm schließlich eine kleine Flasche in die Hände. Colt betrachtete sie und brummelte verstimmt.

"Saft? Ein großer Schnaps wäre wohl eher angebracht!"

"Setz dich hin und trink das. Und sei mal für drei Minuten leise und lass April reden." Fireball lehnte sich gegen den Türrahmen und blickte ihn warnend an. Colt konnte schneller mit dem Blaster umgehen, aber im Nahkampf war der junge Japaner immer noch der Stärkere. Mit ihm legte man sich nicht an, besonders nicht nach einem anstrengenden Flug und der bösen Überraschung, die sie beim Ankommen erwartet hatte.

Colt seufzte tief, öffnete die Flasche und setzte sich mit einer energischen Bewegung auf die Spülmaschine. April runzelte ihre Stirn, sagte aber nichts zu seinen zum Himmel schreienden Umgangsformen. Dieses Mal nicht.

"Also, was genau ist passiert? Weswegen ward ihr im Krankenhaus? Bei Jesse?" fragte Fireball und verschränkte seine Arme vor der Brust. Seinen Platz an der Tür würde er jedoch nicht verlassen.

"Johnny und Alex hatten einen Unfall." April hob beschwichtigend ihre Hände, als Colt sichtbar erbleichte und nun doch die Treppe hinauf stürmen wollte, egal, ob ein in fernöstlichen Kampfsportarten geübter Japaner in seinem Weg stand oder nicht. "Ihnen geht es gut, sie haben nur ein paar Kratzer abbekommen."

"Was war los? Hat dieser Jesse Blue etwa...?" Colt umschloss die Flasche stärker mit seinen Fäusten und wäre sie nicht aus bruchsicherem Material gefertigt worden, hätte er spätestens bei der Vorstellung, der Verräter hätte seinem Bruder auch nur ein Haar gekrümmt, nur noch Scherben in den Händen gehalten.

"Jesse Blue ist der Grund, warum Johnny und Alex nichts weiter zugestoßen ist. Um genau zu sein, Jesse Blue hat den beiden das Leben gerettet. Wäre er nicht da gewesen, wären dein Bruder und der Erbe des MacLeth Imperiums nun tot." April blickte Colt eindringlich an, er aber biss nur auf seine Zähne, so dass seine Wangenknochen unnatürlich hervortraten. Offensichtlich glaubte er diese Geschichte nicht, besonders nicht, wenn sie tatsächlich Jesse Blue beinhaltete. Aber allein die Vorstellung, dass er seinen kleinen Bruder hätte verlieren können, machte ihm Angst.

"Hat das Jesse erzählt, April?" Fireballs Stimme war leise. Die junge Frau hob ihren Kopf und sah in sein nun ebenfalls blasses Gesicht. Seine dunklen Augen funkelten, aber sein Gesichtsausdruck verriet, dass auch er müde war. Vermutlich war er die weite Strecke von der Erde durch die Tunnel in einem Ritt und mit Sicherheit in einem gefährlich hohen Tempo geflogen, um so schnell wie möglich zu Hause zu sein. Bei ihr. Er hatte ihr eine Freude machen wollen und würde ihr nun geduldig zuhören. Aber in Wirklichkeit wollte er auch nur ins Bett und sich die ganze Sache bei Sonnenlicht genauer zu betrachten. Vielleicht ergab sie ja dann etwas mehr Sinn.

Fireballs Temperament war berühmt, wenn auch nicht so berüchtigt wie Colts Fehltritte in diverse Fettnäpfchen, heute jedoch handelte er besonnen. Während der Texaner noch mit seinem Blaster herumgefuchtelt hatte, hatte er das wertvolle Katana, das ihm der Chef Suzukis für Kommandeur Eagle mitgegeben hatte, aufgehoben, beiseite gestellt und ohne große Fragen den ohnmächtigen Jesse nach oben getragen.

Ja, Fireball konnte laut werden und jegliche japanische Höflichkeit vergessen, wenn er glaubte, dass er damit für die gute Seite etwas erreichen konnte - oder wenn er keine andere Möglichkeit des Handelns mehr sah - aber heute verhielt er sich ruhig, geduldig. So als vertraute er ihr in dem, was geschehen war. Anders als Colt.

April war ihm dankbar dafür.

"Nein. Jesse kann uns zum Tathergang überhaupt nichts sagen, weil er sich nicht daran erinnert."

Colt machte ein eindeutig missgläubiges Geräusch, aber die junge Französin ignorierte ihn und schaute statt dessen zu Fireball hinüber.

"Es waren Alex und Johnny, die uns erzählten, dass sie auf dem Weg zum Kino waren, als ein Konvoi entgleiste und auf sie zuraste. Sie haben den Unfall nicht kommen gesehen und haben ihn nur deshalb überlebt, weil Jesse sie zur Seite gezerrt hat. Dabei wurde er von einem Wrackteil am Kopf getroffen und zusammen mit den beiden eingeliefert." April stand auf und holte sich aus dem Kühlschrank ebenfalls eine Flasche Saft und setzte sich wieder zurück auf ihren Platz. Sie öffnete das Getränk jedoch nicht, sondern spielte mit dem kalten Material in ihren noch kälteren Fingern.

"Saber und ich wollten gerade zum Kavallerieoberkommando zur Abteilung G3, als uns Johnny anrief."

"Und ihr seid sofort ins Krankenhaus." Es war keine Frage, sondern lediglich eine Tatsache, dass Saber alles stehen und liegen ließ, sobald einer von ihnen in Gefahr war. Das wusste Fireball. Es war einer der wenigen Gründe, warum er dem Kavallerieoberkommando nicht schon vor Jahren den Rücken gekehrt hatte, damals, als er die seltsamen Gesetze der Star Sheriffs las und begriff, warum sein Vater in dem Krieg vor über zwanzig Jahren verschwand und seine Mutter für den Rest ihres Lebens in der Vergangenheit gefangen auf ihn warten würde.

Ein anderer Grund nickte und fuhr fort in der Erzählung.

"Jesse war die ganze Nacht bewusstlos und als er erwachte, hat er Saber nicht angesprungen, sondern ihn nach seinem Namen gefragt. Der Arzt hat mehrere Tests durchgeführt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Jesses Kopf einen so derben Schlag abbekommen hat, dass er sein Gedächtnis verloren hat. Seine Chancen auf Heilung stehen schlecht." April holte tief Luft und betrachtete das Etikett auf der Flasche, ohne es wirklich zu sehen. "Es besteht eine gute Möglichkeit, dass er sein Gedächtnis nie wieder erhalten wird."

"Wie hoch?" Fireballs Stimme war noch immer so wundervoll leise, so sanft.

"Zu achtzig Prozent wird er nie wieder wissen, wer er die letzten zwanzig Jahre gewesen ist."

Für einen Moment herrschte Grabesstille in der Küche. April zuckte heftig zusammen, als Colt schließlich die Flasche energisch auf die Ablage knallen ließ und seine Hände in die Hüften stemmte. Ungläubig starrte er die junge Frau an und schüttelte seinen Kopf.

"Und diesen Rotz glaubt ihr? Was ist, wenn er die Ärzte bestochen hat und..."

"Claire lässt sich von niemandem bestechen."

"Ist mir egal! Ich glaube es einfach nicht, dass Jesse Blue nicht mehr weiß, was für ein Stinkstiefel er ist! Er hat mehrfach versucht, uns umzubringen! Das ist doch alles ausgekochter Quatsch! Das passiert vielleicht im Kino, aber doch nicht im wahren Leben! Man kriegt nicht einfach so eins auf den Kopf und weiß dann für den Rest seiner Tage nicht mehr, wer man ist!"

"Ich bin kein Arzt, Colt. Ich sage nur, was der Doktor und Claire uns bei Jesses Befunden erzählt haben."

"Dann haben sie gelogen! Der schauspielert nur und wartet auf seine Gelegenheit, uns alle umzubringen. Vermutlich wollte er uns alle zusammen haben und nicht bloß Saber und dich erschießen, das hat ihm nicht gereicht! Aber ich werde ihm zuvor kommen! Von dem lass ich mich nicht beirren!" Colt hatte erneut seinen Blaster gezogen und allmählich wurde es Fireball zu bunt. April wirkte mit einem Mal verzweifelt, es war verdammt spät in der Nacht, er war müde und gereizt. Kurzerhand überwältigte er den vom Flug noch erschöpften Cowboy und nahm die Waffe an sich. Colt blickte ihn wütend an und ballte seine Fäuste.

"Gib mir sofort den Blaster zurück, Matchbox!"

"Dann lass April in Ruhe ausreden und schrei nicht immer dazwischen, Kuhhirte!"

Zornig blitzten sie sich an und April stöhnte leise auf, als sie sah, wohin diese nun nicht sonderlich nett ausgesprochenen Spitznamen sie führen würden.

"Hört bitte auf, Jungs. Sonst weckt ihr noch die anderen auf und während ich euch eure Fragen jetzt beantworte, wird Saber euch auf eure Zimmer beordern und euch bis morgen früh im Dunkeln sitzen lassen."

"Pah! Das soll er mal versuchen!" zischte Colt, der seine Augen aber nicht von Fireball abwandte. "Wieso ist Saber eigentlich nicht hier unten und schiebt Wache, während Jesse dort oben ist?"

"In seinem jetzigen Zustand ist Jesse keine Gefahr. Außerdem hat Saber dieses Wochenende vier Stunden Schlaf bekommen, wenn's hoch kommt. Irgendwann muss auch er Ruhe finden. Also wäre es wirklich klüger von dir, hier nicht all zu laut rumzuschreien."

"Ich schreie wann und wo es mir passt!" erklärte Colt entschieden in einer sehr leisen Stimme. Mit Fireballs Zorn konnte er ohne Probleme umgehen, reizte er ihn doch öfter bewusst, weil man mit dem jungen Rennfahrer so schön streiten konnte. Saber wütend zu erleben, geschah nur aller Jubeljahre und dann war es gesünder, nicht in seiner Schusslinie zu stehen oder gar die Ursache für seine Wut zu sein. Colt konnte sich noch genau daran erinnern, wie der junge Schotte reagierte, als Johnny bei ihnen Zuflucht vor seiner Pflegefamilie in Texas gesucht hatte. Und wie Saber entschlossen auf jene Ranch gefahren war, um den Jungen von diesen Menschen fortzuholen. Wie er auf den Rancher, einem bekannten Scharfschützen, zugegangen war und eiskalt die Waffe ignorierte, welche dieser auf ihn gerichtet hatte.

Nein, mit Saber legte man sich nicht an. Das hieß aber noch lange nicht, dass er deswegen wortlos akzeptieren würde, dass Jesse Blue - ausgerechnet Jesse Blue! - nur eine Wand entfernt von ihm lag und ihn damit leicht im Schlaf übermannen konnte.

"Wenn du das Schreien auf morgen verlegen könntest, wäre ich dir wirklich sehr dankbar, Colt. Bitte." April rieb ihre Schläfen. Kopfschmerzen kündeten sich an und es versprach, noch eine lange Nacht zu werden.

Der Cowboy schielte zu ihr und dann zu dem kampfbereiten Japaner vor sich. Tief seufzte er und streckte seine Hand nach seiner Waffe aus.

"Ok, ich werde mir erst den Rest der Story anhören, bevor ich hoch gehe und ihn erschieße. Also gib mir meinen Blaster zurück, Matchbox, und ich halte meine Klappe."

"Endlich ein vernünftiger Satz von dir, Kuhhirte." Fireball gab ihm seine Waffe ohne zu zögern zurück und lehnte sich erneut gegen den Türrahmen. Vor Momenten hatten sie noch kurz davor gestanden, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen, nun aber hatten sie ihren Zorn aufeinander beinahe wieder vergessen.

So wie es normalerweise immer vonstatten ging.

Nur dass diese Nacht alles andere als normal war.

"Jesse hatte keinen Ausweis dabei. Er trug nicht einmal sein Outrideroutfit, sondern normale Hosen und ein Hemd. Beides wurde jedoch beim Unfall ruiniert und deswegen mussten Notgedrungenehrmaßen deine Kleidungsstücke herhalten, Colt, weil du seiner Statur am nächsten kommst."

"Ich verbrenne meine Pyjamas, die sind doch jetzt total verätzt." Grummelte der Cowboy mehr zu sich selbst und nahm wieder die Flasche auf, um einige Schlucke Saft zu trinken. Er sah aus, als wäre ihm Alkohol tausend Mal lieber gewesen.

"Die Ärzte konnten ihn nicht zuordnen, ihm aber auch nicht weiter helfen. Gestern gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder er würde in eine Abteilung für solche Fälle eingeliefert oder aber wir würden ihn mit uns nehmen."

"Was wäre mit dem Kavallerieoberkommando gewesen?" Colt hatte versprochen, seine Klappe zu halten, aber er konnte sich diese Frage einfach nicht verkneifen. Fireball hob seine rechte Augenbraue, erinnerte ihn jedoch nicht an das Versprechen, da ihn eben dieser Gedanke auch beschäftigte.

"Jesse kann sich an nichts erinnern, Colt. Sie hätten ihn ins Gefängnis gesteckt und er hätte nicht einmal gewusst, warum. Saber fand es zu brutal, jemanden für etwas zu bestrafen, das ihm momentan nicht bewusst ist, an das er sich vielleicht nie wieder erinnern wird. Ich bin da übrigens seiner Meinung."

"Also weiß das Kavallerieoberkommando nichts von seinem Aufenthalt hier." Fireball strich sich über sein müdes Gesicht. Die Sonnenbrille steckte am Ausschnitt seines roten Hemdes, das von Flug sehr zerknittert war.

"Nein. Saber hat sie nicht informiert."

"Wieso nicht die Abteilung für Amne... für solche Fälle?" überlegte Colt laut und rollte die nun leere Flasche in seiner linken Hand. "Dann wäre er nicht ins Gefängnis gekommen und ich hätte vor einer Stunde nicht den Schock meines Lebens gekriegt."

"Jesse hat Johnnys Leben gerettet, Colt. Auf diese Art will sich Saber bei dem Retter erkenntlich zeigen." Dass Saber noch ganz andere Beweggründe für Jesses Aufnahme in ihrem Haushalt hatte, verschwieg ihnen die junge Französin. Dies war ein Gespräch, das Saber mit Colt und Fireball zu führen hatte, nicht sie.

Wann immer es der junge Schotte für richtig erachtete.

"Habt ihr Jesse erzählt, wer er war?" Fireball betrachtete April nachdenklich und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.

"Teilweise. Wir haben die letzten zwei Jahre ausgelassen beziehungsweise leicht modifiziert." Gab sie zu und zuckte erneut zusammen, als Colt sein Versprechen vergaß und wieder explodierte.

"Der Verräter weiß nicht, dass er ein Verräter ist?"

"Was würde es ihm denn bringen? Es wäre ziemlich sinnlos, ihm zu sagen, dass er uns alle hasst und dass er Saber mehr als einmal hat umbringen wollen, wenn er sich nicht einmal mehr an uns erinnern kann!" flüsterte April und schloss für eine Minute ihre brennenden Augen. "Ohne seine Erinnerungen ist Jesse anders, auch wenn ihr das nicht glaubt. Er war ganz höflich und hat mir sogar Komplimente zu meinem Abendbrot gemacht. Mit Alex hat er stundenlang dieses komische Spiel gespielt und gutmütig gelächelt, als Alex gewonnen und beinahe unsere Couch in seiner unendlichen Freude zerlegt hat. Das hättet ihr sehen müssen, Jesse Blue hat gelächelt!"

"Gruselig." April konnte das Schaudern in Colts Stimme förmlich hören und sah in sein entgeistertes Gesicht, als sie ihre Augen wieder öffnete.

"Saber ist sich des Risikos bewusst, das er auf sich nimmt, indem er Jesse hier zu uns geholt hat, aber Claire ist sich sehr sicher, dass Jesse sich wirklich an nichts erinnern kann. In diesem Zustand ist er nicht sehr gefährlich. Solange du ihm nicht einen Blaster in die Hand drückst und ihm zum Duell herausforderst." Bedeutungsvoll sah sie Colt an, der nur seinen Mund abschätzig zu einem Strich verzog.

"Obwohl es sein kann, dass er keine Ahnung hat, wie man mit einem Blaster umgeht. Er konnte ja nicht einmal die Dusche bedienen."

"Dusche? Der Kerl hat die Dusche in der oberen Etage benutzt?" Colts Gesichtsausdruck wurde noch säuerlicher, falls das überhaupt möglich war. "Igitt! Ich werde mich nie wieder dort waschen!"

"Na toll! Wieso muss ich in Ramrod neben dir sitzen? Krieg ich da ne Gasmaske?" Fireball hob erneut seine Augenbraue und löste sich von dem Türrahmen. Sanft legte er seine Hände auf Aprils Schultern und sie lehnte ihren Kopf gegen seinen Oberkörper.

"Also haben wir jetzt Jesse Blue, der nicht mehr weiß, dass er Jesse Blue ist, in unserem Haus beherbergt, weil er Johnnys Leben gerettet hat, seh ich das richtig?" fasste er zusammen. April nickte und ihre brennenden Augen schlossen sich wie von allein, als Fireball unbewusst begann, leicht ihre Schultern zu massieren.

"Ok, die Information reicht mir fürs erste. Ich schätze, wir gehen jetzt alle ins Bett, erstatten Kommandeur Eagle morgen Bericht über unsere Japanreise und können uns dann alles noch einmal in Ruhe von Saber erklären lassen. Wenn wir alle etwas munterer und aufnahmefähiger sind." Schlug Fireball vor, der wusste, dass sie morgen vielleicht nicht mehr so müde und ausgelaugt sein würden, dafür aber nicht bereiter, den ehemaligen Kadetten aufzunehmen. Zumindest nicht mit offenen Armen.

Die Situation war vertrackt, aber im Moment konnte keine bessere Lösung gefunden werden. Das sah auch Colt ein, der seufzend die Flasche beiseite stellte und seinen Blaster sicher in die vorgesehene Einrichtung am Gürtel befestigte. Wenn Jesse doch etwas versuchen würde, er war noch immer der Schnellste im Ziehen von Schusswaffen.

"Gut, ein richtiges Bett klingt nicht schlecht nach all diesen blöden Dingern auf dem Fußboden in den letzten Nächten."

"Futons sind das." Korrigierte ihn Fireball automatisch, wohl zum tausendsten Mal innerhalb dieser Zeit. April zwang ihre Augen offen und erhob sich. Die Welt schwankte ein wenig, aber sie bemühte sich, nicht im Stehen einzuschlafen. Sie korrigierte den Bademantel, den sie sich über ihr Nachthemd geworfen hatte, als sie verdächtige Geräusche im Flur hörte, dann verließ auch sie die Küche.

"Ich schau noch mal nach Jesse. Du hast deinen Blaster genau an die Stelle gedrückt, wo ihn das Wrackteil erwischt hat. Bestimmt ist er deswegen ohnmächtig geworden, obwohl es besser ist, wenn ich Claire morgen anrufe und sie bitte, ihn noch einmal durchzuchecken. Auch wenn er für die Outrider gearbeitet hat, so ist er noch immer ein Patient und sollte auch wie ein solcher behandelt werden."

"Nimm trotzdem eine Waffe mit, wenn du dich ihm näherst." Colt konnte nun endlich auch das Zimmer verlassen und ging die Treppe hinauf, dicht gefolgt von den anderen. April bückte sich unbewusst und hob ein Kuscheltier sowie drei unterschiedlich gefärbte Socken auf. Natürlich gehörten die Gegenstände den Wilcox Brüdern, niemand sonst schaffte es, das Haus innerhalb weniger Stunden in ein komplettes Chaos zu verwandeln.

April überlegte, ob Jesse genauso unordentlich war und fragte sich plötzlich, was sie machen würden, sollte er sein Gedächtnis wirklich nie wieder erlangen. Würde er dann für immer hier wohnen und womöglich mit Colt um den Titel des unordentlichsten Mitbewohners konkurrieren? Würde es sie überhaupt stören, wenn er so blieb, wenn er sich so benahm, wie er das in dem Park und während des Abendbrotes getan hatte?

April wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie jetzt zu müde war, um über solche Fragen nachzudenken oder gar sie laut auszusprechen. Colt würde mit Sicherheit ausflippen und wäre nicht mehr zu stoppen bei der Vorstellung, die nächsten Jahre unter ein und demselben Dach wie Jesse Blue zu verbringen.

Colt ignorierte die Unordnung, vermutlich fiel sie ihm gar nicht weiter auf, weil es auf dem Gang auch schon weitaus schlimmer ausgesehen hatte. Statt dessen öffnete er eine Tür und spähte hinein. Er runzelte seine Stirn und lugte durch einen weitaus kleineren Spalt in das nächste Zimmer. Nur, um zu nicken. Leise schloss er die Tür wieder und drehte sich zu April um. Als er sprach, flüsterte er, nahm das erste Mal in dieser Nacht Rücksicht darauf, dass er neben Jesse Blue auch jemand anderen wecken könnte.

"Was meint Johnny zu all dem?"

"Ich glaub, er freut sich, dass jetzt öfter jemand zu Hause ist, wenn er von der Schule kommt." Antwortete April ehrlich und seufzte leise, als sie sah, wie Colt schuldbewusst zusammen zuckte. "Außerdem ist Jesse sein Lebensretter. Er ist ihm dankbar."

Colt erwiderte nichts, aber seine Gedanken waren auf seinem Gesicht zu sehen. Dass er sich schuldig fühlte, weil er nicht da gewesen war. Er konnte nicht bei seinem Bruder sein, um ihn zu retten, so wie er das nie in seinem Leben hatte tun können. Dass Saber ihm vor über einem Jahr half, das konnte der Cowboy akzeptieren, dass es dieses Mal jedoch ausgerechnet Jesse Blue war, der seinen Bruder aus der Gefahrenzone holte, kratzte mächtig an seinem Stolz - und an seiner Bruderliebe. Er hätte da sein sollen. Er! Nicht Jesse Blue!

Nicht einmal im Krankenhaus war er ihn besuchen gekommen...

"Du warst in Japan, Colt. Es ist nicht deine Schuld." Erklärte April mitfühlend, aber Colt brummte nur etwas Umständliches, drehte sich um und ging schnurstracks in sein eigenes Zimmer. Leise klackte es, als sich die Tür verriegelte. Das war eine typische Reaktion. Entweder versteckte sich Colt hinter seinem Hut oder aber er lief fort, wenn ihm seine Gefühle peinlich waren. April und Fireball wussten, dass sie ihn jetzt in Ruhe lassen mussten. Morgen waren sie alle ausgeruhter, dann könnten sie die Sache vielleicht etwas nüchterner betrachten.

Jesse Blue lag noch immer genauso unter der Decke, wie Fireball ihn vor etwa einer Stunde hingelegt hatte. Lediglich sein Kopf war zur Seite gerollt und Speichel aus seinem leicht geöffneten Mund über seine rechte Wange gelaufen. Ein gelber Plüschhase - April hatte jedes der Gästezimmer mit einem Kuscheltier ausgestattet - thronte über seinem Kopf auf dem Kissen. Fireball setzte sich auf den Rand des Bettes und betrachtete den jungen Mann, der so oft in den letzten Jahren vor ihm gestanden hatte, mit gezücktem Blaster, bereit, ihn zu erschießen. Hass hatte in den eisblauen Augen gefunkelt und mit gepresster Stimme hatte er ihnen die sonderbarsten Schimpfnamen gegeben, besonders Saber.

Fireball konnte die Gestalt im Bett jedoch nicht mit dem gefährlichen Überläufer in Verbindung bringen.

"Er hat richtig ängstlich dreingeschaut, als Colt ihn den Blaster an den Kopf gedrückt hat." Überlegte er laut, während April vor dem Bett auf die Knie ging und erst Jesses Puls und dann seine Temperatur überprüfte. Dann holte sie ein Taschentuch aus dem Nachttisch und wischte den Speichel beiseite.

Nein, Jesse sah nicht mehr so aus wie der immer zynisch grinsende Kadett, der aus Eifersucht und falschem Ehrgeiz den Outridern in die Arme lief. Dieser junge Mann unter der Decke wirkte mit einem Mal viel jünger als der Gegner auf dem Schlachtfeld. Jünger. Friedlicher. Schwächer.

"Er kann sich an unsere Kämpfe nicht mehr erinnern. Er hat wohl gedacht, dass ihr ihn überfallt." April richtete die Decke und stopfte sicherlich ohne Nachzudenken den Plüschhasen in Jesses Armbeuge, so als sei er ein kleines Kind.

"Ihr hättet uns vorwarnen können, dann wäre das hier nicht passiert."

"Vielleicht wäre er auch so ohnmächtig geworden, schließlich ist er gestern erst aus dem Krankenhaus entlassen worden."

"Eine Vorwarnung wäre trotzdem nicht schlecht gewesen, April."

"Ich weiß." Die junge Frau zerknüllte das Taschentuch in ihren Händen, schaute noch immer auf den bewusstlosen Jesse hinunter, hoffte, dass dieser mittlerweile in einen erholsameren Schlaf gesunken war. "Aber wir haben mit euch erst in zwei Tagen gerechnet und wollten uns bis dahin noch einen Schlachtplan zurecht legen."

"Einen Schlachtplan? Für uns?"

"Na ja, hauptsächlich für unseren schießwütigen Cowboy." April seufzte erneut und ließ ihre Schultern hängen. "Ich weiß, dass es unfair war, diese Entscheidung ohne euch zu treffen, aber uns blieb keine andere Wahl."

Fireball rutschte von der Matratze auf den weichen Teppich und kniete sich hinter April, um sie in seine Arme zu ziehen. Die junge Frau schloss ihre Augen und entspannte sich in seiner Umarmung.

"Ich wusste ja nicht, was hier innerhalb der letzten Tage alles passiert ist, sonst hätte ich unser Kommen angekündigt. Aber Colt hat es einfach nicht länger in Japan ausgehalten, nachdem die Gespräche mit Suzuki-sama beendet waren. Und ich wollte auch so schnell wie möglich zurück." Fireball strich sanft durch blonde Haare und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. "Zurück zu dir."

April drehte sich in seinen Armen und blickte ihn stumm an, bevor sie sich enger an ihn kuschelte und ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Keiner von ihnen sagte etwas, obwohl sie viele Gedanken in diesem Moment beschäftigten. Wie in vielen Momenten zuvor, die diesem sehr ähnelten. April wollte gerne mehr sein als nur eine gute Freundin für Fireball, aber jedes Mal, wenn sie dies zum Ausdruck brachte, wich er ihr aus, zog sich zurück. Manchmal mied er sie daraufhin tagelang und sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. Also nahm sie solche Augenblicke schweigend an und hoffte, dass sie öfters und eines Tages vielleicht sogar regelmäßig werden würden.

"Was habt ihr Jesse gesagt, wer wir sind?" unterbrach Fireball schließlich die angenehme Stille, die zwischen ihnen entstanden war. April brauchte einige Momente, um seine Frage zu verstehen, sie war beinahe ins Traumland vorgedrungen.

"Gute Freunde." Antwortete sie ehrlich und brauchte ihre Augen nicht zu öffnen, um Fireballs zweifelnden Gesichtsausdruck zu sehen.
 

***
 

"Bis heute Nachmittag. Dank dir."

Leise piepte der kleine Computer auf dem Wohnzimmertisch. Saber beendete das Gespräch mit Claire, der er soeben von Jesses nächtlicher Ohnmacht erzählt hatte und legte den Kommunikator beiseite. Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, die er heute wie auch in den nächsten Tagen, vielleicht sogar Wochen, zu Hause erledigen würde. Zumindest so gut wie es eben ging. Er wollte gar nicht daran denken, was für ein Chaos ausbrechen würde, sollten sie kurzfristig auf eine Mission in den Weltraum geschickt werden. Er konnte und wollte Johnny nicht mit Jesse allein zurück lassen, aber ein Angriff der Outrider wäre wichtiger als seine persönliche Situation. Besonders für die Menschen, die in dem betroffenen Gebiet des neuen Grenzlandes wohnten.

Er gab einige Befehle in den Computer ein und lehnte sich nachdenklich zurück. Viele seiner Kollegen arbeiteten mit automatischer Spracherkennung, aber er mochte es nicht, ständig Monologe zu halten, also fütterte er seinen Rechner noch immer mit seinen Händen.

Saber wollte gar nicht daran denken, wie wohl das Gespräch zwischen April und den anderen Teammitgliedern abgelaufen war. April verließ das Haus schon in aller Frühe, um Colt und Fireball zu ihrem Treffen mit Kommandeur Eagle zu begleiten und rief ihn kurz an, um ihn von diesen neuesten Ereignissen in Kenntnis zu setzen.

Noch hatte Colt Jesse Blue nicht erschossen, aber Saber zweifelte nicht, dass dieser Tag trotzdem sehr lustig werden würde. Nur leider würde keiner von ihnen darüber lachen können.

Saber sah auf die Wohnzimmeruhr und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Die Berichte über ihre letzten Missionen mussten noch geschrieben und eingereicht werden. Es war keine besonders aufregende Tätigkeit, die jeder von ihnen hätte erledigen können, solange er sie als Chef des Teams absegnete, aber aus Erfahrung verfasste Saber ihre Abenteuer selbst in Worte. Fireball formulierte alles zu ungenau und verfiel rasch in einen Stil, den womöglich ein Japaner verstanden hätte, der jedoch für das Kavallerieoberkommando nur Rätsel aufwarf, so dass nervende Nachfragen folgten. Colt hingegen nahm kein Blatt vor dem Mund und benutzte klare Kraftausdrücke anstelle von Höflichkeitsfloskeln. April hingegen brachte noch die lesbarsten Protokolle zustande, wollte aber keine Fehler machen, die ihren Vater in ein schlechtes Licht gerückt hätten. Also hatte Saber nach einigen kläglich scheiternden Experimenten diese langweilige Aufgabe übernommen, sogar, als seine rechte Hand noch in dem Streckverband gesteckt hatte. Die wenigen Tage, die er wegen des Vorfalls im Krankenhaus zugebracht hatte, hatten ausgereicht, um das halbe Kavallerieoberkommando im Chaos versinken zu lassen. Jedenfalls die Abteilung, die für Ramrod und sein Team zuständig war.

Außerdem hatte Saber so Jesse Blues Aktivitäten immer herausstreichen und an seine Stelle jeden beliebigen Outrider setzen können...

Saber versuchte gerade, der Garantieabteilung zu erklären, warum Ramrod schon wieder neue Bereifung brauchte, ohne dabei darauf einzugehen, dass Fireball nicht unbedingt vorschriftsmäßig geflogen war, als er die leisen Schritte hörte, die langsam die Treppe hinunter tapsten. Er speicherte den Bericht ab, den er später an die entsprechende Abteilung schicken würde und drehte sich in dem Sessel, um zu sehen, wie ein noch sehr verschlafen wirkender Jesse sich in das Zimmer tastete. Sein, oder besser, Colts Schlafanzug war vollkommen zerknittert und seine blauen Haare standen in alle Richtungen. Der junge Mann rieb sich die müden Augen und setzte sich auf die Couch, schien noch immer sehr mit dem Schlaf zu ringen.

"Du kannst ruhig noch etwas liegen bleiben, wenn du willst. Hier passiert nichts Spannendes, solange Alex und Johnny noch in der Schule sind." Erklärte Saber und ertappte sich beim Lächeln, als Jesse seine schulterlange Mähne zu bändigen versuchte und es schließlich aufgab, sich die Ponyfransen aus dem Gesicht zu blasen. Dabei rutschten ihm die Ärmel von Colts viel zu langem Schlafanzugoberteil ständig über die Hände, behinderten ihn. Jesse sah auf einmal aus wie ein tollpatschiger kleiner Junge und Saber wünschte sich plötzlich, dass der Kontakt damals nicht abgebrochen worden wäre, als seine Mutter schwer erkrankte und das Schloss zum Schluss nicht mehr verlassen konnte. Oder dass er ihren Nachlass eher durchgesehen hätte. Vieles hätte anders verlaufen können. Und vielleicht wäre er dann nicht darüber verwundert gewesen, dass Jesse Blue offensichtlich ein Morgenmuffel war.

Saber wusste, dass er diese Gemeinsamkeit niemals Colt auf die Nase binden würde, die Konsequenzen wären zu laut und zu explosiv.

"Sind die beiden eigentlich immer so aufgedreht?" Jesse lehnte sich auf der Couch zurück und schloss seine Augen, die er auch vorher nicht breiter als einen Schlitz geöffnet hatte, um nicht die Treppe hinunter zu fallen. "Oder ist das Spiel so toll gewesen?"

"Alex ist immer so, daran gewöhnst du dich schnell." Saber sicherte den Computer mit einem Passwort und klappte das Display herunter. Dann ging er hinüber in die Küche und ergriff das bereits vorbereitete Tablett. Es enthielt Frühstück, ein Glas Wasser sowie einige Tabletten, die Jesse nehmen sollte. Er sah noch immer sehr bleich aus und hatte mit Sicherheit Kopfschmerzen, auch wenn er niemanden davon erzählte.

"Johnny lässt sich meist von ihm anstecken. Ansonsten ist er aber ruhiger. Ganz anders als sein älterer Bruder." Saber stellte das Tablett vor Jesse auf den Wohnzimmertisch und setzte sich zurück auf seinen momentanen Arbeitsplatz.

"Bruder..." Jesse runzelte seine Stirn, bewegte sich aber nicht weiter. "Das ist der Typ mit dem Schießeisen, oder?" Die Falten vertieften sich, so als würde der junge Mann angestrengt nachdenken, oder aber versuchen, sich an etwas bestimmtes zu erinnern.

"Ja. Colt und Fireball sind gestern etwas eher aus Japan zurückgekehrt und ich hatte noch keine Zeit, ihnen zu sagen, dass du hier bist. Sie reagieren immer etwas extrem, wenn auf einmal Menschen hier sind, die sie normalerweise tief in der Nacht nicht antreffen." Es war keine all zu große Lüge. Saber konnte sich vorstellen, wie Colt reagieren würde, wenn er nach Hause käme und gewisse Leute vom Kavallerieoberkommando säßen gemütlich in der Küche und würden seine letzten Puddingvorräte aufessen. Der junge Schotte war sich sicher, dass Fireball jeden Vorgesetzten sofort aus seinem Zimmer geworfen hätte, besonders den Grafen Lancelot persönlich, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass dieser sich dazu herab ließ, seinen Sohn in einem so winzigen Haus zu besuchen, nicht besonders hoch war. Andererseits, niemand hätte jemals damit gerechnet, Jesse Blue im Schlafanzug anzutreffen.

"Colt? Fireball?"

"Ihre wirklichen Namen sind Bill Wilcox und Shinji Hikari, aber man bricht sich wohl eher die Zunge, als sie im richtigen Akzent auszusprechen."

"Da war ein Blaster und ein Schwert..." murmelte Jesse und presste sich beide Hände gegen die Schläfen. Er schien große Kopfschmerzen zu haben.

"Sie waren überrascht und haben etwas überreagiert. Außerdem mag dich Colt nicht besonders und der Umstand, dass du seine Pyjamas getragen hast, fand er wohl nicht so witzig. April hat ihm jetzt alles erklärt." Saber erhob sich erneut und nahm das Glas Wasser in die eine und die Tabletten in die andere Hand.

"Schluck das. Es sind Schmerztabletten, die dir helfen sollten. Der Doc hat sie uns mitgegeben, weil er vermutet hat, dass deine Gehirnerschütterung noch Nachwirkungen haben wird." Der junge Schotte setzte sich auf den Rand des Sofas und hielt Jesse die Pillen entgegen. Dieser öffnete seine Augen einen Spalt breit und betrachtete die bunten Tabletten skeptisch, bevor er sie schließlich alle mit einmal in seinen Mund nahm und sie mit einem großen Schluck Wasser herunter spülte. Er verzog sein Gesicht, als er den bitteren Nachgeschmack spürte und schüttelte sich leicht.

"Die Amnesie muss echt furchtbar sein, wenn ich vergesse, wie ekelig so was ist." Murmelte er und beäugte das Tablett mit dem Frühstück skeptisch. Der Toast sah ja nicht schlecht aus, aber der Rest schien sich mit seinem Magen noch nicht anfreunden zu können, dafür fühlte sich sein Körper noch zu verschlafen an. Also lehnte er sich vor und nahm sich eine Scheibe, die er langsam zu essen begann. Saber blieb neben ihm sitzen und hielt weiterhin das Glas fest, das er ihm nach dem Schlucken der Pillen zurück gegeben hatte.

Jesse wollte gerade sagen, dass sich der junge Schotte innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden als Krankenschwester weiter entwickelt hatte, entschied sich dann aber dagegen. Die Atmosphäre war zu angespannt gewesen und er hatte sich noch schlechter als jetzt gefühlt, also fragte er statt dessen etwas, das ihn brennender interessierte.

"Colt und ich können uns nicht leiden? Wieso das denn?" murmelte Jesse und wischte ein paar Krümel von dem Schlafanzug. Es verwunderte ihn nicht einmal, dass er sich nicht schämte, in Pyjamas in einem wildfremden Wohnzimmer zu sitzen, neben einem Menschen, den er nicht kannte. Denn all das war nur ihm fremd, da er es vergessen hatte. Wenn es den jungen Schotten gestört hätte, dass er so herumlief, hätte er ihn sicherlich zurechtgewiesen. Dass er es aber nicht tat, bestätigte Jesse, dass er an diesen Anblick wohl gewöhnt war, vermutlich von der Ausbildung her oder von Einsätzen, was immer man darunter auch zu verstehen hatte. Jesse hatte schlicht und ergreifend all diese Morgen vergessen, an denen er sicherlich durch das Leben gemuffelt war.

"Das ist eine lange Geschichte, Jesse. Vielleicht erzähl ich sie dir später, wenn du dich etwas besser fühlst." Saber ging wieder zurück an seinen Computer und loggte sich ein. Nein, darüber wollte er mit Jesse wirklich nicht sprechen. Darüber, dass ihn hier eigentlich keiner mochte und auch keiner haben wollte. Dass er ein Überläufer war, der das Gefängnis und nicht ein Zimmer in der Mitte des Ramrod Teams verdient hatte.

Obwohl das so auch nicht stimmte. Nicht jeder hasste Jesse. Er, Saber, konnte das zumindest seit jenem Tag nicht mehr, an dem er das vergilbte Bild im Photoalbum seiner verstorbenen Mutter entdeckt hatte.

"Okay, ich glaub, ich kann jetzt eh nicht viel aufnehmen." Jesse legte den halb aufgegessenen Toast zurück auf das Tablett und machte es sich auf der Couch gemütlich. Sein Unterbewusstsein schalt ihn, dass dies unhöflich war, dass er wenigstens duschen und normale Kleidung anziehen sollte, wenn er dem jungen Schotten Gesellschaft leistete. Aber sein müder Körper brachte seine Zweifel zum Schweigen und so stopfte er sich ein Kissen in den Rücken und blinzelte müde zu Saber hinüber, der rasch, aber leise etwas in den kleinen Apparat eingab.

"Doktor Claire kommt heute Nachmittag vorbei, um nach dir zu sehen. Du hast April gestern einen ganz schönen Schrecken eingejagt, als du ohnmächtig geworden bist. Claire will sicher gehen, dass alles in Ordnung ist." Sagte der junge Schotte, ohne von seiner Tätigkeit aufzublicken.

"Dabei wollte ich mir nur ein Glas Wasser holen, ohne daraus eine Riesenshow zu machen." Jesse verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf und blickte zur Decke hinauf. "Schon seltsam..." überlegte er laut. "Bin ich immer so ein Unglücksrabe? Oder so ungeschickt? Oder erwisch ich immer das Timing und bin zur falschen Zeit am falschen Ort? Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich in meiner Vergangenheit gemein zu diesem Colt, jetzt kann ich mich nicht mehr dran erinnern." Jesse zuckte seine Schultern und schloss müde seine Augen. "Wenigstens hab ich keine Freundin oder Familie. Wäre echt blöd, ihnen gegenüber zu stehen und sie nicht zu erkennen. Damit würde ich ihnen bestimmt verdammt weh tun." Jesse gähnte und rutschte tiefer in die Kissen. Er sah nicht, wie Saber seinen Kopf hob und ihn nachdenklich betrachtete.

"Sorry, wenn ich kein guter Gesprächspartner bin, aber irgendwie war die Nacht wohl doch zu kurz." Murmelte Jesse und gähnte unterdrückt.

"Keine Bange, ich bin hier, sollte etwas sein."

Jesse nickte nur und war keine Minute später auch schon eingeschlafen. Die Schmerztabletten enthielten auch ein leichtes Schlafmittel, so dass er erst zum frühen Nachmittag wieder erwachen würde. Saber war dies recht. Auf der einen Seite konnte er so in Ruhe arbeiten und Jesse nebenbei im Auge behalten. Auf der anderen Seite brauchte der Kranke Erholung von dem schweren Unfall.

Saber beendete den ersten Bericht von etwa fünf überfälligen und schaute über das Display hinüber zu Jesse, der entspannter, friedlicher aussah, als er ihn je gesehen hatte. Von Anfang an, als sie sich das erste Mal vor zwei Jahren bei der Ernennungsfeier trafen, hatte Jesse ihn immer hasserfüllt angeblitzt, ihn höhnisch angegrinst und keine Gelegenheit ausgelassen, ihn in irgendeiner Weise zu beleidigen. Ein solches Gespräch wie das, was sie soeben geführt hatten, wäre vor wenigen Tagen noch unmöglich gewesen.

Erneut fragte sich der Schotte, wie sich sein Leben wohl entwickelt hätte, hätte seine Mutter dieses Geheimnis nicht mit in ihr Grab genommen. Vielleicht hätte er sich nach ihrem Tod nicht so allein gefüllt. Und vielleicht, ja, vielleicht hätte er verhindern können, dass aus Jesse Blue der verbitterte junge Mann wurde, dem er zu spät in seinem Leben das erste Mal begegnete.

Saber erhob sich und schaffte das Tablett in die Küche zurück. Dann bedeckte er Jesses schlafende Gestalt mit einer Decke und setzte sich zurück vor seinen Computer. Er stellte den Kommunikator auf geräuschlos und konzentrierte sich erneut auf seine Berichte, die ihm immer unwirklicher erschienen, desto häufiger seine Gedanken zu den Photos zurückkehrten, die in seinem Zimmer lagen und die er gerne einmal Jesse zeigen würde - und fragen, ob sie noch einmal von vorn beginnen könnten. Vor wenigen Tagen wäre dies unmöglich gewesen, hätte der ehemalige Kadett ihn vermutlich ausgelacht. Mit diesem Jesse jedoch, der sich an seinen Hass nicht mehr erinnern konnte, wäre es möglich.

Jetzt bin ich da, Jesse.

Saber seufzte leise und befasste sich mit dem zweiten Bericht. Nur, um vier Stunden später erkennen zu müssen, dass er diese Arbeit besser an einem anderen Tag erledigte.
 

***
 

"Was machen die zwei denn da draußen?" Fireball legte die Einkaufstüte auf den Küchentisch und spazierte in das Wohnzimmer, wo er zum Fenster hinaus blickte und skeptisch beobachtete, wie Alex im höchsten Baum des Gartens saß und die Beine baumeln ließ, während Johnny darunter stand und angestrengt auf sein Notebook starrte.

"Irgend so ein Schulprojekt, hat zumindest Johnny gesagt." Antwortete Saber und blickte kurz von seinem Computer auf. "Die Alternative wäre dieses tolle Spiel gewesen."

"Stimmt, da würde ich auch eher zwei große Eichhörnchen wie die im Baum erdulden als das Gekreische hier drin. Erstaunlich, dass die beiden des Spiels noch nicht über sind."

"Das hoffe ich jetzt seit Tagen vergeblich." Saber zuckte seine Schultern und loggte sich schließlich seufzend aus. Mehr Arbeit würde er heute sowieso nicht erledigt bekommen. Dann bekam er eben Ärger mit seinem Vorgesetzten. Spätestens wenn sie das nächste Mal das gesamte neue Grenzland vor einer Outriderinvasion retteten, würde er ihm wieder wohlgesonnen sein.

"Wo ist unser Patient?" Fireball ließ sich auf die Lehne eines Sessels nieder und blickte sich kurz um, aber Jesse war nirgendwo zu entdecken.

"Oben. Claire ist vor etwa zehn Minuten gekommen und will ihn noch einmal untersuchen, weil er gestern ohnmächtig zusammen gebrochen ist." Saber klappte das Display herunter und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

"Das wäre nicht passiert, Chef, wenn ihr uns eine Nachricht geschickt hättet." >Chef< war eine Anrede, die nur Fireball ihm gegenüber gebrauchte und auch nur dann, wenn es um das Geschäftliche, sprich, um ihre Missionen für die Star Sheriffs ging.

"Was hätte ich denn schreiben sollen? >Bitte leise sein, Jesse Blue schläft im Gästezimmer<? Außerdem haben wir mit euch erst ein wenig später gerechnet."

"Ich ja eigentlich auch." Fireball verschränkte seine Arme vor der Brust und musste plötzlich grinsen. "Aber Suzuki-sama hat sich derartig über Colts offene Art amüsiert, dass er die Hälfte der vorgeschriebenen Zeremonien entweder einkürzte oder wegen Colt ganz abblasen musste. Daher kamen wir eher zum eigentlichen Gespräch und nachdem Colt großzügig vorführte, was wir mit der Allianz bezwecken, hat Suzuki-sama laut gelacht. Ich glaub, alle waren total geschockt, weil ihn noch nie jemand lachen gesehen hat. Also war der Deal schon viel eher unterzeichnet und da Colt kein weiteres Teezeremoniell überstanden hätte und ich ehrlich gesagt auch nach Hause wollte, sind wir schon zwei Tage eher losgedüst."

Nach Hause.

Es dauerte fast zwei Jahre, bis Fireball diese Worte aussprach und damit nicht das Haus seiner Mutter in Japan meinte.

"Colt ist nervig, laut und beschwert sich über jegliches Essen, das nicht aus Rindersteak besteht. Außerdem tapst er in jedes Fettnäpfchen und weiß nicht, wann es klüger ist, seine Meinung für sich zu behalten. Aber als Koalitionspartner war er die letzten Tage spitze, auch wenn er das so vielleicht nicht beabsichtigt hatte." Nun musste Fireball in Erinnerungen schwelgend kichern. "Der Vertrag ist also unter Dach und Fach, Chef, und Aprils Vater hat nun ein neues Katana für sein Büro in Yuma City."

"Gut gemacht, auch wenn's für dich vermutlich eher peinlich als erfolgreich war."

"Nicht peinlicher als damals, als du das erste Mal einen Kilt getragen hast und Colt beinahe gestorben wäre vor Lachen."

"Ich glaube, das ist eine Erinnerung, an der ich nicht besonders hänge."

"Ich hab Photos von Colt im Kimono gemacht, das sollte dich für alle Ewigkeiten entschädigen." Fireball kicherte noch heftiger, bevor er wieder ernst wurde. "April ist übrigens noch in der Zentrale. Ihr Vater wollte noch etwas Persönliches mit ihr besprechen, also im Klartext mit ihr Abendbrot essen gehen und ein wenig Zeit mit seiner einzigen Tochter verbringen. Colt dagegen..." Fireball zuckte hilflos mit seinen Schultern. "Er ist in der Inner City geblieben, weil er >mit diesem Blue< nicht zusammen an einem Tisch sitzen will, eher >friert die Hölle zu<. Mit ihm können wir wohl erst irgendwann in der Nacht rechnen."

"Gut." Saber strich über den Rücken seiner Nase. "Ich werde morgen in Ruhe mit ihm sprechen."

"Überzeugen wirst du ihn wohl kaum, ich wünsch dir aber trotzdem viel Glück mit diesem Vulkan, Chef." Fireball musterte Saber für einen Moment schweigend und eine angespannte Stille entstand zwischen ihnen, die der junge Japaner schließlich wieder brach.

"So richtig begreif ich auch nicht, was hier vorgeht, Chef. Ich muss zugeben, dass ich gestern schon ziemlich geschockt war, als Jesse Blue plötzlich im Flur stand und uns angaffte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Damit rechnet man einfach nicht, erst recht nicht, dass er sein Gedächtnis verloren hat und du ihn aus Mitleid oder Dankbarkeit oder Pflichtgefühl aufgenommen hast."

"Er hat Johnnys Leben gerettet und wusste nicht, wohin."

"Und deshalb quartierst du ihn hier ein?" Fireball runzelte seine Stirn. Im Gegensatz zu Colt blieb er jedoch ruhig, seine Stimme behielt den angenehmen Sington, den er nicht ganz unterbinden konnte, egal, wie oft er die Universalsprache auch sprach. Besonders deutlich war er natürlich, wenn er seine Muttersprache anwandte. "Dass du ihn ohne Erinnerungen an seine Taten nicht dem Kavallerieoberkommando übergibst und dass wir alle für Johnny und Alex' Rettung in seiner Schuld stehen, das kann ich nachvollziehen..." Fireball drehte seinen Kopf und blickte hinüber zu den zwei Gestalten im künstlichen Kirschbaum. "Aber dass du ihn gleich hier aufnimmst, ist mir ein absolutes Rätsel. Was wäre so schlimm daran gewesen, ihm eine Wohnung in Yuma City zu besorgen und ihn ab und an dort zu besuchen und ihm ein paar gute Ärzte und Schwestern zur Seite zu stellen?"

"Stell du dir vor, du weißt plötzlich nicht mehr, wer du bist, alles ist neu und komplett fremd für dich. Willst du dann allein in einer Wohnung sitzen und vor dich hinbrüten? Hier ist immer etwas los und es ist für Jesse so vielleicht leichter, sich mit seinem Schicksal abzufinden und seine Identität neu aufzubauen."

Das Lachen der Jungen drang durch die nur angelehnte Verandatür und Fireball beobachtete, wie Alex vom Baum sprang und Johnny das Notebook stahl. Bald rannten beide quer durch den Garten und kicherten glücklich.

"Trotzdem. Jesse, Chef? Ausgerechnet er? Von der ersten Minute an hat er uns und besonders dich nur beleidigt und wollte dich mehr als einmal abknallen. Wenn du es wärest, der mit Gedächtnisverlust in einem Outriderraumschiff stranden würde, würden die sich doch überhaupt nicht um dich scheren, sondern dich sofort in Arrest nehmen oder gleich töten, egal, was für Heldentaten du davor auch vollbracht haben magst. Warum..."

"Weil wir anders sind als Outrider, Shinji. Wir sind Menschen."

"Selbst unsere Menschlichkeit hat irgendwo Grenzen, Richard."

Als der junge Schotte nicht antwortete, blickte Fireball ihn wieder an und erkannte den ernsten Gesichtsausdruck, den Saber immer trug, wenn er wichtige Entscheidungen zu treffen hatte: mitten im Kampf, vor dem Kavallerieoberkommando, gegenüber dem Gericht oder sogar in Gegenwart seines eigenen Vaters.

"Da steckt mehr dahinter, als einfach nur Dankbarkeit und Pflichtgefühl, oder?"

"Ja..." gab der junge Schotte schließlich zu. "Ich erklär's dir auch später, wenn das hier alles nicht mehr all zu chaotisch ist, okay?"

Fireball nickte und erhob sich.

"Ich bezweifle zwar, dass ein Haus, das Jesse Blue und Bill Wilcox unter einem Dach beherbergt, jemals ruhiger wird, aber ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Du bist ein guter Chef und hast uns noch nie in Gefahr geführt. Auch denke ich nicht, dass du nach der Aktion in Texas Johnny unnötiger Risiken aussetzen würdest. Dennoch bleib ich wachsam und gegenüber Jesse skeptisch."

"Weniger hätte ich von dir auch nicht erwartet. Danke, Shinji."

"Kein Problem. Spar dir lieber deine Kraft für Colt." Fireball wollte erst seinen Blaster ablegen, entschied sich dann aber dagegen und schlenderte hinüber zur Küche. Dort kramte er durch die Einkauftüten und lächelte zufrieden, als er die Zutaten auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Er konnte sich keinen guten Koch nennen, die meisten Mahlzeiten bereitete noch immer April oder in Ramrod, wenn es schnell gehen musste, die Mikrowelle zu, aber wenn es um das Herstellen von Reisbällchen ging, war er unschlagbar.

"Ich hoffe, Jesse kann mit Stäbchen umgehen." Rief er hinüber in das Wohnzimmer, erwartete aber keine Antwort, als er durch das Küchenfenster in den Garten blickte und sah, dass Saber hinaus auf den Rasen getreten war, um Alex davor zu bewahren, von Johnny zu Tode gekrabbelt zu werden, weil er einfach dessen Notebook nicht hergeben wollte.
 

***
 

Normalerweise war Fireball der erste, der fertig war, wenn es japanisches Essen gab und er auf Stäbchen beharrte. Saber und Alex konnten bereits gut damit umgehen, schließlich kamen sie aus reichen Familien, die sich in jeder Kultur zurecht fanden. Johnny lernte es ebenfalls recht schnell. Dennoch konnte niemand den gebbürtigen Japaner schlagen. Bis zu diesem Abend.

Während Claire, die sich sofort zum Abendbrot einladen ließ, über ihre interessante Arbeit im Krankenhaus berichtete und Saber ihr zuhörte und zugleich zwischen den Streithähnen zu schlichten versuchte, wenn sich Alex das letzte Reisbällchen und Johnny das letzte Sushi ergatterte, saß Fireball da und beobachtete fasziniert, wie sich Jesse mit den dünnen Holzstäbchen abquälte und dabei nicht einmal auf den Gedanken zu kommen schien, sich zu beschweren und eine Gabel oder wenigstens einen Löffel zu fordern. Tapfer zerteilte er seine eigenen Reisbällchen und probierte es geduldig mehrmals, bis wenigstens ein paar Reiskörner in seinem Mund landeten.

Jesse Blue. Ihr ärgster Feind, gleich neben Nemesis. Ein Überläufer, ein Verräter. Und er saß mit ihm am Abendbrottisch, aß tapfer mit ungewohntem Besteck das ausländische Essen, das Fireball ihm zubereitet hatte. Ohne Argwohn, dass es vergiftet sein könnte. Ohne über die Stäbchen zu murren, aber mit viel Lob darüber, dass es ihm gut schmeckte. Zumindest das, was er bis zu seinem Mund brachte, ohne dass es wieder auf seinen Teller zurück fiel.

Ausgerechnet Jesse Blue!

Über diesem Schauspiel hatte Fireball sein eigenes Mahl ganz vergessen und es stand noch fast ungetastete vor ihm auf dem flachen Teller und in der kleinen Schüssel. Fasziniert beobachtete der junge Japaner, wie erneut Reis zurück auf den weißen Berg fiel und Jesse für einige Augenblicke an den leeren Stäbchen lutschte, so als könnte er damit seinen sicherlich noch knurrenden Magen besänftigen. Dabei fiel Fireball Colts weniger schmeichelhafte Reaktionen ein, als er das erste Mal Ramen vorgesetzt bekommen hatte. Selbstverständlich hatte er seine Stäbchen gleich zerbrochen und vor Wut den Becher an die Wand geworfen, nur, um den folgenden Tag die Küche reinigen zu dürfen. April, die ebenfalls ihre Stäbchen ins Jenseits befördert hatte, hatte sich heimlich eine Gabel geholt und ihre Ramen auf ihrem Zimmer gegessen, weil sie Fireball nicht hatte beleidigen wollen. Umso mehr erstaunte ihn Jesses redliches Bemühen.

Da fiel Fireballs Blick auf die bunten Tabletten, die Claire ihm mitgebracht hatte, um seine Kopfschmerzen weiterhin zu besänftigen und schließlich komplett verschwinden zu lassen. Der junge Japaner seufzte und fragte sich, wann er so weich geworden war, als er aufstand und Jesse schließlich eine Gabel reichte.

"Für den ersten Versuch nicht schlecht, aber ich schätze, du brauchst mehr in deinem Magen für deine Medikamente."

"Oh, danke." Jesse lächelte ihn dankbar an - lächelte ihn an! - und aß nun seine Portion wesentlich schneller, zeigte, dass er in Wirklichkeit großen Hunger gehabt hatte, ihn aber vermutlich nicht hatte beleidigen wollen. Beleidigen, ihn... wobei das Jesse die restlichen zwei Jahre ununterbrochen getan hatte...

"Keine Ursache." Fireball ignorierte absichtlich Sabers Blick, denn er wusste, dass dies einen großen Augenblick darstellte, hatte er noch niemandem zuvor freiwillig eine Gabel in die Hand gedrückt, um seine Reisbällchen und sein Sushi zu verspeisen.

"Wir müssen noch was für unser Schulprojekt machen." Alex, der die Schule ernster als Johnny nahm und einmal einen positiven Einfluss ausübte, erhob sich und verbeugte sich dankend bei Fireball. Dann ergriff er den jungen Texaner am Hemdsärmel und zerrte ihn Richtung Garten davon. Der Garten war nicht besonders groß und beheimatete nur ein paar künstliche Bäume, die kaum Pflege bedurften. Geld hätten sie genug für Blumenimporte und für neue echte Bäume jedes Jahr, die aber nicht lange überlebten, aber für laue Sommertage reichten ein paar Bäume, die Schatten spendeten. Viel Zeit konnten sie zwischen ihren Missionen in Ramrod sowieso nicht dort verbringen.

"Wenn du mir mein Notebook zurück gibst!" rief Johnny und schon waren sie wieder im Baum verschwunden.

"Das Essen ist wirklich lecker, aber ich glaube, es liegt nicht nur an der Amnesie, dass ich keine Ahnung vom Stäbchenessen habe, oder?" meinte Jesse scherzhaft und nahm schließlich seine Medizin unter der Aufsicht von Claire, die ihm auch gleich erklärte, welche er wann nehmen musste und dass sie morgen noch einmal nach ihm sehen kommen würde.

"Morgen wird ein anstrengender Tag." Fireball, der auch endlich sein Essen gegessen hatte, lehnte sich zurück und blickte kurz auf die Uhr. "April hat sich in den Kopf gesetzt, nach dem Dienst einkaufen zu gehen. Du musst übrigens mit, Jesse, denn ich glaube, dass Colt seine Kleidung wiederhaben will."

"Das erwähnte Johnny bereits - und dass ich Geduld und Zeit mitbringen soll."

"Tja, so sind Frauen eben beim Einkaufen, besonders bei Klamotten." Fireball lächelte gutmütig, war er doch meist das Opfer von Aprils heimlicher Obsession und hatte daher mehr freie Tage in diversen Boutiquen verbracht, als ihm lieb war. Aber er ließ sich jedes Mal von Neuem überreden. Ein treuer Hundeblick aus tiefblauen Augen genügte und er hatte sich dem Einkaufsteufel verschrieben, noch eher er darüber hatte nachdenken können. Gut, morgen ging er freiwillig mit, da er April mit Jesse nicht allein lassen wollte. Amnesie hin oder her, was war, wenn sich der ehemalige Star Sheriff in genau dem Moment an seine Vergangenheit erinnerte, egal, wie niedrig die Chancen auch standen, und April angriff? Also ging Fireball wohl oder übel morgen mit und plante einen entsetzlich langen Nachmittag ein.

Jesse wollte gerade erwidern, dass er sich an keine Frau erinnern konnte, bei der er schon einmal Shoppingtouren durchlitten hatte, entschied sich aber dagegen. Dieser Witz wurde selbst ihm langsam zu ausgeleiert, also stellte er dafür eine andere Frage, die ihn schon länger beschäftigte.

"Du bist Rennfahrer, oder? Zumindest stand das auf einigen von den Bilderrahmen da draußen. Muss man das sein, um Star Sheriff zu werden? Bin ich das etwa auch?" Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er eine negative Antwort erhoffte, da er es sich absolut nicht vorstellen konnte, in einem so schnellen Auto zu sitzen, ohne dass ihm schlecht wurde. Er konnte sich an wirklich nichts mehr aus seiner Vergangenheit erinnern, aber sein Magen sagte ihm ganz bestimmt, dass er eine rasante Fahrt nicht besonders toll gefunden hätte.

"Nein, du bist kein Rennfahrer, genauso wenig wie Saber, April oder Colt. Es war einfach ein Beruf, den ich ausgeübt habe, bevor ich Star Sheriff wurde." Antwortete Fireball und fand sich wenige Minuten später in einem interessanten Gespräch mit Jesse Blue wieder. Über Rennwagen. Ausgerechnet mit Jesse Blue!

Was Fireball im Nachhinein noch mehr verwunderte, war die Tatsache, dass die Unterhaltung richtig angenehm und überhaupt nicht angespannt verlaufen war.
 

***
 

"Fast Mitternacht..." flüsterte Saber mehr zu sich selbst, als er schließlich seinen Computer im Wohnzimmer endgültig ausschaltete und sich auf das Sofa setzte, um nun offiziell auf Colt zu warten. Bis jetzt hatte er die Energiemenge, die Ramrod während seines letzten Einsatzes verbraucht hatte, kontrolliert, um zu überprüfen, dass die Maschine auch einwandfrei funktionierte, immerhin war ihr aller Leben während eines Angriffes von dem Raumschiff abhängig. Nun aber hatte er keinen Computer mehr, hinter dem er sich verstecken konnte, obwohl er in Wahrheit lediglich auf den Cowboy gewartet hatte, um mit ihm über die Ereignisse der letzten Tage zu sprechen. Und über Ereignisse, die unmittelbar bevor standen. April hatte gestern Abend noch mit ihm über Johnnys Geburtstagswunsch gesprochen und so sehr die Situation im Moment auch vertrackt war, so wusste er, dass er dem Jungen diesen Wunsch nicht abschlagen konnte.

Aber Saber wusste auch, dass ein fröhlicher Geburtstag für Johnny in den Highlands unmöglich war, wenn sein Bruder sich dagegen sträubte und sich der Reise nicht nur wegen des Todestages ihrer Eltern, sondern nun auch wegen Jesse Blue verweigerte. Denn dass Saber den ehemaligen Star Sheriff nicht allein zurücklassen konnte, das war ihm ebenfalls bewusst.

Die Uhr, eine Errungenschaft von April aus ihrem letzten Erdaufenthalt in England, schlug zwölf Mal und zeigte somit an, dass jetzt wenigstens die letzten Bars schließen würden. Vielleicht noch zehn Minuten, vielleicht noch eine halbe Stunde und Colt würde zu Hause sein. Saber hoffte insgeheim, dass er sich nicht all zu sehr betrunken hatte, so wie das der Cowboy immer tat, wenn er deprimiert war oder sich hilflos fühlte. Am schlimmsten war es damals gewesen, als Colt eine weitere Ablehnung vom Jugendamt erhielt, nachdem er erneut die Vormundschaft für seinen kleinen Bruder beantragt hatte. Damals kannten sie Colt noch nicht sehr gut und er hatte ihnen noch nicht sehr viel von seiner familiären Situation erzählt. Mit dieser persönlichen Niederlage hatte er damals nicht anders umgehen können, als sich fast zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, obwohl sie einen Tag später wissentlich in eine neue Mission ins All starten sollten. Colt hatte all seine Hoffnungen darauf gesetzt, dass er nun bessere Chancen bei den Behörden haben würde, da er einen festen und gut bezahlten Job vorweisen konnte, aber sie sahen nur auf seine Vergangenheit als Kopfgeldjäger und lehnten ihn erneut ab. Ein Fakt, den Saber erst herausbekam, als Colt sich über sich selbst erbrach und sie ihn aus seinen Kleidungsstücken befreiten und kurzerhand unter eine eiskalte Dusche stellten. Dabei fiel der Ablehnungsbescheid zu Boden und Saber nahm nach kurzer Recherche die Sache selbst in die Hand, um nach mehreren Anträgen, Ansprachen und sogar einer Gerichtsverhandlung Recht für Colt zu erwirken - beinahe zu spät für Johnny...

Ja, das war damals vor fast zwei Jahren ein Tiefpunkt in Colts Leben gewesen. Saber hoffte, dass er die Tatsache, dass sie nun Jesse Blue beherbergten, nicht genauso deprimierend empfand und ähnlich dramatisch reagierte. Weder der junge Schotte noch der junge Japaner wollten jemals wieder einen derart betrunkenen Menschen erleben.

Saber schaute zum offenen Fenster hinaus in die klare Nacht, beobachtete die drei Monde Yuma Citys. Die künstlichen Blätter der Bäume hatten sich bunt verfärbt, aber dennoch war es recht warm, zumindest für einen Herbst gemessen an irdischen Standards. Obwohl Saber viele Jahre in Yuma City verbracht hatte, so konnte er die Jahrezeiten auf der Erde nie vergessen. Umso mehr sehnte auch er sich nach seiner Heimat, wollte Johnny seinen Geburtstagswunsch nicht nur um des Jungen Willen erfüllen, sondern er selbst wollte wieder die Highlands sehen, besonders im Herbst, wo sie einfach nur zauberhaft aussahen - im wahrsten Sinne des Wortes.

Er vermisste nicht das Schloss, nicht die Reaktionen der Menschen auf seinen Namen oder gar seinen Vater, aber er vermisste die Natur, die hohen Berge und den Nebel, der im Herbst in das goldene Meer Einzug hielt. So schön Yuma City mit seinen milden Temperaturen auch war, umso mehr sehnte er sich nach einer eiskalten Nacht, in der man die hellen Sterne am klaren Himmel nur in einer dicken Jacke und ordentlichen Handschuhen betrachten konnte. Wenn man im Schein des Lagerfeuers seinen eigenen Atem sah und am Morgen bereits eine dünne Eisschicht auf dem See entdecken konnte. Wenn Raureif die Wiesen bedeckte wie eine Decke aus purem Silber, der in der Morgensonne glitzerte bis er dahinschmolz.

All das wollte er selbst sehen und mit den anderen teilen. Denn obwohl sie in den letzten zwei Jahren viel erlebt hatten in ihren verschiedenen Heimatorten bereits Urlaube verbracht hatten, um die Familien des anderen kennen zu lernen oder - wie in Colts Fall - gegen Johnnys sogenannte Pflegefamilie vorzugehen, so hatten sie nie wirklich stressfreie, erholsame Tage verbracht. Entweder jagten sie inkognito einen Outrider oder trafen sich zufällig in Japan oder Frankreich mit einem einflussreichen Partner des Kavallerieoberkommandos. Selbst von Schottland hatte Saber den anderen nie mehr zeigen können als das Schloss seiner Ahnen, woraufhin Colt ihn einen reichen Schnösel genannt hatte, während Johnny das Gebäude als leer empfand, als er erfuhr, dass nur Sabers Vater und die Bediensteten darin wohnten.

Die nächsten dreißig Minuten verliefen ohne jeglichen Geräusche, außer den typischen der Nacht in Yuma City. Hier und da war das Brummen eines Autos zu hören oder das Surren der entfernten Schwebebahn. Einheimische wie aber auch angesiedelte Nachtvögel jagten durch die Finsternis und die künstlichen Blätter raschelten täuschend echt im viel zu warmen Yumawind. Die Fronttür blieb geschlossen und Saber hatte den Kommunikator schon mehrfach zur Hand genommen, um Colt anzupeilen, unterließ es dann aber. Der Cowboy war mit Sicherheit schon wütend genug auf ihn, er musste ihn nicht noch unnötig reizen, indem Colt dachte, er würde ihm hinterher spionieren oder gar kontrollieren.

Aber auch eine halbe Stunde später kam Colt nicht heim. Statt dessen hörte Saber ihm mittlerweile all zu bekannte Schritte, die langsam die Treppe hinunter liefen und Colts kleiner Bruder erschien im Türrahmen. Im Licht der Schreibtischlampe, die als einziges den Raum noch ein wenig erhellte und zugleich in tiefe Schatten hüllte, konnte Saber die Tränen in grünen Augen glitzern sehen. Wortlos nahm er den zitternden Jungen in seine Arme und drückte ihn sanft an sich, als Johnny sich zusammen rollte und lautlos zu weinen begann. Es war eine Angewohnheit, die er während seiner Zeit bei der Pflegefamilie angenommen hatte. Damals quälten ihn Alpträume vom Tod seiner Eltern, die fremden Menschen reagierten jedoch auf seine nächtlichen Schreie und Weinkrämpfe zuerst mit Unverständnis und dann mit Schlägen. Daher konnte Saber Johnnys Weinen nicht hören, dafür aber fühlen: Das Zittern, den beschleunigten Herzschlag, die heiße Stirn an seiner kühlen Wange. Der junge Schotte hatte das Gefühl, dass er dieses Weinen schon zu oft gespürt hatte und wünschte, er könnte es vertreiben, könnte die Alpträume enden lassen, die Johnny manchmal nur einmal im Monat und manchmal jede Nacht heimsuchten.

Zu Beginn hatte der Junge Schutz bei seinem Bruder gesucht, aber da Colt gerne ausging und deshalb nicht immer Zuhause war, wenn Johnny von einem weiteren Alptraum erwachte, hatte Saber öfter die Rolle des Trösters übernommen. Denn er war einer der wenigen, denen der Junge vollkommen vertraute, besonders nach dem Vorfall in Texas.

Saber schaffte sich während der letzten Monate weitere Kopfkissen an, da Johnny gerne in seinem Schlaf damit um sich warf, aber ohne Kissen in seiner Nähe wieder aufwachte, und gewöhnte es sich an, seine Tür nicht mehr zu verschließen, so dass der Junge zu ihm kommen konnte, wann immer er jemanden brauchte, der ihm zeigte, dass er nicht allein auf der Welt war. Dass er in Sicherheit war. Dass er geliebt wurde, nicht nur gehasst.

Sanft streichelte Saber durch dunkelblonde Haare und wiegte den Jungen in seinen Armen behutsam, wie er das in vielen Nächten getan hatte, seit sie Johnny aus Texas zu sich geholt hatten. Zumindest konnte er es, solange sie in Yuma City stationiert waren. Saber wollte gar nicht daran denken, dass es auch Nächte gab, in denen Johnny ganz allein in dem Haus war, weil sie sich gerade auf Mission im All befanden. Während sie gegen reale Outrider kämpften, fürchtete sich der junge Texaner vor nicht minder hinterhältigen Erinnerungen. Mehr als einmal hatte es Saber sogar in Erwägung gezogen, einen Job im Oberkommando anzunehmen, der ihn dauerhaft in Yuma City hielt. Aber jedes Mal musste er erkennen, dass ihn auch die Menschen im neuen Grenzland brauchten. Dass ihn sein Team in Ramrod brauchte, besonders April, die mit ihm das Raumschiff entwickelt hatte.

Also war er immer für Johnny da, wenn es ihn seine Arbeit ermöglichte und hoffte, dass dies ausreichte, um den Jungen von seinen seelischen Wunden zu heilen.

"Ein Alptraum?" fragte er leise, als das Zittern ein wenig nachließ und sich Johnny in seinen Armen entspannte. Saber zog die Decke, die über der Lehne der Couch lag, näher zu sich heran und hüllte sie beide in den weichen Stoff ein.

"Hm." Nickte der Teenager an seinem Hals und seufzte bebend.

"Willst du darüber reden?" flüsterte Saber, der ahnte welchen Alptraum der Junge wieder durchlitten hatte. Es gab nur zwei speziell schlimme Alpträume: Der eine über den Tod seiner Eltern und der andere über seine Pflegefamilie. Nach dem einen weinte er, während der andere ihm einfach nur Angst bereitete, so dass er, wenn er in der Nacht noch Schlaf finden wollte, dies nur bei Licht konnte - und wenn es die kleinste Nachttischlampe war.

"Hmm." Johnny schüttelte seinen Kopf und entspannte sich noch ein wenig mehr, als Saber fortfuhr, sanft durch seine Haare zu streicheln. Das Schweigen des Jungen beunruhigte den jungen Schotten nicht. Schließlich war es eine angenehme, eine verstehende Stille, die zwischen ihnen entstand.

Aprils Wohnzimmeruhr schlug Eins und noch immer keine Spur von Colt. Saber korrigierte die Decke um Johnny, der mittlerweile in seinen Armen eingeschlafen war, und wandte seinen Blick erneut zum Fenster, um hinaus in die Nacht Yuma Citys zu schauen. Um sich zu fragen, ob er vielleicht doch zu viel von seinem Team verlangte.

Der junge Schotte streichelte weiterhin beruhigend durch weiche Haare und wartete. Und wartete.

Die Uhr schlug Zwei.
 

***
 

Viel hatte Colt nicht getrunken. Zumindest für seine Verhältnisse war es nicht besonders viel gewesen. Nur ein importiertes Bier. Oder zwei. Oder drei? Auf jeden Fall nicht so viel, dass er nicht mehr laufen konnte. Oh ja, und wie er das konnte! Als die Kneipe gegen Mitternacht schloss, hatte sich der Cowboy auf den Rückweg gemacht. Zu Fuß. Die ganze Entfernung, für die selbst die Schwebebahn zwanzig Minuten brauchte, und die fuhr wirklich schnell!

Dabei hatte Colt sich an irgendeiner Kreuzung vertan und war in die verkehrte Richtung gelaufen. Nun, so richtig verkehrt war es auch nicht gewesen, immerhin hatte er bei der nächsten Kreuzung erneut den falschen Abzweig genommen und war irgendwo doch wieder auf der richtigen Straße rausgekommen. Zumindest sah sie so ähnlich aus wie die Gegend, in der er lebte.

Lebte! Zusammen mit Jesse Blue! Das war doch die Höhe!

Colt hatte die Fäuste geballt und den Hut tief ins Gesicht gezogen gehabt und hatte seinen trüben Gedanken nachgehangen, bis es ihm irgendwann auffiel, dass er sich verlaufen hatte. Hoffnungslos verlaufen. Das war gegen ein Uhr in der früh gewesen. Zumindest hatte das sein Kommunikator angezeigt, den er mehrfach hervorzog, ihn dann aber doch wieder wegsteckte. Er brauchte von niemandem abgeholt zu werden. Fireball würde ihn nur wieder auslachen und Saber ellenlange Predigten darüber halten, dass man sich als Star Sheriff nicht in seiner eigenen Wohnstadt verlief.

Die er nun zusammen mit Jesse Blue teilen musste

Wütend hatte sich der Cowboy nun von Strasse zu Strasse geschleppt und so richtig wusste er nicht, wie er doch noch zu dem Haus gelangte, in das das Holzhaus seiner Eltern bequem zwei Mal hinein gepasst hätte. Vielleicht war es Schicksal oder sein Orientierungssinn war doch nicht so schlecht oder aber sein Schutzengel hatte ihn heimlich geführt, auf jeden Fall fand er zurück in das vermaledeite Haus, in dem nun auch Jesse Blue schlief.

Was dachte sich Saber nur dabei? Diesen Verräter bei sich aufnehmen, bei ihnen aufnehmen! Ohne sie zu fragen, es einfach hinter ihrem Rücken hinweg zu entscheiden! So als wäre er doch nur der Untergebene, der sein Geld lediglich dafür bekam, dass er seine Klappe hielt und den Blaster zog, um die Feinde zu vernichten.

Nein, ein Freund hätte ihn eingeweiht, besonders wenn es sich um so etwas Wichtiges handelte wie einen seiner ärgsten Freunde bei sich zu Hause zu beherbergen! Im Zimmer gleich neben dem seinen! In der Nähe seines kleinen Bruders!

Seines kleinen Bruders, der letztes Wochenende beinahe gestorben wäre. Und er war nicht da gewesen, für ihn da gewesen. Schon wieder nicht. Wie damals nach dem Tod ihrer Eltern. Als er zu jung war, um sich um die Ranch und den kleinen Bruder zu kümmern. Während Johnny in eine Pflegefamilie gegeben wurde, versuchte er als Kopfgeldjäger genügend Geld zu verdienen, um wenigstens die Ranch seiner Eltern zu halten. Aber es war ihm nicht gelungen. Ein Pferd nach dem nächsten musste er verkaufen und schließlich Bankrott anmelden. Selbstverständlich wurden sein Ersuchen, wenigstens Johnny zu sich nehmen zu können, abgelehnt. Wieder und wieder. Am Ende durfte er den Jungen nicht einmal mehr besuchen, weil er vor Gericht das Temperament verlor und als gefährlich eingestuft wurde. Colt würde es sich nie verzeihen, dass er ausgerechnet in jener Zeit nicht für Johnny hatte da sein können. Für seinen kleinen Bruder, der nach dem Tod ihrer Eltern nun die Hölle durchlitt bei Menschen, die ihn nicht liebten, die ihn nicht wollten. Nicht ihn, sondern lediglich das Geld, das der Staat an sie für ihre Mühen überwies.

Saber war damals derjenige gewesen, der sich um erneute Anhörungen kümmerte, der ihm ein gutes Arbeitszeugnis ausstellte und letzten Endes die Richter davon überzeugte, dass Colt ein liebevoller Bruder war und es für Johnny das Beste wäre, wenn er bei seinem einzig lebenden Verwandten aufwüchse. Ohne den jungen Schotten, das wusste Colt, hätte er vor Gericht nie gesiegt und Johnny wäre noch immer in Texas bei jenen Menschen...

Ja, Colt stand tief in Sabers Schuld. Dennoch konnte er die Tatsache, dass der Chef des Ramrodteams einfach so ihren größten Feind, neben Nemesis, in ihr Heim geholt hatte, nicht verwinden. Dies war das erste Zuhause, das Colt seit vielen Jahren wieder kannte, wo er sich wohl fühlte und sicher. Und nun nistete sich Jesse Blue dort ein und spielte ihnen gewiss die Show seines Lebens vor, nur, um sie dann hinterrücks umzubringen, wenn sie es am wenigsten erwarteten. Sah das Saber nicht? War er so blind? Genauso wie April? Oder Fireball, der jedenfalls nicht besonders viel Protest gezeigt hatte?

Colt kam sich schlicht und ergreifend hintergangen vor.

Der Cowboy ließ seine Stiefel provokativ an, als er schließlich das Haus betrat. Die Uhr zeigte Vier in der Früh und er wusste, dass er am nächsten Morgen nicht besonders gut aussehen würde. Aber was kümmerte es ihn? Er war zum Schießen engagiert und das konnte er, selbst wenn er halb tot war. Was interessierte es die anderen, ob er dabei grün um die Nase war oder verschlafen! Zu mehr wurde er ja eh nicht gebraucht, sonst hätte man ihn nicht im Dunkeln darüber gelassen, dass Jesse Blue - ausgerechnet! - seine Pyjamas trug!

Colt lief durch den Flur und freute sich insgeheim, dass er mit seinem dreckigen Schuhwerk Tapsen auf dem Teppich hinterließ. Das würde Fireball mit seinem seltsamen japanischen Brauch ärgern! Genau, was dieser verdiente!

Colt sah das Licht im Wohnzimmer und stöhnte leise auf, als ihm klar wurde, dass jemand auf ihn gewartet hatte. Er konnte sich auch genau denken, wer das war. Mit Sicherheit der junge Schotte, der ihm gleich eine Predigt halten würde über Pflichtbewusstsein und Alkohol, dass ihm Hören und Sehen verging. Andererseits, dieses Mal würde er es nicht über sich ergehen lassen. Dieses Mal würde er zurück schlagen, notfalls sogar brüllen, um der Ungerechtigkeit dieser Welt Ausdruck zu verleihen. Saber sprach immer von Pflichtbewusstsein? Von Verantwortung? Was zum Geier tat der Kerl dann, indem er Jesse Blue Tür und Tor öffnete und in ihr Zuhause holte? Ihren ärgsten Feind, der sie am liebsten tot sehen würde? Amne... oder was auch immer... hin oder her, der war keinen Deut besser als noch vor wenigen Tagen. Und dass er Johnny das Leben gerettet hatte, das glaube Colt auch nicht. Sicherlich war das alles eingefädelt gewesen. Vielleicht war es ja sogar Jesse Blue persönlich, der den Konvoi hatte entgleisen lassen? Man wusste ja nie, erst recht nicht bei schmierigen Typen wie Blue!

Colt straffte seine Schultern und trat in das Wohnzimmer. Es nützte nichts, so zu tun, als sei niemand mehr wach. Dann würde das Donnerwetter am nächsten Morgen noch wortreicher ausfallen. Jetzt war Saber müde und würde sich kurz fassen. Besser diese Verfassung ausnutzen als ihm gegenüber zu stehen, wenn er so verdammt früh am morgen schon so verdammt voller Elan war.

"Ist mir scheißegal, was du mir jetzt..." hob er zum Sprechen an und erstarrte mitten in der Bewegung, als er die zwei Gestalten auf dem Sofa sah. Schuld und Wut stiegen in Colt empor, als er Saber betrachtete, der da saß und seinen kleinen Bruder eingewickelt in einer weichen Decke in den Armen hielt. Beide schliefen sie tief und fest. Der junge Schotte würde am nächsten Tag sicherlich mächtige Rückenschmerzen haben, während Johnny aussah, als hätte er endlich erholsameren Schlaf gefunden. Was immer er träumte, es schien ihm zu gefallen, denn er lächelte leicht.

Colt wusste, dass er hätte hier sein müssen. Dass er sich um seinen kleinen Bruder kümmern sollte, besonders in der Nacht während der Alpträume. Aber gleichzeitig wusste der Cowboy auch, dass er das nicht konnte, hatte er doch selbst mit seinen eigenen Erinnerungen zu kämpfen, zumindest die, die den Tod ihrer Eltern betrafen. Saber war da ein Außenstehender, der zuhören oder einen Rat geben konnte, ohne dabei mit den Tränen und dem schlechten Gewissen kämpfen zu müssen. Außerdem tat es der junge Schotte gern, sich um Johnny zu kümmern. Gerner als es Colt manchmal Recht war.

"Ach, fuck! Dann penn! Schrei ich dich eben morgen an!" fluchte Colt und schob sich den Hut noch tiefer ins Gesicht. "Aber alles kann ich nicht akzeptieren, besonders nicht Jesse Blue in diesem Haus!"
 

***
 

April hatte ihre Drohung wahr gemacht. Gleich nach Dienstschluss hatte sie Fireball von seinem in Einzelteile zerlegten Red Fury Racer fortgezerrt, Jesse abgeholt und die beiden >großen Jungs< in die Einkaufszone Yuma Citys entführt. Anders konnte man es nicht bezeichnen, denn wenn April erst einmal ein Opfer für ihre Shoppingtouren gefunden hatte, ließ sie nicht locker. Jeder Geiselnehmer war friedfertig im Vergleich zu ihr.

"Ich brauch wirklich keine neuen Klamotten." Wehrte der Rennfahrer den Anzug ab, den sie ihm nach längerer Inspektion schließlich in die Hände drückte und ihn Richtung Garderobe schob, wo bereits Jesse stand und auf mehrere Haufen Kleidung vor sich herabblickte. Für mehr als vier Stühle war in seiner Kabine kein Platz, erst recht nicht für ihn. Dennoch nahm es der ehemalige Kadett gelassen. Wann immer April einen neuen Pullover, eine neue Hose oder ein neues Hemd anschleppte, zog er es ohne zu Murren an und ließ sich anschließend von allen Seiten betrachten, als sei er ein Rassehund und weniger ein Mensch. Die Verkäuferinnen des Geschäftes waren bereits aufmerksam geworden und kicherten hinter vorgehaltener Hand, wenn er wieder in einem neuen Outfit durch den Laden spazierte.

Fireball schob es auf seine Kopfverletzung sowie die Amnesie. Jesse konnte sich vermutlich an keine Shoppinghölle wie diese erinnern, also wusste er nicht, dass diese noch Stunden dauern konnte. Für ihn war all das neu, wahrscheinlich sogar die Kleidung aus speziellem Stoff, die sich der Außentemperatur anpasste. Man fror nicht im Erdenwinter und man schwitzte nicht während des Erdensommers. Die Kleidungsstücke waren natürlich besonders teuer, aber so oft brauchten sie sie auch nicht, verbrachten sie die meiste Zeit in Yuma City mit seinem milden Klima oder aber in Ramrod, wo sie ihre Uniformen trugen.

"Jetzt zufrieden?" Fireball trat aus der Kabine und betrachtete sich skeptisch im Spiegel. Er verstand nicht, warum April ihn immer in dunkle Anzüge stecken wollte. Ihm gefielen seine roten Hemden viel besser und er fühlte sich darin wesentlich wohler. Außerdem hatte er doch schon einen schicken Anzug für diverse Feierlichkeiten beim Kavallerieoberkommando. Der reichte doch vollkommen aus. Oder?

"Phantastisch. Den nehmen wir, damit unsere Vorgesetzten auch mal etwas anderes von dir zu sehen kriegen."

Nein, April war da anderer Meinung. Ein Anzug reichte ihr nicht. Sein Kleiderschrank musste wohl erst aus allen Nähten platzen, bis sie sich zufrieden gab. Dabei packte er in die Schränke doch viel lieber sein Werkzeug oder kleine Maschinen, an denen er gerade bastelte.

April verstand dieses Hobby, nahm sie doch selbst zu gern diverse Gerätschaften auseinander. Ihre Küchenutensilien waren ihr auch schon mehrfach zum Opfer gefallen. Aber wenn es um anständige Kleidung ging, um schicke Anzüge, da kannte sie kein Pardon. Das hatte auch schon Colt schmerzlich erfahren müssen, der es dennoch schaffte, bei hochangesehenen Veranstaltungen in Jeans und Cowboyhut zu erscheinen.

"Von mir aus." Seufzte Fireball schließlich ergeben und setzte sich auf einen nahen Stuhl. Er dachte gar nicht daran, den Anzug wieder auszuziehen, vielleicht war ja April so zufrieden mit seinem Anblick, dass er keine weiteren Sachen mehr anprobieren musste, bis sie den Laden endlich verließen. Den fünften Laden. In drei Stunden.

"Ok, dann sortiert mal die Sachen auf einen Haufen. Ich hab hier noch was entdeckt und bin gleich wieder da." Flötete April fröhlich und verschwand in einer anderen Kabine, deren Tür sich geräuschlos hinter ihr schloss.

Drei Stunden!

Fireball lehnte sich zurück und starrte ausdruckslos auf den großen Haufen Kleidung vor sich. Einiges davon gehörte ihm, einiges April und einiges selbstverständlich Jesse, der ja der eigentliche Grund für ihre Tour gewesen war. Der ehemalige Kadett konnte ja nicht ewig in Colts Sachen umherlaufen.

Ewig...

Der junge Japaner wusste nicht so recht, wie er mit der ganzen Situation umgehen sollte. Es war ihm durchaus bewusst, dass Jesse nicht nur für ein paar Tage bei ihnen bleiben würde. Sollten die Ärzte Recht behalten, Claire hatte sich diesbezüglich sehr überzeugend angehört, und sich sein Zustand nicht verbessern, sprich, würde Jesses Erinnerungen tatsächlich nicht zurückkommen, könnte sein Aufenthalt bei ihnen wirklich permanent werden. Fireball mochte gar nicht daran denken, was das bedeutete. Jesse Blue, ihr einst größter Feind, wäre dann für immer zu Gast im Zimmer neben dem Cowboy. Colt würde das nicht so einfach hinnehmen - und auch Fireball wusste, dass er mit dieser Vorstellung so seine Probleme hatte. Jesse Blue hatte Johnnys Leben gerettet wie auch das von Alex. Sie schuldeten es ihm, sich um ihn zu kümmern. So viel stand für ihn fest. Er war auch bereit, Jesse Blue für ein, vielleicht zwei Wochen zu ertragen, aber für den Rest seiner Zeit beim Kavallerieoberkommando, unter Sabers Führung im Ramrodteam?

Irgendwie beschlich Fireball das ungute Gefühl, dass Saber da verdammt viel von ihm, von ihnen allen verlangte. Schuld hin, Pflichtgefühl her, die Angst, dass Jesse sein Gedächtnis jeden Moment wiedererlangen könnte und sie dann alle hinterrücks umbrachte, würde immer bleiben. Der junge Japaner wusste nicht, ob sie damit leben konnten, hatten sie normalerweise schon genügend andere Dinge, um die sie sich kümmern mussten. Da brauchten sie kein Damoklesschwert, das über ihren Köpfen hing.

"Einkaufen macht ihr Spaß, oder?" Jesse Blue bückte sich und begann geduldig, die Kleidungsstücke zusammen zu falten und aufeinander zu legen. Eine Verkäuferin wollte ihm zu Hilfe eilen, aber er lehnte lächelnd ab. Gedächtnis oder nicht, er wusste instinktiv, wie man das tat, wenn vielleicht auch nicht so perfekt wie die junge Frau. Dennoch wollte er kein Aufsehen erregen und etwas zu tun haben. Einfach nur herum zu stehen und die kritischen Blicke des jungen Rennfahrers auf sich zu spüren, behagte ihm nicht.

"Spaß? Sie liebt es. Jedes Mal, wenn wir frei haben, läuft sie in irgendein Geschäft und verlässt es erst Stunden später." Fireball blinzelte, als er Jesse bei seinem Kampf mit den Kleidungsstücken zusah, denn das Bild vor ihm war ungewohnt. Jesse Blue, den er während der letzten zwei Jahre lediglich in dunkler Outrideruniform auf diversen Schlachtplätzen gesehen hatte, stand vor ihm in hellen Hosen und einem engen weißen Pullover. Hatte er in den letzten Jahren eher wie ein Dämon ausgesehen, besonders wenn er eine seiner großen Feuerwaffen auf sie gerichtet und sie hasserfüllt angeschrieen hatte, schien er nun eher einem Engel zu ähneln, vor allen Dingen mit dem freundlichen Lächeln auf einem vom vielen Umziehen leicht geröteten Gesicht, das sie sonst nur höhnisch angegrinst hatte.

"Und du bist immer dabei, oder?" Jesse faltete gerade eine weitere Hose und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Fireball blinzelte erneut und fragte sich, ob er im falschen Film saß. Oder ob er es gewesen war, der einen Schlag auf dem Kopf bekommen hatte. Seit wann benahm sich Jesse Blue ihm gegenüber wie ein guter Freund?

"Kann's ja schlecht verhindern. Wer soll auch sonst das ganze Zeug schleppen?" Fireball deutete auf den stetig wachsenden Stapel und zuckte seine Schultern. Dass er diese Qualen auf sich nahm, um ein wenig Zeit mit April verbringen zu können und sie ihn im Gegenzug bei den wenigen Rennen, die er noch fuhr, kräftig anfeuerte, erzählte er Jesse Blue nicht. Das ging den überhaupt nichts an! Denn spätestens, wenn der ehemalige Kadett sein Gedächtnis wieder erlangt hatte, würde er ihn für sein Verhalten verspotten. Ja, der schnellste Rennfahrer im neuen Grenzgebiet, der schon mehrfach Nemesis gegenüber gestanden hatte und ihm doch jedes Mal wieder entwischt war, ließ sich von einer jungen Frau zum Einkaufen breit schlagen, schleppte gutmütig ihre Taschen und freute sich insgeheim, wenn er sie auf der Tribüne während eines Rennens entdeckte.

Er würde nie das Ende davon hören!

Wenn Jesse sich jemals wieder an seine Vergangenheit erinnerte...

"Gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, ob ich irgendwo noch Geld habe? Ich komm mir richtig schlecht vor, dass ihr das ganze Zeug nun für mich bezahlen müsst." Im Moment schien Jesse noch sehr weit von jeglicher Genesung entfernt zu sein. Fireball rutschte fast vom Stuhl vor Erstaunen, als er hörte, dass der ehemalige Kadett die neue Kleidung nicht einfach so hinnahm, sondern sich schlecht fühlte, weil er sie nicht selbst bezahlen konnte. Sich schlecht fühlte! Hatte sich Jesse damals schlecht gefühlt, als er zu den Outridern überlief? Oder als er April zu entführen versuchte? Oder als er Saber anschoss mit der vollen Absicht, ihn kaltblütig umzubringen? Fireball bezweifelte es. Und dennoch saß eben dieser junge Mann vor ihm und fühlte sich schuldig wegen einer unbezahlten Rechnung!

"Lass dir deswegen keine grauen Haare wachsen. April konnte shoppen gehen und wenn sie dir keine Sachen gekauft hätte, dann hätte sie das Geld für andere Kleidung für sich selbst ausgegeben. Oder noch einen Anzug für mich. Außerdem..." Fireball wollte Jesse gerade erklären, dass April regelmäßig die Schränke der einzelnen Teammitglieder auffüllte seit sie den Fehler gemacht und ihr ihre Konfektionsgrößen anvertraut hatten, als die Tür zu ihrer Kabine aufglitt und die junge Frau hinaus trat. Fireball hatte ein Sommerkleid erwartet oder vielleicht einen roten Overall, den sie zwei Wochen lang während ihres Bürodienstes tragen würde, nur, um ihn dann doch wieder zur Arbeitskleidung zu degradieren und mit Motorenöl und anderen schmierigen Flüssigkeiten zu bekleckern, die selbst die besten Waschmittel nicht mehr herausbekamen. Statt dessen erschien die junge Frau jedoch in einem knappen Bikini, der mehr entblößte als er verhüllte.

"Und? Ist der okay fürs nächste Baden?" April drehte sich einmal um sich selbst und schaute an sich herab, um das Preisschild zu lesen, das an dem knappen Bikinihöschen hing. Dabei entging ihr, dass Fireball ihrer Bewegung mit den Augen folgte und seine Kinnlade nach unten klappte.

"Ich weiß, der Sommer ist vorbei, aber es ist ein Angebot, da kann ich einfach nicht dran vorbei." April sah wieder auf und bemerkte den leicht entrückten Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Japaners, schlussfolgerte, dass drei Stunden und fünf Boutiquen vermutlich doch zu viel für seine Geduld gewesen waren. "Der ist doch okay, oder? Ist auch das letzte Anprobieren, danach gehen wir." Beeilte sie sich deshalb zu sagen.

"Sieht gut aus." Erklärte Jesse und legte das letzte Hemd auf den stolzen Haufen vor sich. "Dunkles Grün steht dir."

"Danke." Die junge Frau betrachtete sich noch einmal im Spiegel und entschloss sich schließlich zum Kauf. "Was meinst du, Fire?"

"Schön..." murmelte der Angesprochene und senkte rasch seinen Blick, als sie sich wieder zu ihm umdrehte. Er spürte, wie Hitze in seine Wangen stieg und war froh, dass die junge Frau erneut in der Kabine verschwand. Kleidung einkaufen zu gehen und damit ein wenig Freizeit mit April zu verbringen, das war die eine Sache. Wenn sie ihn, ausgerechnet ihn, aber danach fragte, wie sie im Bikini oder gar in Spitzenunterwäsche aussah, eine ganz andere. Für solche Einkäufe, fand er, sollte sie besser mit Claire oder einer anderen Freundin einkaufen gehen. Aber dann sah sie ihn wieder so bettelnd an und er konnte nicht nein sagen.

"Seid ihr kein Paar?" unterbrach Jesse seinen Gedankengang. Fireballs Kopf schnellte in die Höhe und er starrte geradewegs in eisblaue Augen, die ihn verwirrt musterten.

"Was?"

"April und du, ihr seid nicht zusammen?" formulierte Jesse seine Frage um und sah, wie der junge Japaner erbleichte. Seltsam, dabei war sich der ehemalige Kadett so sicher gewesen, denn die beiden hatten sehr vertraut miteinander agiert während der letzten Stunden. April zog Fireball ständig auf, wenn sie eine neue Boutique betraten und sanfte Berührungen sowie kurze Umarmungen standen auf der Tagesordnung. Jesse Blue konnte sich nicht an die Ehe seiner Eltern erinnern, geschweige denn an seine Eltern selbst, noch wusste er, wie es mit seiner Freundin gewesen war, die ebenfalls ein verschwommenes Gesicht in seiner noch verschwommeneren Vergangenheit darstellte. Aber so wie die junge Französin und der junge Japaner miteinander umgingen, wie sie sich ansahen und wie sie miteinander sprachen, so stellte sich Jesse eine gut funktionierende Beziehung vor.

"Nein, sind wir nicht." Fireball seufzte unterdrückt und stand auf. Bevor Jesse ihn noch weitere Fragen in dieser Hinsicht stellen oder, was noch schlimmer gewesen wäre, ihm sogar Tipps diesbezüglich geben konnte, hob er den Stapel an Kleidern auf und trug ihn hinüber zur Kasse, wo er auf April warten und Jesse ignorieren würde.

Er sprach mit niemandem über sein Liebesleben, erst recht nicht mit seinem ärgsten Feind!
 

***
 

"So, und als Belohnung gibt's jetzt ein Eis!" April stellte die wenigen Taschen, die sie trug, ab und eilte hinüber zu dem kleinen Stand inmitten des künstlichen Parks, in dem Jesse vor zwei Tagen mit Alex und Johnny Inlineskater gefahren war, ohne jegliche Erinnerungen daran zu haben, wie er es selbst einmal erlernt hatte.

"Belohnung! Wir sind doch keine Hunde!" murrte Fireball und verschränkte seine Arme vor der Brust, stolperte aber leicht nach vorn, da ihn das Gewicht von mehreren schweren Tüten nach unten zog, die er stur in seinen Händen hielt.

"Nein, aber meine Packesel." Lachte die junge Frau und verlangte nach der kühlen Ware. Fireballs Lieblingssorte kannte sie, Jesse hatte sie erst gar nicht gefragt, da sie sowieso nur einen seiner mittlerweile berühmten verständnislosen Blicke geerntet hätte und den unausgesprochenen Satz, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Das Einkaufen hatte ihr wirklich Spaß gemacht und sie war in bester Laune. In so guter Laune, wie sie in der Gegenwart eines ihrer größten Feinde niemals hätte sein dürfen. Aber andererseits, Jesse Blue hatte sich während der Einkaufstour vorbildlich benommen und hatte, im Gegensatz zu Fireball, sich überhaupt nicht über das ständige Umkleiden beschwert, sondern es geduldig über sich ergehen lassen. Wenn April nicht so gern mit Fireball einkaufen ging, um ihn aufzuziehen, aber auch, um mit ihm zusammen zu sein, so hätte sie womöglich sogar vorgeschlagen, in Zukunft immer Jesse Blue auf ihre Touren mitzunehmen. Der ehemalige Kadett hatte nämlich nicht nur eine Engelsgeduld, sondern besaß sogar Modegeschmack. Mehrere Kleidungsstücke sortierte er von sich aus, da sie ihm wirklich nicht standen, wohingegen Fireball zu allem Ja und Amen sagte, solange es nur die Zeit in der jeweiligen Boutique verkürzte.

"Ich hab's gewusst." Seufzte der junge Rennfahrer, konnte aber ein Lächeln nicht zurückhalten, als April ihn vom Stand her anstrahlte und sich schließlich auf den Kauf des Eises konzentrierte.

"Wegen vorhin im Laden..." Jesse Blue betrachtete ein paar Kinder, die auf seltsamen Gerätschaften an ihnen vorbei sausten und dabei laut lachten. Er wunderte sich stumm, ob er auch einst so ein Gefährt besessen hatte und ob sein Vater oder seine Mutter ihm dabei zugesehen hatten wie die Leute ihnen gegenüber auf einer Bank. Ein älterer Herr hielt eine kleine Kamera, zumindest vermutete Jesse, dass es sich dabei um ein Aufnahmegerät handelte, in seinen Händen und die Frau neben ihm winkte den Kindern zu, wenn sie eine weitere Runde beendeten und erneut an ihnen vorbei sausten. "Falls ich da etwas Falsches gesagt habe, dann tut es mir leid. Irgendwie ist alles nur so seltsam fremd im Moment und da stell ich wohl Fragen, die man mit Gedächtnis wohl besser lassen sollte."

Der ehemalige Kadett lächelte schuldbewusst in Fireballs Richtung und nahm dankbar sein Eis entgegen, als sich April wieder zu ihnen gesellte.

"Hier, Fire." Die junge Frau drückte dem Rennfahrer die Waffel in die Hand und drehte sich zu dem Amnesiepatienten um, um ihm zu erklären, was es mit den vielen Raumschiffen am Himmel auf sich hatte. Das Kavallerieoberkommando war nicht weit entfernt und gleich daneben lag der größte Raumhafen Yuma Citys.

Fireball hörte ihren Beschreibungen jedoch nicht zu, sondern starrte auf sein Eis, das langsam zu schmelzen begann und über seine rechte Hand lief und beinahe in die Einkaufstüten. Wie in Trance setzte er die Taschen ab und säuberte seine Finger, bevor er nachdenklich seine Belohnung aß. Nachdenklich und vollkommen verwirrt.

Lag es wirklich an der Amnesie oder besaß Jesse Blue einen Doppelgänger? Oder hatte er sich gerade verhört und der Verräter hatte sich nicht gerade bei ihm entschuldigt? Entschuldigt! Einfach so! Wobei er sie die letzten Jahre immer nur beleidigt und keine Gelegenheit ausgelassen hatte, ihnen das Leben im All zur Hölle zu machen. Eben jener Überläufer, der April gern für sich gehabt hätte für seine Spielchen und andere perverse Sachen, ging geduldig mit ihr von Boutique zu Boutique und entschuldigte sich geknickt bei Fireball für eine Frage, deren Antwort er nicht hatte wissen können. Weder als Verräter noch als Patient.

Fireball sah auf von seinem Eis und beobachtete, wie eines der Kinder beinahe in Jesse hinein fuhr. Anstelle es anzuschreien oder gar auf den Boden zu stoßen, half er dem kleinen Jungen zurück auf sein Speedrad und winkte nur lachend ab, als die besorgten Eltern nach seinem Wohlbefinden fragten.

Lachend.

Jesse Blue lachte und schien sich trotz seines Gedächtnisverlustes köstlich zu amüsieren. Wobei er aber immer einen gewissen Abstand zu April hielt, ihr nie näher kam als zum Beispiel Colt oder Alex.

Fireball fragte sich ernsthaft, ob jemand den alten Jesse Blue ausgetauscht hatte und wann dieser neue ein so vollkommener Gentleman geworden war. Früher, vor sicherlich nicht einmal einer Woche, hätte Jesse versucht, April erneut von seiner krankhaften Liebe zu überzeugen, nun aber schien er sich an diese Gefühle nicht mehr erinnern zu können. Konnte man das? Gefühle für einen anderen Menschen vergessen? Ganz einfach so? Von heute auf morgen? Oder hatte Jesse Blue niemals solche Gefühle für April empfunden, obwohl er es bei jeder Gelegenheit herausposaunt hatte, wie sehr er sie begehrte?

"... so ein Speedrad, so heißt das übrigens, Jesse, besitzen fast alle Kinder in Yuma City. Es gibt sie in verschiedenen Größen und es ist einfach nur toll, auf..."

Fireball schüttelte seinen Kopf und gesellte sich zu ihnen. Es hatte keinen Sinn, weiter darüber zu grübeln. Jesse Blue erschien wie verwandelt und er würde nichts dagegen sagen, solange sich dieser weiterhin anständig benahm. Anständig und fast vertraut, so als würde man mit einem langjährigen Freund einen kleinen Stadtbummel machen, nicht mit einem Todfeind.

Solange sich Jesse benahm, würde Fireball auch keinen Anstoß daran finden, dass dieser bei ihnen zu Hause wohnte.

"... sicherlich hattest du auch eines, du hast es bestimmt nur vergessen, Jesse..."

Trotzdem hoffte der junge Mann, dass Saber ihm bald erzählte, weswegen der Überläufer bei ihnen und nicht in einer Wohnung am anderen Ende Yuma Citys einquartiert worden war. Was wirklich hinter der ganzen Sache steckte. Vielleicht verstand Fireball Sabers Entscheidung dann besser.
 

***
 

"Jetzt erklär mir mal bitte, was dieser Scheiß hier soll!"

Colt hatte beide Hände in die Hüften gestemmt und funkelte Saber wütend an, der hinter seinem Computer aufsah. Eigentlich hätte der Cowboy ja auf Arbeit sein und seinen persönlichen Aktenberg durchsehen sollen, so wie er das immer zwischen den Missionen tat. Saber schrieb die Hauptberichte, aber Kleinigkeiten wie das Auflisten der Munition, die er verbraucht hatte oder Anträge auf diverse neue Schusswaffen blieben dennoch an ihm hängen. Im Moment interessierte ihn dieser Papierkram sogar noch weniger als sonst. Gerade jetzt stand er voller Elan vor Saber und erwartete ein paar einleuchtende Antworten. Antworten, die er auch mit einem kräftigen Kater und gehörigen Kopfschmerzen verstand.

"Ich denke, du meinst..."

"Du weißt ganz genau, was ich meine. Oder besser, wen!" unterbrach Colt den jungen Schotten schroff und trat zu dem Schreibtisch hinüber, hinter dem Saber noch immer saß und ihn unverwandt anstarrte. Manchmal hatte dieser Blick genügt, um den Cowboy wieder zur Räson zu bringen, aber dieses Mal würde das Saber nicht gelingen. Nein, dieses Mal nicht!

"Hat man dich unter Drogen gesetzt oder warum läuft hier auf einmal ein gewisser Jesse Blue frei in diesem Haus herum? Siehst du die Gefahr nicht, die von ihm ausgeht?! Sobald wir ihm den Rücken zuwenden, wird er uns hinterhältig erschießen!"

"Jesse hat sein Gedächtnis verloren. Vermutlich wüsste er nicht einmal mehr, wie man eine Schusswaffe bedient." Erwiderte Saber ruhigen Tones, zuckte nicht zusammen, als Colt noch weiter explodierte. Es war nicht ihr erstes Streitgespräch, aber es war das ernsteste, das sie bis jetzt geführt hatten.

"Beschissene Schauspielerei, das ist das, nichts anderes! Keine Ahnung, wie er die Ärzte davon überzeugt hat, dass er auf einmal unwissend ist, aber mich kann der nicht reinlegen! Der will doch bloß an unseren Kragen. Und ich begreif's nicht, dass du das nicht siehst, Saber!"

"Claires Befund entspricht der Wahrheit, Colt. Jesse hat absolut keine Erinnerungen mehr daran, wer er ist. Du hast ihn nicht im Krankenhaus erlebt, dann wüsstest du, dass niemand so gut schauspielern kann." Saber verschränkte die Arme vor seiner Brust und hielt Colts zornigem Blick stand. Er wusste, dass er den aufgeregten Cowboy davon überzeugen musste, dass Jesse Blues Anwesenheit ein Risiko war, das sie eingehen konnten. Gleichzeitig war ihm aber auch bewusst, dass er Colt in seine Schranken weisen musste. Er konnte nicht zulassen, dass der junge Texaner seine Beherrschung verlor und auf einen völlig ahnungslosen und unbewaffneten Jesse Blue losging.

"Natürlich hab ich ihn nicht im Krankenhaus erlebt! Uns hat ja niemand bescheid gesagt, wahrscheinlich war die Mission für das Kavallerieoberkommando wichtiger. So wie irgendwie alles wichtiger ist als unsere Sicherheit!" Colts Frust der letzten Wochen entlud sich. Sein Unmut über jede zuviel geleistete Stunde hinter dem überfüllten Schreibtisch in der Zentrale, wenn er sich besser um seinen kleinen Bruder gekümmert hätte. Sein Zorn über die Missionen, die ihn manchmal wochenlang im All gefangen hielten und für die sie dann nicht einmal ein Dankeschön erhielten, sondern nur aufgelistet bekamen, wie teuer ihr letzter Kampf gegen die Outrider für das Oberkommando gewesen war. Egal, ob sie damit mehrere Tausend Menschen auf einem abgeschiedenen Planeten im neuen Grenzland gerettet hatten oder nicht. Die ohnmächtige Wut über Dinge, die er nicht ändern konnte, hatte sich während der letzten Zeit in Colt angestaut und fand nun ein Ventil in Jesse Blue.

Vermutlich hätte der Cowboy den Anführer des Ramrodteams sowieso irgendwann in der nächsten Zeit wegen einer Kleinigkeit angeschrieen, nun hatte er wenigstens einen triftigen Grund. Und was für einen Grund!

"Mister Wichtig muss uns ja nicht sagen, was er vor hat, oder? Dann wohnt eben Jesse Blue hier! Der will uns ja nur umbringen, was interessiert's mich?! Ich bin ja nur zum Schießen angestellt und soll sonst meine Klappe halten, was?" Colt knallte seine Fäuste auf den Schreibtisch und lehnte sich vor, um in Sabers emotionsloses Gesicht zu sehen. "Mich kotzt das an, immer im Dunklen gelassen zu werden!"

"Colt..."

"War doch damals genauso, als bei dem angeblichen Waffenstillstand mit den Outridern Ramrod verschrottet werden sollte und weder April noch du mir in irgendeiner Weise gesagt habt, dass ihr noch Ersatztriebwerke versteckt habt. Die Outrider griffen wieder an und ich fand das echt nicht lustig, in Panik zu verfallen, weil ich dachte, wir hätten ihnen nichts mehr entgegen zu setzen!"

"Colt. Beruhige dich." Sabers Stimme war leise und er wollte nach Colts rechtem Arm greifen, aber der Cowboy zuckte zurück, schob seine Fäuste in die Taschen seiner ausgewaschenen Hose.

Saber betrachtete ihn schweigend, suchte krampfhaft nach guten Argumenten. Ihm fiel nur ein, dass Colt damals sturzbetrunken gewesen war, nachdem sie Ramrod hatten zwangsverschrotten müssen. In dem Zustand hatten sie ihm ein so großes Geheimnis nicht anvertrauen können. Dass der junge Texaner ihm auch nach über einem halben Jahr nicht verziehen hatte, erstaunte Saber. Er hatte gedacht, dass er seine Teamkollegen mittlerweile gut genug kannte, um sie einschätzen zu können. Offensichtlich hatte er sich geirrt.

"Ich soll mich beruhigen?!" begehrte Colt auf und schüttelte heftig seinen Kopf, so dass sein Cowboyhut in seinen Nacken rutschte. "Erklär mir bitte mal, warum ich nachts nach Hause komme und meinen ärgsten Feind in meinem Haus vorfinde? Dazu noch in meinen Pyjamas! Ich begreif's einfach nicht! Es ist absolut unlogisch!"

"Jesse hat Johnnys Leben gerettet..."

"Na und? Ich hab schon zwei Mal die Lorbeeren an jemand anderen abtreten müssen. Warum soll's dir da besser gehen?" Colt wurde unfair und wusste es auch. Aber es war ihm egal, vollkommen egal. Er wollte Jesse Blue im Gefängnis, nein besser, irgendwo auf einem einsamen Planeten wissen. Weit, weit weg von ihm. So schnell wie möglich. Noch heute. Nein, sofort!

"Weil er Johnny und Alex zur Seite gestoßen hat..."

"Das kann alles auch nur Show gewesen sein! Hast du mal daran gedacht? Vielleicht war das ja alles von ihm geplant gewesen und ging eben schief!"

"... hat er sich verletzt und hat deswegen sein Gedächtnis verloren. Es ist unsere Pflicht..."

"Ha! Pflicht! Unsere Pflicht wäre es, ihm sofort den Behörden zu übergeben, er ist schließlich ein gesuchter Verbrecher!"

"... ihm zu helfen, da er..."

"Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?"

"Du unterbrichst mich ständig."

"Weil du mir nicht mal zuhören willst!"

Saber zuckte zusammen, als Colt zornig eine Vase ergriff, die irgendein Regierungsvertreter von der Erde vor Ewigkeiten Aprils Vater mitgebracht hatte. Dieser konnte damit nichts anfangen und gab sie seiner Tochter, die ab und an eine künstliche Blume hinein steckte. Es klirrte laut, als sie in tausend Scherben zerbarst. Colt stand schwer atmend darüber und wirkte, als würde er alles in dem Raum zerschlagen, was ihm in die Finger kam. Zum Glück besaßen sie nur diese eine Vase.

Nun, jetzt wohl nicht mehr...

Der junge Schotte betrachtete die Überreste nachdenklich, dann erhob er sich und ging langsam auf den zornigen Cowboy zu, der sich in seiner Not ein Kissen geschnappt hatte und wütend darauf herumtrampelte. Es sah nicht besonders elegant aus. Wenn Saber ehrlich sein musste, so benahm sich der junge Texaner extrem kindisch, aber die Situation war zu ernst, als dass der Anführer des Ramrodteams hätte leise lachen können.

"Du hattest mal gesagt, dass jeder eine zweite Chance verdient hat."

"Wage es nicht, mich mit diesem Abschaum zu vergleichen, Saber! Ich war Kopfgeldjäger, er dagegen hat die Menschen verraten und ist zu den Outridern übergelaufen! Jesse verdient keine zweite Chance, er verdient lediglich den Knast!"

Saber seufzte, als er die Unbeugsamkeit in Colts Blick sah. Nein, heute würde er ihn vermutlich nicht von der Notwendigkeit überzeugen können, Jesse hier einen neuen Anfang zu ermöglichen. Vielleicht würde ihm das nie gelingen...

"Colt..."

"Jesse ist der letzte Dreck! Ich hasse ihn und werde niemals unter einem Dach mit ihm leben. Da kannst du auf und ab springen!"

"Versetz dich doch mal in seine Situation und..."

"Nein, das werde ich nicht! Er hat sich auch nie darum geschert, wie es uns ging, wenn er mal wieder seine blöden Fallen aufgestellt und versucht hatte, uns wie räudige Hunde abzuknallen. Er verdient kein Mitleid. Nicht von uns." Colt hatte begonnen, im Wohnzimmer Runden zu drehen. Jetzt blieb er wieder vor Saber stehen und schob seinen Hut zurück auf seinen Kopf, so dass Schatten sein Gesicht bedeckten. Seine grünen Augen blitzten den jungen Schotten dennoch gefährlich an. "Nicht von mir!"

"Du würdest ihn also verhaften lassen, obwohl er nicht einmal weiß, wofür er sühnen soll?"

"Ganz genau!"

"Du würdest also..."

"Wir sprechen hier von Jesse Blue, um Himmels Willen! Begreifst du das nicht? Oder hast du etwa einen Samariterkomplex, von dem ich noch nichts wusste? Jesse Blue gehört ins Gefängnis und nicht in dieses Haus!"

"... ihm nicht helfen, wenn er in Not ist?"

"Dem Verräter? Nie und nimmer! Verrecken kann der von mir aus!"

"Dann bist du nicht besser als er."

Colt schnappte nach Luft, als er Sabers kühle Worte hörte. Schweigend starrten sie einander in die Augen und die Fäuste des jungen Texaner bebten gefährlich. Am liebsten hätte er dem Schotten ins Gesicht geschlagen, konnte sich aber gerade so noch zusammen reißen.

"Ich hab noch nie auf dich geschossen, aber offensichtlich spielt das hier ja keine Rolle. Für deine Leichtgläubigkeit hab ich wohl noch nicht genug Scheiße gebaut, was?" Colt griff in die Tasche seiner alten Hosen und beförderte eine kleine Karte zu Tage, auf der ein Stern prangte und silbern glänzte. Saber reagierte nicht, als der Chip vor seine Füße geworfen wurde.

"Gut! Dann kündige ich!" Colt schob seinen Hut noch weiter in sein hochrotes Gesicht und drehte sich auf dem Absatz um. "Macht doch euren Scheiß alleine!"

In just dem Moment steckte Johnny seinen Kopf durch die halb geöffnete Tür und zeigte triumphierend sein Notebook in die Höhe. Das freudige Lächeln fiel jedoch auf seinem Gesicht zusammen, als er die giftigen Blicke seines großen Bruders sah.

"Bill? Was..."

"Pack deine Sachen, wir kehren heute noch nach Texas zurück!" murrte Colt und schob sich an ihm vorbei. Seine Stiefel hätten laute Geräusche im Flur verursacht, wenn April nicht jeden Boden mit weichen Teppichen versehen hätte.

"Was?!" platzte es entgeistert aus dem Teenager heraus und wie versteinert blieb er im Türrahmen stehen. "Das ist doch nicht dein Ernst!"

"Bedank dich bei deinem Schotten! Er hat mir soeben deutlich gemacht, dass ich hier nicht erwünscht bin!" Colt kämpfte mit seiner Weste, die er sich mit knappen Bewegungen über das ausgeblichene Hemd zog. Dann stapfte er zum Ausgang hinüber.

"Aber ich kann hier doch nicht weg, Bill! Hey! Bill!" Johnny fuhr heftig zusammen, als sein älterer Bruder wortlos die Tür hinter sich laut zu knallte. Wie er das bei den normalerweise geräuschlosen Gleittüren schaffte, war ein Rätsel. Aber für einen eindrucksvollen Abgang hatte der Cowboy schon immer gesorgt. "Ich will hier doch nicht weg..." Johnny schluckte und sank auf die nahe Couch, das Notebook noch immer in seiner Hand haltend. Er hatte es aber schon längst vergessen, genauso wie jegliche Freude über seine ausgezeichnete Note in Sternenkunde verflogen war. Statt dessen füllte ihn eine eisige Leere. Die Furcht, wirklich zurück nach Texas gehen zu müssen. In das Land seiner Eltern, für das er nichts mehr empfand. Nichts außer Abscheu und Angst...

"Was war hier los?" fragte er deshalb mit zittriger Stimme und beobachtete, wie Saber tief Luft holte, sich bückte und Colts ID-Card aufhob. Nachdenklich drehte er diese in seinen Fingern, bevor er sie zu der seinen in die Innenseite seiner Anzugsjacke schob. Er hatte ja schon viele Wutausbrüche des Cowboys erlebt, aber so weit war Colt bisher nie gegangen. Sicherlich, er hatte in seinem Zorn oftmals angedroht, die Star Sheriffs zu verlassen, aber er war nie so weit gegangen und hatte die Kündigung tatsächlich ausgesprochen. Nicht dass das bedeutete, dass Saber als sein unmittelbarer Vorgesetzter diese annehmen würde.

"Dein Bruder und ich hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit."

"Klein?" erwiderte Johnny zweifelnd und drückte das Notebook in einer schutzsuchenden Geste gegen seinen Oberkörper. "Ich will hier nicht weg, Richard, egal, was Bill auch sagt. Ich will nicht wieder zurück..."

Saber musterte den Teenager vor sich schweigend.

Zurück zu der besagten Pflegefamilie würde Johnny nie wieder kommen, aber ein Teil der Abmachung, die mit den Richtern getroffen wurde, besagte, dass Colt das Sorgerecht für seinen kleinen Bruder nur ausüben durfte, wenn er einen sicheren Job vorzuweisen hatte und Saber als geachtetes Mitglied des Kavallerieoberkommandos regelmäßige Berichte über Johnnys Wohlbefinden schrieb. Das konnte er natürlich nicht, wenn Colt zurück nach Texas zog und seine Stellung als Star Sheriff hinwarf.

"Das musst du auch nicht, Johnny." Saber holte tief Luft und wuschelte durch dunkelblonde Haare. "Colts Temperament ist wieder mit ihm durchgegangen. Lass ihm etwas Zeit zum Nachdenken, dann wird sich bestimmt alles klären."

"Hoffentlich."

"Bestimmt."

Obwohl sich Saber dessen nicht so sicher war. Genauso wie ihn das ungute Gefühl beschlich, dass ihn seine guten Absichten geradewegs in eine Katastrophe führten.
 

***
 

"Nanu? Ist ja so seltsam still hier. Kein Alex da?"

Fireball stellte mit einem lauten Seufzer die schweren Taschen im Flur ab. Jesse hinter ihm hatte sich ebenfalls tapfer abgeschleppt und April begann sofort, durch die Tüten zu wühlen, um ihnen ihre Kleidungsstücke zuzuteilen.

"Nein. Sein Vater wollte ihn heute zum Abendbrot zu Hause haben." Murmelte Johnny und tippte lustlos auf seinem Notebook umher. Viel Elan schien er nicht in seine Hausaufgaben zu stecken. Fireball runzelte seine Stirn, als er Johnnys viel zu blasses Gesicht sah.

"Das Gespräch mit Colt verlief nicht besonders gut, oder?" schlussfolgerte der Rennfahrer und ging hinüber zu Saber, der am offenen Fenster stand und ausdruckslos die Vögel in dem künstlichen Kirschbaum betrachtete.

"Nein."

"Der Idiot hat gekündigt!" brachte Johnny kopfschüttelnd hervor und hackte nun auf der Tastatur herum, als sei sie sein persönlicher Feind. Oder sein engstirniger Bruder.

"Hat er das? Wegen Jesse?" Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Fireball nahm seine Sonnenbrille ab, die er irgendwann im Park aufgesetzt hatte, als ihn die zwei Sonnen Yuma Citys zu sehr blendeten. "Wo ist er jetzt?"

"Keine Ahnung."

"Na toll." Fireball, der wusste, dass dieser Satz von Saber nichts anderes bedeutete, als dass sich Colt vermutlich in irgendeiner Bar wieder halb bewusstlos trinken würde, setzte sich neben Johnny auf die Couch und lehnte seinen Kopf gegen die weiche Lehne. "Das kann ja wieder eine Nacht werden."

Schweigend hingen sie ihren persönlichen Gedanken nach, hörten aus der Ferne das Rascheln von Einkaufstüten und Aprils leise Kommentare, wenn sie versuchte, die Preisschilder zu entfernen. Keiner von ihnen beachtete Jesse, der verwirrt im Türrahmen stand.
 

***
 

"Es ist gerade mal zehn Uhr abends. Für Colts Trinkeskapaden ist das noch zu zeitig, oder?" Fireball schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Trotz des verhältnismäßig milden Klimas konnte es auch in Yuma City während der Nacht kühl werden. Fireball wollte keine Erkältung riskieren, denn auch wenn ihn die künstlichen Bäume im Park nie so recht überzeugen konnten, so hatte der Herbst angefangen, auch im neuen Grenzgebiet.

"Ich bezweifle, dass er jetzt noch stehen kann." Erwiderte Saber nüchtern und zückte seinen Kommunikator. Colt würde ihnen nicht antworten wollen oder können, aber zumindest waren sie mit dem Gerät in der Lage, den Cowboy zu lokalisieren.

"Na großartig!" Der Rennfahrer beäugte seinen Stadtwagen in der Einfahrt sehnsuchtsvoll, einen Kombi, der sogar fliegen konnte, schließlich war es nicht die beste Idee, mit seinem Red Fury Racer durch die Innenstadt Yuma Citys zu düsen und einen Strafzettel nach dem anderen zu kassieren, außerdem passten kaum mehr als zwei Menschen in das Gefährt. Dann aber entschied sich der junge Japaner dagegen. Wenn sich Colt richtig betrank, dann nahm er mehr Alkohol zu sich, als er vertrug und erbrach sich. Das wollte er weder seinem heißgeliebten Auto noch den zukünftigen Mitfahrern antun. "Hoffentlich befindet er sich nicht am anderen Ende der Stadt. Ich hab keine Lust auf eine elendig lange Wanderung."

"Es geht noch. Er ist im >Blauen Kobold<." Saber hielt den Kommunikator näher an sein Gesicht, das kurzfristig erhellt wurde und Fireball konnte sehen, dass der Anführer seines Teams seine Stirn runzelte. "Oder zumindest irgendwo in der Nähe."

Der junge Japaner seufzte und sie setzten sich in Bewegung.

"Wenn ich gewusst hätte, dass das auch zu meinem Job gehört, hätte ich es mir noch mal überlegt."

"Wieso? Willst du einen Zuschlag als Taxifahrer haben?"

"Nein, aber Schmerzensgeld." Fireball musste nun grinsen und hob seinen Kopf, um hinauf zum Himmel zu schauen. Die drei Monde leuchteten hell und die Straßenlampen, die wenige Meter vor ihnen entbrannten und wenige Meter hinten ihnen wieder verloschen, zeigten ihnen den Weg. So schön es hier auch war, manchmal vermisste Fireball die Erde, auf der er aufgewachsen war. Besonders schmerzlich war ihm das während seines kurzen Aufenthaltes in Japan bewusst geworden.

"In meiner Heimat färben sich nun die Blätter golden und das erste Laub fällt." Erzählte der junge Japaner und seine braunen Augen musterten das Firmament über ihn. Die fremden Sternenkonstellationen, die er während der letzten zwei Jahre so oft gesehen hatte, aber an die er sich einfach nicht gewöhnen konnte. Immer suchte er heimische Sternzeichen und war jedes Mal verwirrt, wenn er sie nicht fand.

"In den Highlands sieht es auch phantastisch aus. Früh, wenn der Nebel noch in den Bergen hängt und die Natur noch zu schlafen scheint..." Saber konzentrierte sich erneut auf den Kommunikator und sie bogen bei der nächsten Kreuzung rechts ab. "Johnny hat sich übrigens ein Campingwochenende in Schottland gewünscht. Zu seinem Geburtstag."

Es klang sehr beiläufig, aber Fireball ahnte, dass sich Saber nach Colts Ausbruch am Nachmittag seine Worte sehr gut überlegt hatte. Der Rennfahrer zog seine Brauen zusammen und blieb stehen, als er ihre Bedeutung verstand.

"Du hast natürlich zugesagt."

"Johnny weiß noch nichts. Er hat mit April darüber gesprochen und sie hat mir den Vorschlag unterbreitet."

"Du willst das Wochenende aber durchziehen."

"Ja. Im Moment bearbeite ich gerade die Obersten, damit wir alle frei bekommen. Rechtlich steht es uns ja zu, wir haben die letzten Wochen fast non stopp gearbeitet. Aber du weißt ja, wie engstirnig die sein können."

"Das geht aber nur..." Fireball war bald in Dunkelheit gehüllt, als die Straßenlaterne über ihm erlosch, weil sie keinerlei Bewegung mehr feststellen konnte.

"... wenn Jesse Blue auch mitkommt." Beendete Saber seinen Satz für ihn und drehte sich zurück zu dem Rennfahrer, den er im Licht der Monde nur schwach erkennen konnte.

"Colt weiß nichts davon, oder?"

"Nein, so weit bin ich heute Nachmittag leider nicht gekommen."

"Na klasse!" Fireball schüttelte seinen Kopf und helles Licht überflutete ihn sofort. "Jesse Blue und der Todestag von Colts Eltern. Wir sind ja so was von geliefert!"

"Wir?" Skeptisch hob Saber seine rechte Augenbraue in die Höhe und setzte seinen Weg fort, als der Kommunikator wieder piepte und somit anzeigte, dass sich die gesuchte Person soeben bewegt hatte. Wenn auch im Schneckentempo wie es schien.

"Hai. Wir." Fireball steckte seine Hände in seine Jackentaschen und lauschte dem Rascheln der unechten Bäume um sie herum. "Solange Jesse sein Gedächtnis nicht wiedererlangt hat, dürfte er keine große Gefahr darstellen."

Als sich Sabers Augenbraue überrascht noch weiter nach oben hob, zuckte Fireball lediglich seine Schultern.

"Ich war doch mit April und ihm heute Nachmittag einkaufen. So seltsam wie es klingt, aber Jesse hat sich wie ein Engel benommen. Du kennst ja April, sie hat ihm mindestens fünfzig Pullover und was weiß ich wie viele Hosen und Hemden aufgezwungen. Er hat sie alle anstandslos anprobiert. Echt, so viel Geduld hätte ich niemals aufgebracht."

Ein Auto schwebte an ihnen vorbei und sie mussten an einem Übergang kurz warten.

"Zum Schluss dieser Tortur war ich ehrlich gesagt nicht mehr ganz so aufnahmefähig und hab wohl etwas gereizt reagiert, als er etwas Persönliches gefragt hat."

Saber drehte sich kurz um, akzeptierte aber, dass Fireball nicht näher darauf einging, was Persönliches Jesse hätte interessieren können. Also fuhr der Rennfahrer in seinen Ausführungen fort.

"Er hat sich bei mir entschuldigt, dass er ins Fettnäpfchen getreten ist. Stell dir das vor, Saber! Irgendwie bring ich Jesse Blue nur mit einem höhnischen Grinsen und einer gezogenen Waffe in Verbindung. Und dann steht er reumütig vor mir und entschuldigt sich!" Fireball schüttelte erneut seinen Kopf. "Mit seinen Erinnerungen ist Jesse ohne Frage ein Arschloch, aber ohne sie scheint er in Ordnung zu sein. Außerdem hat Johnny ein wenig Urlaub verdient, wie wir auch. Deswegen das Wir, Chef. Wenn April damit ebenfalls einverstanden ist, dann stehen wir geschlossen hinter der Sache - und müssen jetzt nur noch mit Colts Ärger fertig werden."

"Leichter gesagt als getan."

Saber inspizierte erneut den Kommunikator und blickte konfus auf. Er drehte sich einmal um sich selbst und rempelte dabei Fireball an, der sich nun ebenfalls umschaute.

"Was ist?"

"Laut Technik sollte Colt hier sein."

Sie beide musterten den kleinen Park, den sie gerade durchquerten, skeptisch und blickten gemeinsam auf das blinkende Gerät.

"Das ist ein Computer, kein Motor, damit solltest du dich besser auskennen, Chef."

"Eigentlich..." Saber steckte den Kommunikator in die Innentasche seines dunklen Mantels und stöhnte gequält auf. Dann schritt er energisch über die kleine Lichtung vorbei an einem Springbrunnen, der leise vor sich hinplätscherte und trat zu einer Parkbank hinüber. Das Licht einer Lampe unter einem künstlichen Ahornbaum überflutete diese und Fireball seufzte tief, als er die Gestalt sah, die auf der harten Unterlage lag und noch eine angebrochene Schnapsflasche in ihren Händen hielt. Der junge Rennfahrer ahnte, dass es sich dabei bei weitem nicht um die erste, vermutlich nicht einmal um die zweite, dritte oder gar vierte Flasche an diesem Abend handelte.

"Phantastisch! Einfach phantastisch!" fluchte Fireball leise und rüttelte an Colts Schulter. Angewidert verzog er seinen Mund, als er die Alkoholfahne des anderen riechen konnte. Aber nichts geschah. Der junge Texaner blieb bewegungslos auf der Bank liegen, starrte ausdruckslos in den Nachthimmel über ihnen. Erst als Fireball ihm entschieden die Flasche aus den Händen riss und in den nächsten Müllschlucker warf, reagierte Colt. Schwerfällig erhob er sich und versuchte, nach dem jungen Japaner zu greifen, verfehlte ihn aber und fiel von der Bank schwer auf seine Knie, die ihm am nächsten Morgen sicherlich schmerzen würden. Wenn auch nur halb so sehr wie sein Schädel.

"Dasch... dasch... dasch..." schien sich das Vokabular des Cowboys zu beschränken. Sein Hut war ihm auf den Rücken gerutscht und vom Liegen ganz zerknautscht. Sein Hemd sowie seine Hosen wiesen Flecke auf, die weder Fireball noch Saber weiter identifizieren wollten.

"Komm nach Hause." Sagte Saber und wollte ihm unter seinen rechten Arm greifen, um ihm zurück auf seine Beine zu helfen, aber Colt stieß ihn fort.

"Lasch misch..." Colt schien selbst auf den Knien mit seinem Gleichgewicht zu kämpfen und Fireball hielt ihn fest, als er hilflos nach vornüber zu kippen drohte. Es lag eine gewisse Routine in den Griffen des Rennfahrers, als er den betrunken jungen Mann auf seine Beine hievte und ihn stützte, als er wieder einzuknicken drohte.

"Isch will da nisch tschurügg! Da isch diescher Tschessi!" versuchte Colt, sich zu artikulieren, aber seine Zunge mochte ihm einfach nicht mehr gehorchen.

"Ach, die Parkbank ist also die bessere Alternative, du Saufkopf?" Fireball winkte Saber zu sich heran und zusammen begannen sie, den heftig schwankenden Cowboy zurück zur Strasse und dann Richtung Heimstatt und Bett zu ziehen. Zu ziehen, denn normales Laufen schien Colt in dem fortgeschrittenen Zustand seines Alkoholkonsums nicht mehr möglich zu sein.

"Isch gann da eh nisch tschurügg, hab gegündischt." Brabbelte der Betrunkene und ließ seine Schultern hängen.

"Ich nehme doch keine mündlichen Kündigungen im Streit an!" Saber steuerte Colt nach rechts, da dieser offensichtlich lieber gegen einen Baum knallen wollte, als den öffentlichen Parkweg zu benutzen. "Außerdem brauchen wir dich im Team."

"Pah! Geiner braucht misch. Nisch mal Tschonni..." Colt senkte seinen Kopf und würgte. Saber und Fireball erkannten die Zeichen gerade noch rechtzeitig und setzten ihn am Wegesrand ab, wo er sich ausgiebig erbrach.

"Jetzt weiß ich, warum ich immer abgelehnt habe, wenn mein Onkel mir Sake angeboten hat." Murmelte Fireball und trat ein paar Schritte zurück, während Saber den Betrunkenen hielt, damit dieser nicht in seinen eigenen Mageninhalt fiel. Dann wischte er Colts Gesicht mit einem Tuch ab und ließ ihn noch einige Momente knien, damit sich sein Körper wieder etwas stabilisieren konnte.

"Natürlich brauchen wir den besten Scharfschützen im neuen Grenzgebiet." Erklärte Saber leise. "Genauso wie dich dein kleiner Bruder braucht, Colt."

"Pah! Der hat ja disch, da braucht er misch nisch mehr..." Der Cowboy fuhr sich durch die kurzen Haare und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, wenn Saber ihn nicht festgehalten hätte.

Für einige Augenblicke herrschte Schweigen, das selbst Fireball nicht unterbrach, obwohl ihm auf der Zunge lag, dass Colt gerade seinen Cowboyhut verlor. Still segelte der Stoff zu Boden und blieb unbeachtet dort liegen.

"Geht es darum, Colt?" fragte Saber ruhig. Er hatte geahnt, dass dieses Gespräch einmal auf ihn zukommen würde, spätestens in einem Jahr wenn Johnny achtzehn und damit volljährig wurde. Der junge Schotte wollte diese Unterhaltung jedoch lieber mit einem nüchternen Colt führen, der sich am nächsten Morgen noch daran erinnern konnte, was sie besprochen hatten.

"Ja... nein..." Colt fuhr sich erneut durch seine Locken. "Esch geht um dieschen beschischenen Tschessi. Isch gann nisch mit ihm leben, isch gann nisch... und du läschd mir geine Wahl..."

"Gib Jesse eine Chance, Colt. Ich war heute den ganzen Nachmittag mit ihm unterwegs. Glaub mir, die Amnesie hat ihn sehr verändert, zum Positiven." Fireball war wieder näher getreten, vermied es aber unter allen Umständen, die Wiese vor Colt zu begutachten.

"Nein!" Es klang beinahe wie ein Schluchzen und als der Cowboy sein Gesicht zu Fireball hob, leuchten seine grünen Augen feucht. "Er ischt tschu den Out... Out... den Böschen übergelaufen... den Böschen, die meine Eltern umgebracht haben..." Der junge Texaner ließ seinen Kopf hängen und holte zitternd Luft. "Wären Mom und Pa nie geschtorben, hätte isch nie scho gläglisch verschagt, Tschonni tschu beschütschen..."

"Jesse hat immer nur gegen uns gekämpft. Er hat noch nie einen Menschen umgebracht." Sagte Saber schließlich nach einer Weile betretenen Schweigens. Fireball hatte während des ersten Outriderkrieges seinen Vater verloren, er konnte nachempfinden, wie sich Colt fühlte. Nur leider konnte er die Trauer auch nicht verkleinern, sie blieb ein Leben lang und kam in Augenblicken wie diesen grausam zum Vorschein.

"Wasch macht disch scho schischer, dasch er esch nie tun wird? Wasch ischd, wenn er schein Ged... schisch wieder erinnert und dann doch Menschen umbringt? Isch gönnte den Gindern diescher Menschen nie insch Geschischt schehen, ohne misch tschu haschen. Er gehört insch Gefängnisch!"

"Jesse wird nie wieder eine Waffe auf jemanden richten, geschweige denn für die Outrider in den Kampf ziehen." Sabers Gesichtsausdruck war ernst und er nickte Fireball zu, als sie den Cowboy wieder auf seine Beine zogen und mit ihm zur Strasse hinüber taumelten. "Dafür werde ich sorgen, Colt."

Der junge Texaner erwiderte nichts. Entweder war er vom Alkohol bereits zu vernebelt, um überhaupt noch zu verstehen, was um ihn herum geschah, oder aber er fand kein passendes Gegenargument. Fireball sagte auch nichts, blickte nur ab und an fragend zu seinem Anführer hinüber, der aber zu beschäftigt war, dafür zu sorgen, dass der Betrunkene nicht gegen irgendwelche Bäume, Straßenschilder oder andere Hindernisse lief.

Es war ein Heimweg in nachdenklichem Schweigen.
 

***
 

"Wenn uns das Oberkommando irgendwann nicht mehr haben will, sollten wir vielleicht ein Internat eröffnen." Fireball schlich in Colts Zimmer. Sie hatten den Cowboy sicher nach Hause bekommen und in einer Technik, die sie sich vor fast zwei Jahren angeeignet hatten, in die Dusche verfrachtet und anschließend ins Bett. Der Rennfahrer schaute noch kurz nach den anderen Bewohnern. Jesse schlief tief und fest in seinem Raum, genauso wie April und Johnny in dem Reich der jungen Französin. Beide hatten sich noch einen Film angeschaut und waren darüber auf Aprils Bett eingeschlafen. Fireball deckte sie zu, löschte den Bildschirm und besorgte noch einige Kopfschmerztabletten für Colt, die er nun auf dessen Nachttisch legte. Die Waffe, die sonst auch dort lag, verstaute er lieber im Waffenschrank und schloss diesen doppelt ab. Der Schlüssel stellte normalerweise kein großes Hindernis für den Cowboy dar, aber im derartig betrunkenen Zustand würde er nicht so einfach an seine Schießeisen kommen. Was Fireball lieber war. Wer wusste, was dieser Narr sonst noch anstellte, bis er seine Nüchternheit wieder erlangte.

"Wie kommst du auf die Idee?"

"Bei diesem Kindskopf haben wir doch genügend Erfahrung."

"Erwartest du etwa derartig betrunkene Schüler?"

"Wenn sie aus Texas kommen?" Fireball grinste und streckte seine Arme aus, um seinen Körper ein wenig zu entspannen. Colt konnte sich ganz schön schwer machen und auch wenn Saber ihm die halbe Last abgenommen hatte, war Fireball der Rückweg doch recht weit vorgekommen.

"Das Internat kannst du dann ohne mich führen." Saber öffnete das Fenster, damit die frische Nachtluft Colt bei der Ausnüchterung half und hatte beinahe die Tür erreicht, als Fireball ihn leise zurück rief.

"Saber?"

"Hm?"

"Unser Kuhhirte hat mal wieder etwas drastisch reagiert, aber ich kann seine Beweggründe nachvollziehen. Du kannst nicht garantieren, dass Jesse niemals wieder eine Waffe in die Hand nehmen wird, erst recht nicht, sollte er doch die zwanzig Prozent ausnutzen und sich eines Tages wieder erinnern können."

Saber verschränkte seine Hände hinter seinem Rücken und musterte Fireball schweigend. Der junge Japaner wartete geduldig.

"Sollte er sich jemals wieder an seine Vergangenheit erinnern können, so will ich ihm bis dahin gezeigt haben, dass es lohnenswerter ist, auf unserer Seite als auf der der Outrider zu stehen. Dann wird er niemals zu dem Monster, für das Colt ihn hält. Das er womöglich beinahe geworden wäre."

Fireball nickte, runzelte dann aber seine Stirn.

"Warum, Saber? Warum steckst du so viel Vertrauen in Jesse? Warum willst du ihm so sehr helfen, dass du einen solchen Streit mit Colt und den Bruch mit uns anderen riskierst? Es kann nicht daran liegen, dass du einen verlorenen Star Sheriff nach Hause führen willst. Du bist intelligent genug um zu wissen, dass du nicht jede verlorene Seele retten kannst."

"Nein, aber diese."

"Warum?"

"Weil..." Saber lehnte sich gegen Colts Kommode, in der dieser seine Kleidung aufbewahrte und fuhr sich über die brennenden Augen. "Weil es meine Schuld ist, dass er so geworden ist."

"Das kann nicht dein Ernst sein." Fireball sah ihn ehrlich erstaunt an. "Es war ganz allein Jesses Entscheidung, als er zu den Outridern überlief. Du hattest damit überhaupt nichts zu tun. Du kanntest ihn ja nicht einmal!"

"Und genau das ist meine Schuld, Shinji. Wenn ich eher recherchiert hätte, hätte ich gewusst, dass er existiert und hätte mich eher um ihn kümmern können. Dann wäre er nicht so hasserfüllt zum Kavallerieoberkommando gekommen und wäre nicht verbittert über mich in die Arme des Feindes gelaufen."

"Langsam machst du keinen Sinn mehr." Der junge Japaner setzte sich unbewusst im Schneidersitz auf den Rand von Colts Bett. "Warum solltest ausgerechnet du dich um Jesse Blue kümmern?"

"Weil es mein Vater nie getan hat." Saber rang mit sich selbst, entschied sich dann aber dafür, Fireball zu vertrauen. Wenn er nicht auf seine Teamkollegen zählen konnte, dann steckte er wirklich in echten Schwierigkeiten. Sicherlich würde Fireball auch dieses Mal abwarten, sollte er dieses Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, aber der junge Schotte ahnte, dass der Rennfahrer die Wahrheit verdiente. So sehr es ihm auch schmerzte, es sich laut einzugestehen, dass er versagt hatte.

"Wieso..."

Überraschtes Schweigen entstand, in dem der junge Japaner nach Worten suchte, langsam zu verstehen begann.

"Du meinst doch nicht etwa..."

"Um es milde auszudrücken, mein Vater war meiner Mutter kein besonders treuer Ehegatte. Er hatte viele Affären, eine davon vor über zwanzig Jahren mit Jesses Mutter." Der junge Schotte starrte auf seine Füße, wagte nicht, zu dem Fahrer Ramrods hinüber zu sehen. "Ich hab davon erst letztes Jahr erfahren."

Saber holte tief Luft, während Fireballs Augen tellergroß wurden.
 

***
 

Alex mochte keine Volkslieder.

Alex konnte keinen Ton halten.

Alex verstand keine Noten.

Johnny betrachtete amüsiert, wie sein bester Freund dennoch mit leuchtenden Augen und zu viel Elan für einen Mittwoch Nachmittag über den Schulhof schritt und zu der ersten Chorprobe seines Lebens ging. Es war nicht etwa so, dass der Erbe des MacLeth Imperiums plötzlich seine unsterbliche Leidenschaft für die Musik entdeckt hatte. Vielmehr vermutete Johnny, dass die hübsche Linda, eine Mitschülerin aus der Parallelklasse, Ursache für Alex' Meinungsänderung war.

"Viel Spaß!" rief er dem Jungen hinterher, der mit seinen Gedanken bereits woanders war, wahrscheinlich an der Seite seiner heimlichen Angebeteten. Johnny, der sich ebenfalls weniger für das Musizieren begeistern konnte, hatte sofort abgelehnt, als ihm Alex den Vorschlag unterbreitete. Auch wollte er nicht das fünfte Rad am Wagen spielen, sollte es Alex schaffen und Linda zu einem Date oder wenigstens zu einer Schokolade nach der Probe überreden können.

Was Johnny nun allein auf dem Schulhof zurück ließ. Nun, nicht völlig allein, schließlich wimmelte es an der großen Schule immer vor Schülern, aber sie waren entweder nicht aus Johnnys Klasse oder er hatte nicht viel mit ihnen zu tun. Obwohl er wusste, dass hier keiner seine Vorgeschichte kannte und ihn niemand so mitleidig anstarren würde wie in Texas, blieb er immer auf Distanz zu den anderen Schülern. Er war nett zu ihnen und sie waren höflich ihm gegenüber, es gab nie Streit und böse Worte, aber es wäre ihnen niemals eingefallen, mit ihm ins Kino zu gehen, so wie er sich auch jetzt eine leere Bank auf der angrenzenden Wiese suchte. Johnny hatte keine enge Freundschaft mit jemandem schließen wollen, bis Alex ihm einen großen Strich durch die Rechnung machte. Der junge Erbe war so überwältigt, dass er sich von seinem vielen Geld nicht beeindrucken ließ wie so manch anderer Teenager an der Schule und blieb dicht auf Johnnys Fersen, egal, wo dieser auch hin ging. Zu Beginn hatte es diesen sehr genervt, dann aber war er dankbar dafür. Alex erfuhr, wenn auch eher durch Zufall, von dem Gerichtsprozess und seiner ehemaligen Pflegefamilie, aber er erntete nie einen von diesen mitleidigen Blicken, die ihm so sehr verhasst waren. Statt dessen erklärte Alex ihm mit ernstem Gesichtsausdruck, dass er nun unter dem persönlichen Schutz der MacLeth stehen würde. Johnny hatte nur erleichtert gelächelt und dem Jungen bei seinen Kunsthausaufgaben geholfen. Denn Alex konnte nicht nur die Töne nicht halten, sondern auch keinen Bleistift. Jeder Fünfjährige war besser im Zeichnen als er.

Sechzehn Uhr.

Johnny blickte auf seine Uhr und setzte sich auf die Bank. Vielleicht würde er auf Alex warten für den Fall, dass ihn Linda doch abblitzen ließ. Vielleicht würde er aber auch einfach nur ein wenig hier sitzen und das wärmende Licht der Sonnen genießen und darüber froh sein, dass sein Bruder die Rückkehr nach Texas nicht ernst gemeint hatte. Johnny kannte Colt eigentlich gut genug, um zu wissen, dass er viel sagte, wenn er in Rage geriet. Dennoch erschreckte ihn allein der Gedanke, in das Land zurückkehren zu müssen, das ihm nach dem Tod seiner Eltern leer und öde vorgekommen war. Die Ranch, mit der er als einziges positive Gefühle verband, da sie einst seinen Eltern gehört hatte, war verkauft und abgerissen worden. Nein, in dem fremden Land hatte er nichts mehr verloren. Seine Liebe zu den Pferden blieb, war er aufgewachsen mit den edlen Tieren, aber was auch immer er einst in der wüsten Einöde gesehen, was er an ihr gemocht hatte, ging nach dem tragischen Outriderangriff für immer verloren. Johnny mochte noch immer die Erde und freute sich jedes Mal, wenn die Star Sheriffs ihn auf einem offiziellen Flug mitnahmen, aber er sah sich lieber das freundliche Japan, das temperamentvolle Frankreich oder das mystische Schottland an, als das staubige Texas, das nur schlechte Erinnerungen in ihm wach rief.

Johnny klappte sein Notebook auf und versuchte die Geschichtsdaten zu lernen, die sein Lehrer morgen in einer Arbeit abfragen würde. So recht konnte er sich nicht darauf konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu Colts wütendem Gesicht. Vor einem Jahr, als er nach Yuma City in diese seltsame Gemeinschaft zog, hatte sein älterer Bruder ihm versichert, dass er nur so lange bleiben müsste, bis er volljährig wäre. Danach könnten sie sich eine eigene Wohnung suchen, sollte Johnny es wünschen. Aber Johnny wollte dies nicht, es war eigentlich nie eine Option für ihn gewesen. Nach dem Tod seiner Eltern waren diese Menschen die ersten gewesen, die für ihn da waren, die ihm nicht im Stich ließen und zuhörten, wenn er jemanden brauchte, dem er sein Herz ausschütten konnte. Einige seiner Mitschüler würden ihn vermutlich schief anschauen, wenn sie wüssten, in was für einem bunt zusammen gewürfelten Haushalt er lebte, in dem ein Japaner alle dazu zwang, den Reis mit Stäbchen zu essen, eine Französin die Mikrowelle mindestens zwei Mal pro Woche auseinander nahm und ein Schotte jeden einzelnen Computer selbst programmiert hatte, aber er fühlte sich wohl genauso wie es war.

Deshalb hatte ihn der Ausbruch seines Bruders auch so geschockt. Er würde von hier nicht fortgehen. Nicht, solange die anderen ihn in ihrer Nähe haben wollte. Nicht, solange Saber ihn wollte...

"Hallo, Kleiner."

Es war ein Spitzname, den Colt ihm schon immer gegeben hatte und den er nun nicht mehr los wurde, auch wenn er schon lange nicht mehr so klein war. Als Johnny seinen Kopf hob, stand jedoch nicht sein Bruder vor ihm, der mit Sicherheit noch mit seinem Katzenjammer zu kämpfen hatte, sondern Fireball. Der Rennfahrer trug seine Lederkombi und hielt zwei Helme in seinen Händen.

"Na, kann ich dich mitnehmen?"

"Was machst du denn hier? Musst du nicht arbeiten?" staunte Johnny und verstaute sein Notebook in seinen Rucksack. Dann nahm er den Helm entgegen und stülpte ihn sich über den Kopf, während Fireball bereits voraus ging. Sein rotes Motorrad, eine Suzuki, hatte er vor den Schultoren abgestellt. Der Lack glänzte im langsam schwächer werdenden Sonnenlicht. Die Dämmerung trat immer zeitiger ein, bald würde es um diese Zeit bereits dunkel sein. Bald, nicht heute.

"Wieso? Ist dir Schwebebahn lieber?"

"Nein, absolut nicht." Johnny hatte zu Beginn Bedenken gehabt, auf der schnellen Maschine zu fahren, aber der Rennfahrer, der auf der Rennstrecke und mit Ramrod unschlagbar war, konnte sich im normalen Straßenverkehr sehr umsichtig bewegen. Der Teenager hatte nie das Gefühl, sich in Gefahr zu begeben und nach anfänglichem Zögern mochte er es sogar, auf der Suzuki zu sitzen und den Fahrtwind zu spüren, der ihn sanft einhüllte. Es war beinahe so als würde er wieder im Sattel eines schnellen Pferdes sitzen.

"Ich war im Auftrag deines noch immer indisponierten Bruders hier." Fireball stieg auf die Maschine und Johnny kletterte hinter ihm in den Sitz.

"Indisponiert? Höflicher hätte man es wirklich nicht ausdrücken können. Er hat sich wieder betrunken, oder?"

"Hai..." Fireball zuckte seine Schultern, dann startete er die Maschine und fuhr langsam los, als er spürte, wie sich Johnny an seiner Lederjacke festhielt. "Aber ich denke, dass er sich die nächsten Tage zusammen reißen wird. Sein Kater ist sicherlich fürchterlich." Der Rennfahrer kicherte leise und ordnete sich in den laufenden Verkehr mühelos ein. Eine Weile fuhren sie schweigend und Johnny genoss das Gefühl der Freiheit, das er sonst nur auf dem Rücken seines Pferdes empfunden hatte. Seines Black Beauty, der der Zwangsversteigerung der Ranch ebenfalls zum Opfer gefallen war. Die Gebäude schwirrten an ihnen vorbei und Johnny erkannte, dass Fireball kleinere Umwege fuhr, um dem gröbsten Verkehr aus dem Weg zu gehen.

"Welchen Auftrag hast du denn ausgeführt?" fragte Johnny durch die Mikros, welche in beiden Helmen installiert waren, so dass sich die Personen auf einem Motorrad oder in einer Fahrgemeinschaft untereinander verständigen konnten. Seine Neugier hatte den Teenager besiegt, denn sein Bruder kam selten in die Schule. Eigentlich nur, wenn ein weiterer Elternabend anstand. Nur um von den anderen Eltern zu hören, dass er für sein Alter noch erstaunlich jung aussah, wenn er einen sechzehnjährigen Sohn aufzog. Colt wusste dann immer nicht, ob er lachen oder wütend sein sollte.

"Ich hab deinem Klassenleiter eine Freistellung für diesen Freitag überbracht. Saber hat sie zwar unterzeichnet, weil Colt den Stift sicherlich noch nicht hätte halten können, aber ich denke, dass das auch so in Ordnung geht. Saber hat es übrigens auch geschafft, uns dieses Wochenende frei zu halten. Keine Ahnung, wen er im Oberkommando bestochen oder gar bedroht hat, aber Freitag bis Sonntag brauchen wir uns dort nicht mehr blicken zu lassen." Erklärte Fireball und fuhr in eine kleinere Allee, die links und rechts mit künstlichen Bäumen gesäumt war. Das Licht der zwei Sonnen ließ die eingefärbten Blätter golden leuchten. Johnny wusste, dass Fireball extra für ihn hier lang fuhr, weil ihm diese Strasse besonders gut gefiel.

"Freistellung? Für dieses Wochenende?"

"Hai. Ist doch dein Geburtstag am Samstag, oder hab ich da was verpeilt?"

"Nein, aber dafür braucht ihr euch nicht extra frei zu nehmen. Ich will keine riesige Feier oder so was."

"Wie wär's dann mit einem Campingwochenende in den Highlands statt dessen?"

Johnny blinzelte und schnappte hörbar nach Luft, als ihm bewusst wurde, was der Rennfahrer ihm gerade eröffnet hatte.

"Und Colt? Und Jesse? Das ergibt doch totales Chaos."

"Als ob wir nicht Profis im Chaos wären." Fireball lachte, als Johnny ihn plötzlich stürmisch umarmte, sich nicht nur an seiner Lederjacke festhielt und ihn vor Freude an sich drückte. "Sachte, Kleiner. Immerhin muss ich hier noch fahren. Spar dir das Knuddeln besser für Saber auf, immerhin hat er das alles arrangiert."

Johnny nickte grinsend.
 

***
 

Es war nicht nur ein einzelner Truck gewesen, der ihn in der letzten Nacht überfahren zu haben schien, sondern ein kompletter Konvoi. Colt stöhnte gequält auf, als er langsam aus dem Schlaf an die Bewusstseinsoberfläche driftete. Sein Kopf meldete sich sofort zu Wort und er glaubte, dass sein Schädel gleich explodieren würde. Selbst still liegen bleiben und so tun, als wäre er nicht da, brachte nichts.

Man, er hatte wirklich verdammt tief ins Glas geschaut!

Nie wieder Alkohol!

Das schwor er sich, so wie er das jedes Mal am Morgen danach tat. Nur, um bei dem nächsten Tiefpunkt in seinem Leben wieder in irgendeine kleine Bar zu gehen und so viel in sich hinein zu schütten, bis er all die Probleme vergaß, die er nicht lösen konnte, egal, wie sehr er sich auch bemühte.

Wie war er eigentlich nach Hause gekommen? Er befand sich doch in seinem Bett, oder? Zumindest kam ihm die Matratze bekannt vor. Seine Hand tastete die Matratze neben sich ab und erleichtert stellte er fest, dass er allein war. Obwohl er nicht wirklich auf One-Night-Stands stand, kam es hin und wieder vor, dass er sich in einer Bar doch ein hübsches Mädchen anlachte. Nur wusste er ganz genau, dass es weder Saber noch die anderen lustig finden würden, am Frühstückstisch plötzlich einer Wildfremden gegenüber zu sitzen. Wobei es sicherlich nicht mehr früh am Morgen war und Saber der letzte war, der ihn hätte ausschimpfen können, dass er fremde Menschen mit ins Haus schleppte, hatte er doch schließlich die Tür für Jesse Blue geöffnet!

Womit seine eigentlichen Probleme den Weg aus dem Alkohol bereits zurückfanden und ihn erneut zu quälen begannen.

Colt seufzte tief und lenkte seine Gedanken jedoch in eine andere Richtung.

Wer hatte ihn dann nach Hause gebracht? Doch nicht etwa... Colt stöhnte erneut auf, dieses Mal aber weniger aus Schmerz, sondern eher aus Scham, als die Erinnerung stückweise zu ihm zurück kehrte. Fireball und Saber waren da gewesen und hatten ihn gestützt. Außerdem hatte er sich übergeben.

"Scheiße..." flüsterte er und schwor erneut dem Teufel des Alkohols ab. Hatten seine Teamkollegen wirklich gesehen, wie er seinen Mageninhalt hergab? War Saber wirklich dabei gewesen? Das war ja so demütigend! Andererseits, er hatte es gar nicht anders verdient, ermahnte er sich selbst. Die letzten drei Flaschen wären nicht unbedingt nötig gewesen. Oder waren es die letzten vier gewesen? Oder die letzten fünf? Er wusste es nicht mehr, alles war so verschwommen.

Colt öffnete versuchsweise seine Augen und presste die Lider sofort wieder fest aufeinander, als ihn das grelle Sonnenlicht traf.

"Ah..." Er tastete nach den Schmerztabletten, die wie durch Magie jedes Mal auf seinem Nachttisch lagen. Leider konnte er sie nicht finden, dafür drückte sie ihm jemand in die Hand und half ihm, sich halbwegs aufzusetzen, damit er sie zusammen mit einem frischen Schluck Wasser hinunterspülen konnte. Er hörte, wie das Rollo heruntergelassen wurde und war dankbar für Saber, der sicherlich neben seinem Bett auf einem Stuhl saß und ihm sogleich eine weitere von seinen berühmten Antialkoholpredigten halten würde.

"Danke." Brummte er dennoch in der Hoffnung, dass die Predigt vielleicht etwas kürzer ausfiel.

"Gern geschehen." Antwortete ihm eine Stimme, die nicht zu Saber gehörte. Auch nicht zu Fireball oder Johnny. Colt riss seine Augen auf und wäre wohl aus dem Bett gesprungen, wenn die Welt sich nicht gegen ihn verschworen hätte und sich in erbarmungsloser Geschwindigkeit um ihn drehte. Denn neben seinem Bett saß niemand geringerer als Jesse Blue höchstpersönlich. Der ehemalige Star Sheriff hielt noch immer das Glas Wasser in der rechten Hand und grinste selten dämlich.

"Was zum Geier machst du in meinem Raum?" brachte der Cowboy schließlich hervor und verfluchte sich für seine Unachtsamkeit. Weder war die Tür abgeschlossen gewesen noch lag seine Waffe auf dem Nachttisch. Er war unbewaffnet und dank seines unbarmherzigen Katers auch körperlich nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Seltsamerweise griff ihn Jesse nicht an, sondern schien ihm sogar das Glas entgegen zu halten, als böte er ihm einen weiteren Schluck Wasser an.

"Willst du gaffen, wie dreckig es mir geht?" Colt beugte sich leicht vor und nahm den schmerzenden Kopf in seine Hände.

"Eigentlich wollte ich mich bei dir entschuldigen."

Es waren die letzten Worte, die Colt jemals erwartete hatte zu hören, besonders von Jesse Blue.

"Häh?" erwiderte er deshalb nicht besonders intelligent und stöhnte gequält auf, als er seinen Kopf zu rasch hob und sich die Welt wieder schneller um ihn drehte.

"Ich kann mich leider nicht daran erinnern, was ich in der Vergangenheit getan habe, dass du gedroht hast, diese wundervollen Menschen hier zu verlassen, weil ich im Moment hier bin. Aber es muss wohl etwas Schreckliches gewesen sein." Jesse drehte das Gefäß in seinen Händen leicht hin und her, so dass die klare Flüssigkeit an das Glas schlug. Die halbe Nacht hatte er darüber gegrübelt, was er in dem Wohnzimmer gehört hatte sowie über das Abendbrot, das im Gegensatz zu den letzten Tagen sehr bedrückend abgelaufen war. Ein undefinierbares Gefühl beschlich ihn bei der Ahnung, dass er womöglich ein anderer Mensch gewesen sein könnte vor dem Unfall. Ein ganz anderer Mensch, der mit Colt nicht zurecht gekommen war, obwohl Saber ihn mehrfach einen guten Freund genannt hatte.

Was auch immer er dem Cowboy angetan hatte, dass dieser ihm bei ihrem ersten Treffen ohne zu zögern den Blaster an die Schläfe gedrückt, sich mit seinen Freunden verstritten hatte und schließlich in einer Bar versackte, um sich zu betrinken, es schien nichts besonders Angenehmes gewesen zu sein.

Und vermutlich hätte er sich vor seinem Gedächtnisverlust nicht so einfach entschuldigt, so wie Colt ihn mit großen, blutunterlaufenen Augen anstarrte, als wäre ihm über Nacht ein zweiter Kopf gewachsen.

"Ich möchte mich hiermit offiziell für meine Taten entschuldigen und um einen Neuanfang bitten." Jesse stellte das Glas zurück auf den Nachttisch und erhob sich. Er ahnte, dass Colt seine Hand nicht schütteln würde, selbst wenn er sie in Freundschaft anbot. "Besser du ruhst dich noch ein wenig aus, du siehst furchtbar aus."

Colt wirkte, als wollte er einen schnippischen Kommentar abgeben, besann sich dann aber doch eines Besseren, legte sich zurück auf das Kissen und zog die Decke über seinen grausam schmerzenden Kopf.

Der Cowboy hörte, wie die Tür leise aufglitt und wieder geschlossen wurde. Danach herrschte vollkommene Stille in dem Zimmer, das neben seinen Kleidern auch seine umfangreiche Waffensammlung beinhaltete. Diverse Schusswaffen befanden sich darin, die lediglich durch einen Schlüssel gesichert waren, der immer steckte. Johnny war sprichwörtlich im Wilden Westen aufgewachsen und die anderen wussten durch ihre Ausbildung um einen sicheren Umgang mit Blastern. Aber erstaunlicherweise hatte Jesse diesen Umstand nicht ausgenutzt und eine Waffe gezogen, um ihn damit zu erschießen. Auch hatte er ihn während seines Schlafes nicht erdrosselt oder mit dem Kissen versucht zu ersticken. Statt dessen hatte er sich bei ihm entschuldigt. Jesse Blue! Bei ihm! Ausgerechnet!

Colt schloss seine brennenden Augen und fragte sich, welche Drogen man ihm in der letzten Nacht in seine Drinks gemixt hatte. Denn solche Wahnvorstellungen hatten ihn selbst nach der durchzechtesten Nacht nicht heimgesucht.
 

***
 

"Ich kann nichts feststellen. Wann plagen Sie die Kopfschmerzen, Mister Blue?" Claire fuhr mit dem kleinen Gerät einmal um Jesses Kopf und der junge Mann betrachtete es dabei skeptisch, konzentrierte sich dann aber auf die Frage seiner Ärztin.

"Meistens in der Nacht, aber sie sind nicht so schlimm. Ihre Medizin hilft."

"Das sollte sie besser auch." Die junge Frau steckte das Gerät endlich in ihre helle Tasche zurück und führte noch zwei weitere Tests durch, die aber dasselbe Ergebnis hervorbrachten: Der Patient vor ihr war kerngesund. Zumindest körperlich.

"Vermutlich ist es eine Nachwirkung des Aufpralls." Sie schaute geschäftig auf ihre Uhr und erhob sich von Jesses Bett. "Sollte etwas sein, anrufen, egal, ob es mitten in der Nacht ist. Ansonsten seh ich Sie dann nächste Woche wieder."

"Ja. Danke." Jesse erhob sich ebenfalls und begleitete sie durch den Flur, den April am Morgen aufgeräumt hatte, immer laut schimpfend, wohl wissend, dass sie dabei einen Cowboy störte, der nur wenige Meter von ihr entfernt versuchte, seinen Rausch auszuschlafen.

"Ist das eigentlich üblich? Hausbesuche, mein ich?" fragte Jesse, als sie schon fast durch die Tür hindurch und zu ihrem Auto geeilt war. Seine Erinnerung ließ ihn auch hier wieder im Stich, aber in beschlich das untrügliche Gefühl, dass es Krankenhäuser nicht umsonst gab und er sich schließlich gesund genug fühlte, um dort hinzukommen, um auf weitere Schäden untersucht zu werden. Oder?

"Nein, nur bei Patienten, die von einem Konvoi überrollt wurden." Claire zwinkerte ihm zu, bevor sie in ihr Gefährt stieg und im nächsten Moment hinter der nächsten Ecke verschwunden war. Die junge Ärztin hatte es immer eilig und ihre Besuche dauerten nie länger als zehn Minuten, aber sie kam jeden Tag, um nach ihm zu sehen. Manchmal sogar zwei Mal, obwohl Jesse vermutete, dass sie vorgestern eher das Bedürfnis nach einem anständigen von April gekochten Abendbrot verspürte als dass die Sorge nach ihrem Patienten sie nach Dienstschluss noch einmal zu ihnen getrieben hatte.

Der junge Mann blickte hinauf in die Dämmerung und gähnte. Müde fuhr er sich über den brennenden Augen und fragte sich, ob er schon vor dem Unfall so eine Schlafmütze gewesen war. Seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, verpennte er regelmäßig den halben Tag und wenn er brav seine Medizin nahm auch die ganze Nacht. Jesse hoffte, dass diese Müdigkeit auf den Aufprall bezüglich des Konvois zu schieben war, denn ansonsten hatte er bestimmt einen lausigen Star Sheriff abgegeben und niemand außer Colt getraute sich, ihm die Wahrheit zu gestehen.

Ein Vogel, dessen Art er nicht benennen konnte, flog vorbei und er beobachtete ihn fasziniert, bis er sich dessen bewusst wurde. Was würden die Nachbarn wohl von ihm halten, wenn sie ihn so sahen? Hatten sie überhaupt Nachbarn? Bisher hatte Jesse noch keine gesehen, aber andererseits war dies auch kein Wunder, wenn er den halben Tag auf irgendeiner Couch lag und schlief.

Wie auch immer...

Jesse schüttelte seinen schwirrenden Kopf und trat zurück in das Haus. Automatisch führten ihn seine Schritte in das Wohnzimmer, dem zentralen Punkt dieses Hauses, in dem sich alle trafen, es sei denn, April deckte gerade den Abendbrottisch. Im Moment saß die junge Frau aber im Garten und werkelte an irgendeiner Apparatur herum. Jesse konnte sie durch die offene Verandatür sehen. Bis auf Colt, der noch immer halb bewusstlos in seinem Zimmer lag, war niemand zu Hause. Fireball hatte gesagt, dass er Johnny von der Schule abholen wollte und Saber hatte Jesse heute noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Er vermutete, dass der junge Mann auf Arbeit war, fragte aber nicht weiter nach, denn die Hälfte der Antworten, die er erhielt, verstand er sowieso nicht.

Jesse lehnte sich gegen die offene Verandatür und beobachtete die junge Frau schweigend. Sie hatte ihre Haare zurückgebunden und sich einen roten Overall übergezogen, der schon mehrere Flecke aufwies. Ihre Hände waren bis zu den Ellenbogen ebenfalls beschmutzt und entschlossen schwenkte sie einen Schraubenschlüssel oder so etwas ähnliches durch die Luft. Als das Gerät nicht so zu arbeiten schien, wie sie das wollte, machte sie ein ärgerliches Geräusch, das fast wie ein Knurren klang, und schlug schließlich mit der kleinen Stange auf die kaputte Apparatur ein. Jesse musste leise lachen ob ihres Anblickes.

"Hi Jesse. Ist Claire schon gegangen?" fragte April, die sein Lachen gehört hatte und schließlich von ihrem Opfer aufblickte.

"Ja. Aber vielleicht kommt sie ja zum Essen wieder." Erwiderte Jesse noch immer kichernd und kam langsam zu ihr hinüber.

"Kann sie gerne machen, es ist immer genügend da. Was hat sie gesagt?" April wischte abwesend ihre Hände an ihrer Overallhose ab und blickte zu ihm empor. Die untergehenden Sonnen schienen golden und Aprils Haare begannen regelrecht zu leuchten. Jesse starrte sie für einen Moment an, bevor er sich dann vor ihr in das trockene Gras setzte. Es war ebenfalls künstlich und Menschen, die in Yuma City aufgewachsenen waren, kannten Begriffe wie Tau nur aus Gedichten und alten Büchern.

"Dass alles in Ordnung ist. Nun ja, soweit es meinen Körper betrifft." Jesse griff in die Apparatur vor sich und holte ein kleines Stück hervor, das lose war. Zweifelnd betrachtete er es von allen Seiten. "Ich hab zwar keine Ahnung, was das ist, aber es sollte eigentlich nicht so leicht entfernbar sein, oder?"

"Nein. Außerdem ist es absolut verdreckt! Kein Wunder, wir haben es auch seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt." Seufzte die junge Frau und eh sich Jesse versehen konnte, hatte sie ihm ein nicht mehr sauberes Tuch in die andere Hand gedrückt. "Putz einfach den Dreck runter, während ich den weiteren Schaden begutachte." Hätte April vor einer Woche noch ganz andere Sachen zu Jesse gesagt, so kam es ihr seit ihrem gemeinsamen Einkaufsbummel nicht mehr seltsam oder gar fremd vor, den jungen Mann in ihre Arbeit einzuspannen. Ja, Hobbys verbanden. "Versuch aber, dich nicht selbst schmutzig zu machen."

"Okay."

Sie arbeiteten eine Weile schweigend und das Licht der Veranda ging automatisch an, als die Dunkelheit zunahm. Es reichte aus, um weiterhin zu sehen, was sie taten, ließ aber zur gleichen Zeit zu, dass man die ersten Sterne am Firmament sehen konnte. Jesse hielt in seiner Aufgabe inne und blickte hinauf in den Himmel.

"Ich kann mich nicht daran erinnern, sie jemals so klar gesehen zu haben." Flüsterte der junge Mann schließlich. "Und damit meine ich nicht meine Amnesie. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass es dort, wo ich sonst bin, nicht so viele Sterne gibt. Oder es ist dort einfach nur sehr dunkel."

"Wenn du diese paar Glühbirnen hier magst, wirst du den Ausblick von der Erde aus lieben, Jesse." Grinste April nach einigen Augenblicken betretenen Schweigens und klopfte erneut energisch auf dem Gerät herum. Es schien ihr noch immer nicht zu gehorchen, obwohl sie bereits erste Fortschritte zu verzeichnen hatte: Einige Lampen blinkten kurz auf, zeigten, dass noch Leben in dem Blechhaufen war.

"Erde?" Erstaunt wandte Jesse seinen Blick von den Sternen ab, aber er erhielt keine Antwort, weil eine noch extrem schwankende Gestalt die Verandastufen herabgeschlittert kam, sie kurz betrachtete, grunzte und sich letzten Endes wenig graziös ins Gras sinken ließ. Etwa drei Meter neben ihnen blieb Colt liegen und streckte seine Arme aus, so als würde er auf dem Boden nach Halt in einer sich zu schnell drehenden Welt suchen.

"Es ist schon dunkel?" murmelte der junge Texaner und schloss gequält seine Augen, als das Karussell nicht anhalten wollte. "Wann gibt's denn Abendbrot? Wo sind die anderen?"

"Fireball holt deinen Bruder ab und Saber ist noch mal ins Kavallerieoberkommando gefahren." Kicherte April, als sie den verkaterten Teamkollegen hörte. Sie hatte nicht weiter aufgesehen, sondern eifrig an dem Gerät weitergeschraubt. Dann nahm sie Jesse das mittlerweile gesäuberte Teil wieder ab und es verschwand im Inneren der Apparatur. "Hast du wirklich Hunger, Colt? Soll ich dir ein richtig saftiges Steak machen?"

Colt, der normalerweise für ein echt amerikanisches Steak tötete und in anderen irdischen Ländern, besonders Japan mit seiner Reiskultur, Höllenqualen litt, verzog jetzt angewidert sein grünlich wirkendes Gesicht. Allein der Gedanke an Essen ließ seinen Magen Achterbahn fahren.

"Ich brauch doch nichts." Brachte er hervor und es schien, als müsse er sich sehr beherrschen, um nicht erneut den Porzellangott anzubeten. "Aber Johnny wird hungrig sein, es war ein langer Schultag. Sag nicht, dass du heute grillen willst, das dauert doch ewig!"

"Nö, heute wird nicht gegrillt." April strahlte, als sie erneut gegen das Gerät klopfte und die Lampen nun zum Leben erweckt wurden, nicht mehr erloschen.

"Vermutlich sollte ich das nicht fragen, weil ich das sowieso nicht begreifen werde, aber warum reparierst du dann den Grill?" Colt holte tief Luft, aber er schien eher seinen kreisenden Magen als seine Nerven beruhigen zu wollen. "Und sag mir bitte nicht, dass Fireball seine komischen Kois zum Abendbrot rösten will. Japanischer Fisch ist soooo ekelig." Der Cowboy würgte, konnte sich aber zum Glück gerade noch zurück halten, aufzustehen und zum nächsten Klo zu wanken.

Der Gedanke an japanisches Essen konnte aber auch ein Brechmittel sein!

"Kois sind Zierfische, du Kuhhirte." Imitierte April kichernd Fireballs Stimme und hob wissend ihren Zeigefinger. "Die grillt man nicht, die steckt man in ein Zierglas und betet sie an." Nun musste sie laut lachen.

"Ja, ja, mach dich nur lustig. Gerade du, reparierst das Teufelsteil ohne Grund." Murrte der verkaterte Texaner und legte sich einen Arm über die Augen, um das grelle Licht der Veranda auszuschließen.

"Natürlich hab ich einen Grund. Immerhin wollen wir doch etwas Gutes zu Essen zu Johnnys Geburtstag haben." April wischte ihre dreckigen Hände an der Hose ab und begutachtete ihr Werk voller Stolz. Sie drehte sich nicht zu Colt um, als sie ihren nächsten Satz formulierte. "Grillen macht doch beim Campen besonders viel Spaß."

"Campen?" fragten Jesse und Colt wie aus einem Munde, aber während der eine verwirrt blickte, rätselte der andere, ob der Alkohol ihm dieses Mal das letzte bisschen Verstand geraubt hatte.

"Oui! Campen. In den Highlands."

Während April dazu über ging, Jesse zu erklären, was sich hinter diesem einen harmlos klingenden Wort verbarg, entschloss sich Colt, dass er noch viel zu betrunken war, um klar zu denken. April hatte sicherlich nicht gerade gesagt, was er gehört hatte. Vermutlich hatten seine Ohren dieses Mal ebenfalls Schaden genommen, nicht nur seine Leber, wie ihm das Saber in seinen berühmt-berüchtigten Anti-Alkoholpredigten immer weis machen wollte. Mit Sicherheit hatte die junge Französin gerade nicht gesagt, dass sie zu Johnnys Geburtstag, dem Todestag seiner Eltern, in den Highlands campen und dabei grillen würden.

Oder doch?

Colt drehte sich zur Seite und unterdrückte einen weiteren Brechreiz.

Nein, bestimmt nicht!

Zusammen mit Jesse Blue. Lächerlich.

Der junge Texaner schloss seine Augen und wünschte sich, dass er letzten Nacht nicht so tief ins Glas geschaut hätte.

Campen. In den Highlands. An Johnnys Geburtstag. An dem Staatstrauertag der Wilcox'. Mit Jesse Blue. Pah!

Niemals!
 

***



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Bluey
2005-01-13T12:31:40+00:00 13.01.2005 13:31
ich bin total begeistert von deiner FF und deinem Stil zu schreiben. Da will man immer mehr und mehr und mehr...!
Schreib bitte schnell weiter.
Sunny
Von: abgemeldet
2005-01-12T21:17:36+00:00 12.01.2005 22:17
ich find deine ff echt klasse, schreib bitte ganz schnell weiter *sich schon drauf freu* ^^

*wink* babybell


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