Einziges Kapitel
Dear Brother,
Ich möchte mein Leben hier beenden, wo es angefangen hat. Ich habe mir immer eingeredet, dass alles
wieder besser wird, doch das habe ich vor zwei Wochen aufgegeben. Die Leere zerfrisst mich von innen
heraus, beim Herz angefangen. Die Trauer und der Hass nagen an mir. Hass auf dich. Möchtest du
wissen, wieso ich mich töten werde? Es ist wegen dir! Ich habe dich immer geliebt, du wusstest es. Doch
du fandest meine Gefühle dir gegenüber ekelhaft und bescheuert. Ich habe mich oft gefragt, wieso du
so dachtest.... Hat Gott nicht gesagt: "Liebe deinen nächsten so wie dich selbst"? Ich glaube nicht an
Gott, aber ich weis, dass du es tust.
Du warst mir schon seit Mutter gestorben ist und Vater uns verlassen hat am nächsten. Kannst du dich
noch erinnern? Vater hatte Mutter umgebracht und ist danach abgehauen. Sie haben uns alleine
gelassen. Wir hatten nur noch uns gegenseitig. Wir waren damals erst 11 Jahre. Zum Glück hat Vater in
der Eile ganz vergessen die Geldtasche von Mutter mitzunehmen, in der sich noch ihre Kreditkarte
befand. Wir wussten ihren Code und konnten uns so Geld abheben. Wir lebten alleine in unserer
Wohnung.
Jetzt liege ich im Krankenhaus in Wels. Hier wo mich Mutter zur Welt gebracht hatte vor fast 16 Jahren.
Ich wurde eingeliefert, weil ich mir die Halsschlagader aufgeschnitten hatte. Leider nicht tief genug...
Du hast mich gefunden und du hast mich auch ins Krankenhaus gebracht. Ich wünschte ich wäre
verblutet, aber du wolltest mich nicht erlösen. Ich hole mein Taschenmesser aus der Hosentasche, öffne
es. Die silberne, scharfe Klinge blitzt gefährlich. Ich trage das Messer immer bei mir. Es hat mir schon
so oft geholfen.
Ich habe damit die Dornen von dem Rosenbusch in unserem Garten abgeschnitten, weil ich nicht wollte,
dass du dich stichst.
Ich habe damit unserer Katze die Schnurrhaare abgeschnitten, weil sie dich stark gebissen hatte.
Ich habe damit unsere Mitschüler attackiert, weil sie dich verprügelt hatten.
Ich habe damit unseren Onkel getötet, weil er dich vergewaltigt hatte.
Ja, ich habe es schon sehr lange...
Und nun soll mir das Messer noch ein letztes Mal helfen. Es soll mich von dieser entsetzlichen Welt
befreien. Ich halte mir die Klinge an den Hals, dort wo ein langer roter Schnitt meine Halsschlagader
markiert. Langsam setze ich sie an. Diesmal werde ich keinen Fehler machen, diesmal nicht. So fest es
mir mit meiner zitternden Hand möglich ist, drücke ich mir das Messer in den Hals. Dunkelrotes Blut
fließt hinunter, verfärbt mein weißes Hemd und die Bettdecke.
Die Türe geht auf. Du! Du stehst lächelnd im Türrahmen, ach wie ich dieses Lächeln liebe. Als du mich
ansiehst, verändert sich dein Blick schlagartig. Ist das Entsetzen in deinen Augen? Angst? Hast du Angst
um mich? Na und, es ist mir egal. Diesmal kannst du es nicht mehr verhindern. Ich spüre, wie mir
schwindlig wird. Du läufst auf mich zu, nimmst mein Gesicht in die Hände. >Nein!< Zaghaft kommt
dieses Wort mehrmals aus deiner Kehle, bis deine Stimme ganz versagt. Dein Gesicht ist über meines
gebeugt. Tränen. Sie laufen deine Wangen hinunter, vermischen sich mit meinem Blut. Alles um mich
herum verschwimmt, ich schließe meine Augen. Alles um mich herum verdunkelt sich. Du drückst mir
einen Abschiedskuss auf die Stirn, weißt du wie glücklich mich das macht? Die letzten Worte, die du
noch zustande bringst, bevor ich in deinen Armen sterbe, sind:
"Ich liebe dich auch, Bruder."