In der Nacht des roten Mondes
Der Wind ist ziemlich kalt, aber das macht mir nichts. Ich bin weit weniger Mensch als ihr alle denkt, allen voran du. Was wäre wohl passiert, wenn ich damals in Nagasaki nicht den Kleinen entführt hätte? Wenn ich seiner Erinnerung nicht auf die Sprünge geholfen hätte? Ihr wüsstet nichts von seiner Todesursache, vielleicht würdest du dich mir gegenüber ein BISSCHEN weniger widerspenstig verhalten? Auf jeden Fall hätte ich weit weniger Spaß gehabt bisher!
Ich trete einen Schritt vor, stehe jetzt am Rand des Daches. Es ist dunkel und Tokio liegt wie ein einziges Lichtermeer vor mir. Es ist schön, aber ich bin niemand, der sich von so etwas täuschen lässt. Die Stadt wird untergehen und ich werde eine Rolle bei ihrem Untergang spielen.
Du bist wie diese Stadt. Im Dunkeln offenbart sich deine Schönheit, du wirkst so stark und bist doch zerbrechlicher als irgendjemand sonst. Und ich werde dir zum Verhängnis werden...
Beim Gedanken an den verzweifelten Blick in deinen violetten Augen muss ich lächeln. Du denkst, du weißt viel über mich aber du verstehst nicht einmal die elementarsten Dinge. Nicht einmal dich selbst kennst du wirklich, wie kann ich da erwarten, dass du mich verstehst? Finde erst einmal heraus, warum du so enttäuscht warst, als die anderen uns- oder mich!- vorhin störten. Warum du um jeden Preis meinen Aufenthaltsort rausfinden möchtest. Warum es dich so zu mir hinzieht. Oh ja, ich habe es bemerkt und ich amüsiere mich köstlich darüber. Ob ihr noch in der Lagerhalle seid? Ich verlasse das Hochhausdach und kehre zurück. Zurück zu dem Ort, an dem ich euch noch immer vermute- mit Recht. Ich verberge mich ein wenig im Schatten, trotz meiner hellen Erscheinung ist das eine meiner leichtesten Übungen.
Ihr seid alle noch da, steht zu viert mitten in der riesigen Halle. Immer wieder siehst du dich um, suchst etwas. Suchst JEMANDEN. Suchst mich. Die anderen reden auf dich ein, aber du siehst nicht aus, als hörtest du ihnen zu. "Was ist los?" fragt jemand, der Kleine. Auch er ist schön und eine Sünde wert, aber er hat nicht diese dunkle Ausstrahlung, diese mysteriöse Faszination, die von dir ausgeht und mich in deinen Bann gezogen hat. Er ist nicht mehr als er vorgibt zu sein, nicht mehr als ein hübscher, kleiner, unschuldiger und vielleicht auch naiver Junge. Du hast viele Seiten und niemand, nicht einmal du selbst, kennt sie alle. Nur eine Eigenschaft, einen Charakterzug konnte ich an dir nie entdecken: Hass. Niemanden, nicht einmal mich, kannst du richtig hassen. Du kennst dieses Gefühl nicht und das ist es, was mich am meisten fasziniert. Für mich, der die ganze Welt viel zu oft verflucht hat, ist es unbegreiflich, dass jemand nicht hassen kann. Ich möchte herausfinden, warum das so ist, das habe ich gleich bei unserer ersten Begegnung gemerkt.
"Nichts," sagst du leichthin und zwingst dich zu einem Lächeln. Lügner! Jeder sieht, dass etwas los ist, aber kaum jemand weiß, WAS.
"Wo ist Muraki?" fragst du hilflos. Der Ton, in dem du meinen Namen aussprichst, jagt mir einen Schauder über den Rücken. Ich spüre, längst bin ich dir verfallen. Aber du weißt es nicht und ich werde es dir nicht sagen. Wissen bedeutet Macht, zumindest in diesem Fall. Auch wenn die Vorstellung, dass du Macht über mich hast, einfach lachhaft ist. Du könntest mit einer derartigen Macht gar nicht umgehen. Was würdest du tun? Daran zerbrechen? Oder dich so verändern, dass es keinen Spaß mehr machen würde, mit dir zusammen zu sein? Ich werde es nicht riskieren. Du sollst so bleiben, wie du jetzt bist. Labil, schön, manipulierbar. Und so unglaublich berechenbar.
Die Wolken verschwinden und der Mond taucht auf. Ich muss gehen, der rote Mond will sein Opfer und ich habe schon lang nicht mehr in Blut gebadet. Wir sehen uns nächste Nacht. Bis dahin träum von mir und davon, was ich mit dir anstellen werde...