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Unleashed

Das Bekannte Unbekannte
von

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Prolog

Das Sonnenlicht strömte durch die großzügig angelegten Panoramafenster, als sich Emily in die Stille der Bibliothek zurückzog.

Lächelnd sank sie auf einen Lederstuhl nieder, der vor dem Schreibtisch stand. Ihre Augen glitten zu den deckenhohen Schränken mit den angepassten Leitern.

Die darin befindlichen Sammlungen vergangener Zeiten überstiegen ihr Vorstellungsvermögen.

Auf dem massiven Sekretär lag eine silbergerahmte Lesebrille in einem samtbezogenen Etui. Zusammen mit diversen Unterlagen und den abgelaufenen Exemplaren einer Tageszeitung. Auf einem eingerissenen Block klebten Post-it, die an unerledigte Aufgaben erinnern sollten.

Notizen häuften sich neben Einkaufslisten. Der Computer lief im Ruhe-Modus, die Tastatur hing am Kabel über der Seite des Schreibtisches. Der Bildschirm schwankte beunruhigend.

Die Maus lag neben einem umgeworfenen Glas auf dem blauen Perserteppich. Eine Karaffe hatte ihre bernsteinfarbene Flüssigkeit über Druckerpapier verschüttet. Bleistifte teilten sich mit Füllfederhaltern und Kugelschreibern den vorhandenen Platz auf einem geöffneten Aktenordner.

CDs, Zip-Laufwerke, Floppy-Disketten, Ausdrucke, Berichte, Umschläge und Mappen beschlagnahmten den Rest der freien Oberfläche. Der Mülleimer hatte den Dienst eingestellt. Sein überquellender Inhalt lag auf dem Fußboden verstreut.

Emily liebte die Bibliothek. Hier gab es unendlich viele Bücher. Zu jedem Thema. Überlieferungen, Legenden, Romane. Selbst Wissenschaft.

Alles, was irgendwann einmal geschrieben wurde. In der Luft lag der Geruch von Staub, Papier und Whiskey.

Sie wurde von einer Wärme erfüllt, die sich bis in ihre Zehenspitzen ausbreitete. Wahrscheinlich, weil das Zimmer so viel über den Mann verriet, der ihr niemals ein Vater sein durfte.

Mit geschlossenen Augen kuschelte sich Emily in den Schreibtischstuhl. Sie streckte sich dabei dem lauen Sommerwind entgegen, der durch ihre langen, roten Haare strich.

Sie liebte diese Burg und alle ihre Geheimnisse. Ihr Vater hatte diese Festung vor Jahrhunderten errichten lassen. Er wollte für sie einen Ort erschaffen, an dem sie sicher fühlte, geborgen und beschützt.

Emily mochte die Welt nicht.

Hier zu leben, an diesem Ort, machte sie glücklich. Sie brauchte niemanden. Nur die vielen Bücher und ihre Fantasie.

Sie konnte sich ohnehin nicht daran erinnern, warum er sie allein gelassen hatte. Aber das störte sie nicht.

Irgendwann kam er ganz sicher zurück.

Emily, bitte wach‘ auf.

Blinzelnd hob sie den Kopf, ihre Augen flogen durch den leeren Raum. Was war das für eine Stimme gewesen? Sie setzte ihre nackten Füße auf den Boden, durchquerte das Zimmer und trat in die Eingangshalle.

Hier war niemand. Nur das Ticken der Wanduhr durchbrach die Stille. Sie drehte sich um. Hatte sie sich das nur eingebildet? Da war ein Knacken, ein Rascheln. Emily wandte sich den offen stehenden Eingangstüren zu.

Woher kam das Geräusch? Die Stirn in Falten gelegt, biss sie sich auf die Lippe. Konnte es sein, dass ihr die Isolation langsam zusetzte?

Nein, sie war glücklich. Oder vielleicht doch nicht?

Sie ging weiter, atmete noch einmal tief durch und trat auf den Hof hinaus. Woher kam diese Stimme? Kurz flackerte die Überlegung in ihrem Geist auf, dass sie sich vor den Strahlen der Sonne schützen sollte.

Dann ließ sie ihre Augen zu den Rosensträuchern wandern, wo sie einen Schatten entdeckte.

„Ist das deine Vorstellung von innerem Frieden?“, hörte sie die Silhouette amüsiert fragen. „Ganz allein in dieser riesigen Burg?“

Emily verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Wer sind Sie?“, wollte sie wissen. „Und was wollen Sie von mir?“

„Ich möchte dich nach Hause holen“, kam die Antwort ohne jedes Zögern.

Sie atmete tief durch. „Erweisen Sie mir endlich den gebührenden Respekt und nennen Ihren Namen.“

Der Schatten ließ die Rosensträucher hinter sich und trat ins Licht der Sonne. „Du hast mich aus deinen Gedanken verbannt, Em?“

Er klang gekränkt.

„Nicht Em.“ Sie straffte würdevoll die Schultern. „Emily oder in Ihrem Fall: Miss Lyall.“

Sie neigte den Kopf zur Seite. Vor ihr stand ein schlaksiger, junger Mann mit strohblonden Haaren und braunen Augen, die einen blutroten Schimmer besaßen.

Als er ihr ein Lächeln schenkte, enthüllte er zwei Reihen ebenmäßiger, weißer Zähne. Sie runzelte die Stirn. Kannte sie ihn?

Er kam ihr zumindest vertraut vor. Vertieft durchforstete sie die hintersten Winkel ihres Gedächtnisses. Seine Stimme, seine Statur - selbst sein Geruch war ihr nicht fremd.

Sie ging auf ihn zu und als sie vor ihm stand, legte er die Hand erst an ihre Wange, dann an ihren Hinterkopf.

„Wer sind Sie?“, fragte sie noch einmal.

In seinen feuchten Augen leuchtete Wärme. „Ich habe dich vermisst.“

Sie wusste, dass sie ein derartiges Benehmen nicht tolerieren durfte. Seine Kinderstube ließ jede Höflichkeit missen. Eine Stimme schrie ihr zu, dass sie ihn zurechtweisen sollte.

Aber da war etwas, das sie davon abhielt. Es fühlte sich gleichzeitig fremd und richtig an. Als er sie in seine Arme zog, schien ihr das Herz in der Brust zu zerspringen.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sie hörte etwas bersten, ein Knoten löste sich in ihrer Brust. Natürlich! Sie kannte diese Person. Emily wusste, wer er war. Schluchzend grub sie die Finger in sein Jackett.

Ihre Erinnerungen kehrten zurück.

Es waren Erinnerungen, die sie zum Selbstschutz verschlossen hatte.

„Nick“, schluchzte sie und die ersten Tränen rollten über ihr Gesicht. „Oh mein Gott, Nick. Du hast mir so gefehlt.“

Sie glaubte, sein Lächeln zu spüren. „Gestatten?“, fragte er in einem amüsierten Ton und bevor Emily verstand, hob er sie auf die Arme. „Es wird Zeit. Wir müssen gehen.“

„Was?“

Unter seinen Füßen brach der Boden auf. Helles Licht sammelte sich zu einem Kreis, schoss wie eine Wasserfontäne in die Luft und hüllte sie in einen Schleier aus glitzerndem Staub.

Kreischend klammerte sich Emily an Nick.

Sie verlor den Halt. Eine unsichtbare Kraft riss sie in die Tiefe, einer bodenlosen Nacht entgegen. Zitternd schloss sie die Augen. Emily hatte das Gefühl zu fallen und während sie schwerelos durch die Dunkelheit glitt, begann ihre Welt zu zersplittern.

Kurze Eindrücke in andere Welten taten sich auf. Waren es Dinge, die sie erlebt und vergessen hatte? Sie hörte Geschrei. Der Klang von Metall, das auf Metall traf. Geschärfte Klingen, die sich aneinander festbissen.

Der Geruch von Fäulnis raubte ihr den Atem.

Stimmen streiften ihre Ohren. Jemand rief ihren Namen. Regen, Sonne, Wind. Schießpulver, Feuer, Rauch. Dinge, die zu ihr gehörten. Zu den Personen, die sie geformt hatten.

Ihr ganzes Leben ergoss sich in einem Sekundenbruchteil in ihre Gedanken.

In der nächsten Sekunde war es schon wieder vorbei, abgelöst von anderen Momenten. Gesichter, so schnell, dass sie sie nicht zuordnen konnte. Junge und alte. Aber auch viele, die vor ihrem inneren Auge aufblitzten und sich nie zu verändern schienen.

Sie fiel. Tiefer, immer tiefer.

 

***

 

Erschrocken öffnete Emily die Augen.

Was war das gewesen? Ruckartig setzte sie sich auf, ihr Herz, ihre Atmung raste. Was zum Teufel hatte sie gesehen? Mit beiden Händen fuhr sie sich durchs Gesicht, ein Schluchzen durchbrach die Stille und sie bemerkte überrascht, dass sie weinte.

Aber warum weinte sie eigentlich? Emily fühlte eine Traurigkeit, die sie nicht verstand. Zitternd betrachtete sie ihre nassen Finger, die Tränen wurden zu einem Strom.

Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. In ihrem Kopf und ihrem Körper herrschte Anarchie. Langsam zog sie ihre Beine über die Bettkante. Weißer, fast durchsichtiger Stoff streifte ihre Augen und sie hob die Arme an.

Wer hatte ihr dieses merkwürdige Kleid angezogen?

„Bist du wach?“

Emily wandte ihr Gesicht in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Mit den Armen vor der Brust verschränkt, lehnte ein junger Mann im Rahmen einer steinernen Tür. Seine schlaksige Gestalt steckte in Turnschuhen, einer zerrissenen Hose und einem Hoodie.

Sie kannte ihn. Dieses schmutzig blonde Haar, die braunen Augen, die im Licht der Lampen blutrot schimmerten. Es hatte sich ihr wie eine Fotographie ins Gedächtnis gebrannt.

Blinzelnd strich sie sich erneut durchs Gesicht, doch die Tränen und das Schluchzen wollten nicht enden. Der Mann trat an ihre Seite und setzte sich neben ihr auf das Bett.

„Ich hasse es, dass du jedesmal das Gleiche durchmachst“, hörte sie ihn sagen. Er klang seltsam bekümmert. „Es kommt alles wieder in Ordnung. Bald wirst du dich an alles Erinnern.“

Sie wollte etwas dazu sagen und öffnete den Mund, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Was war nur mit ihr los? Emily wusste, dass sie zum Sprechen ihre Stimmbänder brauchte und das sie es vor langer Zeit gekonnte hatte.

Fast entsetzt fasste sie sich an den Hals, während er mit einem nassen Tuch über ihre Wangen und Augen tupfte. So behutsam, als würde sie ihm unendlich viel bedeuten. Dann zog er etwas aus der Tasche seines Hoodies und setzte es ihr auf die Ohren.

Emily hörte Klavierklänge, die wie sanfte Wellen in ihr hallten. Dieses Lied, sie hatte es schon einmal gehört. Vor einer langen, langen Zeit. Mit geschlossenen Augen sank sie gegen die Schulter des Mannes. Ihr aufgebrachtes Herz begann sich zu beruhigen.

Sie sah eine mittelalterliche Burg inmitten üppigen Grüns, umgeben von Bäumen, Büschen und einem Meer von Blumen.

Der Mann legte den Arm um ihre Gestalt und zog sie noch näher. „Willkommen zurück, Em.“



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