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Safe Zone

von

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Zone 3 - Burnout

Thawat
 

Genervt trat ich gegen eine Mülltonne.

»Er gibt einfach nicht auf!«, rief ich in die Nacht. Alpha und ich hingen an unserer üblichen Straßenecke rum und ich musste meine Wut an irgendetwas auslassen. Es war schon mehr als eine Woche vergangen, wir hatten eine Patrouille ausgeschaltet, doch Cap machte keine Anstalten zu gehen. Normalerweise reichte es und in dieser Zeit gab es schon die ersten Anzeichen. Nichts. Und es machte mich nervös, vor allem wenn ich an die Wette dachte. Ich würde mir bestimmt nicht die Blöße geben, gegen einen Cop zu verlieren. Alpha lehnte an einem Geländer, sah mir beim Abreagieren zu.

»Hat J irgendetwas gesagt?«, wollte er wissen. Es gab einfach von keiner Seite irgendetwas Gutes zu melden. Ich hörte auf und lehnte mich ebenfalls an. Ich musste mir auf die Zähne beißen, um nicht völlig auszurasten.

»Ja, nämlich, dass Cap noch einigermaßen klarkommt. Das kotzt mich an!«

Alpha rieb sich die Hände: »Soll ich ihn zusammenschlagen?«

Es war nicht, als hätte nicht bereits darüber nachgedacht. Schüttelte trotzdem den Kopf: »Nein, Alpha. Das wäre zu einfach. Ich brauche eine neue Strategie. Irgendetwas unverzeihliches, was selbst Cap nicht mehr tolerieren kann«, erwiderte ich. Wenn ich ihn schon nicht mit Arbeit überfordern konnte, musste es anders gehen. Ich legte meinem Kumpel eine Hand auf die Schulter, sah ihn herausfordernd an: »Wann hast du das letzte Mal jemanden entführt?«

Sofort sah ich die Aufregung in seinen Augen aufblitzen: »Viel zu lange her, Tii. Hast du was für mich?«

Wenn man ihn nicht kontrollieren würde, hätte der Bezirk vermutlich ein viel größeres Problem.

»Noch nicht. Sollte Cap in den nächsten Tagen immer noch nicht nachgeben, kannst du dich schon mal drauf einstellen.«

Ich brauchte das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Noch funktionierte es nicht wie ich es wollte.

»Dann hoffe ich den Auftrag zu bekommen, Tii. Was willst du jetzt machen?«

»Ich würde mich gerne abreagieren, aber dafür würden legale Wege nicht ausreichen«, ich biss die Zähne zusammen. »Aber du weißt, dass ich keine Spuren hinterlassen darf.«

Es war frustrierend, aber sobald irgendetwas auf mich zurückfiel, war das Spiel vorbei. Das konnte ich nicht riskieren.

»Sollen wir uns schlagen?«, Alpha hatte die Fäuste schon im Ansatz. Das würde der auch machen. Seufzend drückte ich seine Fäuste runter: »Glaubst du ich will sterben, oder was?«

Ich war vielleicht verrückt, aber nicht so lebensmüde, mich mit ihm auf einen Kampf einzulassen. Dafür hatte ich genug Opfer von ihm gesehen. Er legte mir einen Arm um die Schulter: »Hast du Angst, Boss?«

Lächelnd schüttelte ich ihn ab: »Ich weiß nur, dass ich gegen dich keine Chance habe. Du wirst ja wohl kaum den Boss zusammenschlagen, oder?«

»Nee, aber ich werde ihm zeigen, was wir vorhaben.«

Alpha zog mich mit und ehe ich mich versah, waren wir schon wieder in der Nähe der Polizeistation. Doch diesmal auf der anderen Seite, wo die Parkplätze waren.

»Also?«, mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich ihn an.

»Ich habe mir überlegt, ich lasse meine Jungs ein bisschen zündeln. Cap wird ein, zwei Autos sicherlich nicht vermissen«, wie aufs Stichwort zündete er sich eine Zigarette an.

»Was sagst du, Boss?«

»Verdammt, Alpha. Du bist echt eiskalt. Eine sehr gute Idee, das wird Cap eine Weile beschäftigen.«
 

Niran (ein paar Stunden vorher)
 

Vor meiner Schicht wollte ich Nawin im Krankenhaus besuchen. Als ich ins Zimmer kam, saß eine schwangere Frau an seinem Bett. Er stellte sie mir als seine Ehefrau vor, dann setzte ich mich auch zu ihm ans Bett. Die Hälfte des Zimmers sah aus wie eine Gärtnerei, da hatte ihm wohl nicht nur das Revier Blumen geschenkt. Seine hochschwangere Frau war für ihn ein deutlich schlechter Zeitpunkt, verletzt zu werden.

»Nawin, wie geht es dir?«, fragte ich.

»Cap, solltest du nicht schlafen? Ich freue mich, dass du trotz eures Workloads vorbeischaust.«

Leider hatte er Recht, denn die Schichten waren einfach nicht mehr dieselben. Die Beschwerden und Fälle häuften sich, ich tat mich fast schwer damit, zur Station zu kommen. Wir konnten kaum Pausen machen, geschweige denn einen pünktlichen Feierabend. Seit Tagen hatte ich kaum geschlafen, musste immer wieder gegen die Müdigkeit ankämpfen. Manchmal musste ich einfach bleiben, weil wir die Arbeit sonst nicht schafften. Der Bezirksleiter hatte zwar die Freigabe für die Aufstockung bekommen, aber noch fand sich niemand, der bei uns arbeiten wollte. Kein Wunder, selbst ich hatte mich schon bei dem Gedanken erwischt, aufzugeben.

»Klar nehme ich mir Zeit für meine Leute.«

»Das ist lieb. Ich habe zwar noch Schmerzen, aber es ist auszuhalten. Ich beeile mich, schnell wieder einsatzbereit zu werden«, er salutierte und ich musste sogar lachen. Einfach eine gute Seele.

»Aber dann bist du hoffentlich noch da, oder Cap?«

Was sollte ich schon sagen? Ich wollte nicht ständig lügen, so würden wir nie Vertrauen im Team aufbauen können.

»Ich hoffe es sehr, versprechen kann ich aber nichts.«

Ich wollte uns damit aber nicht die Stimmung verderben, daher wandte ich mich an seine Frau: »Wann ist es so weit?«

Liebevoll strich sie sich über den Bauch. Ihre schwarzen Haare waren so lang, dass sie darauf fielen.

»In einem Monat ungefähr. Wir sind schon sehr aufgeregt.«

Es war eine willkommene Abwechslung für mich, darüber zu sprechen und vor allem zu sehen, wie sie sich freuten. Ab und zu eine gute Nachricht würde mir jetzt guttun.

»Euer erstes Kind?«, fragte ich. Beide nickten. Ich selbst hatte keine Erfahrung damit, konnte mir jedoch vorstellen, dass es aufregend war, das erste Mal Eltern zu werden. Meine Schwester hatte ein Kind, sie wusste das sicher besser.

»Ich wünsche euch alles Gute. Und du Nawin, konzentrierst dich auf deine Genesung und deine Familie.«

»Roger, Cap. Kann ich dich kurz allein sprechen?«

Seine Frau verstand und verließ den Raum. In mir kamen die Sorgen direkt wieder hoch. Was konnte wichtig genug sein, dass sie es nicht hören sollte?

»Was ist los?«, ich legte die Stirn in Falten.

»Jira ist mit mir ins Krankenhaus gefahren und ich finde ihn seltsam. Klar, er ist neu, das hat er mir auch erzählt. Aber er hat sehr viele Fragen über dich gestellt, Cap.«

Zunächst fand ich das nicht allzu ungewöhnlich, dass man etwas über seinen Vorgesetzten wissen wollte. Obwohl Nawin sicherlich nicht die beste Quelle war, um über mich Auskunft zu geben.

»Was soll daran seltsam sein?«

Nawin legte seinen Hände in den Schoß: »Diese Fragen, Cap. Über deine Familie. Wo deine Eltern wohnen und solche Dinge. Für mich sind das keine Dinge, die man über seinen Chef wissen muss.«

Ich beschloss es im Hinterkopf zu behalten, doch zunächst reichte es mir, es als reine Neugier abzutun. Solche Leute gab es immerhin auch.

»Okay, verstehe. Es ist gut, dass du mich informiert hast. Aber gehen wir erst mal davon aus, dass Jira einfach sehr neugierig ist.«
 

Ich verließ das Krankenhaus, um zu versuchen, bis zu meiner Schicht noch ein bisschen zu schlafen. Viele Dinge gingen mir durch den Kopf. Die Gedanken hörten überhaupt nicht mehr auf zu kreisen. Draußen empfing mich schönes Wetter mit wolkenlosem Himmel. Bevor ich jedoch die Treppen hinunterging, sah ich mich um. Weit und breit kein Anzeichen von Thawat. Wenigstens würde mir sein Anblick dann einmal am Tag erspart bleiben. Ich ging in Richtung der Bushaltestelle, versuchte die Ruhe zu genießen. Doch beim nächsten Schritt musste ich stehenbleiben. Plötzlich begann sich alles zu drehen. Ich schaffte es, mich an einem nahegelegenen Geländer festzuhalten. Dadurch fiel ich nicht um und nach einem Moment war es wieder vorbei. Ich schüttelte mich und setzte meinen Weg fort. Der Letzte, der jetzt ausfallen konnte, war ich selbst.
 

Schon als ich auf dem Revier ankam, herrschte heilloses Durcheinander. Ständig klingelte ein Telefon, an unserem Empfang waren auch ein paar Leute. Bevor ich mich selbst ins Chaos stürzte, verschwand ich in unserer Umkleide. Dort schloss ich kurz die Augen. Ein stechender Schmerz fuhr mir in den Kopf. Manchmal wünschte ich, man könnte sowas einfach abstellen. Ich trank noch einen Schluck Wasser, atmete tief durch und ging dann ins Büro. Die Patrouille hatte ich vorerst abgezogen, daher waren wir gerade zu fünft. Ich ging kurz zu jedem, um mich briefen zu lassen. Bei Thida waren es Vandalismus und Einbrüche. Bei Cho saß jemand, der verprügelt wurde. Jira bearbeitete Diebstähle und Sachbeschädigungen. Fah versuchte einigermaßen den Empfang zusammenzuhalten. Dort wurde dringend Hilfe gebraucht, also beschloss ich das zuerst in den Griff zu bekommen. Mehr als zehn Leute hatten sich in unserem kleinen Vorraum versammelt. Ich trat durch die gesicherte Tür, sofort schlug mir der Lärm in doppelter Lautstärke entgegen. Einige der Leute wollten auch auf mich zueilen. Ich streckte meine Arme aus, um sie von mir fernzuhalten.

»Hören Sie mir bitte zu!«, ich hob meine Stimme, um die Aufmerksamkeit von allen zu bekommen. Es wurde still. Na bitte.

»Wir haben den Bezirk in vier Bereiche eingeteilt. Sie sagen meiner Kollegin, wo Sie wohnen und werden dann einem der Bereiche zugewiesen. Dann können sie gerne Ihr Anliegen vortragen. Ich würde Sie bitten, dies geordnet zu tun. Nehmen Sie bitte Rücksicht auf die Kollegen, wir sind aktuell etwas unterbesetzt.«

Meine Worte schienen zu wirken, denn es kehrte etwas Ordnung ein. Manchmal musste man eben ein Machtwort sprechen. Als Schichtleiter wurde man wohl eher ernstgenommen. Fah sah mich dankbar an, konnte wieder ihre Arbeit machen. Wenn das so weiter ging, würden wir ein Callcenter mit Warteschleife einrichten müssen. Zu meinen Kopfschmerzen gesellte sich noch ein durchgehender Ton in meinem Ohr, der jedoch schnell wieder verschwand. Die hellen Neonröhren blendeten mich, taten mir in den Augen weh. Wenn ich daran dachte, dass ich vor einer Woche noch eine normale Zeit im 50. Bezirk hatte, wünschte ich es mir wieder zurück. Doch der Bezirksleiter traute mir das zu, die Sache hier in den Griff zu bekommen. Dann durfte ich ihn auch nicht enttäuschen. Zwischen die Gedanken und schmerzhaften Eindrücke mischte sich ein hohes Fiepen. Diesmal stammte es jedoch nicht aus meinem Kopf.
 

Ich kannte dieses Geräusch. Feueralarm! Während die Leute, die gerade noch Zettel ausgefüllt hatten, aus dem Gebäude strömten, lief ich zurück ins Büro.

»Cap! Draußen haben welche eins unserer Autos angezündet!«, rief Thida mir entgegen.

»Alle raus hier!«, befahl ich.

Über Funk forderte ich die Feuerwehr an, während wir das Gebäude verließen. Ich hatte keine Zeit über irgendetwas nachzudenken, musste schnell handeln. Das Feuer sollte nicht die Überhand bekommen. Zwei der Kollegen hatten zwar Feuerlöscher mitgenommen, doch dieser Brand würde sich damit nicht bekämpfen lassen. Vermutlich wurde ein Brandbeschleuniger genutzt, daher breiteten sich die Flammen schnell aus. Ich wies alle an, großflächig Abstand zu nehmen. Der Parkplatz befand sich direkt hinter dem Gebäude, daher machte ich mir Sorgen, er könnte sich ausbreiten. Thida, Cho und Fah waren da, doch Jira nicht. War er nicht mit rausgekommen? Panisch sah ich mich um, doch es war dunkel und ich konnte die Leute kaum auseinanderhalten.

»Wisst ihr wo Jira ist?«, fragte ich die Kollegen, doch sie schüttelten den Kopf. Die Probleme wurden nicht weniger. Bevor ich wieder ins Gebäude lief, gab ich den Befehl, die nahliegenden Gebäude vorsorglich evakuieren zu lassen.

»54. Bezirk an Alle. Wir haben einen Fahrzeugbrand auf unserem Parkplatz. Wir nehmen an, dass es sich um Brandstiftung handelt. Bitte um Verstärkung für die Evakuierung der umliegenden Gebäude. Erste Maßnahmen wurden bereits eingeleitet.«

»Alles klar. Verstärkung ist unterwegs.«

In diesem Moment sah ich in die Flammen und fühlte gar nichts. Meine Augen brannten, doch das war alles. Kein Herzrasen, kein Adrenalin, keine Panik. Mein Körper hatte in einen Modus geschaltet, der keine Emotionen zuließ. Ich funktionierte nur noch. Ohne Weiteres hastete ich ins Büro zurück, wo sich Jira tatsächlich aufhielt. Angesichts der Gefahr sollten wir uns beeilen, doch er stand seelenruhig vor dem Aktenschrank und las in Ordnern. An den Orderrücken konnte ich erkennen, dass es sich um ältere Akten handelte. Meine Akten, die ich extra aus dem anderen Revier mitgebracht hatte. Die Worte von Nawin kamen mir wieder in den Sinn. Offenbar war er sehr neugierig, was meine Person anging. Selbst als er mich sah, machte er keine Anstalten, aufzuhören. Er hatte die Gefahr ausgenutzt, um heimlich in den Akten zu schnüffeln. Für einen Moment sah ich mir die Szene nur an, dann reagierte ich endlich. Lief auf ihn zu, nahm ihm die Akte aus der Hand und zog ihn am Arm aus dem Gebäude. Ganz egal, was er für Dinge vorhatte, zunächst war wichtiger, dass alle in Sicherheit waren. Widerstandlos ließ er sich mit nach draußen ziehen.

Die Feuerwehr war bereits da, es sah aus, als bekämen sie den Brand unter Kontrolle. Mein Team und die Kollegen der Verstärkung sorgten dafür, dass die evakuierten Leute nicht in Panik verfielen. Ich wusste nicht, welches Problem ich als erstes angehen sollte. Dass sie uns fast die Station abgefackelt hatten? Dass Jira sich komisch benahm? Dass wir die wütenden Bürger im Nacken hatten? Wir sahen der Feuerwehr dabei zu, wie sie den Brand löschten. Zwei unserer Autos waren völlig unbrauchbar geworden. Ich sah mich schon die Schadensfälle und Anträge ausfüllen. Sie attackierten uns genau an den Stellen, die am meisten schadeten.

»Team von der 54ten, ihr könnt die Evakuierung beenden«, rief ich und langsam strömten die Leute in ihre Häuser zurück. Ich stand mittendrin, um mich herum Menschen, Blaulicht, Einsatzfahrzeuge, Kollegen von der anderen Station. Alles verschwamm vor meinen Augen, es waren nicht mehr als undeutliche Silhouetten. Als würde es passieren, aber ich wäre nicht dabei. Erst als ein älterer Herr in Uniform vor mir erschien, konnte ich mich wieder fangen. Er stellte sich als Schichtleiter des 53.Bezirks vor. Unsere Nachbarn. Er war etwas größer und breiter gebaut als ich. Ich meinte, die ersten grauen Strähnen in den Haaren auszumachen.

»Captain Niran, nehme ich an«, seine Stimme war angenehm tief. Sie schmerzte nicht in meinem Kopf, so wie alles andere.

»Live und in Farbe. Vielen Dank für die Hilfe bei der Evakuierung«, gab ich zurück.

»Selbstverständlich. Ich bin übrigens Captain Kasem. Wir haben mitbekommen, dass Thawat und seine Leute euch wie immer das Leben schwer machen. Aber sowas wie heute hatten wir schon lange nicht mehr. Ich habe einen Vorschlag für euch. Ihr macht die Station für heute dicht, alle noch aufkommenden Fälle leitet ihr an uns weiter. Das gibt euch Zeit, die Situation zu besprechen und nötige Anträge vorzubereiten. Sobald das geklärt ist, treffen wir uns zu einer Besprechung mit den benachbarten Schichtleitern. Egal was die Teams davon halten, wir können euch hier nicht einfach untergehen lassen.«

Diese Worte hatten eine heilende Wirkung auf mich. Als würde mir jemand einen Rettungsring zuwerfen, kurz bevor ich ertrinken würde. Ich hatte die anderen Bezirke bisher rausgehalten, weil sie ihre eigene Arbeit hatten. Außerdem wären die Teams nicht begeistert, wie Captain Kasem gesagt hatte.

»Ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich bin. Wir können das gerade mehr als gebrauchen.«

Er schüttelte den Kopf: »Brauchst du nicht. Ihr solltet um Hilfe bitten, wenn es nicht anders geht. Ich habe schon mit dem Bezirksleiter gesprochen, er ist damit einverstanden. Macht mal eine Pause.«

Es gab also noch Hoffnung. Das freute mich und ich brachte ein schwaches Lächeln zustande.

»Pass‘ bitte gut auf dich und deine Leute auf, Captain Kasem.«

»Machen wir. Das Gleiche gilt natürlich auch für euch.«
 

Kurz nachdem wir das Büro wieder betreten hatten, schloss ich die vordere Tür ab und druckte einen Zettel aus. Dort stand, dass die Station dienstlich für einen Tag geschlossen werden musste und sich alle bitte an die 53. Station wenden sollten. Ich nahm mir einen kurzen Moment, um durchzuatmen. Die Arbeit war nicht vorbei, aber zumindest würde uns das Chaos für ein paar Stunden erspart bleiben. Ich bat alle in den Konferenzraum, die Sache mit Jira weiterhin im Hinterkopf. Wir setzten uns und es war totenstill. Eine angenehme Stille, die wir alle in diesem Moment brauchten. Als ich jedoch herunterfuhr, kam meine Müdigkeit mit voller Wucht zurück. Denn nur weil wir die Station geschlossen hatten, hieß das nicht, dass wir nicht trotzdem bis 6 Uhr arbeiten mussten. Minutenlang schwiegen wir. Ich sah in die Gesichter meines Teams, versuchte ihre Stimmung einzufangen. Außer Erschöpfung konnte ich jedoch nicht viel erkennen. Gerade Fahs tiefe Augenringe sprachen Bände.

»Wir haben die Erlaubnis erhalten, die Station für einen Tag zu schließen, richtig?«, brach sie das Schweigen.

»Genau.«

Erleichtertes Aufseufzen erfüllte den Raum. Ich konnte das nachvollziehen, denn so ging es mir auch, als ich davon gehört hatte.

»Und was ist mit den Fällen? Die werden wohl kaum aufhören«, fragte sie weiter. Fah ließ sich in ihren Stuhl sinken. Ihr genervter Unterton war nicht zu überhören.

»Die 53te übernimmt die vorerst. Wir versuchen hier etwas Ordnung reinzubringen und die Brandstiftung aufzuklären«, ich musste aufpassen, überhaupt noch sinnvolle Worte rauszubekommen.

»Ich weiß, wir haben noch einiges zu tun. Aber können wir wenigstens eine kurze Pause machen, Cap?«, bat Cho leise. Nicht nur sein flehender Blick ruhte auf mir. Auch die Anderen sahen mich erwartungsvoll an.

Ich nickte: »Klar, ich gebe euch eine Stunde, macht was ihr wollt. Bestellt euch etwas zu Essen oder schlaft ein bisschen. Nur Jira, mit dir möchte ich kurz sprechen.«

Sie verließen den Raum, Cho klopfte mir anerkennend auf die Schulter.

»Danke, Cap. Aber du solltest vielleicht auch mal Pause machen.«

»Später, Cho.«

Das Team brauchte diese Pause mehr als dringend. Wenn sie zusammenbrachen, nützten sie mir auch nichts mehr. Jira blieb, er sah ziemlich entspannt aus. Wenn der Chef mit mir sprechen wollen würde, wäre ich das nicht. Er lehnte in seinem Stuhl, sah mich nicht an.

»Jira, was hat es damit auf sich, dass dich meine Akten interessieren? Du bist dir bewusst, dass ihr das Büro verlassen solltet? Dass es ein Befehl war?«, fragte ich und mein Ton war schärfer als beabsichtigt. Er mied meinen Blick weiterhin, machte mit seinen verschränkten Armen einen desinteressierten Eindruck auf mich.

»Ich kann das natürlich auch dem Bezirksleiter melden, wenn dir das lieber ist.«

Statt sich einsichtig zu zeigen, setzte er ein Grinsen auf: »Mit welcher Begründung? Dass ich Akten gelesen habe?«

An diesem Punkt musste ich mich zusammenreißen, nicht laut aufzuseufzen. Ich war weder in der Stimmung noch in der Verfassung ein angemessenes, dienstliches Gespräch zu führen. Kurz atmete ich aus, dann begann ich noch einmal: »Jira, wie du weißt, sind wir gerade in einer schwierigen Situation. Da muss ich jedem von euch hundert Prozent vertrauen können.«

Natürlich könnte man es als Neugier abtun, aber zusammen mit Nawins Worten, war es für mich ein berechtigter Verdacht. Auch wenn ich mir nicht erlauben konnte, jemanden zu verlieren. Jira schüttelte verächtlich den Kopf: »Nur deswegen vertraust du mir nicht?«

Ich gestand mir selbst ein, dass ich es nicht besonders gut angegangen war. Zumindest hatte ich es angesprochen, das war ein erster, wichtiger Schritt.

»Sieh‘ es als erste Warnung an, Jira. Mal abgesehen von den Akten war es auch ziemlich gefährlich, im Gebäude zu bleiben. Ich möchte, dass du nächstes Mal meinen Anweisungen Folge leistest.«

Jira antwortete mir nicht und ich sah auch keinen Sinn darin, weiter mit ihm zu sprechen. Ich konnte ihn im Auge behalten, war mir aber nicht sicher, ob ich aktuell überhaupt die Zeit haben würde.
 

Nach drei Stunden konnten wir endlich den Feierabend einläuten. Ich hatte die Schadensmeldung und die Neubeantragung für Dienstfahrzeuge noch geschafft. Denn je weniger wir schafften, desto mehr musste die Tagschicht übernehmen. Es war ein Teufelskreis. Auch heute würde die Station noch bis zur Nachtschicht geschlossen bleiben. Wir standen am Empfang und übergaben der Tagschicht die Büroaufgaben und die Fälle, die die 53te für uns abgefangen hatte.

Ich war nur froh, als ich die Station hinter mir lassen konnte. Meine Gedanken ließen sich nicht einmal in diesem Moment abschalten. Der Weg zur Wohnung zog sich hin, meine Füße fühlten sich an wie Blei. Mit der letzten Konzentration, die ich noch hatte, schleppte ich mich dorthin. Wo mich gleich die nächste Überraschung erwartete. Thawat lehnte neben meiner Haustür. Der letzte Mensch, dem ich in meinem Zustand begegnen wollte. Ich hätte ihm nichts entgegenzusetzen. Vielleicht bildete ich mir ihn aber auch nur ein. Fahrig kramte ich den Haustürschlüssel aus meiner Tasche. Ich war jedoch zu hektisch und er fiel mir vor die Füße. Als ich mich runterbeugen wollte, um ihn aufzuheben, fuhr mir ein Blitz durch den Kopf. Keine schnellen Bewegungen, alles klar. Ich musste mich beeilen, meine Haustür war doch direkt vor mir. Langsam richtete ich mich wieder auf, merkte dabei, wie mich die letzten Kräfte verließen.

Bitte nicht hier und vor allem nicht jetzt! Mein Körper hörte jedoch nicht mehr auf mich, ich merkte nur noch, wie ich nach hinten fiel.
 

Thawat
 

Als Cap fiel, machte ich aus Reflex einen Schritt zur Seite, um ihn aufzufangen. Ich wollte eigentlich nur wissen, ob er schon bereit war aufzugeben, nachdem wir ordentlich Chaos gestiftet hatten. Es hatte gereicht, um mich einigermaßen abzureagieren.

Das war also schon seine Grenze? Dabei waren meine Leute doch noch zu ganz anderen Sachen fähig. Cap war schwerer als ich dachte und ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Meine Gedanken begannen zu rasen. Wenn mich so jemand sah, würden die doch direkt denken, ich hätte ihn umgebracht. Ich sah mich um, es war zum Glück noch früh, also waren kaum Leute unterwegs.

»Cap?«, versuche ich ihn anzusprechen, doch er reagierte nicht. Ich schüttelte ihn, auch keine Reaktion. Ich könnte ihm auch einfach seinem Schicksal überlassen.

Was wäre, wenn ich ihn einfach vor seiner Tür liegen ließ? Würden ihn dann die Nachbarn bemerken oder würde er sterben? Ich sah Cap an, dunkle Augenringe zeichneten sich ab, seine schwarzen Haare standen wild in alle Richtungen ab. Zumindest schien er noch zu atmen. Dieser Anblick löste etwas in mir aus, doch ich sträubte mich dagegen. Wieso sollte ich ihn bemitleiden? Es war doch genau mein Ziel gewesen, ihn in diese Situation zu bringen. Wieso war ich nicht glücklich darüber?
 

Ewig konnte ich aber hier auch nicht so stehen bleiben. Niemand durfte mich so sehen oder jemals davon erfahren. Daher blieb mir nichts anderes übrig. Ich legte Cap ab, sodass er an der Wand gegenüber lehnte. Ich hob den Schlüssel auf und schloss die Tür auf. Für einen kurzen Moment hielt ich inne. Was zum Henker tat ich hier eigentlich? Wieso war es mir nicht egal, wenn er hier liegen würde?

Ich versuchte all diese komischen Gedanken loszuwerden. Jetzt musste ich es nur noch schaffen, ihn irgendwie in diese Wohnung zu kriegen. Ich rastete die Tür ein, griff Cap unter die Arme und schliff ihn in seine Wohnung. Menschen waren ziemlich schwer, vor allem wenn sie selbst nicht mithalfen. Fast wie eine Leiche. Erst als ich die Tür löste und sie ins Schloss fiel, konnte ich erleichtert aufatmen.

Cap war mir komplett ausgeliefert, ich könnte alles machen. Seinen Ruf ruinieren, ihn entführen, ihm etwas anhängen oder unterjubeln. Etwas machen, was hundertprozentig seine Karriere ruinieren würde. Game Over. Die Wette hätte ich gewonnen und der Bezirk würde einen neuen Schichtleiter bekommen. Alles wieder auf Anfang. Doch bisher hatte es niemand so lange ausgehalten wie er. Dieses Spiel wollte ich gewinnen, aber wenn Cap dabei zusehen konnte, dass alles unter ihm zusammenbrach.

Ich schliff ihn weiter zu einer Matratze, die in der Ecke des großen Zimmers lag. Dort legte ich ihn ab. Also das Minimalismus zu nennen, wäre untertrieben. Ich schaltete das Licht ein, sah mich um. Die Wohnung war erstaunlich kalt, erinnerte mich an meine. Keine Bilder, weiße Wände, kaum etwas persönliches. Sie bestand aus einer Küche, einem Bad und dem Zimmer, was wohl Wohn-und Schlafzimmer war. Doch selbst hier standen nur einer kleiner Tisch und ein Fernseher. Bis auf ein paar weitere Möbel war nichts vorzufinden. Das wunderte mich, denn ich wusste aus den Akten, dass Cap schon länger hier wohnte. Vermutlich lebte er für seine Arbeit, viel Freizeit hatte er ohnehin im Moment nicht. Das einzige Bild, was ich sah, war das von einer Frau und einem Kind. So weit ich wusste, seine Schwester und sein Neffe. Ich schloss die Begutachtung der Wohnung ab, setzte mich neben die Matratze und beobachtete ihn. Es war das erste Mal, dass ich bei einem der Schichtleiter in der Wohnung war. Bei Bewusstsein hätte er das niemals zugelassen. Cap wälzte sich unruhig hin und her, dass zeigte immerhin, dass er noch lebte. Es löste Erleichterung in mir aus, keine Leiche entsorgen zu müssen.

Als Cap die Wette mit mir eingegangen war, wusste ich, dass es diesmal anders werden würde. Keiner der anderen Schichtleiter hätte sich jemals auf so etwas eingelassen. Mal sehen, wie lange du das noch aushältst, Captain.



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