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Nadira

und das Erbe der Finsternis
von

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Gerryl

Der Mond stand in seiner vollen Pracht am dunklen Himmelszelt. Wie Diamanten funkelten die Sterne vom nachtblauen Firmament auf die Welt herab. Keine einzige Wolke verdeckte den Blick auf das Dach ihrer ganz eigenen Welt. Es war fast so, als wollte die Nacht ihr neustes Kind in all ihrer Pracht und stolzem Glanze willkommen heißen. Leise raschelte der Wind durch das Blätterdach über ihren Köpfen und verfing sich in ihren Haaren, lockte sie, spielte mit ihnen, um dann wieder weiterzuziehen in seiner endlosen Freimütigkeit. In nicht weiter Ferne verklang gerade noch der letzte Glockenschlag, der die Geisterstunde hoch über den Dächern verkündete. Vom lauen Wind wurde er über das Meer an Steintafeln hinweg bis an die ausgeprägten Ohren derer getragen, die stumm an einem der Ausläufer des weiträumigen Geländes vor einem frisch ausgehobenen Hügel standen. Dunkel und hünenhaft ragten ihre Silhouetten zwischen den unzähligen Monumenten der Vergänglichkeit hervor, die das angelegte Areal in systematischer Genauigkeit säumten. Dabei eine Lebendigkeit anmutend, die nicht hierher gehörte, wie es schien.
 

„Er lässt sich reichlich Zeit“, wagte der hochgewachsene Blondschopf nach kurzer Zeit einen leisen Tadel.

Sein Augenmerk galt dabei nach wie vor der ziervollen Schrift auf dem hölzernen Kreuz ihm gegenüber.
 

„Cameron Lutrell. Die Menschen werden nie müde, seltsame Namen zu finden“, merkte er an, als der Wind von Neuem auffrischte.
 

Die Blätter bogen sich geräuschvoll über ihnen. Sein Lockruf wurde drängender, insistierender, als er an der langen blonden Mähne der Sitzenden zerrte.

Sie saß auf einer Steinplatte monumentalen Ausmaßes, die das Grab neben dem frisch aufgeschütteten Erdreich bedeckte und zeigte sich teilnahmslos. Einzig ihre schwarzen Lackstiefelspitzen genossen ihre gesamte Aufmerksamkeit, so schien es.

Dem Blondhaarigen entwich ein Seufzen, als er zu ihr sah. Sie langweilte sich. Klar, für sie war das ebenso wenig aufregend und neu, wie für ihn. Doch musste sie das so offensichtlich zur Schau stellen?

Sein mystisch helles Blau wanderte neben sich zur seiner Rechten. Dorthin, wo die eigentliche Hauptperson des heutigen Abends aufgeregt mit ihren langen Fingern auf ihren Oberarmen tippelte. Unruhig trat sie dabei von einem Fuß auf den Anderen. Kein Wunder, für sie war es das erste, eigene „Kind.“ Ein spannender Moment in jedem Leben eines Unsterblichen. Der Schritt vom unmündigen Schützling ihres Erschaffers zur eigenständigen Vampirin, die selbst einen Schützling nahm, stand kurz bevor. Und so gesehen auch ein stolzer Moment für ihn, der er sie gewandelt hatte.

Ein spitzbübisches Grinsen huschte bei diesem Gedanken über seine Züge, das den Schalk in seinen gespenstisch blauen Augen hervorblitzen ließ. Wenn man es so besah, wurde er Großvater.
 

„Nun kommt schon. Oder wollt ihr hier etwa schweigend warten, ehe er sich bequemt, aus seinem Grabe zu steigen?“, versuchte er es erneut.
 

Ohne den Blick von dem Mauseloch zu ihren Füßen zu erheben, welches eben diese Art der Wiedergeburt ankündigte, erwiderte die Sitzende ungerührt: „Was willst du denn jetzt besprechen, Franςois? Mir ist zum Sterben langweilig und Kelly ist bei Weitem zu nervös. Wenn dir dieser Friedhof also zu verschwiegen ist, dann musst du hier allein den Unterhalter mimen.“
 

„Dauert das immer so lange?“, warf Kelly da bereits wie zur Bestätigung ein.
 

„Das kann gut und gerne noch ein Weilchen dauern“, erklärte der Ältere geduldig und bemühte sich, aufmunternd seinem bald mündigen Schützling zuzulächeln.

Die angehende Vampirin dankte es ihm im Stillen. Sie zog dabei einzig eine leidvolle Grimasse und drehte eine weitere Runde um den Erdhaufen. Das tat sie nicht zum ersten Mal in der heutigen Nacht und würde es vermutlich auch nicht zum letzten Mal, sollte ihr Auserwählter sich nicht bald an den Aufstieg machen, bemerkte der Älteste im Stillen bei sich.

Franςois beobachtete sie einen Augenblick lang dabei.
 

Das rief Erinnerungen in ihm wach. Und so konnte er nicht widerstehen, und da er sowieso nichts mehr hasste als Schweigen, brach er die Stille: „Weißt du, als ich das erste Mal auf eines meiner `Kinder´wartete, da war ich nicht weniger nervös und ungeduldig wie du jetzt.“
 

Nadira entkam ein herzhaftes Stöhnen. Die alte Leier.

Ihr Bruder beließ dies unbeachtet. Einzig Kelly schenkte ihr einen kurzen Blick, ehe sie sich an ihren Schöpfer wandte: „Ach ja? Wann war das denn so ungefähr, Franςois?“
 

„Das war, glaube ich, 1548 in Ungarn, wenn ich mich recht erinnere. Er hieß Gregor…“
 

„… und hielt nicht Mal ganze fünf Jahre, wenn ich mich recht entsinne, Franςois. Keine gute erste Wahl also“, kommentierte Nadira entnervt.

Kelly machte daraufhin einen verängstigten Eindruck und trat noch hibbeliger als zuvor schon von einem Bein aufs andere.

Der Ältere zog die Augenbrauen missgünstig über seinem Nasenbein zusammen und nahm seine Schwester in seinen Fokus. Konnte sie ihre Launen denn nicht für sich behalten?

Als Kelly dann auch noch damit begann, auf ihrer vollen Unterlippe herumzukauen, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war, lenkte Franςois ein und bemühte sich stattdessen wieder um die angehende Vampir“mutter.“
 

„Keine Sorge, Kelly. Es wird schon alles gut gehen. Wir sind ja da, und unterstützen dich, wo wir können.“
 

Und mit Blick auf seine Schwester, die nach wie vor lieber ihre Stiefelspitzen ins Auge fasste, als ihre Begleiter, fügte er noch hinterher: „Hör einfach nicht auf Nadira, schließlich hat nicht jeder Vampir das zweifelhafte Glück, von seinen Fehlern auf ewig begleitet zu werden.“

Da erst blickte die Angesprochene auf und ihr feuriger Blick traf den Seinen.

Kelly war einen Moment wie erstarrt, konnte sie sich doch ihrer menschlichen Instinkte noch nicht gänzlich erwehren. Dieselben alten Instinkte, die sie nach wie vor noch vor der beängstigenden Spannung warnten, die sich da gerade zusammenbraute und sie zur Flucht anhielten. Einen Augenblick fühlte sie sich zurückversetzt in die Zeit, als sie noch die Beute gewesen war, die jetzt gerade zwischen zwei Jäger geraten war und nicht, wie die Jägerin, die sie nun war. Dann rief sie sich in Erinnerung, wer sie war und die Stärke überwältigte den Anflug von Erinnerung.
 

„Hört endlich auf damit“, ging sie energisch dazwischen, „ihr macht mich noch ganz kirre!“

Einen Moment heimste sie sich damit den verwirrten Blick ihres „Vaters“ ein und trieb sogar Nadiras fein geschwungene Augenbraue zweiflerisch in die Höhe.

Doch da sie dieses Mal keine wirkliche Lust verspürte, den beiden ihren längst nicht mehr aktuellen „Neuzeitjargon“ begreiflich zu machen, überging sie das einfach. Sie würden es ja doch nur wieder als „neuzeitliche Sonderheit“ abtun, die weit unter ihrer antiquierten Vampirwürde lag, oder hätten es spätestens bis zum nächsten Mal wieder vergessen. Sinnlos und verschwendete Liebesmühe also.

„Macht doch, was ihr wollt“, tat es da bereits Nadira gleichgültig ab.

Sie hatte sich noch darunter bereits in ihrer geschmeidigen, katzenartigen Art und Weise erhoben, die Kelly schon beim ersten Mal, als sie sich begegnet waren, aufgefallen war. Weil sie so vollkommen anders gewesen war, als alles, was die junge Studentin bis dato gekannt hatte. So, wie Nadira in allem anders war, als all das, was sie in ihrem kurzen Menschenleben kennengelernt hatte. Und wieder bewies sie es ihr in ihrer unberechenbaren Launenhaftig- und Gleichgültigkeit, die sie auch dieses Mal wieder nahe an den Rand der Verzweiflung zu bringen drohte. Doch die vertraute Last von Franςois erkalteter Männerhand auf ihrer zarten Schulter behielt sie am Boden und ließ ihre Vernunft über die Empörung siegen. Und so zog Nadira kommentarlos von dannen, und erst, als ihre Gestalt sich mit den Schatten der Nacht vereinigt hatte, entspannte sich Kelly wieder.

Doch dass sie dann die Hand wegschlug, kam für den Älteren doch sehr überraschend. Dennoch hatte er beide Hände abwehrend in die Höhe erhoben und sein versöhnliches Sonntagslächeln bereits lange aufgesetzt, noch ehe sie sich schwungvoll zu ihm umgedreht hatte.
 

Sie ging nicht weiter darauf ein, sondern erklärte sich ihm prompt: „Und du, du bist auch nicht besser.“
 

„Aber, ich hab doch nur…“, begehrte er auf.
 

Da hatte Kelly ihm das Wort bereits abgeschnitten, nach wie vor von ihrem erhitzten Gemüt beherrscht: „Du weißt ganz genau, dass Elena ein wunder Punkt ist. Also, unterlass es das nächste Mal gefälligst, sie daran zu erinnern!“

Zu einer weiteren Erwiderung seitens des Älteren kam es nicht mehr, als Kellys Nervosität schlagartig wieder über sie herfiel, sobald sich das erste Kratzen über das Rauschen des Windes erhoben hatte.
 

Nadira hatte unterdessen schon längst damit begonnen, die Luft nach einer Ablenkung zu filtern, die ihr ihre Langeweile zu vertreiben versprach. Und tatsächlich deutete sich ihr wenig später eine vielversprechende Chance an, die Nacht doch noch unterhaltsamer zu gestalten. Es war nur eine winzige Unstimmigkeit. Viel zu unbedeutend eigentlich, um nicht selbst von dem aufmerksamsten Unwissenden verworfen zu werden. Doch Nadira war alles andere als unwissend. Und so stimmte sie diese eine, einzelne Falte in den Zügen des Fabelwesens nachdenklich, das in Marmor gehauen auf dem Dach scheinbar über ein altes Familiengrab wachte. Seine Flügel und sein drachenähnlicher Rumpf schienen bereits vom Moos befallen. Es passte zu seiner längst aus der Mode gekommenen Gestalt. Und doch war da etwas, was zuvor noch nicht gewesen war. Neugierig kam die Vampirin heran. Ihre blauen Augen leuchteten voller Freude, als sie die eine Falte auf der Stirn des gruseligen Fabelwesens genauer unter die Lupe nahm. Wie der Jäger sich seiner Beute näherte, schlich sie sich in ihrer raubtierhaften Eleganz durch die Stille der Nacht. Sie war noch nicht nahe genug heran, um die einzelne Schweißperle in der Dunkelheit auszumachen, die sich auf den Weg über seine Stirn machte. Doch das war gar nicht nötig. Denn kaum war sie aus den Schatten der Bäume in das Licht ihres Himmelskörpers getreten, begann das eigentlich tote Gestein, Schatten im milchigen Antlitz zu werfen.

Nadiras Muskeln spannten sich voller Vorfreude an. Dann ging alles rasend schnell. Binnen eines Augenblickes fiel das Moos von dem erwachenden Gesteinskoloss ab. Stein wurde weicher und weicher, bis sich schließlich seine rauen Konturen gänzlich geglättet und zu einem matten Asbestgrau gefunden hatten. Flügel und Schwanz waren ebenso gewachsen, wie die Gestalt an sich und flatterten im Gegenwind, als der lebendig gewordene Wasserspeier die Flucht antrat.

Natürlich nahm Nadira mit Freuden die Verfolgung auf, froh um diese willkommene Beschäftigung. Leichtfüßig trabte sie daher über das Meer an Steinen dem Flüchtenden hinterher, der, wie sie genau wusste, immer mehr in rasende Panik verfiel. Sie fand jeden noch so kleinen Hinweis darauf und kostete ihn in vollen Zügen aus. Selbst dass sich ihr auserkorenes Opfer immer weiter an das Haus Gottes herankämpfte, konnte das teuflische Grinsen auf ihren Zügen nicht schmälern. Ganz im Gegenteil spannte die nahende Herausforderung ihre Muskeln in erwartungsvoller Freude. Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte ein klein wenig, um ihr Opfer nicht in falscher Sicherheit zu wiegen.

Einzig von missgünstigen Blicken verfolgt, betrat sie wenig später, nachdem sich die schwere Eichentüre zum ersten Mal quietschend gegen ihre Angeln gedrückt hatte ungehindert das Gotteshaus. Manche lernten eben nie dazu, triumphierte sie in boshafter Freude. Die heilige Stille wog zwar schwer auf ihren Schultern und legte sich erdrückend auf ihre düstere Seele, doch das nahm Nadira billigend in Kauf. Sie hatte längst einen Grund gefunden, der ihr Interesse lebendig hielt. Die Eichentüre war noch dabei sich geräuschvoll hinter ihr in ihr Schloss zuzuschieben, als die Vampirin von einem bedrohlichen Knurren begrüßt wurde, das sich an der hohen, mit Stuck und Wandmalereien einst bunt verzierten Decke brach und von überall widerzuhallen schien.

Instinktiv blieb sie vor den Bankreihen im Eingangsbereich stehen. Ihre Saphire glänzten listig im düsteren Halblicht und trafen alsbald auf zwei goldene Raubtieraugenpaare, die sie genau im Fokus hatten. Sie kamen langsam auf sie zu. Und sie erkannte den Speichel der Jagdfreude, der aus ihren Mäulern auf den steinernen Kirchenboden tropfte.

Rasch suchten ihre Augen die schattenhafte Dunkelheit an den Rändern nach dem ehemaligen Gejagten ab, ihre Angreifer dabei nie aus den Augenwinkeln lassend.
 

„Uh, nette Hundchen, die du dir da angeschafft hast, Gerryl. Ein Geschenk von deinen neuen Finanziers, wie ich annehmen darf?“, brach sich wenig später ihre Stimme fest über das anhaltende Knurren.
 

„Dein Vater hat mich aus seinem Dienst entlassen. Ich bin dir und deiner Art, Nadira, also nichts mehr schuldig. Lass mich in Ruhe!“

Seine Stimme hätte sie unter tausenden wiedererkannt. Wie sie ihr von den Wänden entgegenzitterte und so seine genaue Position verriet. Hatte sie sich also doch nicht geirrt. Ihr Lächeln kehrte zurück, als sie sich wieder auf die neuen vierbeinigen Freunde des ehemaligen väterlichen Lakaien konzentrierte. Sie waren stehen geblieben und warteten auf die Befehle ihres Schützlings. Als Herrn konnte sie den feigen Wasserspeier nicht einmal in ihren Gedanken betiteln.
 

„Schade, wo du mich doch direkt hierher eingeladen hast.“

Ein Pfiff und die zwei „Hündchen“ nahmen ihren Weg wieder auf.

Scheinbar hatte er sie auch nicht vergessen. Erfreulich, lächelte sie in die Schatten.
 

„Du bist keinen Deut intelligenter geworden, Gerryl. Oder hast du den Unterschied zwischen mir und den Untoten vergessen?“, diente als einzige Warnung, ehe sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete und die beiden feindlichen Vierbeiner ins Auge fasste.

All ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Jahrtausende alte Feindbild ihrer Art, als das tiefe Saphirblau allmählich dem väterlichen Karmesinrot wich. Im milchigen Antlitz des Vollmondes, welches durch das zerbrochene Altarfenster der ausgedienten Kathedrale hereinfiel, erhob sich ihr Schatten in ihrem Rücken. Rasch überwand er die wenige Distanz, wuchs über die maroden Bänke hinweg. Wie Rauch verdunkelte er alsbald die mondbeschienen Steinplatten auf seinem Weg bis vor die pelzigen Pfoten und gelangte alsbald bis an die Ausläufer der beiden flankierenden Säulengänge.

Das Knurren stieg ebenfalls an, wurde tiefer und schwoll zu einem ohrenbetäubenden Drohlaut an, der den gesamten Raum einnahm.

Da entfaltete der Schatten seine volle Spannbreite, durchbrach den letzten Winkel an unberührter Dunkelheit und verleibte sie sich erbarmungslos ein. Mit festem Blick aus flammendem Rot, fletschte die Lilithtochter ihre spitzen Eckzähne und stieß einen für Menschen unhörbaren Kreischlaut aus, der auch noch das letzte Glas der Fenster zum Zerbersten brachte und den Wölfen in den Ohren klingelte.

So war es unvermeidlich, dass anders, als von dem Wasserspeier erhofft, das Winseln seiner beiden Leibwächter nur Augenblicke, nachdem die Lungen der Vampirin nach frischer Luft heischten, von seinem Niedergang kündete. Noch während seine Wölfe ergeben vor der Blondgelockten zurückwichen, glitt er wimmernd an der Wand in seinem Rücken auf die Knie. Dort verweilte er, gelähmt von der Angst vor dem, was ihn womöglich erwartete, während Nadiras Stiefel gelassen über den Stein auf ihn zuklackerten.

Ihr Schatten war bereits wieder auf seine normalen Ausmaße geschrumpft und hatte sich gönnerhaft mit den Schatten der Nacht hinter ihr vereint, während in ihren blauen Raubtieraugen nach wie vor das teuflische Rot ihres Vaters lauernd im Hintergrund glühte. Wie ein glimmender Zigarettenstummel, der nur eines einzigen Windhauchs bedurfte, um von Neuem entflammt zu werden.
 

„Wirklich dumm, Gargoyle. Ich würde dir raten, dich das nächste Mal über das Können deiner Leibwächter ausreichend zu informieren. Werwölfe sind ja nicht gerade für ihre Vertrauenswürdigkeit bekannt. Und jetzt lege ich dir nahe, mir zuzuhören. Mir ist nämlich dank deiner kleinen Überraschung die Lust an unserem Spielchen vergangen.“

Gerryl brachte es einzig über sich, zu nicken, während er am ganzen Leib zitterte und aus weit aufgerissenen Augen ängstlich ihrem feurigen Blick entgegensah.
 

„Gut“, sorgte bei ihm nicht für die Erleichterung, die er sich insgeheim immer noch sehnlichst herbeiwünschte.

Denn ihre krallenbesetzte Hand lag nun bedenklich nahe an seiner pulsierenden Halsschlagader. Warum musste sie ihn so quälen? Denn auch wenn seine Haut dicker war als die ihrer üblichen Opfer, so wusste er doch sehr wohl aus dem jahrelangen reichen Erfahrungsschatz mit ihrem Herrn Vater, dass er nicht austesten wollte, wie viel eben dieser seiner Jüngsten an Kraft und Stärke vermacht hatte. Zumal er sehr genau wusste, was Vater und Tochter verband wie niemand anderen ihrer Art.

Also brachte er es einzig zu einem harten Schlucklaut, der sich brüllend an dem hohen Gewölbe brach. Nadira nahm es als Zustimmung – zu mehr war der Angstgargoyle wohl nicht im Stande. Durchaus vielversprechend.
 

„Du kennst die alten Texte besser als so manch einer unserer eigenen Leute. Von daher kannst du mir sicherlich weiterhelfen.“

Es gab kein Entrinnen. Er brachte es doch tatsächlich zu einem Nicken. So heftig, dass sie sich ernsthaft fragte, warum ihm dabei nicht schwindelig wurde. Sie schüttelte den Gedanken allerdings prompt ab, zu drängend war ihre Neugierde, zu groß ihre Wissbegier.
 

„Sag mir also, was weißt du über den letzten Seher, Gerryl?“

Für einen Augenblick schien der Wasserspeier seine Furcht vor ihr gänzlich vergessen zu haben. Ganz so, als wäre sie wie der Vorhang zu Vorstellungsbeginn abrupt von ihm abgefallen, starrte er sie ungeniert fassungslos an.

Sie stieß einen Mix aus einem hellen Keif- und Knurrlaut aus. Wie er wusste, eine ausgewachsene Drohung.
 

Und so zuckte er rasch zurück und senkte den Blick, ehe er stotternd ansetzte: „Nun, ähm… Er ist von eu-euch gerichtet worden: Genauer, Euer Vater hat ihn und die Seinen zum Tode verurteilt, Mistress Nadira. Ihr wart anwesend, wenn auch se-sehr jung…“
 

Weiter kam er nicht in seiner Stotterei, da war das Feuer zurück in ihren Blick gekehrt und schlug ihm wie beißende Flammen entgegen. Sie hatte ihn am Kragen gepackt und hielt das bibbernde Häufchen Elend, das um seine unsterbliche Existenz fürchtete, hoch in die Luft. Es dauerte einen qualvoll langen Moment, ehe die Eckzähne zurück auf Normallänge schrumpften und ihr ruhiges Saphirblau zurückkam.

„Idiot“, fauchte sie ihn nicht wirklich besänftigt an.

„Ich spreche nicht von Helsing!“
 

Da Gerryl nun jedoch so verängstigt war, dass er wie Espenlaub zitterte und einzig noch zu wimmern vermochte, ließ sie ihn alsbald los.

Er plumpste gar nicht sanft auf den harten Steinboden und brauchte eine geraume Weile, um wieder annähernd zur Vernunft zu kommen.

Da setzte Nadira von Neuem an: „Ich sehe, so hat das keinen Sinn. Dann verrate mir stattdessen, was dein scheues Wesen über Gabriels neusten Schützling weiß.“
 

Diesmal beherrschte er sich, sie nicht unverhohlen anzustarren, sondern verfiel stattdessen in nachdenkliches Schweigen. Selbst sein Zittern ließ nach, sehr zum Wohlwollen der Vampirin. Sie interpretierte es als Zeichen dafür, dass er sich ernsthaft um eine Antwort bemühte und so zeigte sie sich geduldig, ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um all die Gerüchte, die ihm zu Ohren gekommen waren, nach dem Gewünschten durchzugehen. Sie wusste, er kam viel rum und war der geborene Spion, mit seiner Kunst sich allerorts und jederzeit in sein steinernes von Menschenhand nachgeformtes Abbild zu verwandeln. Eine Eigenschaft, die auch schon ihr Vater sehr zu schätzen gewusst hatte. Dummerweise nur kannte Furcht keine Loyalität zu der Hand, die sie ernährte.
 

„Es…“, unterbrach sein Stottern dann ihre Gedanken.

Sie lauschte.
 

„… heißt nur, dass er einen neuen Schützling unter den Menschen hat. Aber, ich wu-wusste nicht, dass Ihr bereits im B-bilde seid, Mistress.“
 

Gespannt wartete er auf ihre Reaktion, sich innerlich für so gut wie alles wappnend.

„Das ist alles?“
 

Er nickte hastig.

Nun gewährte sie sich einen Moment des Schweigens. Nachdenklich musterte sie seine elende Erscheinung. Hätte er in den Büchern etwas darüber gefunden, eine Prophezeiung oder Ähnliches, so war er nun nicht mehr im Stande, es ihr zu verschweigen. Selbiges galt für die Gerüchteküche.

„Ich will mehr darüber wissen. Und du, Gerryl, wirst mir dazu verhelfen“, beschloss sie daher rasch.
 

„Hör dich um, such in den vergessenen Bibliotheken…“
 

„… Aber, die sind…“
 

„Unterbrich mich niemals“, fuhr sie ihn bedrohlich an und das Rot glühte von Neuem auf.

Er wich zurück, drückte sich so eng als noch irgendmöglich an die kalte Mauer und kauerte sich ängstlich zusammen.
 

„Ich weiß, dass sie längst vergessen sind. Aber du weißt, wo sie waren, dann dürften sie für dich ja nicht allzu schwer zu finden sein. Was du auch anstellen musst, ich will Antworten, wenn ich dich das nächste Mal besuchen komme. Und du weißt ja, ich finde dich, überall. Und nun geh mir aus den Augen!“

Erbärmlich, selbst für seine Art, urteilte sie noch gedanklich, während er sich bereits in jäher Panik mit seinen beiden Hundchen davongemacht hatte. Abfällig sah sie den Vierbeinern noch einmal nach. Ob sie sich jetzt gekränkt fühlen sollte? Immerhin hatte er tatsächlich geglaubt, einfache Wölfe könnten sie schrecken und eine verfallene Kathedrale ausreichend Macht besitzen, um sie in ihre Schranken zu weisen. Er hatte wohl auf die Schnelle nichts anderes gefunden und da er so kurz nach einer Verwandlung seine Flügel nicht einsetzen konnte... Er musste lange zu Stein erstarrt gewesen sein. Wenn der sonst nichts zu tun hatte - gut, dass sie ihm eine sinnvolle Beschäftigung besorgt hatte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Na, ob der gute Gerryl das auch für so gut befindet?


Ich bedanke mich für die Favorisierungen und hoffe, dass hier noch Freude aufkommt bei der langen Wartezeit. Danke für Eure Geduld!

Ich hoffe, der Fehlerteufel hält sich in Grenzen - es ist nicht gebetat.

Es grüßt lieb und bedankt sich für die Aufmerksamkeit.
A.-chan Komplett anzeigen

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