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Stray Dogs Monogatari

von

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Unverhoffte Begegnungen

„Chef, Yosano lässt Ihnen ausrichten, dass- ah!“

Haruno japste erschrocken, nachdem sie das Büro des Chefs betreten hatte.

„Stimmt etwas nicht?“ Fukuzawa bereute die Frage gleich, als sie seine Lippen verlassen hatte. In Anbetracht der Umstände, in der sie sich mal wieder befanden, stimmte mit absoluter Sicherheit etwas nicht. Haruno zog flugs einen kleinen Taschenspiegel aus ihrer Rocktasche, klappte ihn auf und hielt ihn dem Mann vor sich hin.

Fukuzawa unterdrückte ein Seufzen, als er sein Spiegelbild sah.

Die Falten der letzten Jahre waren allesamt verschwunden und selbst seine Haare waren wieder kürzer geworden.

„Sie werden jünger“, stellte Haruno besorgt fest.

Der Chef antwortete darauf mit einem minimalistischen Kopfschütteln. „Immerhin scheint es langsamer fortzuschreiten als beim letzten Mal.“ Er erinnerte sich ungern daran, wie er damals von seinem gewohnten Alter von Mitte 40 in weniger als einer Sekunde um gut 30 Jahre zurückgeworfen worden war. Verglichen damit war das hier ja beinahe harmlos. „Was solltest du mir von Yosano ausrichten?“

„Hm? Ah, ja!“ Die Sekretärin schreckte zusammen, als sie bemerkte, dass sie ihren Chef vielleicht etwas zu intensiv angestarrt hatte. „Yosano sagte, dass der Alterungsprozess bei Kenji im Moment gemäßigt voranschreitet. Aber auch wenn kein weiterer so großer Sprung erfolgt, könnte er bereits übermorgen ein sehr alter Mann sein.“

„Bereits übermorgen also?“ Ihm entwich ein leises Seufzen. Das war nicht viel Zeit und sie konnten nicht mehr tun, als darauf zu vertrauen, dass Ranpo und die anderen dieses Problem für sie lösten. Zumindest war in der Stadt bislang das erwartete Chaos ausgeblieben, was Fukuzawa wiederum wunderte. Wieso trafen die Anomalien dieses Mal nur sie? Weil die vier, die sich - seiner Vermutung nach - in der Vergangenheit aufhielten, zur Detektei gehörten? Es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Zeitreisen waren ein Eingriff in die logischen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung und es musste Wells doch klar sein, was er damit anzurichten drohte. War es ein Fehler gewesen, den Briten damals einfach gehen zu lassen? Aber Fukuzawa hatte angenommen, dass Wells die Gefahr seiner Fähigkeit verstanden hätte.

„Sie werden das schaffen, ganz bestimmt“, unterbrach Haruno aufmunternd seine Gedanken. „Es sind genau die richtigen bewaffneten Detektive an diesem Fall dran.“

Die positiven Worte der jungen Frau nahmen ein wenig die Anspannung aus den Gesichtszügen des Chefs. „Du hast Recht.“

Die Sekretärin hatte gerade noch Zeit, sich über die Zustimmung ihres Gegenübers zu freuen, als plötzlich der Taschenspiegel, den sie in der Hand gehalten hatte, zu Boden fiel.

Haruno war verschwunden.

Perplex blickte Fukuzawa auf die Stelle, an der sie gerade noch gestanden hatte, bevor er zur Tür hinausrauschte und zu dem Raum eilte, in dem die anderen Detektive ihr Büro hatten. Alle sahen aufmerksam zu ihm, als er hineinkam und sie gedanklich durchzählte.

Yosano wachte mit Argusaugen über Kenji, der in Kunikidas Kleidung an seinem Schreibtisch saß und lustlos mit einem Finger in der Erde einer seiner Topfpflanzen herumstocherte. Kenji war jetzt wahrscheinlich so um die 30 Jahre alt – äußerlich. Hin und wieder kratzte er sich mit ungewohnt verdrossener Miene über seine Wangen, die ein dezenter Bartwuchs zierte. Sein Gesicht sah insgesamt kantiger aus und seine gesamte Statur war um einiges kräftiger geworden. Kunikidas Hemd und Hose passten ihm gerade so. Tanizaki und Naomi behielten die Nachrichten im Blick. Abwechselnd prüften sie die Fernsehkanäle und Nachrichtenseiten im Internet, um zu sehen, ob es doch irgendwo zu Vorfällen kam. Kyoka war damit beschäftigt, mehrere kleine Notizzettel zu beschriften und auf Atsushis Schreibtisch zu kleben.

Atsushi Nakajima“ las Fukuzawa auf einem Zettel, als er näher herantrat. „18 Jahre alt“ stand auf einem weiteren, „Silbergraues Haar, asymmetrischer Pony“ auf dem nächsten. Und schließlich: „Mag Chazuke.“

Erleichtert atmete Fukuzawa aus. Die anderen waren alle noch da.

„Ist alles in Ordnung, Chef?“, fragte Yosano, die Verjüngung des Vorgesetzten sogleich mit einem mulmigen Gefühl bemerkend.

„Gerade eben ist Ha- …“ Er stutzte. Vor etwas mehr als einer Minute hatte er doch noch mit ihr geredet und nun fiel ihm bereits ihr Name nicht mehr ein? Er hatte ein Déjà-vu. Hatte er sie nicht schon einmal vergessen? „Meine Sekretärin … sie ist verschwunden.“

„Haruno ist weg?“ Naomi sprang alarmiert von ihrem Platz auf.

„Haruno?“, hakte Kenji nach und drehte sich zum Chef um. „Wer ist das?“

„Oje“, äußerte Yosano und fasste sich angespannt an den Kopf, „ich weiß, dass hier mal jemand mit diesem Namen gearbeitet hat, aber ich kann mich kaum noch an sie erinnern.“

„Ihr habt alle Haruno vergessen?“ Naomi nahm dies augenscheinlich sehr mit.

„Ich glaube, ich weiß noch, wie sie in etwa aussah“, erwiderte Kyoka, „aber es ist wahr. Die Erinnerung an sie verblasst zunehmend.“ Mit beklommener Miene blickte das Mädchen zu ihren Notizzetteln.

„Tanizaki, was ist mit dir? Kannst du dich noch an sie erinnern?“, wandte sich Fukuzawa an den Rothaarigen – der plötzlich nicht mehr auf seinem Platz saß und auch sonst nirgends zu sehen war.

„Tanizaki?“ Naomi blinzelte den Chef mit großen Augen an. „Seit wann nennen Sie mich bei meinem Nachnamen?“

Die restlichen Detektive blickten voller Entsetzen zu der Schülerin. Das konnte nicht sein … oder?

„Ich meinte deinen Bruder“, entgegnete Fukuzawa und selbst ihm konnte man den Schock ansehen.

„Meinen Bruder?“ Naomi schüttelte skeptisch den Kopf. „Ich habe keinen Bruder.“

„Junichiro“, wandte Yosano ein, „kennst du niemanden mit dem Namen Junichiro?“

Erneut schüttelte die junge Frau den Kopf. „Nein … wer soll das sein?“

Aus dem Augenwinkel konnte Fukuzawa sehen, wie Kyoka panisch weitere Notizzettel beschriftete.

 

„Herr Wells?!“ Atsushi traute seinen Augen kaum.

Wells hingegen, der zeitgemäße, edel aussehende, weite Hosen in Blau und ein ebenso hochwertiges Oberteil in Orange trug (was ihn aussehen ließ wie einen Adligen), klappte ungläubig der Kiefer nach unten, als er den Jungen erblickte und seine Augen zu Kunikida und Dazai wanderten. „Was machen Sie denn alle hier??“

„Wie?“, entfuhr es Atsushi verblüfft. „Sie haben uns doch hergeholt, oder etwa nicht?“

„Ja, nein, ich meine … nicht wirklich, ich meine-“

„Beruhigen Sie sich erst einmal.“ Selbst Dazai stutzte. War hier mal wieder etwas schief gegangen?

Der nervöse Brite atmete einmal tief ein und wieder aus. „Ich wollte eigentlich nur Herrn Edo-“

„RANPO!“, ertönte da erfreut eine weibliche Stimme hinter Wells. „Du bist hier! Du bist wahrhaftig hier!“ Eine Frau, die in mehrere verschiedenfarbige Seidenkimonos gekleidet war und deren lange, bläulich-schwarzen Haare in einer aufwändigen Hochsteckfrisur festgemacht waren, tauchte hinter dem Briten auf.

„Sei!“ Ranpo winkte ihr ebenso erfreut zu.

„Ich bin so erleichtert, dich gefunden zu haben! Aber … was machen die anderen Detektive hier?“ Sei blinzelte die restlichen drei fragend an.

„Ich fühle mich so unerwünscht.“ Dazai lächelte gequält, als er Kunikida vom Boden hoch half. „Aber daran bin ich gewöhnt.“

„Kann uns bitte jemand endlich erklären, was hier los ist?“, fragte der Blonde, während Atsushi und Wells alleine wieder aufstanden.

„Besprechen wir das an einem weniger öffentlichen Ort“, flüsterte Wells geheimnisvoll. „Sie haben schon recht viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.“

Tatsächlich blieben schon wieder Leute stehen und starrten tuschelnd zu der Gruppe.

„Uns kam zu Ohren, dass es einen Tumult rund um eine Gruppe verdächtig aussehender Leute auf dem Westlichen Markt gäbe, weswegen wir uns auf den Weg dorthin gemacht haben“, erklärte Sei und lächelte dabei, während sie und Wells vorangingen und die anderen ihnen folgten. „Andernfalls hätten sich unsere Wege nicht gekreuzt.“

Atsushi stutzte bei dem Gehörten. „Ist das jetzt ein komischer Zufall oder …?“

Kunikidas Schultern sanken derweil ein gutes Stück in sich zusammen. „Das Theater von eben … das war Absicht, Ranpo?“

„Wir hätten ewig gebraucht, Wells in dieser Stadt zu finden und ich ging davon aus, dass er uns ebenso sucht.“ Ranpo zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Aber Hunger habe ich trotzdem!“

„Ich kann Ihnen etwas anbieten, wenn wir in meinem bescheidenen Heim sind.“ Wells bog in eine Straße mit weiteren einfachen Holzhäusern ab und Sei tippelte hastig hinter ihm her. Es war ihr sichtlich unangenehm, in einer so unfeinen Ecke der Stadt gesehen zu werden.

„Waren Sie die ganze Zeit hier, seit Sie Yokohama verlassen haben?“ Dazai stockte bei seiner Frage und fügte amüsiert hinzu: „Das Yokohama der Gegenwart, meine ich natürlich, das jetzt für uns das Yokohama der Zukunft ist. Ist so viel Verwirrung nicht lustig, Kunikida?“

Ein Knurren war alles, was der Brünette von ihm als Antwort bekam.

Wells drehte sich im Gehen den Detektiven zu. „Diese Zeit ist sehr angenehm, wenn man die Ehre hat, ein Begünstigter zweier Hofdamen zu sein.“

„Er lässt sich von euch aushalten?“, warf Ranpo ein und Sei nickte, während sie gleichzeitig mit den Augen rollte.

„Nun ja, jedenfalls“, Wells räusperte sich verlegen, „fand ich hier die nötige Ruhe, um an meiner Fähigkeit zu arbeiten.“ Er hielt vor einem kleinen, strohgedeckten Häuschen am Ende der dicht besiedelten Straße an und schob die Vordertüre auf. „Wir sind da. Bitte treten Sie ein.“

Die Detektive taten wie ihnen gesagt worden war und Atsushi besah sich – von neuem staunend – das Innere des Häuschens. Es war tatsächlich nur ein kleiner Raum und er war recht dunkel, obwohl es helllichter Tag war. Die Fenster waren weder aus Glas noch aus Papier, sondern mit Strohmatten abgedeckt und ließen nur wenig Licht in das Zimmer. Es roch nach Erde und als Atsushi unter sich blickte, verstand er wieso. Der kleine Eingangsbereich bestand aus platt getretenem Erdboden; erst der etwas höher gelegene Boden dahinter war zu einem Teil mit Tatami-Matten ausgelegt. Es gab eine kleine Feuerstelle im Zimmer, einen Waschzuber, ein winziges Schreibpult und eine kompakte Kommode, neben der Bettzeug zusammengerollt war.

Wells blickte auf die nackten Füße der Detektive (auch noch Schuhe zu stehlen, war Kunikida zu weit gegen den Strich gegangen) und machte ihnen ein kleines Tuch nass, mit dem sie notdürftig ihre Füße sauber machen konnten, bevor sie den Tatami-Bereich betraten und sich auf diesem niederließen. Mit gestresster Miene fummelte der Brite hektisch eine Armbanduhr unter seinem Gewand hervor und begann, auf seiner Unterlippe zu kauen, als er einen Blick darauf warf. „Drei Leute zu viel dürften doch nicht so einen Unterschied machen“, murmelte er zu sich selbst und steckte die Uhr wieder weg.

„Gibt es ein Problem?“, fragte Atsushi, den das nervöse Gehabe des anderen Mannes gleichermaßen nervös machte.

„Nun, ja, gewissermaßen schon.“ Wells tupfte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich hatte eigentlich nur Herrn Edogawa herholen wollen. Dich und auch Herrn Dazai und Herrn Kunikida hatte ich nicht eingeplant.“

„Das heißt ...“ Kunikidas fassungsloser Blick sprach Bände. „Wir sind nur hier, weil wir in dem Moment, in dem Sie Ranpo teleportieren wollten, zufällig bei ihm standen?“

„Das scheint mir der Fall zu sein“, bestätigte der Brite ihm.

„Das wiederum heißt ...“, fuhr Kunikida fort und seine Miene und seine Lautstärke wurden mit einem Mal wutentbrannt, „DAS IST ALLES DEINE SCHULD!!“ Er schrie Dazai direkt ins Gesicht, doch dieser zuckte nicht einmal mit der Wimper.

„Ich frage mich die ganze Zeit schon“, sagte dieser stattdessen vollkommen ruhig, „wo ist eigentlich Murasaki?“

„Aus diesem Grunde benötige ich Ranpos Beistand“, antwortete Sei, die sich mit anfänglich angeekelter Miene zu den anderen gesetzt hatte. Niemand konnte sich vorstellen, welche Überwindung es sie kostete, sich in so einem einfachen Haus aufzuhalten. „Murasaki ist verschwunden.“

„Verschwunden?“, hakte Atsushi nach, der wie die anderen erstaunt dreinblickte.

„Als hätte sich plötzlich der Erdboden in ihrem Quartier aufgetan und sie verschluckt“, erklärte Sei weiter und wurde dabei ganz trübsinnig. „Ich habe sie überall gesucht und nirgends gefunden. Mein Gefühl sagt mir, dass etwas gar Fürchterliches passiert sein muss.“

„Verstehe“, äußerte Dazai bedächtig. „Und deswegen wollten Sie Ranpo herholen.“

Die Dame nickte zustimmend. „Mir kam der Gedanke, dass niemand außer ihm in der Lage wäre, Murasaki wiederzufinden, daher bat ich Herrn Wells um seine Mithilfe, um ihn - und eigentlich nur ihn – herzubringen.“

Ein selbstgefälliges Grinsen legte sich auf Ranpos Lippen. „Tja, mein scharfer Verstand ist eben zu jeder Zeit gefragt.“ Sein Blick wanderte zu Wells und wurde schmollend, als er bei dem Briten ankam. „Hey, Meister, was ist mit Futter?“

„Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung.“ Wells sprang auf und stolperte zu der kleinen Feuerstelle, wo er vier kleine tönerne Schüsseln nahm und sie mit Reis aus einem Bambusbehälter füllte. „Ich kann den Herren auch Tee anbieten.“

Ranpos entgeisterter Blick sprach derweil Bände darüber, was er von dem Mahl hielt. „Reis? Einfach nur Reis? Das ertrag ich nicht! Das ertrag ich nicht!“

„Wir nehmen gerne auch etwas Tee“, warf Kunikida sich räuspernd ein und Wells beeilte sich sogleich, das Wasser, das sich in einem Kessel über der Feuerstelle befand, von neuem zu erhitzen.

„Aber ….“ Atsushi klang skeptisch, während er zaghaft seine Portion Reis mit den Fingern zu essen begann, da Wells nur zwei Paar Stäbchen besaß und Ranpo und Kunikida diese bekommen hatten. „Wie sollen wir Murasaki denn finden? Wir kennen uns doch hier nicht aus.“

„Das ist nicht relevant.“ Dazai winkte umgehend ab, nachdem er mit seinem gesamten Gesicht in seine Schale voll Reis getaucht war und dafür scheltende Blicke seitens Kunikida erhalten hatte. „Wir gehen so vor, wie wir zu Hause auch vorgehen würden. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, den 'Tatort', also Murasakis Quartier im Palast, zu untersuchen.“

„Ich kann Ranpo in den Palast bringen“, entgegnete Sei, „dort gibt es auch besseres Essen.“

„Daf klingt fehr viel beffer.“ Ranpo hatte den Mund hochvoll und schmatze lautstark. Er schluckte seine Portion hinunter und wirkte mit einem Mal wieder viel vergnügter. „Was mich allerdings noch interessiert: Wie sind wir vor den Toren Kyotos gelandet?“

„Das stimmt.“ Dazai wischte sich die Reiskörner aus dem Gesicht und schleckte sie genüsslich von seinen Fingern. „Wir sind nicht nur durch die Zeit, sondern auch durch den Raum gereist.“

Wells stellte jedem der Detektive einen Becher Tee hin und setzte sich wieder zu ihnen. „Nun“, verkündete er sichtlich stolz, „wie ich eingangs bereits erwähnt habe, habe ich an meiner Fähigkeit gearbeitet und sie um einiges verbessert. Nach den … ähem-“ Er kratzte sich verlegen an der Wange. „Vorkommnissen bei unserem letzten Zusammentreffen war mir klar, dass meine Fähigkeit doch noch ein paar Fehler aufweist …“

„Fehler?“, unterbrach Kunikida ihn missmutig. „Sie hätten beinahe das Ende der Welt herbeigeführt. Von meiner persönlichen Betroffenheit fange ich erst gar nicht an.“

„Ach, Kunikida“, wandte Dazai ein, „du bist wie ein kleines Baby, wenn es um diese Zeitanomalien-Sache geht.“

„Ich kann mich erinnern, dass du auch nicht allzu gut dastandest!“, entrüstete sich der Idealist. „Im wahrsten Sinne des Wortes!“

„Ah, ja, ich hatte einen unfreiwilligen und ziemlich schmerzhaften Jobwechsel, wenn ich mich richtig erinnere.“

Bei Dazais salopp vorgetragenem Kommentar stöhnte Atsushi innerlich. Er fand die Erinnerung daran ganz und gar nicht lustig. Sowohl Kunikida als auch Dazai waren damals durch die von Wells verursachten Risse im Raum-Zeit-Gefüge in Lebensgefahr geraten – und beinahe wäre tatsächlich die Gegenwart ausgelöscht worden.

„Wenn Sie an Ihrer Fähigkeit gearbeitet haben“, fragte der Junge vorsichtig hoffnungsvoll nach, „dann wird nun nichts Schlimmes mehr passieren, wenn Sie sie einsetzen?“

Der Brite wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn und irgendwie beruhigte dies Atsushi kein Stück. „Nun, es ist alles noch in der … sagen wir, Probephase. Aber ich konnte einige Dinge verbessern. Zum einen ist es mir jetzt in der Tat möglich, eine Zeitreise mit einem Transport durch den Raum zu verbinden. Ich konnte Sie gezielt durch ein Portal herbringen, weil sowohl ich, als auch Fräulein Sei eine gedankliche Verbindung zu Ihnen herstellen konnten. Auch wenn meine Zielgenauigkeit noch etwas mehr Treffsicherheit vertragen könnte, wie? Immerhin habe ich Sie in die Nähe Kyotos teleportieren können.“ Er kratzte sich nervös lachend am Hinterkopf und ignorierte die verstimmten Blicke Kunikidas und Atsushis. „Wie dem auch sei, solange jemand im Yokohama der Gegenwart an Sie denkt, kann ich Sie auch genau dorthin zurückschicken.“

„Moment“, warf Kunikida kritisch ein. „Solange jemand an uns denkt? Das klingt nach einem Haken.“

Hibbelig fummelte Wells daraufhin am Kragen seines Oberteils. „Also, zum anderen habe ich eine Lösung gefunden, das Auftreten von Anomalien bei Zeitreisen auf ein Minimum zu beschränken. Früher war das Öffnen der Portale und das Anvisieren der gewünschten Zeit das reinste Glücksspiel, was, wie Sie sich erinnern, zu ein paar Problemen geführt hat, aber als ich die beiden Damen damals erfolgreich zurück in die Heian-Zeit brachte, fiel mir etwas auf: Sie berichteten mir, dass die Kaiserin sie vermisst und daher immerzu an sie gedacht hätte. Deswegen verband ich die Zeitreisen mit einem Personenbezug, der auch die Teleportation durch den Raum ermöglicht. Allerdings gibt es da ein, zwei kleine Schwierigkeiten.“ Er lachte auffallend verdächtig.

„Irgendetwas sagt mir, uns wird nicht gefallen, was da jetzt kommt“, bemerkte Ranpo zweifelnd.

„Die Anomalien sollten nun nur noch im engsten Kreis der Zeitreisenden entstehen. Das heißt in Ihrem Falle wären zum Beispiel die restlichen Detektive von ein paar … Auffälligkeiten betroffen.“

„W-was genau heißt das?“ Atsushi überkam ein mulmiges Gefühl.

„Ah, jetzt verstehe ich.“ Dazai ging ein Licht auf. „Die anderen könnten uns vergessen, richtig?“

„Waaaas??“, entfuhr es dem silberhaarigen Jungen entgeistert.

„Und unsere Kollegen schlagen sich momentan wahrscheinlich mit ähnlichen Problemen wie beim letzten Mal herum“, fügte Dazai hinzu. „Sie verschwinden, altern in alle mögliche Richtungen, vergessen sich gegenseitig, all so ein Spaß, nicht wahr?“

Erneut kratzte sich Wells mit einem Finger an der Wange – und ließ dies seine Antwort sein.

„Das ist doch genauso schlimm wie beim letzten Mal!“, rief Atsushi aus. „Da ist nichts dran verbessert!“

„Oh, doch, doch“, widersprach der Brite energisch. „Solange alle Anomalien in einem gewissen Rahmen bleiben, lässt sich alles wieder beheben. Ich habe mit meiner Fähigkeit große Fortschritte gemacht. Sie können unbesorgt sein.“ Er holte von neuem seine Armbanduhr hervor und warf einen fahrigen Blick darauf. „Denke ich.“

„Das klingt nicht gerade beruhigend!“ Atsushi schaute hilfesuchend zu Dazai, der die Uhr des Briten fest im Blick hatte.

„Diese Armbanduhr ...“, sagte er, „zeigt die Ihnen an, wie weit die Anomalien bereits fortgeschritten sind?“

Erstaunt nickte Wells. „Oh? Sie sind sehr aufmerksam. In der Tat. Sofern die Anzeige meiner Uhr eine volle Stunde nicht überschreitet, kann ich so gut wie alles wieder in seinen Ursprungszustand zurückversetzen.“

Atsushi wollte angesichts dieser doch recht zuversichtlichen Aussage gerade erleichtert aufatmen, als er bemerkte, dass die Skepsis der anderen keineswegs nachgelassen hatte. Gab es etwa noch weitere Haken?

„So weit die Theorie“, stellte Ranpo fest, „aber in der Praxis macht Sie irgendetwas schrecklich nervös. Raus damit, was läuft schief?“

Der Brite zuckte ertappt zusammen. „Kann man vor Ihnen denn gar nichts geheim halten?“

„Nein.“ Die Antwort des Meisterdetektivs war so knapp wie trocken, was Wells resigniert seufzen ließ.

„Nun, in Ordnung. Es gibt da ein Problem, das ich selbst nicht ganz verstehe.“

„Oh, das klingt hoffnungsvoll“, warf Dazai spöttisch ein.

„Die Anzeige meiner Uhr ist schon sehr viel weiter fortgeschritten, als ich im Vorfeld berechnet hatte“, gab Wells kleinlaut zu. „Meine Anwesenheit in dieser Epoche hatte bisher so gut wie keine Auswirkungen auf das Raum-Zeit-Gefüge, daher war ich auch sehr optimistisch, was das Herholen von Herrn Edogawa betraf. Selbst Ihr versehentliches Erscheinen hier dürfte nicht so große Ausschläge auf meinem Chronometer bewirken und doch … steht die Anzeige nun bereits bei fast 30 Minuten.“

„Bei fast 30 Minuten??“ Kunikida konnte nicht glauben, was er da gehört hatte. „Und bei einer Stunde wird alles unumkehrbar?? Da ist nicht mehr viel Zeit dazwischen!“

Als der Brillenträger, der ohne Brille herumlaufen musste, dermaßen laut wurde, verzog Sei das Gesicht. Sie hatte die Unterhaltung aufmerksam verfolgt, aber sie verstand die Obsession nicht, die Zeit so detailliert zu messen. Die Menschen aus der Zukunft schienen ja geradezu besessen davon zu sein, den Tag in solch lächerlich kleine Einheiten einzuteilen. Wells hatte sich auch einmal die Mühe gemacht, ihr und Murasaki seine Armbanduhr zu erklären. Den Teil über die Neunutzung seiner Uhr als Erweiterung seiner Fähigkeit hatten sie ja noch nachvollziehen können, aber Sei konnte sich lebhaft daran erinnern, wie Murasaki den Kopf geschüttelt und kritisch angemerkt hatte: „Und genau deswegen werden die Menschen der Zukunft so verrückte, hohe Häuser bauen und ihre Straßen mit entsetzlichem Lärm füllen. Weil sie sich von einem Armschmuck sagen lassen werden, was sie wann zu tun haben.“

„Können wir denn irgendetwas tun, um das Fortschreiten der Anzeige zu verhindern?“, fragte Atsushi, vor Stress mittlerweile in Schweiß gebadet, nach.

„Sie müssen sich so unauffällig wie möglich verhalten“, forderte Wells eindringlich. „Wenn Sie in zu hohem Maße in den Lauf der Geschichte eingreifen, dann wird die Anzeige sich rasant füllen.“

„A-aber greifen wir nicht schon dadurch in den Lauf der Geschichte ein, indem wir Murasaki suchen? Ich meine, ich will ihr natürlich helfen …“

Wells winkte ab. „Das ist im Rahmen des Machbaren. Wäre es so vorgesehen, dass Fräulein Murasaki nicht gerettet werden sollte, dann hätte meine Uhr dies sofort angezeigt. Wenn Sie jedoch hier Dinge zerstören würden oder – Gott bewahre – jemanden töten würden … dann wäre die Anzeige im Handumdrehen bei einer Stunde.“ Ein aufgekratztes Stöhnen entwich ihm. „Und auch ein zu langer Aufenthalt von Ihnen in dieser Epoche wird dem Raum-Zeit-Gefüge schaden. Ich oder ein Weiterer sind wie gesagt harmlos, doch Sie alle vier sind auf Dauer zu viel. Zum Glück hat mein kleiner Lapsus nicht noch weitere Ihrer Kollegen herbefördert.“ Er lachte von neuem nervös.

Die Detektive hörten den fahrig vorgetragenen Erklärungen des Briten mit zunehmender Beunruhigung zu. Schließlich fasste Kunikida sich angestrengt mit einer Hand an den Kopf. „Uns bleibt im Moment nichts anderes übrig als diesen wackligen Versprechungen zu vertrauen.“

„Verzeiht die Umstände, die mein Gesuch Euch bereitet“, sagte Sei schuldbewusst.

„Du und Murasaki habt uns geholfen, als wir in Schwierigkeiten waren“, entgegnete Ranpo, „da ist es selbstverständlich, dass wir euch jetzt helfen.“

„Ich danke dir!“ Von diesen Worten aufgeheitert, strahlte die Hofdame.

„Wir sollten uns nur beeilen“, fuhr der Meisterdetektiv fort. „Wer weiß, was in der Detektei gerade los ist. Außerdem wäre es wirklich eine Frechheit, wenn sie mich vergessen würden.“

 

Sei hatte sichtlich Spaß daran, Ranpo in die feinen Kleider zu stecken, die Wells ursprünglich von den Hofdamen geschenkt bekommen hatte. Trotz ihrer angespannten Lage musste Atsushi bei dem Anblick des schwarzhaarigen Kindskopfs in seidenen Gewändern lächeln. Ihr Plan stand und er beinhaltete, dass sie Ranpo weiterhin als Adligen ausgaben, der Sei im Palast einen Besuch abstatten sollte. Kunikida und Dazai, die von Wells ein paar hochwertigere Klamotten (die aber standesmäßig weit, weit unter dem waren, was Ranpo gerade trug) bekommen hatten, sollten die Diener des Edelherren Edogawa spielen und ihn in einer Sänfte bis hinter die Mauern des Kaiserpalastes tragen (was Fürst Edogawa außerordentlich gut gefiel). Während Ranpo so Zutritt zu Murasakis Quartier bekommen konnte, würden Dazai und Kunikida sich bei der restlichen Dienerschaft nach Informationen umhören. Nur Atsushi, für den keine bessere Kleidung mehr übrig war, musste draußen bleiben.

Sei, die vorausgegangen war, informierte zum einen die Palastwachen an einem seitlichen Tor, dass sie Besuch erwartete und zum anderen den kaiserlichen Wagenmeister, dass ein Bote ihr Nachricht geschickt hätte, ihrem Besuch wäre auf dem Weg zu ihr der Wagen kaputt gegangen und ob man für den übrigen Weg nun nicht eine Sänfte vom Hof schicken könnte.

„Atsushi“, sagte Dazai, als sie am vereinbarten Ort in der Nähe des Palastgeländes auf das Eintreffen der Sänfte warteten, „höre du dich bei den Wachen an den anderen Toren einmal um. Vielleicht haben wir Glück und einer von denen hat etwas bemerkt und ist in Plauderlaune.“

„I-ich soll ganz allein …? Ich kann mich doch gar nicht ausdrücken!“

„Ganz ruhig“, beschwichtigte Ranpo ihn. „Die Wachen werden dich eh für einen Bauerntrampel halten und sich daher nicht weiter um deine Ausdrucksweise kümmern. Deine Unscheinbarkeit kannst du nutzen, um sie in ein Gespräch zu verwickeln.“

„O-okay?“

„Außerdem kann Wells dir helfen“, fügte Ranpo hinzu, der in seinen edlen purpurfarbenen Beinkleidern und dem mehrlagigen Oberteil aus lila- und grünfarbigen Schichten wirklich aussah wie ein Adliger.

„Ich werde auf den jungen Mann aufpassen“, tönte Wells und prompt raunte Kunikida Atsushi zu:

„Pass bloß auf, dass dieses Nervenbündel nicht noch mehr Chaos anrichtet.“

Der silberhaarige Junge nickte. Und schluckte voller Anspannung. Hoffentlich ging das alles gut.

Er und Wells entfernten sich von den drei anderen, als sie Bedienstete aus dem Palast herannahen sahen. So weit lief alles wie am Schnürchen. Ranpo stieg in die mitgebrachte Sänfte, Dazai hob den vorderen Teil und Kunikida den hinteren an und so trotteten sie den zwei Angehörigen des Palastes hinterher.

Hoffentlich ging das alles gut.

Wells führte Atsushi zum eindrucksvollen, gigantischen Südtor des Palastes. Von hier führte eine breite Straße in die Stadt und es waren eine Menge Menschen dort unterwegs. Mit offenem, staunenden Mund beguckte der Junge das riesige, hölzerne Tor, das mehrere Meter hoch und lang war. Es schien zwei Etagen zu haben und imposante Säulen stützten im Vordergrund das Gebilde. Das gesamte Gebäude war in einem knalligen, leuchtenden Rot gestrichen und auf dem Dach waren zwei goldene Verzierungen angebracht. So eine beeindruckende Konstruktion hatte er noch nie zuvor gesehen.

„Faszinierend, nicht wahr?“, fragte Wells, als hätte er seine Gedanken erraten. „Dies ist das größte Tor des Palastes. Es wirkt, als sei es für die Ewigkeit gebaut.“

„Dann steht es heute noch?“

Der Brite legte nachdenklich seine Stirn in Falten. „Das ist eine gute Frage. Aber der heutige Kaiserpalast sieht, so weit ich informiert bin, eh anders aus. Er wurde wohl mehrmals von Bränden und ähnlichem heimgesucht.“

„Ah“, machte Atsushi, immer noch seine Augen nicht von dem beeindruckenden Bauwerk nehmend.

„Nun, lass uns uns doch aufteilen“, schlug Wells vor. „Ich gehe weiter zum nächsten Seitentor und du bleibst hier, wo es dir doch so gut gefällt.“ Der Mann zwinkerte ihm zu und Atsushi fand, dass – obwohl der Kerl ein Chaot war und ständig Ärger machte – er doch alles andere als verkehrt war. „Ich hole dich wieder ab, wenn ich mich umgehört habe. Du darfst mir schließlich nicht verloren gehen.“

„Vielen Dank“, entgegnete der junge Detektiv erfreut und in der Hoffnung, dass Kunikida ihm dafür nicht den Kopf abreißen würde. Aber was sollte schon passieren? Wells hatte schließlich die ganze Zeit in der Vergangenheit gelebt, ohne dass sie in der Gegenwart davon etwas mitbekommen hatten. Doch, sicher war es in Ordnung, dachte Atsushi, als Wells davontrottete und er selbst seinen Blick wieder dem gigantischen Tor vor ihm zuwandte. Wann bekam man schon die Gelegenheit so etwas zu sehen?

Plötzlich fröstelte es Atsushi.

Als hätte sich auf einmal eine große, dunkle Wolke vor die Sonne geschoben.

Perplex schaute er zum Himmel empor, doch die Sonne schien nach wie vor vom strahlend blauen Himmel.

Wie seltsam.

Das Frösteln kehrte zurück.

Es wurde sogar stärker.

Ein durch und durch mulmiges Gefühl machte sich abrupt in dem Jungen breit. Die Haare an seinem Körper stellten sich auf und ein Gefühl von Angst überkam ihn.

Was war das, das er da spürte?

Etwas Unheilvolles kam auf ihn zu, etwas, das sich bösartig anfühlte.

Mordlust. Pure Mordlust.

Panisch blickte Atsushi sich um. Woher kam das? Von wem ging diese finstere Aura aus?

„MENSCHENTIGER!!“, hallte es grollend von der Straße. „BIST DU HIERFÜR VERANTWORTLICH?!“

Mit weit aufgerissen Augen starrte Atsushi auf den dunkelhaarigen jungen Mann, der von immensem Zorn erfüllt vor ihm aufgetaucht war.

„D-das kann doch nicht sein … Akutagawa??“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wenn man „Time Machine“ ganz wörtlich nimmt, woran denkt man dann? An eine Uhr!
Ich habe Wells ein bisschen Tatami spendiert, obwohl das einfache Volk so etwas erst viel später hatte (er könnte es wohl ein paar Hofdamen abgeschwatzt haben). Das große Tor, von dem Atsushi so beeindruckt ist, gab es wirklich. Ich habe es sehr wahrscheinlich falsch platziert, aber sein Name war „Rashomon“ … *zwinker zwinker* Komplett anzeigen

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