Zum Inhalt der Seite

Katzenjammer

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist QueenLuna gewidmet. Happy Birthday, meine Liebe! Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Lektion 1 - Überleg dir genau, was du dir wünschst.

„Kaoru, es ist schon spät, du solltest für heute Feierabend machen.“

Eine Berührung an seiner Schulter ließ ihn zusammenfahren und sich unwillig die Kopfhörer von den Ohren ziehen. Sein Gesichtsausdruck musste mörderisch sein, als er sich zu dem Störenfried herumdrehte, denn dieser machte sogleich einen Satz zurück und hob beschwichtigend beide Hände.

„Woa, friss mich nicht gleich auf. Du brauchst deinen Gitarristen noch.“ Ein unglaublich attraktives Lächeln erhellte das Gesicht seines Gegenübers, gegen das Kaoru jedoch schon seit Jahren immun und daher lediglich genervt von der Störung war.

 

„Was willst du, Die?“

 

„Ich will, dass du endlich nach Hause fährst. Der Song läuft dir nicht davon.“

 

„Und wegen so einer Lappalie reißt du mich aus meinen Gedanken?“ Kaoru rieb sich über die Nasenwurzel, um seine generell schlechte Laune nicht in Wut umschlagen zu lassen.

„Du kannst gehen, ich komm hier allein klar.“

 

„Darum geht es mir doch gar nicht.“

 

„Die! Lass mich einfach in Ruhe weiterarbeiten. Was kümmert es dich?“

 

„Was es mich kümmert? Ernsthaft? Du sitzt seit Stunden über die Regler gebeugt, hast weder etwas gegessen noch getrunken und siehst aus, als würdest du jeden Augenblick vom Stuhl kippen. Also bitte sag mir noch einmal, warum es mich nicht kümmern sollte?“

 

 „Kannst oder willst du nicht verstehen, was ich sage?“ Gereizt fuhr Kaoru sich durch die Haare. „Fahr nach Hause, Die, und lass mich arbeiten! Deine Fürsorge in allen Ehren, aber die kann ich gerade weder gebrauchen noch will ich sie.“ Ohne noch eine Sekunde länger auf seinen Bandkollegen einzugehen, drehte er sich herum und widmete sich erneut den Einstellungen. Dieser Song war härter zu knacken als eine Kokosnuss, aber er würde den Teufel tun und jetzt aufhören. Kaoru wusste, würde er Dies Ratschlag folgen und für heute Schluss machen, würde er ohnehin kein Auge zutun, weil ihn der Song bis in den Schlaf verfolgte. Wo war er also noch gleich gewesen, bevor er auf so überflüssige Art und Weise unterbrochen worden war?

 

„Na, schön, ich geh dann, aber mach nicht mehr allzu lange, okay?“

 

Argh, beinahe wäre ihm ein Knurren entkommen, als es erneut Dies Stimme war, die seine Denkprozesse unterbrach. Zu mehr als einem vagen Brummen konnte er sich daher auch nicht aufraffen, bevor er nach den Kopfhörern griff und sie sich fest auf beide Ohren presste. Genug mit den Störungen, er hatte zu arbeiten.

 

Den verletzten und besorgten Blick, mit dem Die ihn noch eine ganze Weile betrachtete, bekam der Leader gar nicht erst mit. Leise fiel die Tür ins Schloss, sperrte auch noch das letzte Licht aus, und ließ das Studio in nicht mehr als dem bläulichen Flackern des PC-Bildschirms zurück.

 

~*~

 

„Oh, Gott.“

 

Kaoru stand von seinem Platz vor dem Mischpult auf, legte beide Hände an seine Seiten und drückte den Rücken durch. Selbiger gab mehrere, ungesund klingende Knackgeräusche von sich, bevor sich ein dumpfer Schmerz einstellte, der nun schon seit Monaten sein ständiger Begleiter war. Es war halt scheiße, wenn man alt wurde, stellte er nicht zum ersten Mal fest und machte sich daran, seine wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken. Wenigstens war er endlich zufrieden mit dem Song, sodass er sich für heute eine Pause gönnen konnte. Er wusste zwar, dass er spätestens morgen beim nochmaligen Hören die ein oder andere Passage finden würde, die einer weiteren Überarbeitung bedurfte, war sich jedoch auch im Klaren darüber, dass er jetzt nichts Brauchbares mehr zustande bringen würde.

 

Im Zwielicht des Studios tastete sich Kaoru voran, bis er den Lichtschalter nahe der Tür fand und die Deckenbeleuchtung mit einem mechanischen Surren zum Leben erweckte. Blinzelnd ob der Helligkeit rieb er sich über die schmerzenden Augen und wagte einen kurzen Blick auf die Uhr. Wie befürchtet, war der neue Tag längst angebrochen und es vollkommen ineffizient, jetzt noch nach Hause zu fahren. Vor einigen Jahren, als ihn sein Rücken noch nicht gequält und seine Kopfschmerzen noch nicht zu einem dauerhaften Begleiter geworden waren, hätte er sich nun den Futon aus dem Schrank geholt und im Studio übernachtet. Mittlerweile war das jedoch keine Option mehr. Nicht zum ersten Mal verfluchte er sein Alter und den stetigen Abbau seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Warum konnte dieser dumme Haufen Zellen nicht einfach das tun, wofür er gebraucht wurde?

 

Alles mentale Lamentieren half jedoch nichts und so fuhr Kaoru den PC und alle anderen Gerätschaften herunter, löschte das Licht und machte sich mit schlurfenden Schritten auf den Weg in die Tiefgarage. Es war nicht so, dass er einer weiteren Nacht unruhigen Schlafs freudig entgegensah, aber zumindest sein Rücken würde es begrüßen, wenn er sich für ein paar Stunden langmachte.

 

Gut, dass ihn so spät hier niemand mehr hören konnte, denn das Ächzen, das er nicht hatte zurückhalten können, als er sich in den Sitz seines Autos sinken ließ, hatte einen eindeutig schmerzvollen Unterton. Verdammt, er brauchte dringend einen Termin bei seinem Chiropraktiker. Für eine Sekunde schloss er die Augen, atmete betont gleichmäßig ein und wieder aus, bis das Ziehen in seinem unteren Rücken und den Schultern wieder zu dem dumpfen Schmerz wurde, den er mittlerweile sehr gut ignorieren konnte. Vielleicht wurde es langsam aber sicher doch Zeit, sich ein paar Tage freizunehmen. Kurz flackerte Dies Gesicht vor seinem inneren Auge auf und beinahe hatte er die Stimme des anderen wieder im Ohr, die ihm sagte, dass er nach Hause gehen sollte. Ein unangenehmes Gefühl zog sich durch seinen Magen, das sich, hätte er es näher analysieren wollen, als schlechtes Gewissen herausgestellt hätte. Die meinte es ja nur gut, verstand jedoch nicht, dass er ihn mit seiner Besorgnis meist nur aus den Gedanken riss und damit seine Arbeitslast unweigerlich vergrößerte.

 

Mal ehrlich, was würde denn passieren, würde er für ein paar Tage die Zügel aus der Hand geben?

Das blanke Chaos würde ausbrechen, seine Stapel an unbeantworteter Korrespondenz neue Höhen erreichen und die Band vor die Hunde gehen.

DAS würde passieren!

Niemand ahnte auch nur im Mindesten, was er Tag täglich zu organisieren hatte, damit sich seine Kollegen ausschließlich auf den kreativen Teil ihrer Arbeit konzentrieren konnten.

 

Kaoru war so sehr in seinen Gedanken gefangen, dass er niemandem hätte erklären können, wie er aus der Tiefgarage gefahren war. Gut, dass es so etwas wie ein Muskelgedächtnis gab, das routinierte Arbeitsabläufe auch ohne vollständig anwesende Hirnleistung abspulen konnte.

„Und gut, dass kaum etwas auf den Straßen los ist“, murmelte er, sich nur allzu deutlich bewusst, wie gefährlich es war, derart unaufmerksam zu sein, als er an einer roten Ampel anhielt. Noch ein Zeichen dafür, dass er geistig und körperlich bald das Ende seiner Leistungsfähigkeit erreicht hatte.

 

Sich über die brennenden Augen reibend fuhr er an, bog nach links ab und war gerade dabei, zu beschleunigen, als er aus dem Augenwinkel einen Schatten auf die Straße springen sah. Mit einem Ruck und quietschenden Reifen kam sein Auto zum Stehen. Der Gurt schnitt schmerzhaft in seine ohnehin angeschlagene rechte Schulter und sein Herz schlug so schnell und heftig in seiner Brust, dass er für eine lange Sekunde nichts weiter als das Blut in seinen Ohren rauschen hörte.

 

„Scheiße, was war das?“, japste er erschrocken, während er mit zitternden Fingern nach dem Gurtöffner tastete, es aber erst nach einigen Fehlversuchen schaffte, sich abzuschnallen. War das ein Tier gewesen? Ein … Kind? Oh, Himmel, hoffentlich hatte er es, was auch immer es gewesen war, nicht angefahren. Seine Knie fühlten sich so weich an, als würden sie ihn keinen Schritt tragen können, als er langsam ausstieg und sich umsah.

 

Im ersten Moment konnte er zu seiner grenzenlosen Erleichterung nichts Ungewöhnliches erkennen. Kein Körper, der reglos vor seinem Auto lag, keine verräterisch rote Spur oder andere Hinweise, die darauf schließen ließen, dass sein Wagen etwas gerammt hatte. Er wollte schon befreit ausatmen, als er ein klägliches Jammern unter seinem Auto hörte. Die eigentlich laue Frühlingsluft wurde so schnell zu Eis in seinen Lungen, dass er glaubte, auf der Stelle ersticken zu müssen. Unwirsch schob er jedoch auch dieses körperliche Unbehagen beiseite, als er sich hinkniete, um unter den Wagen sehen zu können. Das Licht einer nahen Straßenlaterne wurde von zwei grünen Augen reflektiert, die ihn vorwurfsvoll zu mustern schienen.

 

„Hallo, du“, murmelte er so beruhigend, wie er konnte, jedoch war das Zittern seiner Stimme nicht zu überhören. Er fühlte sich vollkommen überfordert mit der Situation. Was sollte er tun, wenn das Tier verletzt war? Und selbst wenn nicht, wie sollte er es unter seinem Auto herauslocken? Er konnte schlecht die ganze verbleibende Nacht auf der Straße hockend verbringen. Es war ohnehin ein Wunder, dass ihm in den letzten Minuten noch kein einziges Fahrzeug entgegengekommen war. Sollte er die Unfallstelle absichern? Konnte man hier überhaupt von einem Unfall sprechen? Sein Kopf dröhnte und ein penetrantes Stechen hinter seinen Augen machte ihm das Denken schwer.

 

Plötzlich spürte er eine zaghafte Berührung an seinen Fingern, weiches Fell, das über seine Haut strich. Er musste die Hand nach dem Tier ausgestreckt haben, stellte er fest, als er dabei zusah, wie eine große, schwarze Katze langsam unter seinem Auto hervorkam. Die hellrosa Nase berührte immer wieder seine Haut und er bildete sich ein, die tiefen Atemzüge hören zu können, mit denen sein Geruch erforscht wurde.

 

„Wenigstens scheinst du nicht verletzt zu sein“, murmelte er und war selbst erstaunt darüber, wie sehr ihn diese Tatsache erleichterte. Mittlerweile war die Katze vollständig unter dem Wagen hervorgekommen und Kaoru ließ prüfend seinen Blick über den kräftigen Körper gleiten. Nein, verletzt schien sie wirklich nicht zu sein, und es machte sogar den Anschein, als würde sie mit jedem verstreichenden Moment mehr ihre Angst vor ihm verlieren. Gerade rieb sie sich am Stoff seiner Jeans und ein Schnurren, das in der Stille der Nacht erstaunlich laut klang, ließ den gesamten Katzenkörper vibrieren.

 

Kaoru hatte zwar noch nie ein Haustier besessen, aber Diva, Dies Katzendame, hielt immer große Stücke auf ihn, wenn er den Gitarristen besuchte. Das schien ihm nun auch hier zu Gute zu kommen.

Er seufzte leise, als ihm wieder einmal schmerzlich bewusst wurde, wie lange es her war, dass DIE und er sich außerhalb des Jobs gesehen hatten. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, zu der sie es sich zur Routine gemacht hatten, ihre Feierabende mit einem Bierchen oder gutem Essen gemeinsam zu verbringen. Diese zwanglose Vertrautheit hatte jedoch im gleichen Maße abgenommen, wie ihm die Arbeit über den Kopf gewachsen war. Kaoru presste die Lippen aufeinander, bevor ihnen ein weiteres Seufzen entweichen konnte. Diese Art von Gedanken würde ihn nicht weiterbringen, also war es müßig, sich noch länger mit ihnen zu beschäftigen. Außerdem gab es gerade deutlich Wichtigeres. Die Katze zum Beispiel, die er nun vorsichtig unter den Vorderpfoten und dem Hinterteil fasste, um sie von der Straße zu heben. Das Schnurren verstärkte sich, als er den warmen Körper gegen seine Brust lehnte und sich ächzend erhob.

 

„So, jetzt stellt sich nur die Frage, was ich mit dir mache, hu?“

Erst jetzt hatte er Gelegenheit, die Katze näher zu mustern, aber viel zu sehen gab es nicht. Das Fell des Tierchens war komplett schwarz, die Augen hingegen leuchteten in einem ungewöhnlich satten Grün. Leider konnte er weder ein Halsband noch eine Tätowierung erkennen, die ihm Aufschluss gegeben hätten, ob sich ein armer Besitzer nun Sorgen um seinen entlaufenen Liebling machte. Kurz sah sich Kaoru um, bevor er mit seiner tierischen Begleitung wieder ins Auto stieg.

 

„Tu mir nur einen Gefallen und mach jetzt keine Sperenzchen, okay?“, sprach er die Katze an, als könnte sie ihn verstehen, während er sie auf den Beifahrersitz setzte.

„Ich fahr nur kurz auf den Parkplatz dort drüben, damit das Auto aus dem Weg ist.“

Gesagt, getan und die Mieze blieb sogar still sitzen. Wenn nur alles in seinem Leben so reibungslos funktionieren würde.

 

Wieder schaltete er den Motor ab und stieg aus, nachdem er einen prüfenden Blick zur Seite geworfen hatte, wo sich die Katze jedoch gemütlich zusammengerollt hatte und zu dösen schien. Der Parkplatz gehörte zu einem Supermarkt, der auch nachts geöffnet hatte. Er würde eine Kleinigkeit zu Fressen besorgen, das war nach dem Schreck das Mindeste, was er für sie tun konnte, und dann endlich nach Hause fahren. So gepflegt, wie sich ihr Fell angefühlt hatte, hatte sie gewiss ein gutes Zuhause und würde auch dorthin zurückkehren, sobald er sie wieder freiließ.

 

Mit seiner Errungenschaft in der Hand kehrte er wenige Minuten später zu seinem Auto zurück. Die Katze hatte sich keinen Millimeter bewegt und schreckte nicht einmal hoch, als er die Beifahrertür neben ihr öffnete.

 

„Na komm, Pantherchen, ich hab hier was Feines für dich.“ Er zog den Aluminiumdeckel der Schale mit Katzenfutter ab, die er eben erstanden hatte, und hielt sie ihr vor die Nase. Ein grünes Auge öffnete sich, der Kopf hob sich kurz, um das Futter beschnuppern zu können, bevor sich die Mieze nur noch enger zusammenrollte. Kaoru seufzte, hatte jedoch ein schiefes Grinsen auf den Lippen, als er sich hinhockte, um auf Augenhöhe zu sein.

„Katze müsste man sein, was? Den ganzen Tag schlafen, zwischendurch fressen und für Streicheleinheiten musst du nichts weiter tun, als süß auszusehen. Du hast wirklich das perfekte Leben, Pantherchen. Unter anderen Umständen würde ich dich mit zu mir nehmen, aber ich hab keine Zeit für ein Haustier. Du wärst nur den ganzen Tag allein und ich zu müde, wenn ich nach Hause komme, um mich noch mit dir zu beschäftigen. Du hast hier ein viel besseres Leben. Also komm.“

 

Er hob die Katze an, stand auf und trug sie einige Meter weg vom Parkplatz, wo sie in Ruhe würde fressen können. Sie murrte zwar kurz, begann aber das Futter in erstaunlicher Geschwindigkeit zu dezimieren, nachdem er sie davorgesetzt hatte. Ein letztes Mal streichelte Kaoru über das weiche Fell, bevor er sich erhob und zu seinem Wagen zurückging. Aus der Entfernung blickte er sich noch einmal um und wisperte: „Ich wünschte wirklich, ich könnte für ein paar Tage dein Leben führen. Keine Verantwortung, keine Termine, nichts worüber ich mir Sorgen machen muss.“

 

Ruckartig hob die Katze den Kopf und für einen unheimlichen Moment glaubte er, die tiefgrünen Augen aufleuchten zu sehen. Dann jedoch sprang das Tier davon, wohl durch irgendetwas aufgeschreckt, und war nicht mehr zu sehen. Nur die leere Katzenfutterschale stand einsam und verlassen auf der Straße, aber Kaoru hatte nun wirklich keine Energie mehr, sie fortzuwerfen.

 

Kopfschüttelnd stieg er in sein Auto, setzte zurück und fuhr endlich nach Hause. Die grünen Katzenaugen verfolgten ihn noch bis in seine unruhigen Träume, aber bis zum nächsten Morgen machte er sich keine weiteren Gedanken über diese seltsame nächtliche Begegnung.

 

~*~

 

Lauter Straßenlärm weckte ihn. Verärgert drehte er sich auf die andere Seite und grummelte. Er würde es wohl nie lernen, das Fenster über Nacht nicht geöffnet zu lassen. Egal, er war müde und noch hatte sein Wecker nicht geklingelt. Kein Grund also, jetzt schon sein warmes Bett zu verlassen. Wieder röhrte ein Motor und jetzt erst roch er den unangenehm beißenden Gestank von Autoabgasen und aufgeheiztem Gummi. Machten die Halbstarken aus dem dritten Stock wieder einmal einen auf Tokyo Drift auf dem Parkplatz direkt unter seinem Schlafzimmerfenster? Verdammt, er wollte sich längst bei der Hausverwaltung deswegen beschwert haben, aber nicht einmal dafür hatte er genügend Zeit.

 

Schnaubend rollte er sich erneut herum, streckte die Arme über den Kopf und bog den Rücken durch. Erschrocken zuckte er zusammen, rechnete damit, dass sein kaputtes Kreuz ihm diese unüberlegte Bewegung mehr als nur ein bisschen übel nehmen würde, aber der altbekannte Schmerz blieb aus. Seltsam.

Blinzelnd öffnete er die Augen und wurde sogleich von der Sonne geblendet. Spätestens jetzt begann ihm bewusst zu werden, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmen konnte. Sein Schlafzimmer lag auf der Nordseite seines Appartements. Es war also unmöglich, dass die Morgensonne durch seine Fenster schien, selbst wenn er vor einigen Stunden vergessen haben sollte, die Vorhänge zuzuziehen. Wieder heulte ein Motor auf, irgendetwas klapperte metallisch schrill und das rhythmische Geräusch schneller Schritte ließ seine Ohren zucken.

 

Moment … seine Ohren?

Kaoru kam so schnell auf die Beine, dass er damit rechnete, ihm würde schwarz vor Augen werden, stattdessen änderte sich kaum etwas an seinem Blickwinkel. Der asphaltierte Boden war noch immer ungewöhnlich nah an seinem Gesicht, der Himmel stattdessen unendlich weit entfernt.

Asphalt? Blauer Himmel? Der typische Geruch eines schmutzigen Hinterhofs?

Fuck. Hatte er getrunken und wusste nichts mehr davon? Er war gestern nach Hause gefahren und hatte sich ins Bett gelegt. Da war kein Tropfen Alkohol im Spiel gewesen.

 

Kaoru machte einen Satz zurück, als er knapp neben der Stelle, auf der er sein Nachtlager aufgeschlagen haben musste, eine unappetitlich grünliche Pfütze ausmachen konnte. Igitt! Wo zum Teufel war er hier nur aufgewacht und wie war er hierhergekommen? Warum wirkte seine ganze Perspektive verschoben und weshalb fühlte sich sein Körper so klein und eigenartig schmerzfrei an? Er trippelte auf der Stelle, stolperte über seine eigenen Beine und landete auf dem Hintern. Frustriert schüttelte er sich und hob die Hand, um sich übers Gesicht zu wischen. Das Blut gefror ihm in den Adern, als sich sein Blick nicht wie erwartet auf seine mit Tattoos übersäte Hand richtete, sondern auf eine Pfote fiel, die mit grau-schwarz-getigertem Fell bedeckt war.

 

Sein Verstand setzte aus, als er kopflos über den Parkplatz zu rennen begann, der an den Hinterhof angrenzte, in dem er aufgewacht war. Vollkommen verschreckt wich er Einkaufswägen, parkenden und fahrenden Autos aus, bis er sich auf einen Gehweg retten konnte. Der Strom aus sich unvorhersehbar bewegenden Menschenbeinen, die auf ihrem Weg zur Arbeit rücksichtslos voranschritten, war jedoch alles andere als ein sicherer Platz zum Durchatmen. Ein Turnschuh trat ihm schmerzvoll in die Seite, der spitze Absatz einer eleganten Schnürsandale bohrte sich beinahe in seine Pfote und ein abgetretener Lederschuh schleuderte ihn in die Regenrinne der angrenzenden Fahrbahn. Kaum eine Sekunde hatte er Zeit, seine Orientierung wiederzufinden, als ein Schwall schmutzigen Wassers über ihn hereinbrach, weil ein Auto direkt neben ihm durch eine Pfütze gefahren war. Sich schüttelnd rappelte er sich auf, versuchte hektisch herauszufinden, wo er sich befand, aber alles sah so anders aus.

 

Eine Lücke in der Menschenmenge auf dem Gehweg tat sich auf, bot ihm die Chance, wieder in den relativ sicheren Hinterhof zurückzukehren. Doch auch hier bekam er keine Gelegenheit, sich sein weiteres Vorgehen zu überlegen oder endlich zu begreifen, was überhaupt mit ihm geschehen war, denn ein unheilvolles Knurren ließ ihm wortwörtlich die Nackenhaare zu Berge stehen. In seinem verstörten Zustand konnte er nicht einmal zuordnen, welchem Tier er gegenüberstand. Er sah nur gelbe Augen, spitze und viel zu lange Zähne …

 

„Lauf schon!“, rief ihm jemand zu und für einen irrwitzigen Moment glaubte er, seine eigene Innere Stimme zu ihm sprechen zu hören. Dann schepperte jedoch etwas neben ihm, was das knurrende Monstrum für einen Moment ablenkte und ihm die Möglichkeit gab, sich nach der Stimme umzusehen. „Komm schon, rauf hier!“

Kaoru traute seinen Augen nicht. Neben ihm, auf einem verbeulten Müllcontainer, hockte eine schwarze Katze und fixierte ihn mit ihren unheimlich grünen Augen.

„Beweg dich, oder willst du zu Hundefutter werden?“

 

Es war allein seinem Überlebensinstinkt zu Schulden, dass er sich aus seiner Starre reißen und tun konnte, was die Katze von ihm verlangte. Mit einem Satz sprang er auf den Container. Allerdings hatte er seine Sprungkraft überschätzt, überschlug sich mehrmals und hätte auf dem rutschigen Metall den Halt verloren, der massige Körper der schwarzen Katze nicht zur anderen Seite geschubst.

 

„Da… danke“, stotterte er, vollkommen durch den Wind und außer Atem. „Wo bin ich? Was ist mit mir passiert?“

 

„Na, nicht dafür. Aber jetzt halt die Luft an und folge mir.“

 

„Was? Aber …“ Kaoru wollte Antworten, verdammt, aber die Katze war schon auf einen Mauervorsprung nahe dem Container gesprungen und machte nicht den Anschein, sich unterhalten zu wollen. Zumindest nicht so lange die reelle Chance bestand, als Snack für den Köter zu enden, der gerade versuchte, Kaoru zu erreichen. Mit gesträubtem Fell und einem Fauchen machte er einen Satz weiter in die Mitte des Containers und visierte den Mauervorsprung an. Verdammt, der war so weit entfernt, das würde er nie schaffen, aber was blieb ihm anderes übrig? Tief durchatmend nahm er Anlauf, machte sich im Flug so lang, wie er konnte, und landete tatsächlich sicher auf der rettenden Mauer.

 

„Na, geht doch, ich dachte schon, du wolltest dort unten Wurzeln schlagen.“ Die schwarze Katze saß nicht weit von ihm entfernt, putzte sich lässig den Hinterlauf, während sie ihn aus dem Augenwinkel musterte. „Du musst wirklich noch einiges lernen, wenn du hier draußen überleben willst. Von wegen, den ganzen Tag schlafen, fressen und gestreichelt werden, was?“ Hätte sie gekonnt, Kaoru war sich sicher, sie hätte ihn angegrinst, während er sie lediglich mit weit aufgerissenen Augen mustern konnte.

 

„Du bist die Katze von heute Nacht, nicht wahr?“

Sie nickte.

„Und du kannst sprechen?“

 

„Tu nicht so, als wäre das so ungewöhnlich. Ich kann nichts dafür, dass ihr Menschen nicht zuhören könnt.“

 

„Aber, wieso?“

 

„Wieso du mich jetzt verstehen kannst?“

Nun war er es, der stumm nickte.

„Weil du jetzt einer von uns bist, Katerchen.“

 

Kaorus Mund fühlte sich starr an, aber er hätte nicht sagen können, ob das dem Schock geschuldet war oder der Tatsache, dass ein Katzenmund andere Bewegungen machte, als er sie gewohnt war. Himmel, allein dieser Gedanke hatte das Potenzial, ihn in blinde Panik zu versetzen.

 

„Was hast du mit mir gemacht?!“, rief er plötzlich, um der Angst, die durch seine Adern jagte, wenigstens auf diese Weise Ausdruck verleihen zu können.

 

„Ich habe dir lediglich deinen Wunsch erfüllt.“

 

Wie aus weiter Ferne hörte Kaoru plötzlich das geisterhafte Echo seiner eigenen Stimme: „Ich wünschte wirklich, ich könnte für ein paar Tage dein Leben führen. Keine Verantwortung, keine Termine, nichts worüber ich mir Sorgen machen muss.“

„Oh nein, nein, das … das hab ich so doch nicht gemeint. Ich meine … mach das sofort wieder rückgängig!“

 

„Das kann ich nicht.“

 

„Was? Wie meinst du das, du kannst das nicht? Dir hab ich diesen Albtraum hier doch zu verdanken!“

 

Die Katze vor ihm murrte in einer Weise, die tiefstes Unverständnis für seine Lage ausdrückte.

„Du warst nett zu mir, hast mir sogar Futter gegeben. Da ist es doch ganz normal, dass ich mich revanchiere, besonders, wenn du es mir so leicht machst und einen Wunsch äußerst.“

Ausführlich streckte sie sich, als gäbe es auf der ganzen Welt nichts, was sie aus der Ruhe bringen konnte und begann, ihren Bauch zu putzen.

„Ich bin eine Zauberkatze, ich erfülle Herzenswünsche, aber mache sie nicht rückgängig, verstehst du?“

 

„Aber das war doch nur so daher gesagt“, murmelte Kaoru, plötzlich jeglicher Kraft beraubt, und hockte sich hin. „Ich habe keine Zeit, eine Katze zu sein. Ich habe Verpflichtungen, es gibt Menschen, die auf mich angewiesen sind und mich suchen werden, wenn ich nicht zu unseren Terminen erscheine.“

 

„Ach, mach dir darüber mal keine Sorgen. Das ist das Tolle an meinem Zauber, niemand wird dich vermissen.“

 

„Wirklich?“

 

„Ja.“

 

Zum ersten Mal, seit er in diesem Albtraum aufgewacht war, spürte er so etwas wie Hoffnung in sich aufkeimen. Er erhob sich, ging einige Schritte nach vorn und blickte in den Innenhof hinab. Der Hund hatte das Interesse an ihnen verloren und war verschwunden. Jetzt, wo er sich in Ruhe umsehen konnte, kam ihm die Umgebung eigenartig bekannt vor. War das nicht der Supermarkt dort drüben, in dem er vor einigen Stunden das Katzenfutter gekauft hatte? Die Tatsache, dass er ausgerechnet hier als Katze erwacht war, war auf eine eigenartige Weise das Erste, was ihm seit seinem Erwachen logisch erschien. An diesem Moment der Klarheit hangelte er sich weiter, versuchte, das, was ihm widerfahren war, mit dem in Einklang zu bringen, was die Katze ihm gerade erzählt hatte.

Sie war also eine Zauberkatze und hatte ihm seinen Herzenswunsch erfüllt, weil er ihr etwas Gutes getan hatte. So weit, so fantastisch.

 

„Was ist …“, begann er und hatte das Gefühl, die Zahnrädchen seines Denkapparats rattern hören zu können, als ihm eine zündende Idee kam. „Ich wünsche mir, wieder ein Mensch zu sein!“

 

„So funktioniert das nicht.“

 

„Was? Wieso? Du sagtest doch, du erfüllst Wünsche.“

 

„Herzenswünsche, mein Guter. Du musst es schon ernst meinen, wenn du dir etwas wünscht.“

 

„Aber … Ich meine es ernst!“

 

„Wohl nicht.“ Die Katze leckte sich über die Lefzen und Kaoru wurde den Eindruck nicht los, deutliches Amüsement in dem sonst so starren Gesicht erkennen zu können.

„So, da das jetzt geklärt ist … “ Mit einem Buckel, der sicher beeindruckender war, als sein eigener, streckte sie sich und hüpfte auf das niedrige Dach des nahestehenden Unterstellplatzes für Einkaufswägen.

„Ich habe weitaus interessantere Dinge zu tun, als den ganzen Morgen deine Fragen zu beantworten. Pass auf dich auf, Katerchen, und denk dran; du musst es auch wirklich so meinen, wenn du dir was wünscht. Ciao!“

 

„Halt! Warte!“ Er versuchte, die Verfolgung aufzunehmen, aber kaum war er ebenfalls auf dem durchsichtigen Plastikdach des Unterstands gelandet, war seine Wunscherfüllerin nach unten auf den Parkplatz gesprungen und so schnell zwischen den Autos verschwunden, dass er sie aus den Augen verloren hatte.

„Verflucht!“ Ein klägliches Maunzen verließ seinen Mund, was einige der Einkaufenden verwundert zu ihm aufsehen ließ.

 

„Mama, schau mal, ein Kätzchen!“ Ein kleiner Junge zog aufgeregt an der Hand seiner Mutter und deutete zu ihm nach oben. Kaoru duckte sich, schlich den Weg zurück, den er gekommen war, und kauerte sich vorerst so eng zusammen, dass ihn hoffentlich keiner sehen würde.

 

Er brauchte Zeit, um nachdenken zu können.

Sein Magen gab ein jämmerliches Gurgeln von sich.

Und etwas zu essen.

 

tbc …

Lektion 2 - Frage und es wird dir geholfen.

Kaoru duckte sich tiefer ins Dickicht und schloss für eine Sekunde die Augen, als sein Magen erneut jämmerlich knurrte. Schon seit Stunden war er unterwegs, hatte sich bis in diesen Park durchgeschlagen, aber zu essen hatte er noch immer nichts gefunden. Langsam aber sicher begann selbst die angenagte Pommes, die auf dem Kiesweg unweit seines Verstecks lag, appetitlich auszusehen. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Der kurze Moment, in dem ihm das Leben als Katze erstrebenswert erschienen war, war längst verstrichen und hatte der Realität Platz gemacht. Einer Realität, in der er entweder unter die Räder eines Autos kommen, von einem Hund gefressen oder jämmerlich verhungern würde.

 

Zu allem Überfluss spukte ihm seit einer geraumen Weile etwas im Kopf herum, was die Zauberkatze zu ihm gesagt hatte. Ihn würde niemand vermissen. Was sich erst wie der Inbegriff von Freiheit angehört hatte, verunsicherte ihn nun maßlos. Er könnte hier also wortwörtlich vor die Hunde gehen und niemand würde sich dafür interessieren? Er würde niemandem fehlen und daher würde auch niemand auf die Idee kommen, ihn zu suchen. Er war auf sich allein gestellt, gefangen im Körper eines noch nicht einmal ausgewachsenen Katers.

Kaoru hätte geseufzt, wäre ihm ein solcher Laut in seiner gegenwärtigen Gestalt möglich gewesen. Seine Pfoten schmerzten von den vielen Metern, die er seit seinem Erwachen zurückgelegt hatte, und trotz der Frühlingssonne, die wenigstens etwas half, sein noch immer nasses Fell zu trocknen, begann er zu frieren. Hoffnungslosigkeit machte seine Glieder steif und am liebsten hätte er sich nun eng zusammengerollt, würde er sich, trotz des dichten Gestrüpps um ihn herum, nicht so ungeschützt fühlen.

 

Es war ausgerechnet das Gesicht ihres rothaarigen Gitarristen, das sich vor sein inneres Auge schob und ihm die Kraft gab, weiterzugehen. Den Teufel würde er tun und jetzt aufgeben! Wenn er nur den Weg bis zu Dies Zuhause finden würde – der andere würde ihn sicher erkennen. Die hatte schließlich ein Händchen für Tiere und wer kannte ihn besser als sein langjähriger Freund? Dass man ihre Beziehung in letzter Zeit weniger mit einer Freundschaft und viel mehr mit einem Arbeitsverhältnis beschreiben konnte, blendete er geflissentlich aus. Er musste aufhören, immer nur das Negative zu sehen.

 

Wie um seinen guten Vorsatz bereits in der nächsten Sekunde ins Absurde zu führen, sah er sich plötzlich einem anderen Tier gegenüber. Es war nur etwas größer als er selbst, mit großen, fledermausartigen Ohren und schwarzen Knopfaugen. Und es knurrte.

‚Scheiße“, stieß Kaoru hervor, was sein Maul als energisches Fauchen verließ. Sein Rücken rundete sich und er konnte fühlen, wie sich das Fell dort und um seinen kerzengerade aufgerichteten Schwanz aufplusterte. Unter anderen Umständen wäre er erstaunt darüber gewesen, wozu sein Instinkt fähig war, aber gerade überwog die Furcht. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere, während sich sein Körper nicht entscheiden konnte, ob er angreifen oder fliehen sollte.

 

„Miyu, Schätzchen, was hast du denn?“ Eine ruhige Stimme ließ das Knurren verstummen und teilte den Schleier der Angst, der sich über Kaorus Verstand gelegt hatte. Die kleine Hündin verschwand aus seinem Sichtfeld, hochgehoben von den Händen ihres Herrchens, das Kaoru nur allzu gut kannte.

 

„Shinya!“, rief er, was seine katzenhaften Stimmbänder als schrilles Maunzen interpretierten und den so Angeschrienen verwundert zu ihm nach unten sehen ließen.

 

„Nanu, wer bist du denn?“

 

„Shinya! Mensch, bin ich froh, dich zu sehen.“ Kaoru plapperte weiter, hatte über die Freude, ein bekanntes Gesicht vor sich zu haben, seine Achtsamkeit komplett über den Haufen geworfen und kam aus seiner Deckung. Miyu, die Kaoru in der Vergangenheit gern als kleine Ratte bezeichnet hatte, wirkte in seiner jetzigen Gestalt deutlich bedrohlicher als sonst, besonders, als sie erneut zu knurren anfing. Eigenartigerweise konnte er sie nicht verstehen, als sprächen sie unterschiedliche Sprachen, was durchaus auf eine verrückte Art und Weise Sinn ergeben würde.

 

„Du bist ja ein besonders kleines und mageres Exemplar, was? Komm, Miyu, sei lieb zu dem Kätzchen, es hat Angst vor dir.“ Die Hündin wurde auf die Seite gesetzt, wo sie auch brav Ruhe gab, nachdem Shinya ihr ein Leckerli hingehalten hatte. Selbst der Anblick des Hundesnacks ließ Kaorus Magen knurren. Hilfe, er konnte sich nicht daran erinnern, wann er jemals einen so großen Hunger verspürt hatte, dass ihm schon übel wurde.

„Und ziemlich zerzaust siehst du auch aus“, sprach Shinya weiter und erst dadurch konnte er seinen starren Blick vom futternden Hündchen weg wieder zu seinem Kollegen richten.

 

„Ja, genau, hab Mitleid mit mir, wenn du mich schon nicht erkennst. Mann, Shinya, ich bin es, Kaoru!“ Eine Reihe lang gezogener Maunzgeräusche verließ sein Maul und am Ende setzte er noch ein intensives Jammern nach. Wenn er schon weder erkannt noch verstanden wurde, konnte es ihm auch niemand verübeln, wenn er hier den sterbenden Schwan mimte. Zu guter Letzt legte er sich auf den Boden, den Kopf auf den Vorderpfoten gebettet und machte seine Augen, mit denen er den Drummer zu hypnotisieren versuchte, so groß er konnte.

„Oje, du armes Ding.“

 

‚Ja, genau, schau mich an. Ich bin klein, süß und hilflos, du MUSST mich mitnehmen‘, feuerte er Shinya in Gedanken an und hätte am liebsten gejubelt, als lange Finger vorsichtig über sein Fell streichelten.

 

„Eiskalt bist du auch. Ich nehm dich besser mit, bevor du dich hier noch erkältest. Du siehst nicht so aus, als würdest du jemandem gehören, aber das lässt sich auch im Warmen herausfinden.“ Für einen unwirklichen Moment schoss Kaoru die Frage durch den Kopf, ob er Shinya in der Vergangenheit jemals so viel auf einmal hatte reden hören. Dann jedoch verpuffte der Gedanke so schnell, wie er aufgetaucht war, weil er damit beschäftigt war, nicht in Panik zu verfallen, als er plötzlich den Boden unter den Pfoten verlor. Immer höher wurde er gehoben, bis ihn der Drummer schlussendlich in den Armen hielt. Anders, als sein Instinkt es von ihm verlangte, hielt er ganz still und lehnte sich gegen Shinyas Oberkörper, um ja nicht fallengelassen zu werden. Miyu schien es weniger zu gefallen, dass ihr Herrchen dieses räudige Ding mitzunehmen gedachte, aber Shinya hatte seine Hündin gut unter Kontrolle und nach wenigen Sekunden verstummte ihr Knurren wieder.

 

„Mh, fragt sich jetzt nur, wie ich das mit euch beiden geregelt bekomme, was Miyu?“, hörte er den Drummer noch murmeln, aber konnte sich nicht mehr wirklich Gedanken um das Gesagte machen. Selbst durch den beigen Mantel hindurch, den der andere trug, konnte er seine Körperwärme spüren, die ihn sich schneller entspannen ließ, als er unter diesen Umständen für möglich gehalten hätte. Kaorus Lider wurden immer schwerer, bis er sie nicht mehr offenhalten konnte und der Erschöpfung nachgab, die schon so lang an ihm nagte.

 

Erst ein gleichmäßiges Vibrieren und Surren und ein warmer Luftstrom, der sein Fell leicht durcheinanderbrachte, weckten ihn wieder auf. Er blinzelte, hob den Kopf und fand sich auf dem Beifahrersitz von Shinyas Auto wieder. Er rappelte sich hoch, versuchte aus der Windschutzscheibe zu sehen, aber war eindeutig zu klein dafür. Der Drummer schenkte ihm ein Lächeln, streichelte ihm für einen kurzen Moment übers Fell und konzentrierte sich dann wieder auf den Verkehr.

 

„Bleib brav sitzen, hörst du?“, verlangte er, und beinahe hätte Kaoru dem Impuls zu nicken nachgegeben. Ein kleiner Teil in ihm, der trotz seiner negativen Erlebnisse der letzten Stunden noch nicht den Spaß am Katzesein verloren hatte, fragte sich, wie Shinya reagieren würde, würde er auf jede beiläufig gestellte Frage mit einem Kopfschütteln oder Nicken antworten. Eigentlich keine schlechte Idee, wenn er erkannt werden wollte. Mh, das sollte er im Hinterkopf behalten. Kaoru setzte sich wieder, versank in seine Gedanken und bemerkte daher erst mit Verspätung, dass er begonnen hatte, seine dreckigen Pfoten zu putzen.

 

„Igitt!“ Rief er, was seine Stimmbänder als empört klingendes Miau interpretierten. Langsam aber sicher fühlte er sich wirklich von seinem eigenen Instinkt veräppelt. Nur, weil er im Körper einer Katze gelandet war, hieß das nicht, dass er sich auch wie eine aufführen musste. Besonders nicht, wenn er sich deswegen Dreck und wer wusste was für Dinge von den Pfoten leckte!

 

„Na, was hast du denn?“, erkundigte sich Shinya gerade, als Kaoru von einem lauten, im ersten Moment nicht zuzuordnenden Schrillen so sehr erschreckt wurde, dass er beinahe vom Sitz in den Fußraum des Wagens gesprungen wäre. Im letzten Augenblick konnte er sich noch davon abhalten und machte sich stattdessen so klein wie möglich, als würden die Schallwellen so nicht mehr auf seine Ohren treffen können. Erst, als Shinya erneut zu sprechen begann, begriff auch er, dass soeben das Handy des Drummers geklingelt haben musste. Verflixt, dieses extrem gute Gehör und seine damit verbundene Schreckhaftigkeit waren noch etwas auf seiner immer länger werdenden Liste von Dingen, die ihm gehörig die Laune zu vermiesen begannen.

 

„Hast du etwas in Erfahrung bringen können?“, fragte Shinya gerade, für Kaoru etwas aus dem Zusammenhang gerissen, weil er den Beginn der Unterhaltung nicht mitbekommen hatte.

 

„Ja, ich hab mit dem Management telefoniert. Fujieda wusste sogar etwas.“

Das war Die! Kaorus Herz machte einen erleichterten Hüpfer, als er die Stimme ihres Gitarristen aus der Freisprechanlage kommen hörte.

 

„Oh, ehrlich? Und was ist mit ihm?“

 

„Kaoru scheint einen Notfall in der Familie zu haben und musste sich kurzfristig einige Tage freinehmen.“

 

Shinyas Augenbrauen wanderten verblüfft ein Stück nach oben und Kaoru hätte es ihm am liebsten gleichgetan.

„Einen familiären Notfall? Das klingt alles andere als gut, erklärt aber nicht ganz, warum er keinen von uns informiert hat.“

 

„Eben, das verstehe ich auch nicht. Wir waren für heute Morgen verabredet, um den neuen Song noch einmal durchzugehen, und normalerweise meldet er sich immer, selbst wenn er sich nur um wenige Minuten verspätet. Diesmal jedoch nichts, Nada.“

 

„Ich weiß, dass ihr verabredet gewesen wärt, Die, das hast du mir vorhin schon erzählt.“ Auf Shinyas Lippen legte sich ein feines Lächeln, das Kaoru beim besten Willen nicht zuzuordnen wusste. „Aber wie auch immer, du hast definitiv recht damit, dass es untypisch für ihn ist, sich gar nicht zu melden. Ich könnte mir nur vorstellen, dass er so durch den Wind war, dass er nicht an viel mehr denken konnte, als wenigstens Fujieda Bescheid zu geben.“

 

„Ja, das wäre möglich“, erwiderte Die überlegend, aber für Kaoru hörte es sich so an, als wäre der andere nicht sonderlich überzeugt von Shinyas Vermutung.

 

‚Richtig so, Die, ich war das nämlich gar nicht!‘, dachte er. Wie nur hatte es die Zauberkatze geschafft, ihren Manager über diesen angeblichen familiären Notfall zu informieren? Obwohl … wenn er genauer darüber nachdachte, war es sicher ein Kinderspiel für sie gewesen, diese gefälschte Nachricht zu übermitteln. Immerhin war sie machtvoll genug, einen Menschen in eine Katze zu verwandeln. Jetzt begriff Kaoru auch, wie genau sie das gemeint hatte, dass ihn niemand vermissen würde. Klar, wenn alle davon ausgingen, dass er zu seiner Familie gefahren war und aus gutem Grund auf Nachrichten nicht reagieren konnte oder wollte, würde sich auch niemand Sorgen um ihn machen. Eines musste er ihr lassen, ihr Einfallsreichtum war beachtlich.

 

„Ich hab bereits versucht, ihn anzurufen und ihm mehrere Nachrichten geschrieben, aber auch auf diese hat er sich bislang nicht gemeldet“, redete Die gerade weiter. Täuschte er sich oder konnte er nicht nur verständliche Frustration aus der Stimme des Gitarristen heraushören?

 

„Er rührt sich schon, wenn er wieder alles so weit unter Kontrolle hat, da bin ich mir sicher. Aber was machen wir in der Zwischenzeit? Wissen Toshiya und Kyo schon Bescheid?“

 

„Nein, ich hatte noch keine Zeit, die beiden anzurufen.“

 

„Kein Problem, das übernehme ich nachher.“

 

„Danke. Was die Arbeit angeht, hab ich mir alle wichtigen Termine von Fujieda geben lassen, die würde ich euch später schicken?“

 

„Ja~“, machte Shinya und zupfte nachdenklich an seiner Unterlippe. „Wobei … was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend mit Kyo und Toshiya im Studio treffen und gemeinsam durchgehen, was die nächsten Tage über zu tun ist? Ich hab noch einige Termine, aber bis sieben sollte ich alles erledigt haben.“

 

„Meinst du wirklich, wir sollten uns einmischen?“

 

„Absolut. Ich will keine Deadlines verpassen und mir gefällt der Gedanke nicht, Kaoru zu einem Berg Arbeit zurückkommen zu lassen. Er war in letzter Zeit schon gestresst genug.“

 

„Schon, aber du weißt, wie er ist …“

 

„Pech, da muss er jetzt durch.“

 

Die lachte kurz auf und hörte sich im nächsten Moment so an, als hätte er für sich einen längst überfälligen Entschluss gefällt.

„Deinen Argumenten kann ich mal wieder nichts entgegensetzen, Shinya. Und genau genommen schlagen wir damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.“

 

Kaoru hätte sich beinahe an seinem eigenen Speichel verschluckt. Wo von redeten die beiden da? Und was hatte dieser letzte Satz von Die zu bedeuten? Es war löblich von ihnen, sich in seiner Abwesenheit um alles kümmern zu wollen, aber ganz ehrlich? Kaoru sah schon weitaus mehr Arbeit auf sich zukommen, als würden seine Kollegen einfach ihre Finger von Dingen lassen, von denen sie doch gar keine Ahnung haben konnten. Nicht umsonst hatte er sich in den letzten Jahren immer um alles gekümmert und es abgelehnt, vor allem Die helfen zu lassen. Die war toll, ein absolut kreativer Kopf und seine Fähigkeiten an der Gitarre schafften es bei jedem neuen Song, Kaorus eigenes Talent zu fördern und zu fordern, aber mit Bürokram war der Gute heillos überfordert. Toshiya und vor allem Kyo wollte er sich diesbezüglich nicht einmal vorstellen und selbst Shinya … Nein, der Drummer war viel zu resolut, um ihn mit den delikaten Verhandlungen zu betrauen, mit denen sich Kaoru viel zu oft herumschlagen musste.

‚Bitte, lasst die Finger davon‘, jammerte er in Gedanken und hätte dadurch beinahe Shinyas Antwort überhört.

 

„Ganz genau, ich sehe, wir sind uns einig.“ Der Drummer lächelte, als aus der Leitung ein weiteres Mal Dies Lachen zu hören war. „Mach dir nicht zu viele Sorgen um ihn, hörst du?“

 

„Ich versuche es.“

 

‚Die sorgt sich um mich?‘ Mit einem Mal war seine kurzzeitige Sorge um die Arbeit wie weggefegt, als er das hörte. Er erinnerte sich an den gestrigen Abend, an Dies Worte, die leger gewirkt hatten, aber jetzt, wo er genauer darüber nachdachte, vielleicht eine gewisse Besorgnis in sich getragen hatten. Das schlechte Gewissen nagte an ihm – wäre er nur weniger ruppig zu dem anderen gewesen.

 

„Gut so, wenn das jetzt vorerst geklärt ist, hätte ich noch ein Attentat auf dich vor.“

 

„Ach, ja?“

 

„Ja. Wo bist du gerade?“

 

„Noch im Studio, aber ich wollte gleich nach Hause fahren, wieso?“

 

„Bist du mit dem Auto da?“

 

„Ja, aber warum fragst du mich das alles?“

 

„Lass dich überraschen, wir treffen uns in zehn Minuten vor dem Studio, okay?“

 

„Gut, aber, Shinya, was …?“

 

Der Drummer legte auf, bevor Die seine Frage hatte stellen können. Kaoru murrte, was wohl das katzenhafte Pendant zu einem fragenden Brummen darstellte. Interessant.

 

„Was?“, fragte Shinya, als hätte er verstanden, was dieser Laut zu bedeuten hatte. „Manchmal muss man Die einfach abwürgen und zu seinem Glück zwingen, sonst dreht der Junge sich nur im Kreis, glaub mir.“

 

Wäre Kaoru ein Mensch gewesen, hätte nun ein breites Grinsen seine Lippen geziert. Er wusste ja, dass Shinya, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, nur selten von seinem eingeschlagenen Kurs abrückte, das jetzt jedoch so deutlich demonstriert zu bekommen, war ein Novum. Stellte sich nun nur die Frage, was genau der Drummer sich in den Kopf gesetzt hatte und weswegen er sich dafür mit Die treffen wollte? Na ja, so wie es aussah, würde er die Antwort darauf bald bekommen, ob sie ihm jedoch gefallen würde, stand auf einem anderen Blatt.

 

Diese andauernde Unsicherheit musste es auch sein, die ihn sich so schrecklich unwohl, beinahe aufgeregt fühlen ließ. Vorsichtig stützte er sich mit den Vorderpfoten an der Verkleidung der Seitentür ab. Sobald er seine Balance halten konnte, reckte er sich, bis er aus der Seitenscheibe sehen konnte. Viel erkannte er nicht, der Blickwinkel schlecht und seine Wahrnehmung als Katze anders genug, um sich kaum orientieren zu können. Lange konnte ihre Fahrt allerdings nicht mehr dauern und je näher sie ihrem Ziel kamen, desto schneller schlug sein Herz. Erklären konnte er sich seine Aufregung nicht, aber als er glaubte, Dies roten Schopf aus dem Augenwinkel erkannt zu haben, bevor Shinya zu den Stellplätzen abgebogen war, konnte er sich kaum noch stillhalten.

 

„Schon gut, Kleiner.“ Shinyas Hand streichelte über seinen Kopf und drängte ihn mit zärtlichem Nachdruck dazu, sich wieder hinzusetzen. „Dauert nicht mehr lange. Ich muss nur schnell noch etwas mit Die klären, dann kommst du ins Warme und bekommst etwas zu futtern, wie klingt das?“

Ohne sein bewusstes Zutun reagierte er mit einem langen Maunzen auf die ihm gestellte Frage, was seinem Kollegen ein breites Lächeln auf die Lippen zauberte. „Ich beeil mich, versprochen.“

 

Keinen Moment später war Shinya ausgestiegen und hatte Kaoru mit all seinen Fragen und dem flauen Gefühl im Magen, das nicht nur vom Hunger stammte, zurückgelassen. Was würde nun mit ihm passieren? Warum wollte Shinya sich gerade jetzt mit Die treffen? Hatte der Drummer womöglich vor, ihn in ein Tierheim zu bringen? Mit geweiteten Augen starte er vor sich hin, als ihm bewusst wurde, dass dieser Gedanke ein durchaus plausibler war. Verdammt, er musste aus diesem Wagen raus, bevor er tatsächlich eingesperrt werden würde! Panisch begann er, an dem Türöffner zu kratzen, versuchte, mit den Krallen einzuhaken, damit er ihn entriegeln konnte. Dadurch bekam er nicht mit, wie Shinya mit Die im Schlepptau zurückkehrte, und purzelte unsanft auf den Boden, als die Beifahrertür geöffnet wurde.

 

„Hoppla, hiergeblieben!“ Eine große Hand, breiter als die des Drummers, schloss sich um Kaorus Mitte und hob ihn hoch. Er wand sich, fauchte und stemmte sich gegen den Halt, der jedoch keinen Millimeter nachgeben wollte.

„Du bist ja ein munterer Kerl.“ Sein Fänger lachte und erst da begriff er, dass es Die war, dem er wortwörtlich vor die Füße gefallen war. Sogleich entspannte er sich und sah sich dem breiten Grinsen des Rhythmusgitarristen gegenüber. Zum ersten Mal, seit er als Katze erwacht war, war er froh darüber, nicht erkannt zu werden. Wäre er jetzt ein Mensch, stünde ihm die Scham vermutlich quer übers Gesicht geschrieben. So jedoch begnügte er sich damit, brav und lieb auszusehen, schließlich wollte er Die nicht auf dumme Ideen bringen.

„Na, siehst du, geht doch. Du hast dich nur erschreckt, was?“ Die änderte seinen Griff, sodass er nun gemütlich gegen seinen Oberkörper lehnte und begann, ihn unterm Kinn zu kraulen.

 

Kaoru schloss die Augen, als ein Gefühl durch seinen kleinen Körper jagte, das er so noch nie gespürt hatte. Es war, als würden alle Zellen in ihm zu vibrieren beginnen und das nur, weil sich das Kraulen so gut anfühlte. Irgendetwas brummte erstaunlich laut in seinen Ohren, aber das war schon okay. Alles war okay, wenn man sich so gut fühlte. Wäre es ihm möglich gewesen, hätte nun ein debiles Grinsen seine Lippen geziert. Gott, war das schön.

 

„Für so ein kleines Kerlchen schnurrt er erstaunlich laut.“ Shinyas amüsierte Stimme und ein sachtes Kraulen über seinen Brustkorb holten ihn aus dem Nebel, der sich über seine Gedanken gelegt hatte.

 

‚Wie? Wer schnurrt hier?‘, fragte er sich überflüssigerweise, denn sobald ihm dieser Umstand bewusst geworden war, verstummte das Brummen in seinen Ohren und die Vibrationen ließen nach.

‚Verdammt, das bin ja wirklich ich gewesen.‘ Wo war das Loch, in das er sich verkriechen konnte? Kaoru drehte sich so gut es ging von den beiden Männern weg, die ihn mit unterschiedlich stark ausgeprägten Lächeln noch immer musterten.

‚Ich will hier weg.‘

 

„Och, Katerchen, das muss dir doch jetzt nicht peinlich sein.“

 

‚Halt die Klappe, Die.‘

 

„Nun gut, dann kann ich den Racker einstweilen also bei dir lassen, ja?“

 

„Natürlich. Ich hab ihn schon ins Herz geschlossen. Diva macht sowieso gerade Urlaub bei meiner Nichte, von daher muss ich mir erst einmal keine Sorgen machen, dass die beiden Fellnasen sich in die Quere kommen.“

 

„Dir ist aber bewusst, dass sich vermutlich niemand melden wird, der den Kleinen vermisst?“

 

Kaoru zuckte leicht in Dies Griff, als ihm durch Shinyas Worte erneut sehr deutlich vor Augen geführt wurde, wie allein er in gewisser Weise war.

 

„Das macht nichts, wenn ihn niemand will, behalte ich ihn einfach.“

 

„Ich wusste, auf dich ist Verlass.“

 

„Vielleicht sollte ich ihn Kaoru nennen.“

 

 

Kaoru hob den Kopf, fixierte seinen Freund, der jedoch gerade nur Augen für Shinya zu haben schien. Auf die Züge des Drummers legte sich ein eigenartig sanftes Lächeln, als er die Hand hob und sie Die für einen kurzen Moment auf die Schulter legte.

 

„Ich denke nicht, dass dir das guttun würde.“

 

„Du hast recht, wie immer.“ Ein lang gezogenes Seufzen verließ Dies Mund und Kaoru begriff nicht, warum sein Freund mit einem Mal so betrübt aussah. Hatte er Angst, er würde es ihm übel nehmen, würde er eine Katze nach ihm benennen? Mal ganz abgesehen davon, dass der Name passender gewesen wäre, als alles, was der andere sich ausdenken konnte. Aber das wusste Die nicht … leider.

 

„Schön, dass wir uns auch in diesem Punkt einig sind.“ Shinya drückte Dies Schulter, bevor er auf Abstand zu ihnen ging. „Ich telefoniere mit Kyo und Toshiya, informiere sie über die neuesten Entwicklungen und melde mich im Anschluss noch mal bei dir, in Ordnung?“

 

„Ja, hört sich gut an. Und ich bring jetzt erst einmal das Katerchen nach Hause, der Arme muss ja schon am Verhungern sein.“ Wie, um Dies Worte zu bestätigen, gab Kaorus Magen ein lautes Knurren von sich, was beide Männer erneut zum Lachen brachte.

 

‚Ha, ha.‘

 

„Bis später, Shinya.“

 

„Fahrt vorsichtig.“
 

tbc ...

Lektion 3 - Freunde sind das wertvollste Gut.

„Ich hab wirklich noch keine Katze erlebt, die es so sehr genießt, gebadet zu werden, wie du.“ Die lächelte ihn an, während er ihm einen weiteren Becher lauwarmes Wasser über den Pelz kippte, um die letzten Reste des parfümfreien Tiershampoos aus seinem Fell zu waschen. Wie er schon geahnt hatte, war sein Freund wirklich auf alles vorbereitet gewesen. Kaum waren sie bei Die zu Hause angekommen, hatte er ihm eine große Portion Thunfisch vors Mäulchen gestellt, worüber Kaoru mehr als glücklich gewesen war. Die hatte zwar irgendetwas davon gemurmelt, dass er dringend Futter für ein Kätzchen besorgen musste, aber wenn es nach ihm ging, würde es jeden Tag Fisch geben. Er mochte Fisch und als Katze schmeckte der tatsächlich noch um einiges besser.
 

Kaoru streckte sich, nachdem er aus dem Waschbecken gehoben und auf der Ablage abgesetzt worden war, und machte sich einen Spaß daraus, sich genau in dem Moment kräftig zu schütteln, als ihm Die ein Handtuch über den Körper legen wollte.
 

„Bah!“ Lachend ging der Gitarrist etwas auf Abstand und rieb sich über das nass gewordene Gesicht. „Du bist mir einer.“ Kaoru hätte gegrinst, wäre ihm das möglich gewesen, schloss stattdessen für eine lange Sekunde die Augen, als ihm Die über die Nase streichelte. Es war eigenartig. Er hätte gedacht, vor Scham im Erdboden versinken zu müssen, als sein Freund damit begonnen hatte, ihm den Schmutz der Straße aus dem Fell zu waschen, aber das Gegenteil war der Fall gewesen. Dies Berührungen hatten sich gut angefühlt und Kaoru war dankbar dafür gewesen, dass er sich das ganze eklige Zeug nicht selbst aus dem Pelz hatte lecken müssen. Katze zu sein war schön und gut, aber es gab Grenzen, die er nicht überschreiten wollte.
 

Wieder vibrierte sein gesamter Körper, weil er ein tiefes Schnurren nicht mehr zurückhalten konnte, als Die begann, ihn vorsichtig abzutrocknen. Die Bewegungen fühlten sich beinahe wie eine Massage an, lockerten Muskeln, von denen Kaoru nicht einmal gewusst hatte, dass sie verspannt gewesen waren. Himmel, warum hatte er sich als Mensch so eine Behandlung nur dann gegönnt, wenn er sich kaum noch hatte bewegen können?
 

„Du bist wirklich ein niedliches Kerlchen. Ich hoffe, deine Besitzer melden sich, bevor ich mein Herz komplett an dich verliere. Das passiert mir immer viel zu schnell.“ Kaoru, der bis eben halb auf dem Rücken gelegen hatte und sich den Bauch trocknen ließ, richtete sich nun auf, um Die besser ins Gesicht sehen zu können. Die ihm so vertrauten Augen sahen traurig aus, aber wieso sollte sein Freund plötzlich traurig sein? Kaoru legte den Kopf ein wenig schräg, ließ Dies Worte in seiner Erinnerung Revue passieren, konnte aber den Finger nicht darauf legen, was genau ihn daran gestört hatte.
 

„Wollen wir versuchen, den Rest mit dem Föhn zu trocknen?“, erkundigte sich der Große gerade und riss ihn damit aus seinen Überlegungen. Er gab ein kurzes Murren von sich, bevor er sich auf alle viere hochrappelte, um Die dabei zu beobachten, wie er besagten Föhn aus der Schublade unter dem Waschbecken zog. „Das wird jetzt etwas laut, okay? Aber mir wäre wohler, wenn du die nächsten Stunden nicht mit feuchtem Fell herumlaufen musst. Dafür ist es in der Wohnung nicht warm genug.“
 

Kaoru duckte sich, als wie angekündigt das hohe Surren des Föhns einsetzte, nachdem Die das Gerät in Betrieb genommen hatte. Und es stimmte, die Frequenz war alles andere als angenehm, aber noch einigermaßen erträglich. Der warme Luftstrom hingegen, der durch sein Fell fuhr und es leicht aufplusterte, fühlte sich wunderbar an. Kaoru legte sich hin, machte sich ganz lang, damit die warme Luft auch überall hinkonnte, und schloss die Augen. Das unbeschwerte Lachen seines Freundes wehte genauso angenehm über ihn wie der Luftstrom und erinnerte ihn daran, wie sehr er dieses Geräusch mochte. Wenn Die lachte, konnte sich die Stimmung in einem Raum von jetzt auf gleich zum Positiven ändern. Für dieses Talent hatte Kaoru ihn schon immer bewundert, aber wenn er genauer darüber nachdachte, war es schon sehr lange her, dass er ihn so herzlich hatte lachen hören. Ein verschämtes Kichern, ja, ein Glucksen oder Feixen, aber dieser herzerwärmende Laut war dem anderen Mann zumindest in seiner Gegenwart sehr lange schon nicht mehr über die Lippen gekommen. Wieder tauchten Dies traurige Augen in seinem Geist auf und er fragte sich mit einem Anflug der Scham, ob er in letzter Zeit so unaufmerksam geworden war, dass ihm diese Veränderung im Verhalten des anderen erst jetzt auffiel. Shinya schien etwas zu wissen, erinnerte er sich, was ihn jedoch auch nicht weiterbrachte.
 

Das hohe Surren verstummte, als Die den Föhn ausschaltete und wegpackte. Kaoru sprang von der Ablage, schüttelte sich kräftig und begann wie automatisch, sein aufgeplustertes Fell zu putzen. Jetzt, wo er nicht mehr dreckig war, war das gar keine so üble Beschäftigung.
 

„Na, Kleiner, wie sieht es aus? Kommst du mit ins Wohnzimmer?“ Die ging vor und er folgte ihm, musste sogar rennen, um Schritt halten zu können. So klein zu sein, hatte definitiv einige Nachteile. Flink hüpfte er aufs Sofa, auf dem sich Die gerade langgemacht hatte und durch das vorabendliche Fernsehprogramm schaltete. Einen Augenblick lang betrachtete er den Großen, überlegte, wo er sich hinlegen sollte, bis er sich für Dies Brustkorb entschied. Dort war es warm und die geschickten Finger des Gitarristen mussten sich nicht sehr weit bewegen, um ihn erneut kraulen zu können. Den Gedanken, wie unpassend das war, schob er sogleich weit von sich. Solange er in diesem Katzenkörper festsaß, konnte er auch das Beste daraus machen – keine Diskussion!
 

„Ich muss mir noch einen Namen für dich überlegen, was?“, begann Die zu sprechen und streichelte ihm über den Kopf. „Kann dich ja schließlich nicht ständig Kleiner oder Katerchen nennen.“ Neugierig sah er Die an, der seinen Blick überlegend erwiderte. „Shinya meinte zwar, es würde mir nicht guttun, aber was hältst du davon, wenn ich dich Kao nenne?“ Dies Lippen teilten sich und gaben den Blick auf sein strahlendes Grinsen preis. „Ich würde unseren Leader sowieso im Leben nie so nennen, da müsste ich Angst haben, er würde mir den Kopf abbeißen.“
 

Kaoru für seinen Teil war sprachlos und mehr als froh darüber, dass er dem anderen gar nicht antworten konnte. Mehr als ein ungläubiges Was? Wäre ihm ohnehin nicht über die Lippen gekommen. Als Die vorhin zu Shinya meinte, er könnte ihn Kaoru nennen, hatte er das Ganze noch für einen Scherz gehalten, aber sein Freund schien fest entschlossen zu sein, ihm den richtigen Namen zu geben, selbst wenn es nur ein Spitzname war. Steckte Die etwa mit der Zauberkatze unter einer Decke? War er mit daran schuld, dass Kaoru sein Dasein als Katze fristen musste? Noch bevor ihm die Absurdität seiner Gedanken klar werden konnte, hatte er sich aufgerichtet und dem anderen seine Fragen entgegengerufen. Dass sein Freund sein aufgebrachtes Maunzen nicht verstehen konnte und er sich gerade nur lächerlich machte, war Kaoru für den Moment egal. Wenn es eine Chance gab, den Zauber rückgängig zu machen und Die seine Finger mit im Spiel hatte, dann sollte er gefälligst jetzt dafür sorgen, dass wieder alles normal wurde!
 

„Hey, was hast du denn?“ Finger begannen, sanft unter seinem Kinn zu kraulen, und besänftigten ihn derart schnell, dass er sich über sich selbst gewundert hätte, wäre das nicht gefühlt sein Dauerzustand, seit er eine Katze war. Ruckartig hockte er sich auf seinen Hintern, den Kopf nach oben gereckt, damit Die noch mehr Platz für seine Streicheleinheiten hatte. Es war unfair, wie gut das tat und wie effektiv es ihn beruhigen konnte.

„Magst du den Namen nicht?“ Kaoru blinzelte, senkte den Kopf und folgte dem Impuls, seine Nase gegen die seines Freundes zu reiben. Ein leises Glucksen ließ den Brustkorb, auf dem er saß, erbeben und er reagierte mit tiefem Schnurren darauf. Er mochte es, wenn er Die zum Lachen bringen konnte. Das sollte er viel öfter tun.

„Also, darf ich dich Kao nennen?“ Beinahe hätte er genickt, begnügte sich jedoch mit einem weiteren Reiben an Dies Kinn. Er sollte dem Großen lieber nicht mit kohärenten Antworten einen Schock verpassen.

„Sehr schön“, murmelte die mit einem Lächeln in der Stimme und stupste ihm gegen die Nase. „Dann ist es amtlich. Willkommen in deinem temporären Zuhause, Kao.“
 

Ein eigenartig warmes Gefühl, das sich Kaoru nicht ganz erklären konnte, breitete sich in seinem Körper aus. Es fühlte sich beinahe wie Zufriedenheit an, wie etwas, das er schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte. Er reckte sich den kraulenden Fingern entgegen, während ihm langsam aber sicher bewusst wurde, wie dumm seine Anschuldigungen gewesen waren. Wie hätte Die auch in den Plan der Zauberkatze involviert sein sollen? So, wie er das magische Tier bislang erlebt hatte, gab es vermutlich nicht mal einen Plan. Es musste also einen anderen Grund geben, warum er ihn unbedingt so nennen wollte, aber welchen?
 

„Weißt du“, begann Die in diesem Moment zu reden, als hätte er seine Frage gehört, und machte es sich etwas bequemer. „Ich hab das Gefühl, einfach nicht mehr an ihn heranzukommen. Er vergräbt sich nur noch in der Arbeit und achtet kein Stück mehr auf sich. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt noch schläft oder ob er einfach so lange durcharbeitet, bis er vom Stuhl kippt. Ich mach mir Sorgen um ihn.“ Die seufzte und wieder lag dieser Schatten in seinen Augen, der von Traurigkeit sprach. Kaoru hingegen fehlten jegliche Worte, nicht einmal einen klaren Gedanken konnte er fassen. Redete Die wirklich von ihm?

„Ich glaube, wenn ich dich Kao nenne, kann ich mir wenigstens vormachen, mich um ihn kümmern zu können. Ich weiß, das ist dumm, aber …“ Die drehte den Kopf, weg von ihm und schien das Fernsehprogramm plötzlich sehr interessant zu finden.
 

Aufgewühlt richtete sich Kaoru auf, drehte sich einige Male um die eigene Achse, bis er sich eng auf Dies Brust zusammenrollte. Er hörte den gleichmäßigen Herzschlag seines Freundes, spürte mit jedem Atemzug das stetige Auf und Ab seines Brustkorbs. Die sorgte sich um ihn. Auch wenn dieser Umstand nicht mehr der Offenbarung glich, die er zum ersten Mal in Shinyas Wagen gehört hatte, machte er ihn dennoch gleichermaßen fassungslos. Er blinzelte einmal, zweimal, während sich seine Gedanken überschlugen. Übertrieb Die oder hatte er in den letzten Wochen und Monaten tatsächlich zu viel gearbeitet? Sicher, er hatte selbst bereits festgestellt, dass es ihm in letzter Zeit nicht sonderlich gut gegangen war. Der Rücken tat ihm weh, seine Kopfschmerzen waren zu einem ständigen Begleiter geworden und sein Magen hatte sich auch schon mal entspannter angefühlt. Aber das war nichts, was er mit ein paar freien Tagen nicht wieder in den Griff bekommen hätte, oder doch? Nun ja, wenn er ehrlich war, ohne diese unfreiwillige Auszeit, in der er sich gerade befand, hätte er bis zur nächsten Tour sicher so weitergemacht. Es gab immer etwas zu tun, Dinge zu organisieren, und damit war noch nicht einmal der kreative Teil seiner Arbeit abgedeckt. Himmel, er war tatsächlich zum Workaholic geworden und hatte es nicht einmal bemerkt.
 

‚Tut mir leid, Die‘, seufzte er in Gedanken und sah aus dem Fenster, hinter dem es langsam zu Dämmern begann. Seine Kollegen würden sich bald zur angekündigten Krisensitzung treffen – hatte Die nicht telefoniert, als er seinen Fisch verspeist hatte? Bis eben noch hatte Kaoru sich Gedanken darüber gemacht, wie er seinen Freund dazu bekommen würde, ihn mitzunehmen, damit er hören konnte, was besprochen wurde. Jetzt jedoch traf er für sich den Entschluss, sich rauszuhalten – wenigstens für heute.
 

Kaoru schloss die Augen und spürte mit einem Mal, wie Erschöpfung bleischwer in seine Knochen sank. Kein Wunder, so viel wie er heute erlebt und so wenig Schlaf wie er in letzter Zeit abbekommen hatte. Statt sich, wie es seine Angewohnheit geworden war, jedoch gegen dieses Gefühl zu wehren, gähnte er ungeniert und vergrub seine Schnauze zwischen den Vorderpfoten. Dies Hand legte sich wie eine wärmende Decke auf seinen Rücken, Finger kraulten ihn sanft im Nacken und geleiteten ihn in eine Traumwelt, in der er den Mut besaß, vor seinen Kollegen zuzugeben, dass ihm alles über den Kopf wuchs.
 

~*~
 

Lautes Krachen und tiefes Grollen rissen ihn aus dem Schlaf. Mit angstgeweiteten Augen sah er nach draußen, versuchte, zu begreifen, was ihn geweckt hatte. Regen rann in langen Schlieren am Fensterglas herab, wenn er nicht gerade von kräftigen Böen in mächtigen Wellen dagegen gedrückt wurde. Das Jaulen des Sturms war ohrenbetäubend laut und das dumpfe Poltern des Donners schien durch seinen gesamten Körper zu vibrieren. Kaoru duckte sich, als ein Blitz das Wohnzimmer für einen Sekundenbruchteil in gleißendes Licht tauchte. Sein Instinkt schrie ihn an, sich einen sicheren Ort zu suchen und sich dort zu verkriechen, doch sein rationaler Verstand hielt dagegen, dass es nur ein Gewitter war. Nichts vor dem er sich fürchten musste; und doch fühlte er sich nicht imstande, sich vom Fleck zu bewegen.
 

Er musste so fest eingeschlafen sein, dass er weder bemerkt hatte, wie Die zum Treffen mit den anderen aufgebrochen noch wie er zurückgekehrt war. War sein Freund überhaupt schon wieder zu Hause? Was war, wenn der Große in diesem Unwetter feststeckte, ihm etwas zugestoßen war? Kaorus Herz raste nun nicht mehr nur der unsinnigen Angst vor dem Gewitter wegen. Mit enormer mentaler Anstrengung brachte er seinen Körper dazu, aus seiner Paralyse zu erwachen und ihm wieder zu gehorchen. Er sprang vom Sofa, ging jedoch weiterhin geduckt, als würde ihm das Unwetter so weniger ausmachen. Ein absolut irrationaler Gedanke, aber einer, mit dem sich seine Katzeninstinkte zufriedengaben.
 

Seine Nachtsicht war der Wahnsinn, stellte er beiläufig fest, als er durch die dunkle Wohnung schlich. Wie spät war es eigentlich? Ein schneller Blick zur Seite zeigte ihm das leuchtende Display von Dies Entertainmentsystem, aber eigenartigerweise konnte er die Zahlen nicht lesen. Selbst als er sich genau davorsetzte und die Blinkenden Zeichen so lange anstarrte, bis sie schwach leuchtende Nachbilder auf seiner Netzhaut hinterließen, wurde er nicht schlau aus dem, was er sah. Konnten Katzen nicht lesen? Lag es daran?
 

Das war eine Möglichkeit, die ihm gerade absolut nicht gefiel, über die er sich jedoch fürs Erste keine weiteren Gedanken machen würde. Viel wichtiger war es, Die zu finden. Er erhob sich, ging weiterhin geduckt über den Flur, bis er an der Schlafzimmertür angelangt war. Er drückte mit dem Kopf dagegen, aber entweder war er zu schwach oder die Tür fest geschlossen. Mist. Wie sollte er nun herausfinden, ob sein Freund sicher in seinem Bett lag und schlief? Ein weiterer Donner ließ ihn zusammenfahren und sich zitternd gegen das Holz der Tür pressen. Verdammt noch mal! Das war doch nicht die Möglichkeit. Er hatte zuletzt als Kind Angst vor Gewittern gehabt, da würde er jetzt nicht wieder damit anfangen. Er war ein gestandener Mann, auch wenn er sich gerade im Körper eines kleinen Kätzchens befand. Wieder donnerte es und ohne weiter darüber nachzudenken oder sich zur Vernunft zu rufen, sprang Kaoru panisch so lange an der Tür empor, bis er die Klinke mit vollem Körpereinsatz nach unten drücken konnte. Er purzelte haltlos in den Raum, überschlug sich einmal, bevor er wie erstarrt liegen blieb. Hatte Die ihn gehört? War er überhaupt hier? Nur langsam beruhigte sich sein wilder Herzschlag. Die unangenehmen Geräusche des Gewitters waren hier im Schlafzimmer deutlich abgemildert, stellte er erleichtert fest und rappelte sich hoch. Langsam ging er auf das Bett zu, fixierte die Kante und landete mit einem beherzten Sprung auf der Matratze.
 

Die lag friedlich schlafend auf der Seite, das Gesicht halb unter der Decke versteckt. Kaoru setzte sich, ließ seinen Blick für einen langen Moment auf der Gestalt seines Freundes ruhen. Die Erleichterung, ihn wohlauf zu sehen, machte ihn beinahe schwindlig und er tadelte sich in Gedanken, so übertrieben zu haben.

In diesem Augenblick hätte er gehen können, schließlich hatte er alles gesehen, was er sehen musste, um das schlechte Gefühl in ihm zu vertreiben, aber er blieb. Vorsichtig tapste er über Die hinweg, bis er sich hinter ihm auf dem Kopfkissen zusammenrollen konnte. Er tat das nicht, weil er Angst vor dem Gewitter hatte, sicher nicht. Hier in Dies Schlafzimmer war es nur ruhiger als im Wohnzimmer und außerdem war das Kissen weicher als das Sofa.
 

„Hat dich das Unwetter aufgeweckt?“ Die hatte sich behutsam zu ihm umgedreht und streichelte nun über sein Fell. „Eigenartig. Ich dachte, ich hätte die Schlafzimmertür zugemacht.“ Sein Freund versteckte sein Gähnen unter der Decke, bewegte sich ein paar Mal hin und her, bis er eine Position gefunden hatte, die ihm zu gefallen schien. „Schlaf gut, Kao.“
 

‚Du auch, Die‘, erwiderte er in Gedanken und stupste die ihn streichelnden Finger mit der Schnauze an. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass Die sicher nicht so ruhig geblieben wäre, hätte sich Kaoru in Menschengestalt in sein Bett geschlichen, aber das Grinsen, welches darauf nur zu gerne seine Lippen geziert hätte, musste ein Innerliches bleiben.
 

~*~
 

Er wusste nicht, wie spät es war, aber eine Bewegung neben ihm und Dies nicht allzu leises Gähnen holten ihn langsam aus dem Schlaf. Er streckte sich, gähnte ebenfalls und blinzelte, als sein Freund die Vorhänge aufzog und ein Fenster kippte. Frische, noch vom Regen feucht duftende Luft flutete den Raum und ließ Kaoru genießend tief einatmen. Alles, was er gestern erlebt hatte, war also wirklich kein Traum gewesen, stellte er fest, als er an sich herabsah und mit dichtem Fell und tapsigen Pfoten konfrontiert wurde. Großartig. Er hätte nicht sagen können, welches Gefühl diese Erkenntnis mit sich brachte. Enttäuschung? Erleichterung? Aufziehende Panik? Kaoru gähnte erneut und beschloss, diese viel zu komplizierten Emotionen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Die Überlegung, ob er schon aufstehen sollte oder ob er seine neugefundene Freiheit genießen und faul liegen bleiben wollte, war gerade ohnehin wichtiger.
 

Die hatte das Schlafzimmer längst verlassen, einen Stapel Kleidung unter den Arm geklemmt, und Kaoru lauschte den verschiedenen Geräuschen, die sein Freund in der Wohnung machte. Eine Tür öffnete und schloss sich, Füße schlurften noch etwas müde wirkend über den Flur. Die Kaffeemaschine begann zu gurgeln, ein Futternapf schepperte metallisch. Kaoru hob bei Letzterem den Kopf, die Ohren gespitzt und der Magen knurrend, als wäre er ein Pawlowscher Hund, der auf das Klingeln einer Glocke mit Speichelfluss reagierte. Er hätte mit den Augen gerollt, aber auch das blieb ihm in dieser Form verwehrt. Stattdessen spielte er sein kleines Spielchen weiter, lauschte gespannt auf das, was Die als Nächstes tun würde. Leises Plätschern und das Betätigen der Toilettenspülung brachten ihn jedoch dazu, peinlich berührt den Kopf unter den Pfoten zu verstecken. Geschärfte Sinne schön und gut, aber er musste wirklich nicht alles hören. Mit dem Rauschen der Dusche als Hintergrundbeschallung verließ er schlussendlich das Schlafzimmer auf der Suche nach seinem Frühstück.
 

Hach ja, Frühstück. Auch so etwas, was er sich in letzter Zeit viel zu selten gegönnt hatte. Vermutlich war es diesem Umstand zu Schulden, dass er noch immer glücklich kauend vor seinem Napf saß, als er erneut Schritte hörte, die sich ihm näherten. Er hatte gerade noch ein großes Stück Thunfisch im Maul gehabt, als er sich umdrehte, und eigentlich seinen Mitbewohner begrüßen wollte. Dazu kam er jedoch nicht, denn der Fisch fiel unzeremoniell aus seinem weit geöffneten Mund direkt auf den Boden, während seine Augen kugelrund sein mussten.

Wie war das vorhin noch mit den geschärften Sinnen?
 

„KANNST du dir nichts anziehen?!“ Es wäre so befriedigend gewesen, hätte er diese Worte seinem Freund entgegenschreien können, was jedoch seinen Mund verließ, war wieder einmal ein Miau. Empört und aufgeregt zwar, aber doch nur ein Miau.
 

„Was hast du denn? Schmeckt dir der Fisch nicht?“ Die ging vor ihm in die Hocke und Kaoru wäre am liebsten hier und jetzt in Ohnmacht gefallen. Es gab Dinge, mit denen sollte niemand am frühen Morgen konfrontiert werden. Vor allem nicht, wenn man, so wie Kaoru gerade, im Körper einer kleinen, sehr kleinen Katze gefangen war! Mit einem Satz sprintete er davon, nutzte Dies Schulter als Sprungbrett und schlitterte über das Parkett des Flurs, bis er sich mit wild klopfendem Herzen unter dem Bett verkrochen hatte. So lange die nur im Adamskostüm in seiner Wohnung herumspazierte, würde Kaoru schön hier unten in seinem Versteck bleiben. Basta!
 

„Kao? Wo bist du denn?“

Als Die Minuten später ebenfalls ins Schlafzimmer kam, hatte sich Kaoru wieder so weit beruhigt, dass er sein eigenes Verhalten recht ulkig fand. Dennoch lugte er misstrauisch unter dem Bett hervor und reagierte erst auf das Rufen, als er die mittlerweile besockten Füße seines Freundes am Bett vorbeigehen sah. Wehe ihm, die Socken würden das einzige Kleidungsstück an ihm sein. Zu seiner Erleichterung war Die jedoch vollständig angezogen, als er sich zu ihm herunterbeugte und ihn auf den Arm nahm.
 

„Ich hoffe, dir ist bewusst, dass ich dich nie wieder ernstnehmen kann“, maunzte er den Großen an, der ihn daraufhin nur ahnungslos anlächelte. „Junge, Junge, wenn du wüsstest.“
 

„Na, du bist aber heute gesprächig.“ Die trug ihn in die Küche, wo das letzte Stück Thunfisch wieder in seinem Napf lag und eine dampfende Tasse Kaffee auf dem Tisch stand, die ihr wunderbares Aroma verströmte. Was hätte er nicht alles dafür gegeben, jetzt seine Hände um die Tasse legen zu können und sich einen großen Schluck des Getränks schmecken zu lassen. Für einen Moment schloss Kaoru die Augen. Verdammt, er wollte wieder ein Mensch sein …

‚Oder, mmmmh, vielleicht auch nicht?‘

Sein Freund hatte ihn auf seinem Schoß abgesetzt und begonnen, ihm durchs Fell zu kraulen. Kaoru reckte sich der angenehmen Berührung entgegen, bevor er es sich gemütlich machte und aus halb geschlossenen Augen Die bei seinem morgendlichen Ritual beobachtete. Auf dem Tablet lief leise eine Nachrichtensendung, während er noch müde wirkend durch seine E-Mails auf dem Handy scrollte und hin und wieder aus seiner Tasse trank. Es war friedlich mit seinem Freund auf diese Weise wach zu werden und Kaoru ertappte sich bei dem Gedanken, dass er das gern öfter erleben würde. Nicht als Katze und sicher nicht auf Dies Schoß, aber als Freund ihm gegenüber. Eine unbestimmte Melancholie machte ihm das Herz schwer, als ihm bewusst wurde, dass er all das hätte haben können, hätte er nur einmal danach gefragt.
 

Dies Handy, das einen kurzen Ton von sich gab, riss ihn aus seinen Grübeleien und neugierig geworden hob er den Kopf. Wieder konnte er nicht lesen, was auf dem Display geschrieben stand, obwohl er so, wie sein Freund das Handy hielt, einen perfekten Blick auf die Zeichen hatte. Verdammt, das war nicht gut. Die seufzte, legte das Telefon beiseite und leerte die Tasse in drei großen Schlucken.
 

„Tut mir leid, Kleiner, aber ich muss mal kurz weg. Du bist brav und stellst nichts an, ja?“
 

Kaoru gurrte halb empört – was dachte Die bitte von ihm? – sprang jedoch ohne Weiteres von seinem Schoß und tapste ins Wohnzimmer. Er hatte ohnehin vor, herauszufinden, was es damit auf sich hatte, dass er nichts lesen konnte und dabei würde ihn ein neugieriger Die gehörig im Weg stehen. Er hörte, wie der Große seine Sachen zusammenpackte, im Flur in seine Schuhe stieg und die kurze Verabschiedung, mit der er die Wohnung verließ. Ob Die sich auch immer von Diva so verabschiedete? Irgendetwas in Kaoru wollte glauben, dass der andere das nur für ihn tat.
 

Kaoru sprang auf den niedrigen Wohnzimmertisch, stieß so lange mit der Pfote gegen ein Boulevardmagazin, das dort aufgeschlagen lag, bis es auf den Boden fiel. Sehr schön. Die Zeitschrift so zu drapieren, dass sie anständig geöffnet war und, wie Kaoru nur anhand der Bilder vermuten konnte, auch nicht auf dem Kopf stand, dauerte länger, als ihm lieb gewesen wäre, aber irgendwann hatte er es geschafft. Was er jedoch nicht schaffte, war, etwas zu lesen. Verzweifelt suchte er nach einem Zeichen, das ihm vertraut war, einem Logo oder irgendetwas, mit dem er arbeiten konnte, aber nichts.
 

„Katzen können nicht lesen, Dummerchen.“

Die Stimme, die plötzlich neben ihm erklungen war, hatte ihn dermaßen erschreckt, dass er aus dem Stand einen halben Meter in die Höhe gesprungen war.

„Mmmh, willst du mich damit beeindrucken?“, schnurrte die Zauberkatze, kam auf ihn zu und rieb ihre Schnauze gegen die seine.

„Erzähl mal, wie gefällt dir dein Leben bisher?“ Sie setzte sich und begann über ihre Vorderpfote zu lecken, als gäbe es auf der Welt nichts, was sie aus der Ruhe bringen konnte.
 

„Wie bist du hier rein gekommen?“ Endlich hatte Kaoru seine Stimme wiedergefunden und funkelte sein Gegenüber angriffslustig an. „Ist dir eigentlich klar, was ich durchgemacht habe?“
 

„Du siehst nicht so aus, als würde es dir schlecht gehen. Ist doch ein schönes Zuhause, das du hier hast, und dein Mensch sieht auch echt nett aus.“
 

„Lass Die aus dem Spiel!“
 

Es hätte nicht möglich sein sollen, aber Kaoru hätte schwören können, ein Grinsen über das sonst eher ausdruckslose Gesicht der Zauberkatze huschen zu sehen.

„Territorial wirst du auch schon, ist doch alles perfekt.“
 

„Nichts ist perfekt. Ich muss wieder zu einem Menschen werden. Ich hab Verpflichtungen und …“

‚Und einen Freund, dem ich mehr als nur eine Entschuldigung schuldig bin‘, vollendete Kaoru seinen Satz in Gedanken.
 

„Ich sagte dir bereits, dass ich nur Herzenswünsche erfüllen kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
 

„Aber es ist mein Herzenswunsch, wieder normal zu sein, verdammt!“
 

„Wohl nicht.“ Die Zauberkatze erhob sich, schlenderte elegant zur Balkontür hinüber, die sich wie von Zauberhand öffnete. „Also, was ist? Willst du den ganzen Tag damit verbringen, dir das Lesen beizubringen, oder bist du bereit für ein Abenteuer?“
 

„Was? Hey, warte!“

Ohne weiter darüber nachzudenken, folgte er der Zauberkatze auf den Balkon, wo er gerade noch sah, wie sie leichtfüßig über das Geländer balancierte und einen beeindruckenden Sprung auf das benachbarte Hausdach vollführte. Verflucht, er brauchte Antworten, wenn er jemals wieder zum Menschen werden wollte. Und wenn das hieß, der Zauberkatze hinterherzulaufen und zu hoffen, dass er sich dabei nicht sämtliche Knochen brach, dann sollte das eben so sein. Für einen Herzschlag lang sah er zurück in die Wohnung, hoffte inständig, Die würde nicht mitbekommen, dass er gegangen war, schließlich wollte er seinem Freund keine Sorgen machen. Dann gab er sich einen Ruck, sprang beherzt auf das Geländer und folgte der Zauberkatze.
 

tbc ...

Lektion 4 - Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung

Kaoru duckte sich tief ins Gras, seine Hinterläufe trippelten, der Hintern wackelte, bis er mit einem großen Satz auf seine Beute zusprang. Besagte Beute entpuppte sich als Zikade, die sich von dem Angriff des kleinen Katers nur mäßig beeindruckt zeigte und langsam davon hüpfte.
 

„Mist, schon wieder verfehlt“, murrte Kaoru und trottete zu seiner Begleiterin zurück, die sich die warme Frühlingssonne auf ihren schwarzen Pelz scheinen ließ. Gähnend hockte er sich neben sie, ließ sich zur Seite fallen und rollte sich auf den Rücken.
 

„Mach dir nichts draus. Mit etwas Übung wird schon noch ein richtiger Kater aus dir.“
 

Kaoru drehte sich zurück auf den Bauch, streckte sich und bemerkte, wie gut ihm dieses, wenn auch nicht sehr offensichtliche Lob tat. Aber … halt mal, er schüttelte nachdrücklich den Kopf, als ihm bewusst wurde, was genau die andere gesagt hatte.

„Was redest du da? Ich bin ein Mensch, kein Kater.“
 

„Ein Mensch, der über die Wiese springt, um Insekten zu fangen?“
 

„Das …“ Kaoru fehlten die Worte, was die Zauberkatze immens zu belustigen schien. „Erzähl mir lieber mehr von diesen Herzenswünschen, die du erfüllen kannst“, lenkte er ihr Gespräch daher in für ihn wichtigere Bahnen. „Woher weißt du, wann ein Wunsch von Herzen kommt?“
 

„Ich weiß es einfach.“
 

Kaoru seufzte und legte sein Kinn auf den Vorderpfoten ab. Diese oder eine Variante dieser Frage hatte er ihr in den letzten Stunden, in denen sie gemeinsam durch die Stadt gestromert waren, bereits öfter gestellt. Leider waren all ihre Antworten, wie auch diese, komplett unbrauchbar. Kaoru wollte wieder ein Mensch werden und das bitte, bevor es ohne ihn doch noch Probleme mit der Band geben würde. Wenn das kein Herzenswunsch war, dann wusste er auch nicht mehr weiter.
 

„Dann beschreib mir wenigstens, wie sich ein Herzenswunsch für dich anfühlt. Gib mir irgendetwas, womit ich arbeiten kann.“
 

„So funktioniert das nicht.“
 

„Wieso denn nicht?‘“ Kaoru hätte sich am liebsten die Haare gerauft, so frustriert war er mittlerweile.
 

„Weil die Art von Wünschen, die ich erfülle, nichts mit Logik zu tun hat. Du kannst nicht darauf hinarbeiten oder es erzwingen. Ein solcher Wunsch muss tief aus deiner Seele kommen, dich ganz und gar erfüllen und so stark sein, dass ein magisches Wesen wie ich ihn nicht ignorieren kann.“
 

„Heißt das, du ignorierst einfach, dass ich mir wünsche, wieder ein Mensch zu sein?“
 

„Natürlich, Dummerchen. Glaubst du, ich habe nichts Besseres zu tun, als bei allem, was ihr Zweibeiner euch den lieben langen Tag so erbittet, sofort zu springen? Da würde ich ja nie fertig werden.“ Sie stand auf, schüttelte sich und wirkte zum ersten Mal, seit Kaoru sie kennengelernt hatte, tendenziell aufgebracht.

„Ich wünsche mir gute Noten, ich wünsche mir, dass er mich auch liebt, ich wünsche mir, dass morgen schönes Wetter ist. Wünsche, Wünsche, Wünsche. Einer banaler als der andere.“
 

„Ja, aber …“ Kaoru betrachtete sein Gegenüber für einen langen Moment, ohne weiterzusprechen. Langsam kam er ebenfalls auf die Beine, begann, nachdenklich auf und ab zu gehen. „Ich glaube, ich verstehe jetzt, was du meinst.“
 

„Gut, dann hörst du hoffentlich endlich damit auf, mir ständig diese Fragen zu stellen.“
 

Kaoru duckte sich, erkannte den Befehl, der in ihrer Bitte mitschwang. Er musste ihre Geduld in den letzten Stunden wirklich überstrapaziert haben. Leider bedeutete die Tatsache, dass er nun nachvollziehen konnte, weshalb sie nicht jeden daher gesagten Wunsch erfüllen konnte nicht, dass er wusste, wie er wieder ein Mensch wurde. Wie bekam er denn sein Herz dazu, einen Wunsch zu äußern? War ja nicht so, als hätte er es vorgestern Nacht todernst gemeint, als er sich wünschte, eine Katze zu sein. Zumindest dachte er das. Sein Herz schien anderer Meinung gewesen zu sein. So ein Mist aber auch. Er hätte geseufzt, wäre ihm das möglich gewesen, starrte stattdessen nur für einige lange Momente stumpf vor sich hin.
 

„Sag mal“, richtete die Zauberkatze das Wort an ihn und riss ihn damit aus seinen Grübeleien. „Ist das da drüben nicht dein Mensch?“
 

„Mein Mensch?“, wiederholte er fragend, weil er nicht verstand, wen sie mit dieser Bezeichnung meinte. Interessiert folgte er ihrem Blick und erkannte in der Ferne einen ihm tatsächlich sehr vertrauten, knallroten Haarschopf.

„Die?“, maunzte er leise, fragend. Was tat sein Freund denn hier? Und das dort bei ihm waren doch Toshiya, Shinya und Kyo? Hatte er sich mit seiner Begleiterin tatsächlich die ganze Zeit über in dem Park aufgehalten, der gegenüber ihres Studios lag, ohne es zu bemerken? Das war … Er konnte es kaum fassen, wie anders seine Wahrnehmung als Katze war. Sollte er noch länger in diesem Körper feststecken, konnte das zu einem ernsthaften Problem werden. Darüber wollte er lieber nicht zu genau nachdenken.

Ohne es wirklich bemerkt zu haben, war er über die Freifläche des Parks gelaufen und hatte die Zauberkatze ohne ein Wort der Verabschiedung hinter sich gelassen, so fixiert war er darauf, zu Die zu gelangen.
 

Er konnte schon den Tabakgeruch der Zigaretten riechen, den unwilligen Gesichtsausdruck Shinyas erkennen, der seine drei rauchenden Kollegen aus einiger Entfernung musterte. Mh, eigenartig, er vermisste es gar nicht, zu rauchen. Dieser Gedanke kam ihm im selben Moment in den Sinn, als Shinya meinte: „Die? Ist das nicht der Streuner, den Miyu und ich gestern aufgegabelt haben?“ Der Drummer deutete auf Kaoru, die Augen zusammengekniffen, als wäre er sich nicht sicher, ob er mit seiner Vermutung richtig lag.
 

„Wie?“ Die drehte sich zu ihm herum und er begrüßte seinen Freund mit einem fröhlichen „Hallo“, was natürlich erneut als Maunzen sein Maul verließ.

„Bleib stehen!“, rief Die plötzlich aus und Kaoru war so perplex über die Schärfe in seiner Stimme, dass er tat, was der andere von ihm verlangte. Jetzt erst bemerkte er die Straße, die er beinahe überquert hätte, ohne nach links und rechts zu sehen. Sein Herz hämmerte wie wild in seinem Brustkorb und mit geweiteten Augen sah er dem silbernen Ford Explorer hinterher, unter dessen Räder er ohne Dies Warnung sein frühzeitiges Ende gefunden hätte.

„Du darfst doch nicht einfach auf die Straße rennen“, tadelte der Große außer Atem, obwohl er kaum zehn Schritte hatte gehen müssen, um zu ihm zu gelangen. Hände schlossen sich um Kaorus Mitte, hoben ihn hoch und lehnten ihn gegen einen warmen Oberkörper.

„Wie zum Teufel bist du überhaupt hierhergekommen?“
 

„Ist er es denn?“ Shinya war zu ihnen gekommen, legte einen langen Finger unter Kaorus Kinn und drückte es leicht nach oben, um sein Gesicht mustern zu können. Er mochte es nicht, so manipuliert zu werden, und wandte sich ab. Den Kopf schüttelnd krabbelte er auf Dies Schulter höher, weg von den starrenden Blicken des Drummers.

„Mh, er sieht dem Streuner zum Verwechseln ähnlich.“
 

„Das ist Kao, kein Zweifel“, murmelte Die und begann, sanft durch Kaorus Fell zu kraulen. „Ich begreife nur nicht, wie er aus der Wohnung gekommen ist. Ich hatte alle Fenster geschlossen, da bin ich mir sicher.“
 

„Kao, wie in Kaoru?“ Kyo grinste offen, während Toshiya sein breites Lächeln hinter einer Hand versteckte. Dies Wangen färbten sich in einem nicht allzu attraktiven Rot, das sich ziemlich mit seiner Haarfarbe biss, Kaoru jedoch überaus belustigte. Tja, das hatte der Gute nun davon, ihn so genannt zu haben.
 

„Nein, wie in Kakao“, maulte Die ertappt, trat auf seine fallengelassene Zigarette und entsorgte sie in dem Pappbecher, der den dreien als temporärer Aschenbecher diente. Sein Freund war wirklich noch nie ein guter Schauspieler gewesen.
 

„Das ist die offensichtlichste Ausrede, die ich je gehört habe“, bestätigte Kyo seinen Gedankengang, während Die beharrlich so tat, als würde er den Sänger nicht hören.
 

„Jetzt stellt sich nur die Frage, ob Die das kleine Kerlchen nach unserem Leader benannt hat, weil es genauso kratzbürstig ist wie er, oder ob es dafür womöglich einen ganz anderen Grund gibt?“ Toshiya wackelte kichernd mit den Augenbrauen und Kyos Grinsen wurde nur noch breiter.
 

‚Ey, was heißt hier, ich wäre kratzbürstig? Das ist ja wohl die Höhe!‘, maulte Kaoru in Gedanken und hätte seinem unverschämten Kollegen zu gern genau diese und noch einige andere Fragen an den Kopf geknallt. ‚Was zum Geier findest du gerade so witzig? Welcher andere Grund? Verflixt, warum redet niemand Klartext hier?!‘
 

„Was für ein Pech, dass ihr zwei das nie erfahren werdet“, konterte sein Freund. Kaoru sah ihn vorwurfsvoll an, aber Die war zu sehr damit beschäftigt, sich nicht weiter von Kyo und Toshiya vorführen zu lassen, um seinen Blick zu bemerken.
 

‚Na, schönen Dank auch. Das nenne ich einen Freund. Willst du mich denn gar nicht verteidigen oder wenigstens nachfragen, wovon Toshiya redet, damit ich nicht dumm sterbe?“
 

„Kommt jetzt, Takabayashi wartet sicher schon.“ Tja, wohl nicht, denn das war alles, was Die zu diesem Thema noch zu sagen hatte. Sein Unvermögen, sich bemerkbar zu machen, regte Kaoru mit jedem Augenblick mehr auf und Enttäuschung nagte an ihm, weil sein Freund nicht für ihn in die Bresche gesprungen war. Aber was hatte er auch anderes erwartet? Vermutlich war er in den letzten Wochen wirklich etwas zu aufbrausend gewesen und das war nun die verdiente Retourkutsche dafür.
 

„Nur, weil du Kao halb über der Schulter hängen hast, brauchst du dich nicht als Leader aufzuspielen.“
 

„Toshiya~“, knurrte Die und zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Tür zum Studio. „Wolltest du nicht pünktlich Schluss machen, weil du noch ein Date hast?“
 

„Ich treffe mich mit einer Freundin, das ist kein Date!“
 

„Ach, nein? Und warum guckst du dann plötzlich so verlegen?“
 

Kaoru blendete das neckende Hin und Her der beiden aus und musterte über Dies Schulter hinweg die schwarze Katze. Sie saß auf der gegenüberliegenden Straßenseite, fixierte ihn mit leicht schief gelegtem Kopf, bevor sie davonsprang und hinter einer Reihe parkender Autos verschwand.
 

~*~
 

Kaoru fragte sich, ob die Zauberkatze es absichtlich so eingefädelt hatte, dass er nun gemeinsam mit seinen Kollegen ihrem Manager zuhören konnte, der sie gerade über den Stand der Vorbereitungen für ihre anstehende Tour informierte. Es waren nur noch drei Wochen, bis es losgehen sollte, und wie immer war unglaublich viel zu organisieren. Nicht zuletzt deswegen hatte Kaoru mit dem Gedanken gespielt, Die entweder dazu zu bringen, ihn ins Studio mitzunehmen oder sich irgendwie heimlich einzuschleichen. Allerdings war das sicher kein Herzenswunsch gewesen, den seine magische Bekannte nicht hätte ignorieren können. Weshalb also wurde er den Gedanken nicht los, dass sie ihm dennoch geholfen hatte? Verfolgte sie eine eigene Agenda, von der er nichts wusste, oder war sie generell unberechenbar, wie man es Katzen so oft nachsagte?
 

Kaoru erhob sich von seiner eingerollten Position auf dem Stuhl neben Die, schüttelte sich kräftig und lugte über die Kante des Besprechungstischs, um die Anwesenden mustern zu können. Ursprünglich hatte er seinen pelzigen Hintern auf der Tischplatte geparkt, aber das war nicht ganz so gut angekommen. Vor allem Shinya hatte darauf bestanden, dass man ein Tier bereits in jungen Jahren gut erziehen müsse, sonst würde es später nur Probleme geben.
 

‚Wenn du wüsstest‘, hatte sich Kaoru im Stillen gedacht und hatte wenig begeistert seinen jetzigen Platz eingenommen. Erneut fuchste es ihn maßlos, nicht mitreden zu können oder Takabayashi anzuspornen, sich kürzerzufassen. Allerdings hatte er auch feststellen müssen, dass seine Kollegen deutlich konzentrierter bei der Sache waren und die richtigen Fragen stellten, als er je gedacht hätte. Besonders Die. Er musterte seinen Freund von der Seite und so etwas wie Stolz zog an seinem Herzen. Er hatte seinem Freund unrecht getan. Die war nicht heillos überfordert, nur ungeübt, was kein Wunder war, schließlich hatte Kaoru in den letzten Jahren sämtliche Verantwortung an sich gerissen. Eine Schande, dass ihm das jetzt erst auffiel.
 

Er sprang kurz auf den Boden, nur um gleich wieder nach oben auf Dies Schoß zu hüpfen. Der Große sah kurz verwundert auf ihn herab, lächelte dann aber und begann, über sein Fell zu kraulen. Genau dieses Lächeln hatte er sehen wollen. Zufrieden begann Kaoru zu schnurren und blendete für die nächste Zeit alles und jeden aus. Nun gut, nicht alles; Dies geschickte Finger hatten seine Aufmerksamkeit mehr als verdient.
 

~*~
 

„Bringst du ihn nach Hause?“ Kyos Stimme riss ihn aus dem Dämmerschlaf, in den er die letzten Stunden über gefallen war. Er blinzelte kurz, als sich sein warmes Bett plötzlich bewegte und er hochgehoben wurde. So dösig, wie er noch immer war, streckte er sich nur gähnend und kuschelte sich gegen das erneut so schön warme Ding, gegen das er gelehnt wurde.
 

„Ist vermutlich das Sinnvollste. Er langweilt sich sicher nur und zu futtern hab ich für ihn auch nichts hier.“ Das war Die, bemerkte er und allein die Stimme seines Freundes veranlasste ihn, leise zu schnurren. Oder waren es doch die Finger, die ihn hinter dem rechten Ohr kraulten? Irgendwie fühlte sich das anders an, als er es gewohnt war. Beinahe unwillig öffnete er ein Auge, dann das Zweite, bevor er für einen langen Moment einfach nur starrte. Kein Wunder, dass sich das anders anfühlte. Es war nicht Die, der ihn kraulte. Stünde sein Leben nicht ohnehin bereits kopf, er würde sich wie im falschen Film fühlen. Kyo kraulte ihn!

Kaoru hatte mittlerweile akzeptiert, dass er als Kater eigenartig verschmust war und solange sich diese Zutraulichkeit auf Die beschränkte, war alles in Ordnung. Aber das war Kyo! Der zugegebenermaßen mindestens einen ebenso guten Draht zu Tieren besaß wie Shinya, aber der eben nicht Die war.
 

„Wir können ihm doch Futter vom Konbini mitbringen und ein wenig mit ihm spielen. Fördert sicher unsere Kreativität“, erklärte Toshiya im Brustton der Überzeugung, während sich auf Shinyas und Dies Gesicht ähnlich skeptische Ausdrücke zeigten. Wieder schlossen sich Hände um Kaoru, diesmal jedoch die des Bassisten, und nur die Aussicht darauf, hierbleiben zu dürfen, hielt ihn davon ab, seine Krallen auszufahren. Gott, wie er es verabscheute, ständig so manipuliert zu werden. Er war doch kein Kuscheltier.

„Seht ihn euch an, er hat doch Spaß.“
 

„Er sieht eher so aus, als würde er dich umbringen wollen.“
 

„Sei nicht immer so makaber, Kyo, ich hab ein Händchen für Miezen.“
 

„Sicher, aber deine Art Miezen ist deutlich weniger behaart.“
 

„Och, du Süßer.“ Toshiya schien den Einwand des Sängers nicht gehört zu haben oder war geübt darin, diese Dinge einfach zu ignorieren. Kaoru würde beides nicht wundern.

„Aber apropos behaart …“ Okay, da war Kyos Kommentar wohl doch beim richtigen Adressaten angekommen. Kaoru hatte kaum Zeit, sich darüber zu amüsieren, da wurde er auch schon unter den Vorderläufen gepackt und nach oben gestreckt hochgehalten. Diese Haltung war alles andere als bequem, aber die nächsten Worte Toshiyas waren es, die seinen Geduldsfaden endgültig reißen ließen.

„Habt ihr schon diese niedlichen, haarigen Eierchen gesehen?“
 

Kaoru wand sich so heftig, dass der Bassist ihn überrumpelt losließ. Kaum hatten seine vier Pfoten den Boden berührt, sauste er davon und hielt erst in sicherer Entfernung wieder an. Vorwurfsvoll musterte er den zu groß geratenen Perversen, der sich jedoch keiner Schuld bewusst zu sein schien.
 

„Jetzt hast du ihn verschreckt“, tadelte Shinya, während sich Kyo und selbst Die ein Lachen nicht verkneifen konnten. Verräter!
 

„Ach Quatsch, das war doch ein Kompliment.“
 

„Na ja, wie man es nimmt“, murmelte Kyo und rieb sich übers Kinn.
 

„Hä? Wie meinst du das?“ Toshiya schlich näher an Kaoru heran, aber anders, als der Bassist glaubte, war er nicht blöde und sprang davon, als erneut große Hände nach ihm haschten.
 

„Lang wird der gute Kao keine Freude mehr an seinen haarigen Eierchen haben. Oder hast du vergessen, dass Die bereits eine Katze hat?“
 

Das Fang-die-Katz-Spiel, welches Kaoru mit Toshiya mehr oder weniger freiwillig zu spielen begonnen hatte, fand ein abruptes Ende, als sie beide nahezu zeitgleich erstarrten. Zwei identisch entrüstete Blicke trafen Die und Kaoru konnte ein Knurren nicht unterdrücken.
 

‚Ich schwöre dir, ich mach dir dein Leben zur Hölle, wenn du auch nur an einen Tierarztbesuch denkst.‘
 

„Holla die Waldfee, da könnte man ja fast auf den Gedanken kommen, der Kleine hat verstanden, was du gesagt hast, Kyo.“ Shinya schüttelte eindeutig amüsiert den Kopf, auch wenn Kaoru nicht sagen konnte, ob sich die Belustigung des Drummers an ihn oder mehr an Toshiya richtete, der noch immer wie ein Fisch auf dem Trockenen den Mund öffnete und wieder schloss.
 

„Das kannst du dem Armen doch nicht antun!“, brach es schließlich aus ihm heraus, bevor sich Kaoru vollkommen überrumpelt an die Brust des Bassisten gedrückt wiederfand. Mh, vielleicht musste er Toshiyas Solidarität noch einmal überdenken, denn wenigstens er schien auf seiner Seite zu sein.
 

„Ich glaub das nicht“, Die fuhr sich durch die Haare und schüttelte grinsend den Kopf. „Ist dir bewusst, dass du gerade Partei für eine Katze ergreifst?“
 

„Er ist ein Kater. Ein Männchen. Wir Kerle müssen zusammenhalten! Wie KANNST du nur an so … so … DAS halt denken?“
 

„Ich finde es sehr weitblickend von dir, dass du den Tieren deine Stimme gibst“, schaltete sich Shinya ein und Kaoru fragte sich für einen Moment wirklich, ob der Drummer Toshiya gerade nur veräppeln wollte oder ob er das Gesagte ernst meinte.
 

„Ehm, danke, Shinya.“
 

„Gerne.“
 

Eigenartige Stille legte sich über den Raum, während derer sie sich alle nur der Reihe nach anschauten, bis Toshiyas Griff um seine Mitte zu fest wurde, und er sich erneut aus seinen Händen wandt. Automatisch wollte er zu Die hinübertrotten, hielt jedoch auf halbem Wege an und strafte ihn lediglich mit einem erneut sehr vorwurfsvollen Blick.
 

„Nun schau nicht so, Kao“, versuchte sein Freund ihn zu beschwichtigen und kam langsam auf ihn zu. Kaoru wich zurück, spielte mit dem Gedanken, sich hinter dem Sofa zu verstecken, bis Die die Geduld mit ihm verlor und ihn zurückließ. Er würde sich tausendmal lieber allein durch den Großstadtdschungel schlagen, als die Alternative über sich ergehen zu lassen. Himmel, allein der Gedanke ließ ihn schneller atmen und Panik in ihm aufsteigen.

„Hey, was hast du denn plötzlich?“
 

Toshiyas Blick lag noch immer mitfühlend auf ihm, Shinya sah ihm eher neutral und Die verständnislos entgegen. Nur in Kyos Augen hatte sich ein Ausdruck geschlichen, den er nicht zuordnen konnte. Erst jetzt bemerkte er, dass sich seine Nackenhaare aufgerichtet hatten, sein Schwanz kerzengerade in die Höhe ragte und in seiner Brust ein tiefes Knurren vibrierte.
 

„Die?“ Mit langsamen Schritten näherte sich Kyo und ging knapp einen halben Meter vor Kaoru in die Hocke. „Hast du nicht mal erzählt, dass Diva kastriert ist, weil die Züchterin das so wollte?“
 

„Ehm, ja, kann sein.“
 

„Und deine Mieze ist doch gerade sowieso bei deiner Nichte.“ Shinya hatte verstanden, was Kyo versuchte und langsam schien auch Die ein Licht aufzugehen.
 

„Ja, bis zum Ende der Ferien. Es gibt also überhaupt keinen Grund, in nächster Zeit über einen Tierarztbesuch nachzudenken.“
 

Das Knurren, das stetig in Kaorus Kehle gekitzelt hatte, wurde schwächer, bis es nicht mehr zu hören war. Er sengte den Schwanz, schüttelte sich kurz, ließ seine Kollegen jedoch für keine Sekunde aus den Augen. Zwei Schritte ging er rückwärts, bevor er sich blitzschnell umdrehte und sich einen erhöhten Platz auf dem Regal am anderen Ende des Raums suchte.
 

Alle vier betrachteten ihn mit unterschiedlichen Stadien der Verblüffung auf den Gesichtern.

„Ob er verstanden hat, worüber wir geredet haben?“, fragte Toshiya wispernd, als wären Kaorus Ohren nicht hundertmal besser als die eines Menschen.
 

„Quatsch, wie sollte er? Er ist ein Kater. Vermutlich war er nur genervt von dir, weil du ihm hinterhergerannt bist.“ Die winkte ab, aber Kaoru erkannte so etwas wie Sorge in seinem Blick. Gut so, sollte der große Dummkopf nur befürchten, dass er es sich jetzt mit ihm verscherzt hatte.
 

„Mmmh.“ Kyo brummte nur, kam wieder auf die Beine und zog seine Jacke von der Stuhllehne. „Wer kommt mit zum Konbini? Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.“ Mit dieser Ansage des Sängers war die eigenartige Stimmung gebrochen, die sich über den Raum gelegt hatte. Nur Die machte Anstalten, auf ihn zuzugehen, bevor Shinya ihn zurückhielt.
 

„Lass ihn. Er kommt schon, wenn er es für richtig hält.“
 

~*~
 

Kaoru hatte sich fest vorgenommen, Die und seinen Kollegen zu zeigen, wie nachtragend ein Kater sein konnte. Leider war sein Katzengemüt entweder sehr harmoniebedürftig oder der frische Fisch, den sein Freund ihm mitgebracht hatte, zu verlockend. Was auch immer der genaue Grund war, er hatte erst den Fisch restlos verputzt und dann Dies Entschuldigung in Form von ausgiebigem Bäuchleinkraulen angenommen.
 

Der Feierabend hätte nicht später kommen dürfen, denn sobald seine Kollegen zum Aufbruch bliesen, hatte er gewartet, bis Shinya die Tür geöffnet hatte und war so schnell hindurchgeflitzt, dass niemand ihn aufhalten konnte. Endlich an der frischen Luft schaute er sich nur kurz um und verschwand hinter der Hausecke, um sich zu erleichtern.
 

‚Puh, das wäre beinahe schiefgegangen.‘
 

„Kao! Kao, wo bist du?“ Die Stimme seines Freundes riss ihn aus seiner glückseligen Erleichterung und wäre ihm ein solcher Gesichtsausdruck möglich gewesen, hätte er Die schief angegrinst, als er zu ihm zurück trottete.
 

‚Sorry, aber das war mehr als dringend gewesen‘, maunzte er und schmeichelte als Entschuldigung dafür, seinem Freund einen Schrecken eingejagt zu haben, um dessen lange Beine.
 

„Deinetwegen bekomme ich noch einen Herzinfarkt“, maulte Die, hob ihn hoch und drückte ihn kurz an sich. „Du bist wirklich ein ganz spezieller Kater.“
 

‚Oh ja, ganz speziell‘, echote Kaoru und leckte über Dies Nase, was seinen Freund zu einem kurzen Auflachen verleitete.
 

„Vermutlich bin ich selbst schuld, ich hätte dich längst mal rauslassen sollen, nicht wahr?“ Kaoru hatte schon genickt, noch bevor ihm einfiel, dass das eine sehr schlechte Idee gewesen war. Augenblicklich bemerkte er seinen Fehler, als Die ihn leicht blass um die Nase und mit großen Augen anstarrte. „Hast du gerade genickt?“ Kaoru zwang den desinteressiertesten Ausdruck auf sein Gesicht, zu dem er in der Lage war, obwohl ihm das Herz gerade bis zum Hals schlug. Mist. So ein Mist aber auch. Ob er sich damit nun verraten hatte? Einige Sekunden verstrichen in gefühlter Totenstille, bevor Die den Kopf schüttelte und sich mit einem schnaubenden Lachen durch die Haare fuhr. „Shinya hat recht, ich sollte deutlich öfter raus gehen und Spaß haben, wenn ich schon anfange, kohärente Antworten von meinem Kater zu erwarten.“ Kaoru wand sich ein wenig im Griff seines Freundes, bis dieser locker ließ und er auf Dies Schulter klettern konnte. Dort machte er es sich, so gut es eben ging, bequem, während er sich wieder und wieder einredete, verdammt noch mal wie eine Katze zu handeln, solange er in diesem Körper gefangen war.
 

Seine Unvorsichtigkeit jedoch einmal beiseitegeschoben, stellte sich Kaoru eine weitaus spannendere Frage. Warum hatte Shinya seinem Freund den Ratschlag gegeben, wieder mehr zu unternehmen? Sie wussten alle, dass Die der geborene Partyboy war. War so ein Rat dann nicht überflüssig?

Die schien sich in den wenigen Tagen, die er bei ihm verbrachte, mehr und mehr zu einem Enigma zu entwickeln und Kaoru würde verdammt sein, würde er dieses Rätsel nicht knacken können. Er war ein Kater mit einer Mission, die mittlerweile nicht mehr nur daraus bestand, wieder ein Mensch zu werden. Und wenn Kaoru Niikura sich etwas in den Kopf setzte, dann war die Welt gut daran beraten, ihm nicht im Weg zu stehen.

Lektion 5 - Nicht alles ist so, wie es scheint.

In den paar Tagen, die Kaoru nun als Katze und Dies Mitbewohner lebte, hatten sie eine gewisse Routine entwickelt. Während sein Freund meist beim ersten Klingeln des Weckers aus dem Bett kroch, hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, noch ein wenig zu dösen. Diesen Schlendrian, den Kaoru sich unter anderen Umständen nie erlaubt hätte, rechtfertigte er vor seinem Pflichtbewusstsein damit, dass es als Kater für ihn ohnehin keine Aufgaben gab, denen er nachgehen konnte. Diese Taktik funktionierte so gut, dass er sich bereits am zweiten Tag eingestehen musste, dass er diese erzwungene Auszeit wirklich mehr als gebraucht hatte.

 

Kaum ließ ihn der Große morgens also allein, krabbelte er auf Dies Kopfkissen und kuschelte sich ein. Dort roch es immer so gut und das Polster war noch warm von der Körperwärme des anderen. Die hatte zwar schon mehrmals behauptet, er würde wegen all der Katzenhaare in seinem Bett eine Allergie entwickeln, dennoch hielt er nach der ersten Gewitternacht, in der sich Kaoru zu ihm ins Bett geschlichen hatte, die Schlafzimmertür immer einen Spalt offen. Wenn das keine Einladung war, wusste Kaoru auch nicht. Außerdem, je mehr haare er in Dies Bett verteilte, desto öfter nahm sich der Große die Zeit, ihm den Pelz zu bürsten. Und das war besser als jede Massage, die er als Mensch je erhalten hatte.

 

Allerdings blieb es nicht bei den kleinen Beschwerden, seine Katzenhaare betreffend. Kaoru hatte bemerkt, wie gern sich sein Freund über so ziemlich alles echauffierte und Stunden damit zubrachte, darüber zu lamentieren. Gestern erst war Die auf die glorreiche Idee gekommen, seine kräftig rote Haarfarbe in ein hübsches Dunkelrot ändern zu wollen und dafür nicht zu warten, bis er Zeit für einen Friseurtermin einplanen konnte. Nein, das musste zwischen Tür und Angel und selbst gemacht passieren. Was konnte also Kaoru dafür, dass er das Verschönerungsprojekt seines Freundes sehr interessant gefunden hatte? Gleiches galt für den kleinen, roten Fleck Farbe, der auf die Fliesen im Bad getropft war und den er so herrlich mit der Pfote hatte verschmieren können. Nichts konnte er dafür, das stand fest. Immerhin war er ein Kater und folgte lediglich seinen Instinkten. Möglicherweise hatte er letzten Endes einen roten Pfotenabdruck auf dem cremefarbenen Badvorleger hinterlassen, aber das war längst kein Grund, dem ach so hübschen Teppich derart intensiv nachzutrauern. Was war schon so schlimm daran, dass der Fleck nie wieder rausgehen würde? Offensichtlich so Einiges. Kaoru hatte noch nie in seinem Leben so unbedingt mit den Augen rollen wollen, wie nach zwanzig Minuten des konstanten Jammerns. Zum Glück hatte sich sein Freund irgendwann beruhigt und war zum Schluss gekommen, dass dieser kleine, nach mehrmaligen Auswaschversuchen nun rosarote Pfotenabdruck auf seinem Teppich eigentlich ganz schick aussah.

 

„So hab ich wenigstens eine bleibende Erinnerung an dich, wenn dich deine Besitzer abholen, was, Kao?“, hatte Die gemurmelt und war mit einem Schlag trübsinnig geworden.

 

Das war die zweite Eigenheit seines Freundes, die Kaoru aufgefallen war. Die war nicht mehr der unbeschwerte Kerl mit zu viel Blödsinn im Kopf, der ihn früher, als sie sich noch ein winziges Appartement geteilt hatten, stets zum Lachen gebracht hatte. Seine Launen schwankten wie ein Fähnchen im Wind und von einem Extrem ins Nächste. Das jedoch nur, wenn er sich unbeobachtet fühlte. In der Gegenwart von anderen war er sein altbekanntes Selbst, doch allein in seinen vier Wänden sah das ganz anders aus. Wie oft Kaoru seinen Freund seufzen gehört hatte, seit er bei ihm lebte, konnte er schon gar nicht mehr zählen.

 

Kaoru spitzte die Ohren, als dieser unerwünschte Laut schon wieder Dies Mund verließ. Bis gerade eben hatte der Große mit Toshiya telefoniert, hatte ein Dauergrinsen im Gesicht gehabt, weil ihm der Bassist offensichtlich ganz dringend von seinem Nicht-Date vor einigen Tagen erzählen musste. Kaum hatte Die jedoch aufgelegt, waren seine Mundwinkel herabgesunken und die Augen trüb geworden. Was war nur los mit ihm?

 

Kaoru ließ den Blick durch das Wohnzimmer schweifen, bis er die Federangel entdeckte, die zu seinem Lieblingsspielzeug geworden war. Zielstrebig ging er darauf zu, nahm sie ins Maul und trug sie wie ein zu klein geratenes Hündchen zu seinem Freund hinüber. Begleitet von einem auffordernden Maunzen legte er das Plastikstöckchen vor Dies Füßen ab und wartete. Es dauerte einen Moment, in dem sein Freund nicht reagierte und nur stumpf vor sich auf den Boden starrte, doch dann ging ein Ruck durch ihn. Ein feines Lächeln schlich sich auf seine Züge und entschlossen griff er nach dem Spielzeug.

 

‚Na also, geht doch‘, dachte Kaoru und begann, den sich schnell hin und her bewegenden Federn am Stöckchen mit den Pfoten zu folgen. Die kommentierte seine Versuche enthusiastisch, lobte ihn, wenn er das Büschel erwischte, oder gluckste mitfühlend, wenn Kaoru zu langsam war. Wie lange sie sich so die Zeit vertrieben, hätte er hinterher nicht sagen können. Irgendwann war er vollkommen aus der Puste auf Dies Schoß gesprungen, wo er nun schnurrend lag und sich das Bäuchlein kraulen ließ.

 

‚Hach ja, so lässt es sich leben.‘

 

„Weißt du …“, murmelte Die und Kaoru spitzte die Ohren. Wenn sein Freund einen Satz mit diesen Worten begann, folgte meist etwas Interessantes. „Normalerweise bin ich froh, wenn ich Diva ab und an für ein paar Wochen zu meiner Nichte geben kann. Wir haben sonst so viel um die Ohren, das ich immer Angst habe, sie könnte sich vernachlässigt fühlen. Aber jetzt, wo Kaoru nicht da ist …“ Die schlug die Augen nieder und erneut kam ihm ein Seufzen über die Lippen. Kaoru rappelte sich hoch und rieb seine Schnauze gegen Dies Wange, entlockte ihm damit ein kurzes, leises Lachen.

„Was würde ich nur ohne dich machen, mh?“ Finger kraulten unter seinem Kinn und er drückte sich gegen sie, rieb sich auch an ihnen.

„So ganz allein würde mir vermutlich die Decke auf den Kopf fallen.“ Plötzlich schlossen sich Dies Hände um seine Mitte, hoben ihn hoch, bis der Große sein Gesicht in seinem Pelz vergraben konnte.

„Warum meldet er sich nicht?“ Kaoru erstarrte und blinzelte. Redete Die von ihm? Er versuchte, das Gesagte Revue passieren und sich diesmal nicht von kraulenden Fingern oder Streicheleinheiten ablenken zu lassen.

 

„Mensch, Die, könntest du nicht mal Klartext reden?“, maunzte er seinen Freund an, was dieser natürlich nicht verstehen konnte und annahm, ihm wäre sein neuer Job als Kuscheltier unangenehm. War es nicht, aber das konnte sein Freund nicht wissen und er konnte es ihm nicht sagen. Die ließ ihn los und reflexartig schüttelte Kaoru sich, um sein Fell wieder in Ordnung zu bringen.

 

„Tut mir leid, Kleiner.“ Ein letztes Mal streichelte Die über seinen Kopf, bevor er nach dem Handy auf dem Couchtisch angelte und geschäftig darauf herumtippte.

 

Kaoru rollte sich neben Die zusammen, beobachtete ihn bei seinem Tun, während das schlechte Gewissen seine spitzen Zähne in sein Fleisch rammte. Es tat ihm so leid, dass sein Freund sich seinetwegen sorgte oder schlimmer noch, sich unerwünscht fühlte, weil er nicht auf seine vielen Nachrichten und Anrufe reagieren konnte.

 

Verflixt, irgendwie musste es möglich sein, Die eine Nachricht zukommen zu lassen! Er fixierte das Handy, verwarf die fixe Idee, die sich in seine Hirnwindungen schleichen wollte, jedoch sofort wieder. Es würde ihm nie gelingen, den Touchscreen des Smartphones mit den Pfoten zu bedienen. Allerdings stand im Arbeitszimmer seines Freundes ein PC, den Die so gut wie nie benutzte. Ob er ihm damit wenigstens eine Mail schreiben konnte? Die Tastatur sollte er bedienen können, aber … Würde er überhaupt einen Text verfassen können? Seine Versuche, sich das Lesen wieder beizubringen, waren bislang kläglich gescheitert. Oh Mann, diese ganze Misere war wirklich zum Haareraufen!

 

Kaoru war so vertieft in seine Gedanken, dass er mit einem erschrockenen Satz vom Sofa sprang, als es urplötzlich an der Tür klingelte.

 

„Ganz ruhig“, murmelte Die, hatte sich ebenfalls von der Couch erhoben und bückte sich zu ihm hinunter, um ihn auf die Arme nehmen zu können. „Das wird nur Kyo sein.“

 

„Kyo?“, maunzte Kaoru und Die grinste, hatte sich sein Miauen doch beinahe wie der Name ihres Sängers angehört. An der Tür angekommen zappelte Kaoru so lange in Dies Armen, bis der Große ihn auf den Boden setzte, bevor er den Knopf der Gegensprechanlage drückte.

 

„Komm rauf“, forderte Die und öffnete schon einmal die Wohnungstür.

 

Kaoru hörte Schritte einige Stockwerke unter ihnen, dann das Surren des Aufzugs, der sich ihrer Etage langsam näherte. Was Kyo wohl hier wollte? Er hatte gar nicht mitbekommen, dass Die ihn eingeladen hatte oder … besuchten die beiden sich etwa öfter? Kaoru hätte nicht sagen können, warum, aber irgendwie freute ihn dieser Gedanke und stach gleichzeitig in seinem Herzen. Früher war er es gewesen, der sich regelmäßig mit Die getroffen hatte, aber das war, wie alles andere auch, über die letzten Jahre immer weniger geworden. Kaoru hörte das charakteristische Läuten des Aufzugs, Schritte, die sich der Wohnungstür näherten, und schaute keinen Moment später in das breit grinsende Gesicht ihres Sängers.

 

„Na, bereit für Blut, herausquellende Gedärme und fliegende Hirnmasse?“

 

„Nicht wirklich, aber wie immer wirst du das geflissentlich ignorieren.“

 

„So sieht’s aus.“

 

Kyos Begrüßungen wurden echt immer eigenwilliger, stellte Kaoru durchaus amüsiert fest, während Die geschäftig durch die Wohnung eilte und die wichtigsten Dinge zusammenräumte. Er selbst hingegen fand sich keine Sekunde später auf dem Arm ihres Sängers wieder, wurde ausführlich gekrault und musste zugeben, dass er sich an diese Behandlung wirklich gewöhnen könnte.

 

‚Nein! Kaoru, reiß dich zusammen, du bist ein Mensch, keine Katze!‘, ermahnte er sich in Gedanken, konnte sein lautes Schnurren jedoch nicht unterdrücken.

 

„Das gefällt dir, was?“

Beinahe hätte Kaoru genickt, konnte sich im letzten Moment jedoch davon abhalten. So einen Fauxpas hatte er sich bei Die gerade so erlauben können, aber Kyo würde ihn schneller durchschauen, als er miau sagen konnte.

„Bist du dann endlich so weit? Wir gehen nur ins Kino, da sieht dich sowieso niemand.“

 

„Ja, ja.“ Gehetzt kam Die wieder in den Flur, fuhr sich durch die dunkelroten Strähnen, stieg in seine Schuhe und warf sich eine leichte Jacke über die Schultern.

„So, fertig.“

 

„Wurde ja auch Zeit.“

 

Im nächsten Moment hockte Kaoru wieder auf dem Boden und blinzelte zu den beiden Männern nach oben. Ganz ehrlich? Dieses ständige Hochgehoben- und wieder Abgesetztwerden machte ihn noch ganz blöd im Kopf. Das war definitiv eines der Dinge am Katzesein, das er nicht vermissen würde. Die beugte sich zu ihm herunter, streichelte flüchtig durch sein Fell, bevor er ihn mahnend ansah.

 

„Du bleibst brav, okay? Ich will dich nicht plötzlich vor dem Kino sitzen sehen oder einen Stunt in dieser Art, hast du verstanden, Kao?“

Kaoru betrachtete seinen Freund aus großen, hoffentlich unschuldigen Augen, während sich in seinem Kopf bereits ein Plan formte.

„Sehr gut, du bist ein kluger Junge, nicht wahr?“

 

„Du tust gerade so, als hätte dir der Kleine gerade eine Antwort gegeben.“

 

„Das hat er, du verstehst ihn nur nicht, Kyo.“

 

„Aber sicher.“

 

Damit verschwanden die beiden im Hausflur, die Tür fiel ins Schloss und Kaoru war allein. Sogleich flitzte er ins Wohnzimmer und sprang auf das Fensterbrett, das an die Balkontür angrenzte. Erst versuchte er, den Griff mit den Pfoten zu erreichen, stemmte sich so lange dagegen, bis er ihn etwas nach unten drücken konnte. Als Nächstes fixierte er ihn und sprang dagegen. Es brauchte drei Anläufe, bis er ihn endlich in der richtigen Position hatte, dass die Balkontür sich theoretisch öffnen lassen würde. Dumm nur, dass er zu leicht und zu schwach war, um das auch in der Praxis bewerkstelligen zu können.

 

„Na toll, und jetzt?“

 

Sein Plan war gewesen, nach draußen zu kommen, um die Zauberkatze zu suchen. Wenn jemand es schaffte, Die eine Nachricht zukommen zu lassen, dann sie. Überlegend lief er vor der noch immer geschlossenen Balkontür auf und ab, hatte zwischendurch versucht, seine Krallen einzusetzen, um sie aufzustemmen, aber auch das war nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Nun jedoch kam ihm eine Idee.

 

Schnell lief er in die Küche, wo von Dies gestrigen, nicht sehr erfolgreichen Kochversuchen ein abgewaschener Pfannenwender noch auf dem Abtropfgitter in der Spüle stand. Kaoru sprang auf die Arbeitsplatte, nahm den Stil des Pfannenwenders in den Mund und trottete damit zurück zur Balkontür. Wenn es ihm gelang, die schmale Seite zwischen Tür und Türstock zu klemmen und den Stil als Hebel zu verwenden, sollte sie sich öffnen lassen.

 

So viel zur erneuten Theorie. In der Realität gestaltete sich dieses Unterfangen als unlösbares Problem. Er war zu klein, konnte seine ungelenken Pfoten und sein Maul nicht anständig koordinieren. Kaoru wusste nicht, wie lange er es versucht hatte, war jedoch mittlerweile so frustriert, dass er bereit war, aufzugeben, als … die Tür wie von Geisterhand aufsprang.

 

„Ernsthaft?“, maunzte er und sah sich im Wohnzimmer um, in der festen Überzeugung, die Zauberkatze lässig und sich köstlich amüsierend auf dem Sofa sitzen zu sehen. Aber der Raum war leer und auch nach mehrmaligem Rufen erschien sie nicht.

„Okay~.“ Es war nicht so, dass er dieser Sache hier trauen würde und er war auch nicht so naiv, zu glauben, dass er es gewesen war, der die Tür schlussendlich geöffnet hatte. Dennoch hielt er es mit dem altbekannten Sprichwort, das da lautete: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Also quetschte er sich durch den Spalt in die Freiheit und sprang über die Hausdächer, wie er es einige Tage zuvor in Begleitung der Zauberkatze schon getan hatte. Es stellte sich jetzt nur die Frage, wo würde er sie finden?

 

~*~

 

Seine Orientierung war noch immer ein Witz, dennoch hatte er es irgendwann tatsächlich bis in den Park geschafft, wo Shinya ihn vor Tagen aufgegabelt hatte. Sein Plan, wenn man diesen so nennen konnte, war es, die Straße zu finden, auf der ihm die Zauberkatze vors Auto gelaufen war. Auf seine Rufe reagierte sie nicht und … nun ja, vielleicht war dieser Ort ihr Lieblingsplätzchen oder so?

Ach, er hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass er sie finden musste und das bitte, bevor Die und Kyo von ihrem Kinobesuch zurückkamen.

 

Kaoru wusste nicht einmal, wie spät es war. Es war bereits dunkel gewesen, als er die Wohnung verlassen hatte, und nun stand der Vollmond hoch am Himmel. Verflixt, er war sicher schon viel zu spät dran und Die würde sich Sorgen machen. Gerade, als er seine Mission abbrechen und sich auf den Nachhauseweg machen wollte, wurde er von hinten gepackt und hochgehoben.

 

„Wen haben wir denn hier?“ Kaorus Herz hämmerte wie wild in seinem Brustkorb, als er die dunkle Männerstimme hörte. Der Griff in seinem Nacken war so fest, dass er sich nicht bewegen konnte, als er vor das Gesicht des Fremden gehalten wurde. Finger überprüften seine Ohren, Augen musterten ihn.

„Yuko? Komm mal mit dem Transportkorb. Ich hab hier einen kleinen Streuner gefunden.“

 

„Was? Ich bin kein Streuner! Ich bin nicht mal eine Katze! Lass mich los, du Idiot!“ Kaoru maunzte aus Leibeskräften, wand sich, versuchte sich zu befreien, aber seine Gegenwehr war sinnlos. Schritte knirschten über den Kiesweg, kamen auf ihn zu und bevor er es sich versah, wurde er in eine Plastikbox mit Gitter gestopft.

„Hey! Lasst mich raus, verdammt!“ Kaoru fauchte und tobte, aber die Box war bereits verschlossen und schwankte hin und her, als er weggetragen wurde.

 

„Das ist ein ziemlich munteres Kerlchen.“ Eine Frauenstimme lachte, Kaoru hörte das Kratzen der Seitentür eines Vans, die aufgeschoben wurde, und im nächsten Moment wurde seine Box in das Auto gestellt.

„Wir fahren am besten gleich ins Tierheim und geben ihn ab.“

 

„Ja, besser ist das, bevor sich noch jemand beschwert, weil er so laut schreit.“

 

„Da hofft man immer, die Tierchen würden verstehen, dass wir nur das Beste für sie wollen, aber die meisten brüllen zeter und mordio.“

 

„Nimm es nicht persönlich, Yuko, sie begreifen nicht, was mit ihnen geschieht.“

 

„Ich begreife sehr wohl, was mit mir geschieht!“, schrie Kaoru so laut, dass sein Hals zu schmerzen begann. „Ihr entführt mich, das passiert hier! Lasst mich raus, ich muss zurück zu Die!“

 

Es war zwecklos. Weder sein Rufen noch seine Versuche, sich aus der Box zu befreien, machten einen Unterschied. Die Tür des Vans wurde zugeschoben, die vorderen Türen geöffnet und knallend wieder zugeschlagen. Kaum erwachte die Zündung zum Leben, ging ein Vibrieren durch den Wagen, gefolgt von Rockmusik, die sein klägliches Maunzen effektiv übertönte.

 

Kaoru atmete schwer, versuchte, zwischen den gekreuzten Gitterstäben hindurch irgendetwas zu erkennen. Aber alles war grau, seine Sicht von der Seitenwand des Vans versperrt. Verdammt, was sollte er nun tun? Wenn er jetzt wirklich ins Tierheim gebracht wurde, dann …

Panik schnürte ihm die Kehle zu, bis er das Gefühl hatte, sein Herz würde jeden Moment aufhören, zu schlagen. Er durfte nicht eingesperrt werden. Er war keine Katze, er war ein Mensch, oh Gott.

 

„Zauberkatze! Verdammt, antworte! Ich könnte hier wirklich ein wenig Magie gebrauchen!“, schrie er aus Leibeskräften immer und immer wieder, bis ihm die Stimme versagte.

 

~*~

 

Kaoru wusste nicht, wie lange sie gefahren waren. Genaugenommen konnte er sich nicht einmal mehr auf den Beinen halten, so sehr hatte er sich verausgabt. Er lag regungslos in der Box, den trüben Blick nach vorn durch die Gitterstäbe gerichtet. Warum reagierte die Zauberkatze nicht? Sie hatte ihm geholfen, aus Dies Wohnung zu entwischen, da war er sich sicher, ohne, dass er sie darum gebeten hatte. Warum also reagierte sie jetzt nicht, wo er ihre Hilfe mehr als dringend brauchte?

 

Wieder wurde die Seitentür des Vans aufgeschoben, seine Box wackelte, als sie hochgehoben wurde und sich die Schritte seiner Entführer einem hell erleuchteten Gebäude näherten. Schon als sich die Tür öffnete, wäre Kaoru am liebsten davongelaufen. Es roch nach Desinfektionsmittel unterlegt mit dem Geruch nach Fäkalien und Urin. Er hörte Hunde bellen, aber das Schlimmste waren die Rufe der Katzen, die er verstehen konnte.

 

„Ich will hier raus.“

„Warum bin ich in dieser engen Kiste eingesperrt?“

„Mir tut alles weh.“

„Raus!“

 

Am liebsten hätte sich Kaoru die Pfoten über die Ohren gelegt, aber er wusste aus Erfahrung, dass das nichts brachte. Sein Gehör als Katze war zu gut und gegen die Gerüche würde das ohnehin nichts helfen.

 

„Guten Abend, Doktor Kanazawa“, sagte die Frauenstimme, seine Box wurde noch höher gehoben und dann auf etwas metallisch Klingendem abgesetzt.

 

„Hallo ihr zwei, was habt ihr mir denn da Süßes mitgebracht?“

 

Obwohl Kaoru nicht wollte, musste er zugeben, dass die Stimme der Ärztin ziemlich nett klang. Sie schien schon älter zu sein, was sich bestätigte, als seine Box geöffnet wurde und eine große Männerhand nach seinem Nacken griff, um ihn ins Freie zu zerren. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu wehren, starrte nur stumpf die Frau im weißen Kittel an, die ihn lächelnd musterte.

 

„Och, er ist ja noch ein ganz kleiner und recht mager. Den werden wir erst einmal ordentlich aufpäppeln. Du kannst loslassen, Ken, ich hab ihn. Dann wollen wir mal sehen, ob mit dir soweit alles in Ordnung ist.“

 

Kaoru musste in eine Art Schockzustand gefallen sein – Zeichen seiner mentalen und psychischen Überforderung – denn er bekam von der Untersuchung kaum etwas mit. Erst, als er erneut eingesperrt wurde, diesmal in einen Käfig mit Decke, Wasser- und Futternapf darin, kam er wieder zu sich.

 

„Last mich raus“, maunzte er kläglich, aber es war niemand hier, der ihn noch hätte hören können. „Die!“

 

„Na, na, Kleiner, kein Grund, gleich ans Sterben zu denken.“

 

„Was? Meinst du mich? Wo bist du?“

 

Kaoru schleppte sich näher an die Gitterstäbe heran, versuchte mehr als nur den Untersuchungstisch in der Mitte des Raumes zu erkennen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Käfig hier nicht der Einzige war und in einem von ihnen saß ein großer, roter Kater, der eindeutig besser im Futter stand als er.

 

„Klar mein ich dich. Wir sind gerade die Einzigen in diesem Quarantänezimmer.“

 

„Quarantäne?“

 

„Ja, eine Sicherheitsmaßnahme, damit wir die anderen nicht anstecken, wenn wir von draußen kommen.“

 

„Du scheinst dich ja prächtig auszukennen“, stellte Kaoru fest und hoffte, man würde ihm seine Verzweiflung nicht anhören.

 

„Bin Dauergast hier. Irgendwie erwischen sie mich immer wieder. Dummes Trockenfutter, das Zeug macht süchtig, sag ich dir.“

 

„Heißt das, du weißt, wie ich hier rauskomme?“

 

„Nein.“

 

„Aber …“

 

„Aus der Quarantäne gehts nur raus, wenn sie dich lassen.“

 

„Verstehe“, murrte er, trottete zu der Wasserschale hinüber und trank, bis seine Kehle nicht mehr schmerzte.

 

„Sobald du aber ins eigentliche Haus kommst, kann ich dir helfen. Zu zweit macht Ausbrechen sowieso mehr Spaß.“ Der Rote lachte, ein Laut, von dem Kaoru nie gedacht hätte, ihn aus dem Maul einer Katze zu hören. Wie sich das für Menschen wohl anhören mochte?

 

‚Verflucht, Kaoru, du bist ein Mensch!‘

 

„Mein Name ist Kaoru“, stellte er sich vor und legte sich genau vor die Gitterstäbe. „Und mit wem hab ich das Vergnügen?“

 

„Oh, du bist einer von den Hauskatern, was? Ich hab keinen Namen, hab mich nie lange genug unter den Menschen herumgetrieben, dass mir jemand einen hätte geben können. Manchmal schreien sie mir Nekomata nach, wenn du willst, kannst du mich so nennen.“

 

„Das ist kein nettes Wort, das weißt du?“ Wieder lachte der Kater und auch beim zweiten Mal klang es nicht weniger seltsam in Kaorus Ohren.

 

„Das dachte ich mir schon. Sie schreien es meist, wenn ich ihnen ihr Futter stehle.“

 

Kaoru schüttelte den Kopf, bevor er ein lautes Gähnen nicht unterdrücken konnte.

„Wie lange sitzen wir hier in Quarantäne fest?“

 

„Mh, ich hab es nicht so mit der Zeit. Ich weiß nur, dass ich immer ungefähr zehn Mal was zu futtern bekomme, wenn ich hier bin. Kannst du damit was anfangen?“

 

„Zehn Mal?“ Geschockt starrte Kaoru den Roten an, bevor er stöhnend die Augen schloss. Das konnte also alles zwischen fünf und zehn Tagen sein, je nachdem, wie oft die Tierheimmitarbeiter sie regulär fütterten. „So lange kann ich hier nicht herumsitzen, ich muss zurück.“

 

„Tja, Katerchen, da wirst du Pech haben. Versuch, es dir bequem zu machen“, riet ihm der Rote, bevor er sich streckte und eng zusammenrollte.

 

„Danke“, maunzte Kaoru leise und hätte nicht sagen können, ob er dieses Wörtchen ehrlich oder sarkastisch meinte. Das Einzige, woran er denken konnte, war Die und die großen Sorgen, die sich sein Freund machen würde, würde er tagelang nicht nach Hause kommen. Vor wenigen Stunden erst hatte der Große gesagt, dass er nicht wusste, was er ohne seine Gesellschaft machen würde. Die brauchte ihn, verdammt!

Ihn, Kaoru, und nicht den Kater.

 

Aber obwohl sein Geist bereits Pläne schmiedete, wie er ausbrechen und zu Die zurückkehren konnte, war sein Körper zu müde, um auch nur einen von ihnen heute noch in die Tat umzusetzen. Noch einmal gähnte Kaoru, wünschte sich nichts sehnlicher, als genau jetzt in dies Bett liegen zu können, bevor er einschlief.

Lektion 6 - Nicht jeden Kampf kannst du allein gewinnen.

Zwei Tage.

Zwei verdammte Tage saß er bereits in diesem Käfig fest.

Jedes Mal, wenn einer der Pfleger das Gitter geöffnet hatte, um ihn mit Futter oder frischem Wasser zu versorgen, hatte er zu fliehen versucht. Am weitesten war er bislang gekommen, als heute Morgen seine Toilette gereinigt wurde, aber geholfen hatte ihm sein kurzer Ausflug in die Freiheit auch nichts. Die Tür zur Quarantänestation war stets verschlossen und vor dem gekippten Fenster war ein Sicherungsnetz angebracht. Diese, in Kaorus Augen ziemlich fehlgeleiteten Gutmenschen hatten wirklich an alles gedacht. Red fand seinen kleinen Stunt, wie es schien, noch immer sehr amüsant, denn zwischen gelegentlichem Schmatzen hörte Kaoru ihn hin und wieder lachen. An dieses Geräusch hatte er sich mittlerweile gewöhnt, ebenso wie er die Gesellschaft seines Mitgefangenen zu schätzen gelernt hatte, aber über dieses Trockenfutter, das Red mit einer Leidenschaft knabberte, kam er nicht hinweg. Sein Magen knurrte zwar, immer wenn er zu lange auf seinen bis zum Rand gefüllten Napf starrte, aber er hatte sich noch nicht überwinden können, die braunen Bröckchen auch nur zu probieren. Zu allem Überfluss hatte er Doktor Kanazawa heute Morgen mit einem ihrer Mitarbeiter reden hören und das, was sie gesagt hatte, hatte jeden noch so kleinen Appetit durch heiße Panik ersetzt.

 

„Sobald Arisa morgen aus dem Urlaub zurückkommt, können wir uns um den kleinen Streuner kümmern. Es macht mir zwar etwas Sorge, dass er nicht frisst, aber er ist körperlich fit genug, um die Narkose gut zu überstehen.“

 

Kaoru hatte keine weiteren Details hören müssen, um zu wissen, dass sie nicht nur von ihm sprachen, sondern auch, was sie vorhatten. Verdammt, er war kein Kater, den man kastrieren musste!

Er hatte versucht, den Pflegern klarzumachen, dass sie einen großen Fehler machten. Wie? Nun ja, er hatte all das getan, was er sich in der Gegenwart seiner Kollegen bislang verkniffen hatte. Er hatte auf rhetorische Fragen, die die Pfleger während der Erledigung ihrer Aufgaben ab und an in den Raum gemurmelt hatten, mit vielschichtigem Maunzen geantwortet. Er hatte genickt oder den Kopf geschüttelt, wenn er direkt angesprochen wurde, und hatte sogar versucht, kohärente Worte zu formen. An Letzterem war er kläglich gescheitert, aber all seine anderen Versuche mussten doch aufgefallen sein? Er hatte die irritierten Blicke gesehen, die ihm zugeworfen worden waren, warum also reagierte niemand?

 

Kaoru schnaufte abgrundtief, legte sich direkt vor die Gitterstäbe und bettete den Kopf auf seinen Pfoten. Red sah kurz von seiner Mahlzeit auf, die gefühlt schon den halben Tag andauerte, bevor er sich wieder dem süchtig machenden Teufelszeug, wie er es selbst bezeichnete, widmete. Wenn er Red so betrachtete, glaubte er langsam aber sicher auch daran, dass die Futtermittelhersteller einen Wirkstoff beimischten, der ihnen die Loyalität ihrer felinen Kundschaft sicherte.

 

„Hey, Red?“

 

„Was’n?“ Der rote Kater hob den Kopf, noch immer munter knuspernd, und wirkte dadurch wie ein zu groß geratener Hamster. Kaoru lachte leise, schüttelte aber den Kopf, als Red den seinen fragend schief legte.

 

„Konntest du dir jetzt endlich merken, wie ich heiße?“

Nicht nur, dass Red Probleme mit dieser ‚Zeit-Sache‘ hatte, er konnte sich genauso wenig Namen merken.

 

„Lass mal überlegen …“ Der buschige Schwanz des Roten wedelte hypnotisierend langsam hin und her und Kaoru erwischte sich dabei, wie er ihm fasziniert mit den Blicken folgte.

„Meinst du, wir kriegen es irgendwie hin, dass du mir dein Futter rüberschiebst?“

 

„Wa…? Wie bitte?“ Kaoru schüttelte den Kopf und holte sich damit ins Hier und Jetzt zurück.

„Dein Ernst? Uns trennen mindestens drei Meter Luft und ein Gitter, durch das maximal eine Fliege passt. Wie soll ich dir bitte mein Futter rüberschieben?“

 

„Ich meine ja nur.“ Red klang ehrlich enttäuscht, wobei Kaoru beim besten Willen nicht verstehen konnte, wie der andere auf so eine absurde Idee gekommen war.

„Warum isst du eigentlich nichts?“

 

„Keinen Hunger.“

 

„Das ist aber nicht gut. Du siehst aus, als würde dich ein starker Windstoß von den Pfoten reißen.“

 

„Dann kann ich mich ja glücklich schätzen, dass es hier drin nicht mal eine Klimaanlage gibt“, entgegnete Kaoru sarkastisch, was ihm im nächsten Moment bereits leidtat. Red versuchte ja nur, auf seine eigenwillige und etwas tollpatschige Art auf ihn aufzupassen.

„Also, was ist jetzt?“

 

„Mh?“

 

„Na, mein Name, weißt du ihn noch?“

 

„Klar, Cato, ist doch ganz einfach.“

 

„Kaoru.“

 

„Hä?“

 

„Mein Name ist Kaoru, Ka-o-ru, das solltest du echt dringend in deinen Kopf kriegen.“

 

„Warum? Namen sind so unwichtig. Da ist Futter viel interessanter.“

 

„Weil …“ Kaoru erhob sich, ging die wenigen Schritte, die ihm in der Enge des Käfigs möglich waren, vor dem Gitter auf und ab, bevor er Red fixierte.

„Was würdest du tun, wenn ein Mensch dich mitnehmen will?“

 

„Wie mitnehmen? Als einer von diesen sesselpupsenden Hauskatern? Pah! Ich würde ihm mit ausgefahrenen Krallen ins Gesicht springen. Ich weiß, man sieht es mir nicht an, aber ich kann verdammt schnell sein, wenn ich will.“ Kaoru war sich sicher, Red hätte breit gegrinst, wäre ihm das anatomisch möglich gewesen. So beschränkte er sich darauf, sich über die spitzen Zähne zu lecken und die Krallen seiner rechten Pfote auszufahren.

 

„Siehst du, darum sollst du dir meinen Namen merken. Wenn ich erst wieder ein Mensch bin, hol ich dich hier raus.“

 

„Kleiner, ehrlich, fang nicht wieder damit an.“

 

„Ich bin ein Mensch, wenn ich es dir doch sage.“

 

„Schon gut, reg dich nicht auf. Ich merke mir deinen Namen, Ka-o-ru, zufrieden?“

 

„Zufrieden“, erwiderte er seufzend und ließ sich auf die Seite fallen. Er konnte nicht genau beschreiben, warum es ihm so wichtig war, dass der Rote sich an ihn erinnerte. Einerseits gab es ihm Hoffnung, dass er doch noch unbeschadet aus dieser Situation herauskommen würde, andererseits war Red ihm hier der einzige Freund. Er wollte ihm diese Freundlichkeit zurückzahlen, wie auch immer er das anstellen sollte.

 

‚Zauberkatze, warum ignorierst du mich? Ich brauche deine Hilfe, bitte.‘

Wie auch schon die Male zuvor reagierte das magische Wesen nicht auf seine Rufe. Er hatte es mit lautem Schreien ebenso versucht, wie mit flüsternden Gedanken, aber nichts half.

 

Nach einigen Minuten des Schweigens hatte Red das Interesse an ihm verloren und widmete sich erneut seinem Napf, in dem wirklich nur noch Krümel vorhanden sein konnten. Wieder knurrte Kaorus Magen, aber er ignorierte es. Vielleicht würden ihn die Pfleger irgendwann laufen lassen, wenn er zu dürr und schwach geworden war, um vermittelt zu werden. Oh Gott, wenn er nur daran dachte, zu einer Familie zu kommen, bei der er den Rest seiner Tage als Katze fristen musste, ohne auch nur die geringste Chance zu bekommen, Die wiederzusehen, verknoteten sich seine Gedärme zu einem schmerzhaften Klumpen.

 

„Die“, wisperte er und versteckte sein Gesicht zwischen den Pfoten. „Ich will wieder bei dir sein. Es tut mir so leid, du musst dir schreckliche Sorgen machen. Das wollte ich nicht.“

 

~*~

 

Der Abend verstrich öde und ereignislos, wie all seine Vorgänger, bis sich Dunkelheit über die Quarantänestation legte. Kaorus Augen brannten vor Müdigkeit und immer wieder jagte ein Zittern durch seinen kleinen Körper, aber er konnte sich nicht dazu bringen, sich zu entspannen. Red hingegen hatte sich schon vor einer ganzen Weile in seinem Käfig zusammengerollt und rührte sich nicht mehr. Beneidenswert. Seit seiner ersten Nacht in Gefangenschaft, in der ihn die Erschöpfung in den Schlaf getrieben hatte, hatte sich Kaoru nie für lange Zeit ausruhen können. Er fühlte sich wie unter Strom gesetzt und gleichzeitig begannen der Schlafmangel und sein selbst auferlegter Hungerstreik an seinen Energiereserven zu nagen.

 

Dennoch musste er irgendwann in den frühen Morgenstunden eingeschlafen sein, denn er fuhr erschrocken hoch, als plötzlich die Tür zu ihrem Raum aufgedrückt wurde. Eigenartig. Normalerweise kam erst das Reinigungspersonal, bevor sich die Mitarbeiter des Tierheims bei ihnen blicken ließen. Aber nicht nur das …

 

„Sie sind wirklich sehr früh dran. Ich habe die Tierheimleiterin schon angerufen, aber es wird noch etwas dauern, bis sie eintrifft.“ Der Pfleger, der soeben hereinkam, wirkte gleichzeitig aufgebracht und verunsichert, aber viel wichtiger war die Stimme, die antwortete und Kaoru schmerzlich vertraut war.

 

„Ich kann warten.“

 

„Kyo!“, schrie er, obwohl der Blick des Sängers schon in dem Augenblick auf ihm gelandet war, in dem er das Zimmer betreten hatte. „Kyo!“ Er konnte nicht anders, rief den Namen seines Kollegen wieder und wieder, bis der Pfleger davon überzeugt sein musste, dass der mürrisch schauende, etwas klein geratene Mann mit den vielen Piercings im Gesicht und der magere, jaulende Kater sich tatsächlich kannten.

 

„Mh, dann ist das wohl wirklich Ihrer. Sie sollten ihn bei nächster Gelegenheit chippen und tätowieren lassen, damit er identifiziert werden kann, sollte er noch einmal entwischen.“

 

„Ja.“

 

In der Gegenwart von Menschen, die Kyo nicht kannte und auch nicht das Bedürfnis hatte, sie näher kennenlernen zu wollen, war der Sänger einsilbig wie immer. Kaoru hätte am liebsten noch lauter geschrien als ohnehin schon, so sehr freute er sich darüber, dass manche Dinge sich einfach nie änderten.

 

„In Ordnung, dann …“ Der Pfleger rieb seine Handflächen in einer nervösen Geste am Stoff seiner Jeans ab, bevor er seinen Blick irgendwo knapp über Kyos Schulter ausrichtete, um ihm bloß nicht in die Augen sehen zu müssen.

„Es sind noch einige Formalitäten zu erledigen, aber danach können Sie ihn gern mitnehmen, sobald meine Chefin alles abgesegnet hat.“

 

„Ich nehme ihn gleich mit, bevor er sich noch verletzt.“

 

Erst jetzt wurde Kaoru bewusst, was für einen Tumult er hier veranstaltete. Er hatte die Decke in seinem Käfig fortgeschoben, kratzte heftig am Metallboden und biss zwischen seinem jämmerlichen Maunzen immer wieder in die Gitterstäbe.

 

‚Ups.‘

 

„Ehm, wir sollten erst …“

 

„Nein. Kao beruhigt sich, sobald er bei mir ist.“

 

„Sind Sie sich sicher?“

 

„Ja.“ Kyo schob sich an dem Pfleger vorbei, ging auf Kaorus Käfig zu und hatte ihn nach kurzem Studieren des Schließmechanismus geöffnet.

 

„Warten Sie, der Kleine sollte wirklich erst wieder etwas zur Ruhe kommen.“

 

‚Pfff‘, dachte sich Kaoru, saß gelassen vor der geöffneten Gittertür und blickte im Wechsel Kyo und den Pfleger an, als könnte er kein Wässerchen trüben. Kaum schlossen sich die Hände des Sängers um seine Mitte, begann er zu schnurren, presste sich fest gegen den warmen Oberkörper, gegen den er gelehnt wurde.

„Himmel, du hast mich gefunden. Danke, ehrlich, du hast was gut bei mir“, maunzte er und rieb die Nase gegen den Kiefer seines Retters.

Aus den Augenwinkeln sah er Kyos zufrieden überheblichen Gesichtsausdruck, während sie der Pfleger mit leicht offenstehendem Mund musterte.

 

„Ehm, ja, gut, dann, folgen Sie mir bitte.“

 

Kyo nickte, streichelte Kaoru kurz übers Köpfchen und raunte in sein Ohr, dass er stillhalten und ihn jetzt bloß nicht blamieren sollte. Blamieren war wirklich das Letzte, woran Kaoru dachte. Er war so erleichtert, dass er spontan in Tränen hätte ausbrechen können und das sollte bei ihm wirklich etwas heißen. Wie hatte Kyo ihn nur gefunden? Und viel wichtiger; wie ging es Die?

Ruckartig hob Kaoru den Kopf und sah über Kyos Schulter zurück in die Quarantänestation, als ihm siedend heiß noch etwas einfiel.

 

„Red!“, rief er, kurz bevor sich die Tür hinter ihm schloss. „Denk an meinen Namen, okay? Kaoru, nicht vergessen!“

 

Er hörte die Antwort des anderen Katers nicht mehr, wenn es überhaupt eine gegeben hatte, und ein schmerzhafter Stich jagte durch sein Herz. Am liebsten wäre es ihm gewesen, Red hätte gleich mit ihnen kommen können, aber stattdessen blieb Kaoru nichts weiter übrig, als ihm und sich selbst zu schwören, ihn hier rauszuholen, sobald er wieder ein Mensch war.

 

~*~

 

„Unfassbar, einfach nur unfassbar“, nuschelte Kyo, kaum hatten sie das vollgestopfte Büro des Tierheims verlassen und rieb sich über die Nasenwurzel. Kaoru, der lässig über seiner Schulter hing und ein Gähnen nicht unterdrücken konnte, konnte ihm nur zustimmen. Zugegeben, er hatte längst kein Zeitempfinden mehr, seit die Tierfänger ihn geschnappt hatten, aber dennoch war es ihm wie Stunden vorgekommen, die sie in dieser Rumpelkammer verbracht hatten. Ein Papier nach dem anderen war Kyo unter die Nase geschoben worden und unter jedes Einzelne hatte er seinen Unterschriftsstempel setzen müssen. Und das alles nur, um ein Tier mitzunehmen, das im Grunde niemals hier hätte landen dürfen. Kaoru seufzte und blinzelte. Seine Augen brannten und sein Magen knurrte.

„Haben sie dir hier nichts zu futtern gegeben?“

 

Kaoru murrte leise, als schmale Finger durch sein Rückenfell kraulten, und atmete tief die frische Luft ein, kaum hatten sich die Schiebetüren geöffnet. Der Atem stockte ihm jedoch bereits im nächsten Augenblick und sein Herz begann wie wild zu klopfen.

„Die!“, maunzte er und wäre Kyo von der Schulter gesprungen, um seinem Freund entgegenlaufen zu können, hätte der Sänger ihn nicht fest am Schlafittchen gepackt.

 

„Die paar Sekunden kannst du jetzt auch noch warten, oder willst du von einem Auto überrollt werden?“

 

Natürlich wollte Kaoru nicht von einem Auto überrollt werden, aber … er wollte doch nur zu seinem Freund! Dies Augen verbargen sich hinter einer dunklen Sonnenbrille, seine dunkelroten Haare hingen leblos und ungestylt herab und seine ganze Haltung sprach von schlaflosen Nächten. Obwohl er den anderen in der Vergangenheit schon viel zu oft so gesehen hatte, ertrug er seinen Anblick diesmal kaum, denn ihm war klar, dass einzig und allein er schuld an Dies schlechtem Zustand war.

 

‚Es tut mir so leid.‘

 

Nicht einmal, als Kyo und er bei ihm ankamen, hoben sich Dies nach unten gerichtete Mundwinkel. Stumm legte er beide Hände um Kaorus Mitte, hob ihn vorsichtig von der Schulter des Sängers und lehnte ihn gegen seinen Oberkörper. Für einen schmerzhaften Herzschlag lang hatte Kaoru nicht die geringste Ahnung, was er nun tun sollte. Wie sollte er seinem Freund klarmachen, dass es ihm leidtat? Dass er ihm nie solche Sorgen hatte bereiten, nie wirklich davonlaufen wollen?

 

‚Ich wollte dir doch nur eine Nachricht schicken, damit du dir eben keinen Kopf um mich machen musst.‘

 

Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Freund und bevor Kaoru reagieren konnte, hatte Die sein Gesicht in seinem Fell vergraben.

„Verdammt, Kao, ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen.“

Kaoru begann so laut zu schnurren, dass sein ganzer, kleiner Katzenkörper vibrierte. Wieder und wieder rieb er seine Nase gegen Dies Hals, seinen Kiefer, leckte mit seiner rauen Zunge über die Bartstoppeln, mit denen sich der Gitarrist unter anderen Umständen nie in der Öffentlichkeit gezeigt hätte. Es gäbe so vieles, was er Die in diesem Moment hätte sagen wollen. Da ihm Worte jedoch nicht zur Verfügung standen, versuchte er alles, ihm auf andere Weise deutlich zu zeigen, wie sehr er sein unüberlegtes Handeln bereute.

„Willst du wieder mit mir nach Hause kommen?“

Kaoru überlegte nicht, nickte nur heftig, was Die mit einem Ruck den Kopf heben ließ.

„Hast du mir gerade geantwortet?“

Kaoru blinzelte, erwiderte Dies Blick und begann betont gelassen seine Vorderpfote zu putzen.

„Er hat genickt, Kyo, das hast du auch gesehen, oder?“

 

„So sehr, wie du den Fellball an dich gepresst hast, hab ich gar nichts gesehen.“

 

„Das hat Kao nicht zum ersten Mal gemacht. Ich glaube wirklich, er versteht mich.“

 

„Klar, Die. Kao ist ein ganz besonderer Kater und darum solltest du deinen knochigen Hintern endlich ins Auto schieben, bevor der Kleine Geschmack an der Freiheit findet und wieder abhaut.“

 

Die schnaubte, sparte sich ansonsten jedoch einen Kommentar und öffnete die Beifahrertür von Kyos rotem Mini Cooper. Es dauerte eine ganze Weile, bis Die sich so in dem kleinen Auto sortiert hatte, das seine langen Beine Platz gefunden hatten. Bequem sah anders aus, aber Kaoru vermutete, gerade war seinem Freund alles recht. Endlich lag wieder ein feines Lächeln auf den geschwungenen Lippen, während Die sich nur kurz anschnallte, um dann sofort wieder mit seinen Streicheleinheiten fortzufahren. Kaoru hatte diese Finger so vermisst, genau wie den Duft nach Weichspüler, einem leichten, holzigen Parfüm und Zigarettenrauch, der dem anderen immer anhaftete. Vielleicht roch er etwas stärker als sonst nach Zigaretten und vielleicht zitterten die langen Finger ein wenig, aber das störte Kaoru keinesfalls.

Die war perfekt, genau so, wie er war, immer.

 

Brummend setzte sich das Auto in Bewegung und Kaoru hatte große Mühe, wach zu bleiben. Die leise Musik aus dem Autoradio wollte ihn einlullen und Dies Körperwärme tat ihr Übriges dazu. Aber er wollte nicht schlafen, wollte jede Sekunde in der Gegenwart seines Freundes bewusst miterleben.

 

„Danke“, murmelte Die gerade und ohne den Kopf zu heben, wusste Kaoru, dass er diesmal nicht mit ihm sprach.

 

„Wofür?“

 

„Dass du ihn geholt hast, ich ... ich hätte das nicht gekonnt und mich vermutlich nur zum Affen gemacht.“

 

„Du machst dich immer zum Affen.“

 

„Auch wieder wahr.“ Die lachte kurz auf, drückte einen Kuss zwischen Kaorus spitze Ohren. „Trotzdem danke.“

 

„Nicht dafür. Ich bin froh, dass du den kleinen Kerl wieder hast. Er tut dir gut.“

 

„Ja … auch wenn ich noch nie so große Angst hatte, wie in den letzten Tagen.“

 

Kyo brummte verstehend und im nächsten Moment war das charakteristische Tuten einer Freisprechanlage zu hören.

 

„Shinya? Wir haben ihn“, meldete sich der Sänger und setzte den Blinker, um in eine wenig befahrene Seitenstraße abzubiegen. Kaoru ergänzte Kyos Worte mit einem lauten Maunzen, noch bevor der Drummer etwas erwidern konnte. Leises Lachen drang durch die Lautsprecher, wurde von statischem Knacken abgelöst, bevor Shinyas ruhige Stimme ertönte.

 

„Zum Glück, da bin ich jetzt aber wirklich erleichtert. Er scheint wohlauf zu sein, so gesprächig, wie er ist?“

 

„Hungrig und wie es aussieht todmüde, aber ansonsten geht es ihm gut. Ich bin so froh, dass du die Idee mit dem Tierheim hattest, Shinya.“

 

„Ach Die, schon gut. Mir ist gerade einfach nur ein Stein vom Herzen gefallen, dass ihr ihn gefunden habt. Toshiya ist noch in der Tierklinik, aber sobald er rauskommt, sag ich ihm Bescheid. Er wird sich bestimmt ziemlich freuen, so wie er mitgelitten hat.“

 

„Tausend Mal Danke und sag das auch Totchi von mir, okay?“

 

„Jetzt hör auf, dafür musst du dich nicht bedanken … Aber du kannst uns gern zum Essen bei dem neuen Italiener einladen, von dem du letzte Woche erst so geschwärmt hast.“

 

„In Ordnung“, Die lachte, „das sollte definitiv einzurichten sein. Kommt ihr nachher zu mir? Ich sollte genug für ein kleines Brunch im Kühlschrank haben.“

 

„Gern. Bis später.“

 

~*~

 

Kaoru konnte es kaum fassen, wie froh seine Kollegen waren, dass er wieder da war, aber ihm ging es ja nicht anders. Auf dem Rückweg hatten sie noch Halt bei einem Fischgeschäft gemacht, dessen Spezialitäten sich Kaoru mit Gusto hatte schmecken lassen, während die anderen es sich in Dies Küche gemütlich gemacht hatten und frühstückten. Er war sogar derart tiefenentspannt, dass er es über sich ergehen ließ, von Toshiya durch die Gegend getragen zu werden. Satt und von jedem seiner Kollegen einmal ausgiebig gestreichelt, machte er es sich gerade auf Dies Schoß bequem und lauschte den Gesprächen um sich herum nur mit einem halben Ohr.

 

„Kaoru hat sich gestern übrigens bei mir gemeldet.“

Kaoru hob hellhörig geworden den Kopf und blickte zu seinem Freund auf, der gerade an seiner Kaffeetasse nippte.

 

„Echt? Warum sagst du uns das erst jetzt?“ Toshiya wirkte ehrlich entrüstet darüber, dass ihm diese Neuigkeit so lange vorenthalten worden war.

 

„Tut mir leid, durch die ganze Aufregung mit Kao hab ich das ganz vergessen.“

 

„Wie geht es ihm?“, erkundigte sich Shinya, während Kyo zeitgleich wissen wollte, wann der Leader seinen Hintern endlich wieder hierher verfrachten würde.

 

‚Freundlich, wie immer‘, dachte Kaoru innerlich schmunzelnd, während er sich zeitgleich fragte, was die Zauberkatze letzten Endes nun doch dazu bewogen hatte, ihm zu helfen. Denn dass die Nachricht von niemand anderem als ihr gekommen sein konnte, stand fest.

 

„Er hat sich entschuldigt, dass er sich nicht bei uns gemeldet hat, meinte, er hätte noch einiges zu organisieren, würde aber so schnell wie möglich wiederkommen. Na ja, und dass wir ihm schreiben sollen, bevor es Schwierigkeiten gibt.“

 

„DAS ist ja mal wieder typisch.“ Kyo rollte mit den Augen, Toshiya blähte empört die Backen auf, während Shinya nur milde schmunzelte.

 

„Ganz ehrlich?“, meinte der Drummer, „ohne diesen Nachsatz hätte ich daran gezweifelt, dass die Nachricht wirklich von Kaoru ist.“

 

„Mh, auch wieder wahr.“ Toshiya grinste und auch Kyos Miene hellte sich wieder auf, während Die sein Lächeln hinter seiner Tasse verbarg.

 

‚Ach, Die‘, seufzte Kaoru in Gedanken, als ihm mit einem Mal etwas klarwurde. Er verstand nun, warum es seinem Freund so geschmerzt hatte, keine Nachricht von ihm zu erhalten. Warum er sich in seiner Wohnung eingeigelt hatte, obwohl ihm Gesellschaft so offenkundig gutgetan hätte. Mit einem Satz sprang er auf Dies Schulter, entlockte ihm damit ein erschrockenes Einatmen, und machte es sich als lebendiger Nackenwärmer bequem.

 

„Ehm, Kao, was genau tust du da?“

 

Kaoru beschränkte sich darauf, laut und zufrieden zu schnurren, während er es in vollen Zügen genoss, von Dies Körperwärme und seinem Duft umgeben zu sein. Wenn er nicht ganz auf dem Holzweg war, gab es nun noch etwas, was er dringend tun musste, sobald er wieder ein Mensch war. Und falls er sich täuschte? Na ja, dann hätte Die es so oder so mehr als verdient, dass er sich in Zukunft deutlich mehr Zeit für ihn nahm.

 

Langsam fielen ihm die Augen zu und endlich spürte er, wie sich alles in ihm entspannte. Der Stress der vergangenen Tage begann, von ihm abzufallen, und plötzlich war die Müdigkeit so stark, dass er sich nicht mehr gegen sie wehren konnte. Er gähnte, presste seine feuchte, kalte Nase gegen Dies Halsbeuge und schlief, den Kopf voller Pläne und Vorsätze, ein.

Lektion 7 - Es sind die kleinen Dinge, die zählen.

Wie gebannt starrte Kaoru auf die leuchtenden Ziffern des altmodischen Radioweckers. Lesen konnte er zwar noch immer nicht, und das umfasste auch das Erkennen der Uhrzeit auf eine Weise, die ihm vertraut war, aber er hatte eine Möglichkeit gefunden, sich zu behelfen. Das rote Muster auf dem Display veränderte sich und er wusste, dass es nun nicht mehr lange dauern konnte, bis der Wecker zu klingeln begann. Er fühlte sich wie ein Archäologe, der uralte Schriftzeichen zu entziffern versuchte, während er darauf wartete, dass es für Die Zeit wurde, aufzustehen. Aber heute würde der andere dank ihm noch ein paar Minuten länger liegen bleiben.

Noch bevor der Wecker also die Chance hatte, auch nur einen Ton von sich zu geben, presste eine kleine Pfote den großen Schlummerknopf. Zufrieden legte Kaoru den Kopf schief, leckte sich über die Lefzen und gönnte es sich, seinen schlafenden Freund einige Augenblicke länger zu betrachten.

 

Er war Die und den anderen noch immer so unendlich dankbar, dass sie ihn aus der Hölle des Tierheims befreit hatten, und er hatte sich geschworen, seinem Freund ab jetzt keine Sorgen mehr zu machen. Im Gegenteil – er würde dafür sorgen, dass Die nicht mehr so traurig und gestresst war, wieder mehr zu dem Mann wurde, auf dessen gute Laune und Ausgeglichenheit Kaoru sich früher immer verlassen hatte. Erst, seit er eine Katze geworden war, war ihm wirklich bewusst geworden, wie sehr er diesen Wesenszug seines Freundes schätzte und brauchte. Die war immer schon der Einzige gewesen, der ihn aus dem Hamsterrad seiner vielen Arbeit herausholen konnte, und war dabei immer so selbstlos. Kaoru hatte wirklich einiges wiedergutzumachen und heute würde er damit beginnen.

Natürlich stellte die Tatsache, dass er noch immer im Körper einer Katze festsaß, ein nicht zu unterschätzendes Hindernis dar, aber er war nicht schon seit vielen Jahren Leader einer erfolgreichen Band, wüsste er nicht, wie er schwierige Situationen zu meistern hatte.

Phase eins seines Plans hatte schließlich hervorragend geklappt und genauso zielstrebig würde er weitermachen.

 

Die atmete lange aus, seufzte beinahe, bevor er sich auf die Seite rollte, Kaoru den Rücken zudrehte und friedlich weiterschlief. Den Kopf schief legend blinzelte er träge, den Blick unverwandt auf den anderen gerichtet. Eine Welle der Zuneigung schwappte über ihn und eine eigenartige Wärme machte sich in seinem Brustkorb breit, die er sich nicht richtig erklären konnte. Bevor der Moment jedoch unangenehm werden konnte, hüpfte er vom Nachttisch und tapste auf leisen Pfoten durch die Wohnung. In der Küche angekommen sprang er auf die Arbeitsplatte, drückte etwas umständlich gegen den Einschaltknopf des Kaffeevollautomaten und hörte zufrieden dabei zu, wie das Wasser langsam zu kochen begann.

 

Seine nächste Mission führte ihn ins Wohnzimmer, wo Dies Smartphone auf dem niedrigen Sofatisch lag. Toshiya hatte sich gestern wortreich darüber gefreut, dass für heute keine Termine anstanden, und somit hatte Kaoru beschlossen, dass auch Die seinen freien Tag ungestört genießen sollte. Mit einem gedämpften Laut kam das Telefon auf dem Teppichboden auf, nachdem Kaoru es mit der Pfote vom Tisch geschubst hatte. Das Gerät nun mit dem Maul hinter sich her zu ziehen, war zwar nicht sonderlich einfach, aber er schaffte es, es unter die Kommode zu verfrachten, noch bevor der Wecker zu klingeln begann.

Schwer zufrieden mit sich und seiner Leistung schlenderte er in den Flur, genau im richtigen Moment, um einem vollkommen aufgelösten Die gegenüberzustehen.

 

„Kao? Kao!“, rief er, hielt sich mit einer Hand an der Schlafzimmertür fest und blickte sich gehetzt aus derart verquollenen Augen um, dass Kaoru bezweifelte, sein Freund würde überhaupt etwas sehen. Also tat er das, was er am besten konnte – er maunzte laut und lang gezogen, bevor er seinen Körper gegen Dies Beine rieb. Keine Sekunde später fand er sich auf den Armen des anderen wieder.

„Kao … Ich dachte schon, ich hätte das alles nur geträumt und du wärst noch immer verschwunden.“ Die atmete schwer aus, drückte Kaoru noch einen Moment länger gegen sich, bevor er ihn wieder auf dem Boden absetzte.

„Willst du frühstücken?“ Kaoru beließ seine Antwort diesmal bei einem langen Blick, den er gleichzeitig nutzte, um Die ausführlich zu mustern. Allein diese Reaktion gerade bewies ihm, wie dringend sich sein Freund entspannen musste, und schaffte es gleichzeitig, sein schlechtes Gewissen von Neuem aufflammen zu lassen. Er schob die negativen Gefühle jedoch sofort von sich. Er hatte eine Mission und im Moment zählte nichts weiter.

 

Seinem Freund in die Küche folgend hockte er sich vor seinen Futterplatz und schaute betont unschuldig zu ihm auf, als er sich über die arbeitsbereite Kaffeemaschine wunderte.

„Hab ich gestern vergessen, die auszuschalten?“, murmelte Die halblaut vor sich hin und kratzte sich am Kopf. Nach einem kurzen Zucken seiner Schultern stellte er jedoch ohne weiteres Grübeln eine Tasse unter die Maschine und wartete geduldig auf sein schwarzes Gold.

Eigenartigerweise vermisste Kaoru Koffein ebenso wenig wie Nikotin. Vielleicht war es nach diesem ungeplanten kalten Entzug an der Zeit, seine schlechten Gewohnheiten zu überdenken. Seine Gesundheit würde das definitiv zu schätzen wissen. Aber zurück zu Die, der ihm gerade eine Portion Fisch zerkleinert hatte und nun vor ihm auf den Boden stellte.

 

‚DAS nenne ich Essen‘, sinnierte er, als seine Gedanken kurz zu Red und seiner Sucht nach Trockenfutter abschweiften. Wie es dem roten Kater wohl gerade ging? Er musste zugeben, dass er die unkomplizierte Art des anderen ehrlich vermisste, was seinen Entschluss, ihn sobald er konnte aus dem Tierheim zu holen, nur untermauerte.

Gerade wollte Kaoru zu essen beginnen, als ihm auffiel, dass sich Die zwar an den Küchentisch gesetzt hatte, außer seiner Tasse Kaffee jedoch offensichtlich nichts weiter frühstücken wollte. So wie er es in den Tagen, seit Kaoru bei ihm war, immer getan hatte. Aber nicht heute. Mit der Nase begann er, seinen Futternapf, der glücklicherweise nicht sehr schwer war, über den Boden zu schieben, bis er genau neben Dies Stuhl stand.

 

„Kao? Was genau wird das, wenn es fertig ist?“

Ein langer Blick aus kugelrunden Katzenaugen und ein aufforderndes Maunzen waren alles, was Die auf seine Frage zur Antwort bekam.

„Willst du dein Futter nicht?“

Schweigen.

„Ich hab leider nichts anderes für dich da.“

Kaoru setzte sich auf seinen Hintern und starrte Die weiterhin auffordernd an. Sein Freund seufzte und rieb sich übers Kinn, den Mund verziehend, als ihm auffiel, dass er noch immer unrasiert war.

„Was ist denn los, mh? Iss doch.“

Kaoru maunzte, rieb seinen Kopf kurz gegen Dies Schienbein, trottete zum Kühlschrank und kehrte wieder zurück, nur um sich erneut vor den anderen hinzuhocken.

„Willst du etwa nicht allein essen?“

Beinahe hätte Kaoru genickt, beließ es im letzten Moment jedoch bei einem weiteren Maunzen, doch selbst dieses schien Die zu irritieren.

„Also, wenn das stimmt …“ Kopfschüttelnd erhob der Große sich, öffnete den Kühlschrank und spähte wenig begeistert hinein.

„Kyo hält mich für verrückt, wenn ich ihm das erzähle“, nuschelte er dem gekühlten Essen entgegen, entschied sich, wie es aussah, für eine Auswahl der Reste vom Vortag und packte diese auf einen Teller, der kurz darauf in der Mikrowelle verschwand.

„Deinetwegen stecken mich meine Kollegen irgendwann noch in die Klapse, weil ich ständig behaupte, du würdest mich verstehen.“

Kaoru kam murrend auf Die zu, der in die Hocke gegangen war und eine Hand nach ihm ausgestreckt hatte. Er leckte über den Zeigefinger seines Freundes und gönnte sich den Spaß, kurz, aber nicht fest in die Kuppe zu beißen.

„He~, wenn du Hunger hast, iss dein Futter, aber knabber mich nicht an. Ich schmecke nicht.“

 

‚Ach, hast du ‘ne Ahnung‘, dachte Kaoru innerlich grinsend und leckte sich betont vielsagend über die Lefzen.

 

~*~

 

„Ich bin doch nicht blöd, ich weiß, dass ich mein Handy gestern Abend auf dem Tisch hab liegen lassen.“ Zum gefühlt hundertsten Mal hob Die alle drei Couchkissen hoch, tastete die Sofaritze ab und späte unter das Möbel, aber das Gesuchte fand er nicht. Wie auch, lag das Smartphone doch noch immer unter der Kommode, wo Kaoru dafür gesorgt hatte, dass es ganz weit hinten in der letzten Ecke versteckt war. So konnte sein Freund es auch nicht zufällig beim Vorbeilaufen sehen. Kaoru stolzierte mit hocherhobenem Schwanz durch das Wohnzimmer, hüpfte auf die Fensterbank und sah schwer mit sich zufrieden nach draußen.

 

Vor der Scheibe herrschte wahres Bilderbuchwetter. Die Sonne schien von einem kornblauen Himmel, über den sich zarte Schleierwolken zogen. Es kribbelte in seinen Pfoten, als er einen Vogel beobachtete, der auf dem gegenüberliegenden Hausdach gelandet war und munter sein Lied trällerte. Alles zog ihn nach draußen, aber gleichzeitig wusste er, dass er fürs Erste in der Wohnung festsaß.

 

„Na du?“ Die schien seine Suche aufgegeben zu haben, stand nun neben ihm am Fenster und streichelte über seinen Kopf. Kaoru reckte sich der Hand entgegen, begann automatisch zu schnurren.

„Vermisst du es, draußen zu sein? Vermutlich hat Kyo recht und du hast mittlerweile Gefallen daran gefunden, allein herumzustromern.“

Er sah auf, fixierte das Gesicht seines Freundes, in dem der Konflikt nicht deutlicher hätte geschrieben stehen können.

„Ich würde dir das wirklich nur zu gern gönnen, aber die Welt dort draußen ist gefährlich. Was, wenn dich erneut jemand fängt oder du überfahren wirst?“

Die seufzte und Kaoru hätte es ihm am liebsten gleichgetan.

„Eine Idee hätte ich allerdings noch, aber ich weiß nicht, ob dir das gefallen wird.“

 

~*~

 

‚Gefallen ist echt übertrieben‘, dachte Kaoru und schüttelte sich, weil sich das Ledergeschirr, das sich um seinen Hals und den Brustkorb spannte, wirklich eigenartig anfühlte. Es war nicht unangenehm, dafür hatte Die gesorgt, aber es war ungewohnt.

Vor seinem unfreiwilligen Aufenthalt im Tierheim hätte ihn nicht einmal sein Freund dazu bringen können, sich dieses Gebilde anlegen zu lassen, damit er an der Leine durch den Park geführt werden konnte. Jetzt jedoch verstand er Dies Besorgnis und fand es sogar ein wenig rührend, dass er sich so um ihn kümmerte. Schließlich hätte es ihm genauso gut egal sein können, ob seine Katze nun raus wollte oder nicht.

 

Sie waren in einen Park gefahren, der etwas außerhalb des Stadtkerns lag und in dem die Chance, nicht jeden Meter über Paare, Gruppen von Freunden und Familien zu stolpern, die die Kirschblüte genossen, noch am Größten war. Dennoch war viel los und Die erregte ausnahmsweise einmal nicht durch seine bloße Anwesenheit Aufmerksamkeit, sondern diese zweifelhafte Ehre galt einzig und allein ihm.

Kaoru reckte den Kopf noch höher und streckte seinen getigerten Schwanz noch weiter empor, als ihnen ein kleiner, kläffender Köter entgegenkam. Wie er hing der Hund an der Leine, führte sich jedoch auf, als würde er sich am liebsten losreißen wollen.

 

„Du bist wirklich mutig, Kao, und so brav. Ich bin sehr stolz auf dich.“

Hach ja, Dies Lob ging runter wie Öl. Da machte es auch nichts, dass sein armes, kleines Katzenherz vor Angst gerade schnell wie Maschinengewehrsalven in seiner Brust hämmerte.

„Dort unten am See scheint es etwas ruhiger zu sein“, sprach sein Freund weiter und schlug den Weg ans Wasser ein. Kaoru folgte brav, lief nur ab und an etwas voraus, wenn er im dichten Gras ein Insekt erspähte, das es zu jagen galt. Leider war er noch immer miserabel, was das anging, und konnte am See angekommen keine einzige Beute vorweisen.

Etwas gefrustet hockte er sich mitten auf die Decke, die Die gerade ausgebreitet hatte, und blinzelte in die Sonne.

 

„Hier.“ Dies lächelndes Gesicht schob sich in sein Blickfeld und ein verboten leckerer Duft kitzelte seine Nase. Hielt ihm sein Freund gerade wirklich ein Stückchen Käse hin?

 

„Oh Die, ich könnte dich knutschen!“, maunzte er und machte sich über die Leckerei her.

Die kicherte auf diese herzliche, etwas alberne Art, die so typisch für ihn war und holte ein Sandwich aus der Kühltasche, die er mitgebracht hatte. Sich schwer zufrieden über das Mäulchen leckend spazierte Kaoru noch etwas um die Decke herum. Viel Auslauf bot ihm die Leine zwar nicht, aber auch wenn es in der Ferne einiges gab, was er nur zu gern erkundet hätte, blieb er brav in Dies Nähe. Vielleicht würden sie später noch um den See gehen, das würde ihm gefallen, und wenn nicht, hätte sein Freund sicher nichts dagegen, zurück in der Wohnung noch eine Runde mit ihm zu spielen. Ein wenig unausgelastet fühlte sich Kaoru nach den Tagen eingesperrt in einem viel zu kleinen Käfig noch immer, aber gerade war es wichtiger, dass Die sich entspannen konnte.

 

Sein Freund gähnte, schob sich seine Sonnenbrille zu Recht und streckte sich auf der Decke aus, die Leine locker um das Handgelenk geschlungen. Möglicherweise interpretierte Kaoru zu viel in diese Geste, aber bedachte man, dass er erst vor ein paar Tagen weggelaufen war, war dieser Vertrauensbeweis seines Freundes in seinen Augen etwas sehr Besonderes. Kaoru tapste näher, kletterte auf Dies Bauch, was er mit einem unterdrückten Ächzen bedachte, und rollte sich dort zusammen.

 

„Dir ist bewusst, dass ich gerade etwas gegessen habe und du genau auf meinem Magen liegst?“

 

„Ach, sei kein Weichei“, maunzte er und schmiegte seinen Kopf gegen Dies lange Finger.

 

~*~

 

 „Bitte verzeihen Sie.“ Verwundert hob Kaoru den Kopf, als er eine unbekannte Frauenstimme nahe bei sich hörte. Gerade hatte er noch einmal versucht, eine Zikade zu fangen, und hätte sie auch fast gehabt, hätte die Fremde ihn nicht aus dem Konzept gebracht. Die blickte nicht minder überrascht von seinem Buch auf, fixierte die Frau und legte fragend den Kopf schief.

„Ich will Sie wirklich nicht stören, aber ich bin so fasziniert von ihrer Katze.“

 

„Von Kao?“

 

„Kao? Was für ein schöner Name.“ Die Fremde ging einen halben Meter von ihrer Decke entfernt in die Hocke und streckte ihre zierliche Hand in Kaorus Richtung aus. Skeptisch beäugte er sie, entschied sich für den Moment jedoch dafür, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Was bitte wollte die von ihnen?

„Hat es lange gedauert, bis sich Ihre Katze an das Geschirr gewöhnt hat? Sie müssen wissen, ich habe auch eine Katze und überlege schon lange, ihr die Natur zu zeigen, aber sie mag die Leine nicht. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir vielleicht ein paar Tipps geben?“

 

„Oh.“ Die lachte etwas nervös wirkend und fuhr sich durch die Haare. „Ich befürchte, da werde ich Ihnen keine große Hilfe sein. Kao trägt sein Geschirr heute zum ersten Mal.“

 

„Wirklich?“ Mit großen Augen musterte ihn die junge Frau und obwohl sie nett schien, konnte Kaoru ihr nichts abgewinnen. Sie sollte wieder gehen und sie diesen schönen Tag in Ruhe genießen lassen. Stattdessen fragte Die gerade, ob sie sich denn nicht setzen wollte, und war sogleich in einer enthusiastischen Fachsimpelei über den richtigen Umgang mit felinen Mitbewohnern vertieft. Etwas seiner guten Laune beraubt, legte sich Kaoru so weit es ihm möglich war weg von den beiden ins Gras und versuchte, ihre Stimmen auszublenden. Die schien eine gute Zeit zu haben, amüsierte sich prächtig, aber obwohl er sich für seinen Freund freuen sollte, schmeckte ihm dieser Umstand ganz und gar nicht. Kaoru verstand sich und vor allem diese immer stärker werdende Abneigung der jungen Frau gegenüber nicht, konnte aber nichts dagegen tun.

 

Dementsprechend erleichtert war er, als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich verabschiedete, nicht ohne jedoch Die ihre Visitenkarte unterzujubeln. Was fiel der eigentlich ein? Die grinste dümmlich auf das weiße Papier herab, bevor er es in seine Hosentasche steckte.

 

„Ist das zu fassen? Shinya hatte mal wieder recht.“

Kaoru ahnte, worauf Die mit dieser Aussage hinaus wollte. Der Drummer riet seinem Freund schon seit Längerem, mehr unter Leute zu gehen und sein Einsiedlertum aufzugeben, aber verdammt noch eins, das hieß nicht, sich von der erstbesten dahergelaufenen Katzenbesitzerin um den Finger wickeln zu lassen. Er spürte, wie sich sein Rückenfell vor lauter Missfallen aufrichtete und ein Knurren in seiner Kehle kitzelte, was er glücklicherweise gerade so noch unterdrücken konnte. Die würde seine Übellaunigkeit ohnehin nicht verstehen … er verstand sie ja nicht einmal selbst.

 

~*~

 

Sie waren tatsächlich noch eine Runde um den See gegangen, was Kaoru auf der einen Seite wirklich begrüßt hatte. Auf der anderen Seite hatte er ihren kleinen Ausflug nicht mehr in vollem Maße genießen können und selbst, als sie nun wieder zurück in der Wohnung waren, lag ein drückender, harter Klumpen in seinem Magen. Nicht einmal sein Abendessen hatte er angerührt, was Die zwar gesorgt, er schlussendlich jedoch auf Kaorus Müdigkeit geschoben hatte.

Pfff, er war nicht müde, er war … keine Ahnung.

 

Kaoru lag betrübt auf dem Sofa, seine Ohren zuckten, als im Bad die Dusche angestellt wurde. Duschen war tatsächlich das Einzige, was er vermisste, seit er eine Katze war. Das und die Fähigkeit, sein Leben selbst bestimmen zu können. Sich streckend hüpfte er auf den Boden, tapste durch das Wohnzimmer und in den Flur, wo Die vorhin seine Habseligkeiten auf die Kommode dort gelegt hatte. Neugierig sprang er auf eben jenes Möbel und sah sich um. Dies Schlüssel lagen dort, ebenso wie seine Geldbörse und …

 

„Die Visitenkarte“, fauchte er, fegte das weiße Papier herunter und sprang ihm hinterher. Mit einem Satz griff er den unschuldigen Karton an, zerrte und riss solange daran, bis nur noch Fetzen davon übrig waren.

‚Gott, das hab ich gebraucht.‘

 

„Kao, was hast du angestellt?“

War klar, dass Die ausgerechnet jetzt aus dem Bad kommen musste, oder? Er versuchte gar nicht erst, unschuldig zu gucken, rappelte sich stattdessen auf und schmeichelte um die Beine seines Freundes.

 

„Als würdest du die Karte von dieser Schnepfe brauchen“, schnurrte er und stellte sich auf die Hinterläufe, um Die zu zeigen, dass er hochgehoben werden wollte.

 

„Du weißt haargenau, dass du etwas falschgemacht hast, nicht wahr?“

 

„Hab ich nicht, aber wenn du meinst.“ Kaoru schnurrte lauter, leckte über Dies Wange, die nun wieder so glattrasiert war, wie er es von ihm gewöhnt war.

 

„Kleiner Frechdachs.“ Die schien nicht sonderlich enttäuscht darüber zu sein, die Daten der Katzenliebhaberin auf ewig verloren zu haben, was wie Balsam für Kaorus frustrierte Seele war. Gemeinsam setzten sie sich aufs Sofa, Die unter der Wolldecke eingemummelt, Kaoru auf seinem Brustkorb liegend und zappten durch die Kanäle. Okay, Die zappte, Kaoru ließ sich die Streicheleinheiten gefallen und war schneller eingeschlafen, als er es für möglich gehalten hätte.

 

~*~

 

Stunden später, es war bereits dunkel in Dies Wohnung, erwachte er zusammengerollt neben seinem Freund auf dem Sofa liegend. Sein Magen knurrte so laut, dass er für eine Sekunde befürchtete, Die aufgeweckt zu haben, aber der andere schlief seelenruhig weiter.

Er gönnte sich einige lange Momente, in denen er seinen Freund nur betrachtete. Im Licht des Vollmondes, das durch die Fenster ins Wohnzimmer schien, wirkte Dies Haut beinahe silbrig, während seine langen Wimpern dunkle Schatten unter seine Augen zeichneten. Die Lippen sahen etwas trocken aus und die Wangen waren eingefallen, ein deutliches Zeichen, dass sein Freund in letzter Zeit wirklich zu wenig gegessen hatte.

 

‚Genau wie ich‘, dachte Kaoru und krümmte sich, als sich zu dem Knurren in seinem Magen ein unangenehmes Stechen gesellte. Himmel, er hätte das Abendessen nicht ausfallen lassen sollen. Nicht nach den Tagen seines Hungerstreiks, die er erst wieder aufholen musste, aber gleichzeitig wollte er seinen Freund nicht wecken. Wie er solche Zwickmühlen verabscheute. Unschlüssig erhob er sich, machte einen Buckel und streckte sich, bevor er von der Couch hüpfte und in die Küche schlich.

 

Leider hatte Die sein Abendessen bereits wieder in den Kühlschrank geräumt, was er enttäuscht bemerkte, als er sich vor seinen leeren Untersetzer hockte. Wasser stand dort und er trank, bis wenigstens das ärgste Ziehen nachgelassen hatte.

 

„Toll, und jetzt?“, maunzte er in die Stille des Raumes.

 

„Soll ich die Kühlschranktür für dich öffnen?“

 

Kaoru wirbelte so schnell herum, dass ihm schwindlig wurde und er eine Sekunde brauchte, bevor die Gestalt vor ihm klare Züge annahm. Dort im Türrahmen saß sie, das schwarze Fell im Mondlicht glänzend, die grünen Augen leuchtend.

 

„Zauberkatze“, fauchte er, was als Kater deutlich eindrucksvoller klang, als mit menschlicher Stimme.

 

„Na, na, kein Grund, territorial zu werden. Das war eine ganz uneigennützige Frage.“

 

„Du glaubst, dass ich territorial bin?“ Die Absurdität, dass die Zauberkatze wirklich dachte, er würde ‚sein Futter‘ vor ihr verteidigen wollen, hätte ihn beinahe laut auflachen lassen.

„Was willst du hier?“

 

„Ich dachte mir, ich muss mal wieder nach meinem Schützling sehen.“

 

„Seit wann bitte bin ich dein Schützling? Ich hätte deine Hilfe vor Tagen gebraucht, als sie mich eingefangen und festgehalten haben! Wo bist du da gewesen, mh?“

 

„Ich war beschäftigt.“

 

„Beschäftigt? KANNST du dir überhaupt vorstellen, was ich durchgemacht habe?“

 

„Vermutlich nicht.“

 

„Nein, denn du kannst einfach mit der Pfote wedeln und dich aus jeder misslichen Lage befreien. Aber, Newsflash, das kann nicht jeder!“

 

„Das weiß ich. Wenn du nun also mit deiner Schimpftirade fertig bist, könnte ich dir helfen, dein Magenknurren abzustellen. Außer, du willst warten, bis dein Mensch irgendwann aufwacht, dann bitte sehr.“

 

Kaoru hätte gute Lust, sich umzudrehen und die Zauberkatze so lange mit Schweigen zu strafen, bis sie wieder verschwand. Zum einen schätzte er jedoch, dass sie sich von seiner kalten Schulter nicht sehr beeindruckt zeigen würde und zum anderen wäre er dumm, ihr Angebot nicht anzunehmen.

 

„In Ordnung, mach den Kühlschrank auf.“ Ohne zu blinzeln, starrte ihn die Zauberkatze an, aber auch nach mehreren Sekunden des Wartens geschah nichts.

„Bitte“, presste Kaoru zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und keinen Moment später öffnete sich der Kühlschrank wie von Geisterhand.

„Danke“.

 

Er schnaubte unhörbar, fixierte die geöffnete Tür und sprang hoch, kam einen Millimeter vor den Gemüsefächern zum Stehen. Die kalte Luft ließ ihn kurz schaudern, aber viel interessanter war der Duft nach frischem Fisch, der ihm sogleich in die Nase stieg. Er kam aus einer Plastiktüte, die im Mittleren der Fächer lag, und die quasi seinen Namen quer darüber geschrieben hatte. Zumindest, wenn man seine Nase fragte. Mit der Pfote versuchte er sie herauszuschieben und als das nicht gelang, hakte er seine Krallen in das dünne Plastik und zog, bis die Tüte mit einem leisen Rascheln auf dem Boden landete. Er sprang hinterher, wunderte sich nicht einmal mehr darüber, dass sich die Kühlschranktür von allein wieder schloss.

 

Eingeschlagen in Papier fand Kaoru ein großes Stück Thunfisch, über das er sich sogleich hermachte und es in kürzester Zeit verputzt hatte, ohne seinem ungeladenen Gast auch nur einen Bissen anzubieten. Die kleine Schale mit Sardinen schob er ihr jedoch großmütig zu.

 

„Ich frage mich, ob du gern teilst oder nur die Verpackung nicht öffnen kannst.“ Die Zauberkatze klang immens belustigt, während sie mit wenigen Pfotenschlägen den Plastikdeckel von der durchsichtigen Verpackung entfernt hatte.

 

„Das darfst du sehen, wie du möchtest“, nuschelte Kaoru, putzte sich die rechte Pfote, bevor er es sich anders überlegte und sich mit ausgefahrenen Krallen auch eine Sardine stibitzte. So gesehen war es angenehm, nicht allein essen zu müssen, obwohl sein Groll auf die Zauberkatze noch nicht ganz verschwunden war.

„Ich will wieder ein Mensch sein“, meinte er irgendwann, als der ganze Fisch verputzt war und sich sein Magen gut gefüllt anfühlte.

„Die hat sich große Sorgen gemacht, als ich verschwunden war.“

 

„Tja, jetzt bist du ja wieder da.“

 

„Darum geht es nicht. Er macht sich ebenso um mich, den Menschen, Sorgen, verstehst du? Das war auch der Grund, weshalb ich raus bin. Ich hatte dich suchen und um deine Hilfe bitten wollen.“

 

„Jetzt bin ich hier und vielleicht willens, dir zu helfen.“

 

„Dann verwandle mich zurück, bitte.“ Kaoru war selbst überrascht davon, wie ruhig er sich gerade fühlte, obwohl die Gelassenheit der Zauberkatze ihm nach allem, was er hatte durchmachen müssen, tierisch auf den Zeiger gehen sollte.

„Ich danke dir für die Auszeit, die du mir durch die Erfüllung meines Wunsches verschafft hast, aber es wird Zeit, dass ich mein Leben wieder selbst in die Hand nehme. Ich möchte nicht, dass sich Die weiter um mich sorgen muss.“

 

„Aber er wird dich vermissen, wenn du erst wieder ein Mensch bist.“

 

Für einen Moment verstand Kaoru nicht, was sie meinte, dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sie hatte recht. Die würde krank vor Kummer werden, würde sein Kao nur einen Tag, nachdem er ihn wiedergefunden hatte, für immer verschwinden. Dennoch … er konnte nicht auf ewig eine Katze bleiben.

 

„Ich wünsche mir wirklich nichts sehnlicher, als Die auch als Mensch so nahe sein zu können, wie ich es in den letzten Tagen als Katze war. Dann könnte ich für ihn da sein und er würde Kao einfach vergessen können.“

 

„Siehst du.“ Die Zauberkatze sah ihm tief in die Augen und blinzelte träge. „Das nenne ich einen Herzenswunsch.“

Lektion 8 - Erwarte das Unerwartete

Das Klingeln des Weckers riss ihn so erbarmungslos aus seinem Schlaf, dass er zusammenzuckte und sich stärker gegen das warme Ding presste, auf dem sein Kopf so bequem lag. Besagtes Ding murrte, Finger landeten unkoordiniert auf seinem Kopf, bevor sie begannen, ihn zu kraulen. Der Lärm wurde abgestellt, ein leises Schmatzen war zu hören, dann kehrte wieder Ruhe ein. Kaoru war gerade dabei, erneut einzuschlafen, als sich sein lebendiges Kopfkissen, das er mittlerweile als Die identifiziert hatte, versteifte und den Atem anhielt. Automatisch tat Kaoru es ihm gleich, wartete gespannt darauf, was passieren würde, hatte aber noch keine große Lust, die Augen zu öffnen.

Ob Die verschlafen hatte?

Möglich.

Wobei er sich zu erinnern glaubte, dass bis zum frühen Nachmittag keine Termine geplant waren.

 

„Kaoru?“

Er brummte und stellte enttäuscht fest, dass Die aufgehört hatte, ihn zu streicheln.

„Was machst du in meinem Bett?“

 

‚Blöde Frage‘, dachte er sich und gähnte herzhaft gegen den Stoff von Dies Schlafshirt. ‚Als hätte ich nicht die ganzen letzten Nächte in deinem Bett verbracht. Manchmal bist du morgens echt noch nicht fit im Kopf, mein Guter.‘

„Schlaf weiter“, nuschelte er und erstarrte, kaum waren ihm die beiden Worte über die Lippen gekommen.

 

 Seine Augen sprangen auf und er war so schnell von Die abgerückt, dass ihm schwindlig geworden wäre, würde er nicht noch immer liegen. Ihre Blicke trafen sich, die Augen seines Freundes waren kugelrund und vermutlich spiegelte sich in den seinen derselbe Unglaube wider, den er in Dies erkennen konnte.

‚Fuckfuckfuck‘, jaulte sein Hirn panisch und weigerte sich, eine angemessene Reaktion auf das Dilemma zu liefern, in das ihn die Zauberkatze erneut gebracht hatte. Ja, er hatte wieder ein Mensch werden wollen und ja, wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sich dieser Spuk vor Tagen schon erledigt, aber verdammt noch mal, hätte sie ihn nicht in seinem eigenen Bett zurückverwandeln können?

 

Rascheln und Dies leises, etwas beschämt klingendes Glucksen rissen ihn aus seinen panisch herumwirbelnden Gedanken. Blinzelnd fixierte Kaoru seinen Freund. War im Oberstübchen des anderen gerade endgültig eine Leitung durchgebrannt oder weshalb fand er ihre Situation plötzlich zum Lachen komisch?

 

„Tschuldige, das letzte Glas gestern muss schlecht gewesen sein.“

Wovon redete Die da nur? Doch Kaoru entschied sich, diese Frage vorerst nicht zu äußern und stumm abzuwarten.

„Warum musstest du auch darauf bestehen, dass das Bett groß genug für uns beide ist? Jedes Mal dasselbe.“

 

Langsam dämmerte es ihm, was Die meinte, auch wenn er sich weder daran erinnern konnte, mit ihm getrunken, noch darauf bestanden zu haben, dass der Große nicht auf seiner Couch nächtigte.

Da letztere Forderung allerdings genau dem entsprach, wie er in einer Situation wie der Beschriebenen reagiert hätte, brummte er nur zustimmend und richtete sich zum Sitzen auf.

 

In der Vergangenheit hatte es schließlich so einige dieser trinkfreudigen Abende gegeben, während derer Die irgendwann darauf bestanden hatte, dass Kaoru nicht mehr fit genug war, um nach Hause zu fahren, und lieber bei ihm übernachten sollte. Auch die Diskussionen, wer von ihnen das gemütliche Bett nötiger hatte, und der unweigerliche Kompromiss daraus, waren ihm nur allzu bekannt. Nur lagen besagte Abende schon Jahre zurück und er war noch nie in die Verlegenheit gekommen, noch halbwegs in der Gedankenwelt einer Katze steckend und daher Die als Kopfkissen missbrauchend aufzuwachen.

 

„Mir ist es eindeutig lieber, von dir am frühen Morgen angeschrien zu werden, als mir den ganzen Tag dein Gejammer über Rückenschmerzen anhören zu müssen“, entschied er sich letzten Endes mit deutlicher Übertreibung auf Dies seichte Anschuldigung zu reagieren und lächelte schief, als sein Freund daraufhin entrüstet die Wangen aufplusterte. Entweder war sein Pokerface derart gut oder Die noch recht matschig in der Birne, denn sein Freund schien ihm seine Scharade ohne Weiteres abzukaufen.

 „Gib mir fünf Minuten im Bad, um mich an meine gestrigen Schandtaten zu erinnern, und dann reden wir weiter. Vorzugsweise während ich mindestens einen Liter Kaffee in mein System kippe.“

 

„Schön, dass sich manche Dinge nie ändern.“ Die grinste, bevor er leise wimmernd das Gesicht verzog und beide Hände gegen seine Schläfen presste. „Du hattest wirklich recht damit, dass der Klare uns nicht guttun wird.“

 

„Na, wenn ich das gesagt habe, stimmt es auch.“ Kaoru schwang seine Beine über die Bettkante und blieb noch einen Moment sitzen, bis die Welt vor seinen Augen aufhörte, sich zu drehen.

„Lagert dein Vorrat an Kopfschmerztabletten noch immer im Bad?“

 

„Im Bad, in der Küche, im Arbeitszimmer. Ich bin vollständig ausgerüstet, bedien dich also.“

 

„Die Firma dankt.“

Kaoru wusste nicht, wo er seine lockere Art in dieser Situation hernahm, aber er war unendlich dankbar dafür, dass er Die weder anstarrte wie eine Erscheinung, noch aus katzenhafter Gewohnheit versuchte, das Zimmer auf allen vieren zu verlassen. Dass er bis auf seine Jeans und Socken noch vollständig bekleidet war, war übrigens auch etwas, was ihn über die Maßen erleichterte.

 

Erst, als das warme Wasser der Dusche auf seinen Kopf und die Schultern prasselte – ein Gefühl, das er in den letzten Tagen schmerzlich vermisst hatte – gönnte er es sich, abgrundtief zu seufzen.

Was hatte die Zauberkatze nun wieder angestellt? Hatte sie Dies Erinnerungen manipuliert? Es musste so sein, denn er selbst erinnerte sich nicht daran, mit Die getrunken zu haben, geschweige denn, sich wieder zurückverwandelt zu ha…

Moment mal.

Knirschend wie Hunderte verrostete Zahnräder setzte sich sein Denkapparat in Bewegung und begann ihn langsam mit Bildern und Unterhaltungsfetzen der letzten Nacht zu versorgen.

 

~*~ Einige Stunden zuvor. ~*~

 

„Siehst du.“ Die Zauberkatze sah ihm tief in die Augen und blinzelte träge. „Das nenne ich einen Herzenswunsch.“

 

„Was meinst du?“ Kaum hatte Kaoru diese Frage ausgesprochen, krümmte er sich. Sein Bauch schmerzte so unerträglich, als würden Tausende Messer gleichzeitig auf ihn einstechen und sein Rücken brannte wie Feuer.

 

„Ruhig, es ist gleich vorbei.“

 

Kaoru hätte geschrien, würde der Schmerz ihm nicht sämtliche Luft aus den Lungen pressen. Seine Gliedmaßen zitterten so stark, als hätte er einen Krampfanfall und kurz bevor er glaubte, das Bewusstsein zu verlieren, war es mit einem Schlag vorbei.

 

„Oh Gott, was war das?“, keuchte er, beide Hände gegen die Stirn gepresst, hinter der sein Hirn sich mit jedem Herzschlag in seine Atome aufzulösen versuchte. Mit tränenden Augen starrte er nach oben an die Küchendecke, versuchte, erfolglos zu begreifen, was mit ihm passiert war, während ein stetiges Zittern in Wellen durch seinen Leib jagte.

„Was hast du mit mir gemacht?“

 

„Ich habe dir einen Teil deines Herzenswunsches erfüllt, für den Rest bist du zuständig.“

 

Wo Kaorus Ohren nur ein Maunzen hörten, begriff sein Verstand, was die schwarze Katze neben ihm sagte. Er drehte den Kopf, sah in die grünen Augen, die seinen Blick ohne Blinzeln erwiderten, bevor eine raue Zunge kurz, beinahe wie zum Abschied, über seine Wange leckte.

„Es war interessant mit dir, vielleicht sehen wir uns einmal wieder.“

 

Bevor Kaoru reagieren oder sich überhaupt darüber klar werden konnte, was er sagen wollte, war die Zauberkatze verschwunden, als wäre sie nie da gewesen.

Zitternd hob er einen Arm, betrachtete seine von Fell befreite und wieder menschliche Hand.

 

„Ich bin wieder ein Mensch“, wisperte er und schaffte es beim dritten Versuch, sich in eine sitzende Position hochzurappeln.

„Und ich bin angezogen, wie überaus zuvorkommend.“ Kaoru schnaubte und strich über das Shirt, von dem er sich sicher war, dass er es an dem Abend getragen hatte, als er der Zauberkatze zum ersten Mal begegnet war. Magie war wirklich praktisch … wenn sie nicht gerade gegen ihn verwendet wurde.

 

Dort saß er also, vollkommen durcheinander auf dem Küchenboden und versuchte, sich daran zu erinnern, wie um alles in der Welt er es jemals geschafft hatte, auf nur zwei Beinen zu stehen. Seine Knie fühlten sich an, als wären sie aus Gelee, als er versuchte, aufzustehen und seine Sinne schienen vollkommen aus dem Gleichgewicht gekommen zu sein. Die schummrige Nachtbeleuchtung in der Küche trug nicht dazu bei, dass er seine Umgebung besser erkennen konnte und ein hohes Pfeifen in seinen Ohren verstärkte seine Kopfschmerzen mit jeder verstreichenden Sekunde. Gott, er fühlte sich wie unter die Räder gekommen … oder als hätte er den Kater seines Lebens.

Beinahe hätte er laut gelacht – Kater – was für ein Witz, aber gerade so konnte er sich noch davon abhalten.

 

Sollte es das nun wirklich gewesen sein?

Es war kein Trick der Zauberkatze, keine Sinnestäuschung, hervorgerufen von seinem dringenden Verlangen, endlich wieder ein Mensch zu sein, oder?

Fest kniff er sich in die Seite und zischte kurz, als sich zum stumpfen Pochen in seinen Gliedern nun auch noch ein stechendes Ziehen gesellte.

Er war eindeutig wach.

 

Ein Geräusch aus Richtung des Wohnzimmers ließ ihn in jeder Bewegung erstarren und die Luft anhalten. Verdammt, er hatte ganz vergessen, dass er nicht in seiner eigenen Wohnung war. Die geisterte hier herum, war den Geräuschen nach zu urteilen gerade ins Bad gegangen. Es wurde höchste Zeit, dass er die Beine in die Hand nahm und das Weite suchte. Allerdings war das leichter gesagt als getan, denn seine Beine wollten noch immer nicht so wie er, sodass er nur wackelnd und schwankend in die Höhe kam. Die wenigen Meter, die ihn von der Eingangstür trennten, erschienen ihm wie eine unüberwindbare Hürde, als er sich schlurfend und an der Wand abstützend nach vorn bewegte.

 

Erst als die Badezimmertür ein zweites Mal knackte, hatte er es geschafft, die Klinke herunterzudrücken, und fiel beinahe hinaus in den Hausflur. Mit einer beherzten Verrenkung zog er die Tür hinter sich zu, bevor er die nächsten Minuten nur in der Kälte kauerte und nicht wusste, wie er es schaffen sollte, in diesem eigenartigen Zustand nach Hause zu kommen.

 

Mit Mühe rappelte er sich hoch, nutzte den Türrahmen als Stütze und musste dabei versehentlich gegen das Türblatt gestoßen sein. Keinen Moment später schwang selbiges nämlich nach innen auf und Die blinzelte ihn aus müden Augen an.

 

„Eh, Kaoru? Was machst du denn hier?“

 

~*~ Zurück in der Gegenwart. ~*~

 

Ihm war nichts Besseres eingefallen, als Die irgendetwas davon zu erzählen, dass er nach seiner Rückkehr den Abend in einem Izakaya verbracht hatte, um sich etwas von den strapaziösen Tagen bei seiner Familie zu erholen. Er hatte behauptet, dem Taxifahrer die falsche Adresse genannt zu haben, und musste alles in allem so bemitleidenswert gewirkt haben, dass Die ihm seine haarsträubenden Ausreden ohne weitere Nachfragen abgekauft hatte. Sein Freund hatte ihn hereingebeten, ihn mit einer Kleinigkeit zu essen versorgt und nach weiteren Unwahrheiten, die Kaoru ihm aufgetischt hatte, den unheilbringenden Klaren auf den Wohnzimmertisch gestellt.

 

„Den hast du dir verdient, würde ich mal sagen“, hörte Kaoru erneut das Echo der Stimme seines Freundes und seine Antwort darauf, dass er sicher nicht allein trinken würde. Eines hatte zum anderen geführt und das Endergebnis war gewesen, dass sie sich gegenseitig stützend komatös in Dies Bett gefallen waren.

 

„Oh, Mann“, seufzte Kaoru, während er sich mit einem süßlich fruchtigen Shampoo die Haare wusch, das ihn an die Morgen erinnerte, die er eingerollt in Dies feuerrotem Schopf geschlafen hatte. Ein eigenartiges Ziehen stach in seinem Herzen, als ihm bewusst wurde, dass er nie wieder auf diese Weise wach werden würde. Energisch wischte er sich das melancholische Lächeln von den Lippen, spülte sich den Schaum aus den Haaren und machte auch mit dem Rest seiner Körperhygiene kurzen Prozess. Zumindest das war deutlich angenehmer, als sich durch Millionen von Haaren lecken zu müssen, um sich einigermaßen sauber zu fühlen.

 

Er war sich noch immer nicht sicher, ob er wirklich schon bereit für den Tag war, geschweige denn dafür, sich mit Die zu befassen, als er leise schlurfend in die Küche kam. Sein Freund lümmelte am Tisch, wie so oft in den letzten Tagen, und hatte sein Tablet gegen eine Packung Milch gelehnt, um bessere Sicht darauf zu haben. Statt jedoch die sozialen Medien zu checken oder die neusten Nachrichten durchzulesen, wie es sonst seine Angewohnheit war, starrte er nur blicklos in seine Kaffeetasse.

 

„Musst du so schlecht aussehen, wie ich mich fühle?“, neckte er den Großen und drückte im Vorbeigehen seine Schulter, bevor er sich den größten Kaffeepott schnappte, den Dies Küchenschränke zu bieten hatten.

 

„Dir ist bewusst, dass es solche Aussagen auch nicht besser machen?“

 

„Ziemlich.“ Er schenkte Die ein schiefes Lächeln, bevor er sich ihm gegenübersetzte und tief das Aroma seines Kaffees einatmete. Hatte er nicht gestern noch festgestellt, dass er das schwarze Gold überhaupt nicht vermisste? Tja, so schnell war eine Sucht zurück. Verstohlen beobachtete er seinen Freund über den Rand seiner Tasse hinweg. Die sah wirklich nicht gut aus, müde und abgeschlagen, was zum einen kein Wunder war, ihn zum anderen dennoch beunruhigte und eine nagende Frage in ihm aufkommen ließ – erinnerte sich sein Freund an Kao?

Bislang hatte Die den kleinen Kater mit keinem Wort erwähnt, was Kaoru vermuten ließ, dass die Zauberkatze mehr getan hatte, als ihn nur zurückzuverwandeln. Aber, warum wirkte Die dann so niedergeschlagen?

 

„Plagt dich dein Kopf so sehr oder ist noch etwas anderes im Busch?“ Gut, okay, er hätte auch einfühlsamer nachhaken können, aber das war nicht seine Art. Die wusste das, oder etwa nicht? Wenn er von dem ungläubigen Blick aus dunklen Augen ausging, der ihm gerade zugeworfen wurde, hatte er sich gerade eher untypisch verhalten. Verdammt, er war wirklich nicht auf der Höhe.

 

„Ich, ehm, nur der Kopf, denke ich.“

 

„Denkst du das, ja?“

 

„Ja, schon … oder ich weiß nicht. Irgendwie werde ich das dumme Gefühl nicht los, dass ich etwas vergessen oder verloren habe, als würde ich was vermissen …“ Die schüttelte den Kopf und lachte dieses leise, beschämte Lachen, das es schaffte, Kaorus Magen in Aufruhr zu versetzen.

 

Er schluckte das Lächeln hinunter, das sich automatisch auf seine Lippen schleichen wollte und trank stattdessen endlich den ersten Schluck seines Kaffees. Gott, tat das gut. Dennoch konnte selbst das bittere Aroma seine Vorahnung in Sachen Kao nicht überdecken und dieses eigenartige Gefühl, das Die ihm gerade beschrieben hatte, verstärkte sie zusätzlich. So entschied er sich dafür, seinen Freund auf eine falsche Fährte zu führen. Das war zwar nicht ganz in Ordnung und sein schlechtes Gewissen protestierte schon wieder lautstark, aber in diesem Fall ging er lieber auf Nummer sicher.

„Mh, das Gefühl kenne ich.“

 

„Was? Ehrlich?“

 

„Ja. Es überkommt mich immer, wenn ich zu viele Termine im Kopf habe und befürchte, was zu vergessen. Gibt sich meist nach einem Blick in meinen Terminkalender wieder.“

 

„Du bist irgendwie …“ Die schluckte den Rest seines Satzes hinunter und schüttelte den Kopf. „Du hast recht, vielleicht hab ich wirklich nur einen Termin vergessen.“

 

„Bestimmt.“ Es lag ihm schon auf der Zunge, nachzufragen, was er denn war. Was hatte Die sagen wollen? Verhielt er sich wirklich so anders? Vermutlich. Bedachte man, dass Die und er vor seiner Verwandlung kaum drei Worte am Tag miteinander gewechselt hatten und das über Wochen, war Dies Skepsis nicht verwunderlich. Kaoru hatte sehr wohl realisiert, dass er seinem Freund in letzter Zeit unrecht getan hatte und auch, dass er so Einiges wiedergut machen musste. Nicht, weil Die das von ihm verlangte, das würde er nie tun, sondern, weil Kaoru es wollte. Mehr als alles andere, das wurde ihm gerade jetzt erneut klar.

 

„Eben. Und wenn du später dabei bist, deine Termine zu checken, kannst du gleich nachsehen, ob du heute Abend Zeit hast.“

 

„Zeit? Wofür?“

 

„Um mich ins Kino zu begleiten. Ich hab zwar keine Ahnung, was läuft, aber wir waren definitiv schon zu lange nicht mehr gemeinsam unterwegs, denkst du nicht auch?“

 

„Denken? Ich? Nein, das lasse ich lieber.“, murmelte Die so leise, dass er glaubte, die Worte waren nicht für seine Ohren bestimmt.“

 

„Wie bitte?“ Großmütig tat Kaoru so, als hätte er seinen Freund tatsächlich akustisch nicht verstanden und verkniff sich das Schmunzeln, das mit Nachdruck an seinen Mundwinkeln zupfte. Vermutlich war es nicht fair, Die so zu verwirren, aber er musste zugeben, dass es anfing, ein klitzekleines Bisschen Spaß zu machen.

„Hast du schon andere Pläne?“

 

„Ehm, nein, nein, ich denke nicht, aber ich schau nachher lieber erst nach.“

 

„Perfekt.“ Nun lächelte Kaoru doch und trank den Rest seines Kaffees in wohltuender Ruhe. Aus dem Wohnzimmer waberte leise Musik zu ihnen herüber und er stellte fest, wie sehr er sich in den letzten Tagen an diese ruhigen Momente der Zweisamkeit gewöhnt hatte. Es war eben doch etwas anderes, mit einem Freund zu schweigen, als allein in einer ungemütlich zweckmäßig eingerichteten Wohnung zu sitzen, die gerade morgens nach abgestandenem Zigarettenrauch roch. Hier roch es nach Kaffee, nach einem dezenten Raumduft und allem voran nach Die.

 

Kaoru blinzelte, als Die sich umständlich räusperte und bemerkte erst jetzt, dass er den anderen die ganze Zeit über angestarrt haben musste. Verdammt, er musste sich wirklich daran erinnern, dass Eigenschaften, die als Katze ganz normal für ihn gewesen waren, als Mensch nun eher seltsam auf seine Umgebung wirkten.

 

„Sorry, ich war in Gedanken.“ Er schenkte seinem Gegenüber ein entschuldigendes Lächeln und erhob sich. Die hatte die ganze Zeit über nichts gesagt, schien wie vor den Kopf gestoßen, was Kaoru ihm nicht verübeln konnte. Würde sein Freund sich so eigenartig verhalten, hätte er schließlich auch nicht gewusst, wie er damit umgehen sollte. Kaoru hoffte wirklich, dass die Welt aufhörte, sich so anders anzufühlen, wenn er erst einmal zu Hause war und Zeit hatte, all das Geschehene zu verarbeiten. Er spülte seine Tasse kurz mit warmem Wasser aus, stellte sie ins Abtropfgitter und blieb schräg hinter seinem Freund stehen.

 

„Danke, dass du meinen besoffenen Arsch bei dir aufgenommen hast“.

 

„Keine Ursache, hättest du doch nicht anders gemacht.“ Die hob den Kopf und sah über die Schulter zu ihm auf.

 

„Zumindest nicht bei dir.“ Kaoru zwinkerte und auf Dies Lippen schlich sich ein schadenfrohes Grinsen, als er sich sicher gerade auch daran zurückerinnerte, dass Toshiyas besoffener Arsch schon mal eine Nacht vor Kaorus Wohnung verbracht hatte. Tja, er ließ eben nicht jeden in sein Reich.

 

"Meldest du dich nachher wegen des Kinos?“ Einem Impuls folgend hob Kaoru eine Hand und legte sie auf Dies Schulter. Er gab es nicht gern zu, aber die Vorstellung, nun nach Hause zu gehen, allein zu sein und diesen Umstand in nächster Zeit auch nicht wirklich ändern zu können, war keine Angenehme. So froh er war, wieder ein Mensch zu sein, so sehr würde er gewisse Dinge vermissen, an die er sich während seiner Zeit als Katze gewöhnt hatte.

 

„Eh, ja, mach ich.“

Die schenkte ihm einen eigenartigen Blick, den er nicht wirklich einschätzen konnte. War es ihm unangenehm, dass Kaoru hinter ihm stand oder …

Er schmunzelte, streichelte kurz über Dies Schulter und schlenderte aus der Küche.

Sein Freund war rot geworden, da war er sich sicher.

 

~*~

 

Wäre es nach Kaoru gegangen, hätte er diesen Ort nie wieder aufgesucht. Da er jedoch ein Versprechen einzulösen hatte, stand er am frühen Nachmittag vor den automatischen Schiebetüren des Tierheims und versuchte, sich zu überwinden, endlich hineinzugehen. Sein Magen war ein einziger, schmerzhafter Knoten und sein Shirt klebte an seinem Rücken. Würden seine dummen Hände nicht zittern, hätte er Letzteres auf die Hitze und Ersteres darauf schieben können, dass er noch nichts gegessen hatte, aber so?

 

„Verdammt noch mal“, knurrte er, trat einen beherzten Schritt nach vorn und durchquerte die Schiebetüren. „Ich werde mich von einem Gebäude nicht unterkriegen lassen, das wäre ja noch schöner.“

 

Die Gerüche trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht und auch, wenn er das Bellen und selbst das Maunzen diesmal nicht mehr verstehen konnte, richteten sich die feinen Härchen auf seinen Unterarmen auf. Ihm wurde schlagartig übel und am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht.

 

„Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“ Eine freundliche Frauenstimme, die er zum Glück nicht wiedererkannte, hielt ihn jedoch davon ab, kopflos die Flucht zu ergreifen.

 

„Guten Tag. Mein Name ist Niikura, ich bin auf der Suche nach meinem Kater, Red. Er ist mir am Wochenende entlaufen.“

 

„Oh, am Wochenende schon?“

 

„Ja, leider. Ich hatte ihn am Sonntag noch gesucht, musste dann aber auf Geschäftsreise, und frage seit ich wieder zurück bin in allen Auffangstationen und Tierheimen nach, ob er dort aufgetaucht ist.“ Kaoru war erstaunt, wie leicht ihm diese Lügen fielen, aber wenn er Fremde anschwindelte, schien sein schlechtes Gewissen nichts dagegen zu haben. Der Zweck heiligte die Mittel und so.

 

„Ah, ich verstehe. Haben Sie denn ein Foto von Ihrem Kater, das Sie mir zeigen könnten?“

 

„Ich bin nicht der Typ, der alles fotografiert, befürchte ich. Aber ich kann Ihnen Red beschreiben.“ Und genau das tat er. Es war erstaunlich, wie viele Details ihm an dem roten Kater aufgefallen waren – von der Farbe und Zeichnung seines Fells, über die Augenfarbe bis hin zu dem wie angenagt aussehenden rechten Ohr und dem Knick kurz vor seiner buschigen Schwanzspitze. Die Angestellte hörte ihm aufmerksam zu und nickte, als er seine Beschreibung beendet hatte.

„Er ist eher ein Einzelgänger, aber mit Trockenfutter kann man ihn wirklich immer locken.“

 

„Ich will Ihnen keine zu große Hoffnung machen, aber wir hatten bis gestern einen Kater in Quarantäne, der auf ihre Beschreibung passen könnte.“

 

„Bis gestern?“ Kaorus Herz sank. Hieß das etwa, jemand anderes hatte Red abgeholt? Er hätte es nicht für möglich gehalten, aber der Gedanke, unverrichteter Dinge wieder gehen zu müssen, schmeckte ihm ganz und gar nicht. Und das tatsächlich nicht nur, weil er Red dann ein Versprechen schuldig blieb.“

 

„Ja, er ist nun zusammen mit den anderen Fundtieren in unserem Katzenhaus untergebracht. Wenn Sie möchten, sage ich meinem Kollegen Bescheid, dass er ihn holt? Leider können Sie aus Hygienegründen nicht selbst mitkommen und es könnte auch ein wenig dauern …“

 

„Das ist überhaupt kein Problem“, winkte Kaoru großmütig ab. Er war so erleichtert, dass Red noch hier war, dass er auch morgen noch einmal gekommen wäre, hätte sie das von ihm verlangt. Außerdem würden ihn keine zehn Pferde in die Nähe der Quarantänestation bringen.

 

„Sehr schön. Sie können dort drüben platznehmen.“ Sie deutete auf eine kleine Nische, in der zwei Stühle gegen die weiße Wand gelehnt standen, die wie alles hier nicht sonderlich gemütlich aussahen. Aber er hatte ohnehin nicht vor, Wurzeln zu schlagen.

 

~*~

 

„Herr Niikura?“

Kaoru nickte und legte die Zeitschrift, in der er die letzte halbe Stunde gelangweilt geblättert hatte, zurück auf die Ablage, bevor er sich erhob.

„Mein Name ist Kanazawa.“

Der Pfleger verbeugte sich knapp und Kaoru tat es ihm gleich, obwohl sich ihm sämtliche Nackenhärchen aufstellten. Er war sich sicher, diese Stimme schon einmal gehört zu haben. Kanazawa musste der Kerl sein, der ihn eingefangen hatte. Gerade so konnte er sich davon abhalten, zu knurren und sein Gesicht nicht vor Zorn zu verziehen.

„Ich habe den Kater in einem unserer Zimmer separiert, wenn sie möchten, bringe ich Sie zu ihm.“

 

„Sehr gerne.“ Seine Zähne fühlten sich an, als klebten sie aufeinander und er hatte die beiden Worte kaum herausgebracht. Der Pfleger schien sich an seiner abweisenden Art jedoch nicht zu stören, war vorausgegangen und Kaoru folgte ihm. Er konnte diesen Ort wirklich nicht schnell genug hinter sich lassen. Glücklicherweise dauerte es kaum zwei Minuten, bis sie an einer unscheinbaren Tür ankamen, die der Pfleger sogleich aufdrückte. Im Inneren stand ein Kratzbaum in der Ecke, mehrere Katzenspielzeuge lagen auf dem wischbaren Boden aus blassgrünem Linoleum und der Tür gegenüber, unter dem Fenster standen je ein Wasser- und Futternapf auf einem schwarzen Untersetzer. Unwillkürlich schlich sich ein Grinsen auf Kaorus Züge, als das erste, was er hörte, ein zufriedenes Knacken und Schmatzen war. Der große, dicke Kater saß vor dem Futternapf und ließ sich deutlich zufrieden das darin befindliche Trockenfutter schmecken.

 

„Ist das Ihrer?“

 

„Ja.“ Kaoru nickte knapp, bevor er seine komplette Aufmerksamkeit auf den Kater richtete. „Hallo, Red.“

Er hatte nicht sofort mit einer Reaktion gerechnet, doch kaum hatte er etwas gesagt, stoppten die Kaugeräusche und orange Augen fixierten ihn interessiert.

„Ich bin es, Kaoru.“

Langsam näherte er sich, blieb jedoch eine Armeslänge vor dem Kater stehen und ging in die Hocke.

„Du erinnerst dich doch noch an mich, oder?“, flüsterte er in der Hoffnung, der Pfleger wäre ausreichend von seinem Handy abgelenkt, auf dem er geschäftig herumtippte, seit sie das Zimmer betreten hatten. Er streckte eine Hand aus, nicht um die Katze zu berühren, sondern damit Red an seinen Fingern schnuppern konnte, wenn er das wollte. Ob sein Geruch als Mensch derselbe war wie als Katze?

„Ka-o-ru, weißt du noch? Ich hatte dir versprochen, dich abzuholen, sobald ich wieder ein Mensch bin.“ Die letzten Worte sprach er so leise, dass er sie selbst kaum hörte. Aber Reds Augen fixierten ihn noch immer interessiert und Kaoru hoffte inständig, der Kater würde ihn begreifen, was er ihm sagen wollte. Während seiner Zeit als Katze hatte er nie Probleme damit gehabt, Menschen zu verstehen, aber er wusste nicht, ob er das dem Zauber der magischen Katze zu verdanken gehabt hatte oder ob alle Katzen dazu in der Lage waren. Letzteres war eine seltsame Vorstellung, aber darum ging es gerade nicht.

 

Eine weiche Berührung an seinen Fingern und ein dunkles Schnurren rissen ihn aus seinen Gedanken. Red war näher gekommen, rieb sein Gesicht nun gegen seine Hand, bevor er sich hinlegte und auffordernd zu ihm aufsah.

„Streicheleinheiten? Jetzt schon? Du gehst ja ran.“ Er grinste, strich über den Kopf des Katers und begann, ihn hinter dem rechten Ohr zu kraulen. Das Schnurren wurde lauter und Kaoru fühlte, wie sich ein Großteil seiner Anspannung löste. Die erste Hürde des wieder Menschseins hatte er geschafft, alles andere würde sich auch noch geben.

„Komm, Großer, ich zeig dir dein neues Zuhause.“

Lektion 9 - Hör auf deine freunde, nicht auf deinen Stolz.

„Er ist so komisch geworden, findest du nicht auch?“

 

„Definiere komisch.“

 

„Na ja, komisch eben.“

 

„Also ehrlich, wenn nicht mal du weißt, was du damit meinst, wie soll ich dir dann sagen, ob ich das genauso empfinde?“

 

„Mensch, Shinya, mach es mir nicht so schwer. Es kann doch nicht nur mir aufgefallen sein, dass er sich verändert hat, seit er von seinen Eltern zurückgekommen ist? Anfangs dachte ich noch, es läge nur daran, dass er keine so gute Zeit dort hatte und froh war, wieder hier zu sein, aber wir sind jetzt schon seit Wochen auf Tour und er verhält sich noch immer so untypisch.“

 

„Ich finde ja, er verhält sich endlich wieder wie ein Mensch und nicht wie ein Roboter. Meinetwegen kann das gern so bleiben. Es ist durchaus sehr angenehm, wenn er sich nicht nur um die Arbeit kümmert.“

 

„Das stimmt schon, irgendwie, und es ist auch nicht so, dass ich mich beschweren will, aber … Ach, keine Ahnung.“

 

„Mh, wenn ich genauer darüber nachdenke, ist sein Verhalten schon anders als sonst. Gestern erst hat er bemerkt, dass mein Vorrat an Tee zur Neige geht und sich gleich darum gekümmert, dass jemand vom Staff Neuen besorgt. Das war tatsächlich untypisch für ihn. Normalerweise hat er während einer Tour andere Prioritäten und ist weitaus weniger aufmerksam, was solche unbedeutenden Kleinigkeiten angeht.“

 

„Siehst du, sag ich doch.“

 

„Aber musst du deshalb so ein Gesicht machen? Du tust gerade so, als hätte er sich zum Negativen verändert.“

 

„Was? Nein, so meine ich das überhaupt nicht. Es sind nur viele kleine Dinge, die er plötzlich ganz anders macht als sonst, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“

 

„Gib mir ein Beispiel.“

 

Die seufzte und fuhr sich durch sein schulterlanges Haar. Die feuerroten Strähnen waren größtenteils einem natürlichen Schwarz gewichen und blitzten nur noch hier und da durch. Kaoru bedauerte diese Veränderung ein wenig, obwohl er zugeben musste, dass auch die neuen Haare seinem Freund überaus gut standen. Generell hatte er seit Beginn der Tour feststellen müssen, dass er Die intensiver musterte als früher und durchaus Gefallen an dem fand, was er zu Gesicht bekam.

Kaoru ahnte, was diese Entwicklung zu bedeuten hatte, hatte sich jedoch noch nicht die Zeit genommen, seine Gefühle genauer zu analysieren. Ob das feige von ihm war? Vielleicht, aber gerade war Dies Gespräch mit Shinya, das er so ungeniert belauschte, ohnehin viel wichtiger.

 

Er hätte nicht gedacht, dass sein Verhalten seinem Freund so aufs Gemüt schlug und das, wo er alles daransetzte, die Kluft zwischen ihnen, für die niemand anderer als er selbst verantwortlich war, wieder zu kitten. Und ganz ehrlich? Wer konnte ihm das verübeln? Als Kater hatte er nahezu jeden Augenblick mit Die verbracht, hatte mit ihm im selben Bett geschlafen und als lebendiges Kuscheltier hergehalten, wenn der andere sich nicht gut gefühlt hatte. Das konnte er nicht vergessen oder so tun, als wäre es nie passiert, auch wenn er nun wieder ein Mensch war. Er vermisste Die, obwohl sie auf Tour mehr Zeit als sonst in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander verbrachten. Doch je mehr er versuchte, die emotionale Distanz zwischen ihnen, die er kaum noch ertrug, zu überbrücken, desto irritierter schien sein Freund zu werden. Es war zum Haareraufen. Beinahe hätte Kaoru genau dies nun getan, hätte Die nicht in diesem Moment erneut zu reden begonnen.

 

„Ein Beispiel? Ich kann dir gleich mehrere geben. Er ist untypisch aufmerksam, sucht aktiv Kontakt, wo er sonst lieber für sich ist. Plötzlich ist er kein Workaholic mehr, sondern erinnert uns ständig daran, auch Pausen zu machen und verteilt Lob für Sachen, die ihm früher nie aufgefallen wären. Aber das Schärfste ist ja, dass er sich kurz vor der Tour noch einen Kater aus dem Tierheim geholt hat. Wusstest du das schon?“

 

„Hat er?“ Shinya runzelte die Stirn. „Ich hätte nicht gedacht, dass er sich zeitlich so an ein anderes Wesen binden würde.“

 

„Eben, meine Rede. Aber er tut alles für diesen Kater. Kannst du dir vorstellen, dass er ihn sogar mit in den Supermarkt genommen hat, um, und ich zitiere, ihn selbst sein Lieblingstrockenfutter heraussuchen zu lassen? Bei jedem anderen hätte ich das lustig gefunden, aber wir reden hier von Kaoru, der tut so etwas Irrationales nicht.“

 

Kaoru ging tiefer hinter den beiden Transportkisten aus Metall in Deckung, als Shinya mit nachdenklicher Miene in seine Richtung sah. Er konnte ohnehin von Glück reden, dass es backstage noch so ruhig und er bislang unentdeckt geblieben war. Toshiya hatte sich abgemeldet, um sich etwas die Gegend anzusehen, und Kyo war irgendwo in den verwinkelten Gängen verschollen. So wie er den Sänger kannte, hatte der sich ein ruhiges Plätzchen gesucht, um entweder etwas Schlaf nachzuholen oder sich mental auf die bevorstehende Show vorzubereiten.

 

„Okay, das ist selbst für unseren Leader sehr exzentrisch.“

 

Unwillkürlich rieb sich besagter Leader über den Hinterkopf, als würde es hier jemanden geben, der seine Verlegenheit bemerken konnte. Tat es zum Glück nicht, aber in Retrospektive musste er zugeben, dass die Aktion, Red in den Supermarkt mitzunehmen, nicht gerade eine Glanzleistung seinerseits gewesen war. Der arme Kater war mit den neuen Gerüchen und Geräuschen heillos überfordert gewesen und Kaoru hatte nicht bedacht, dass jedes einzelne Päckchen Trockenfutter aromaversiegelt verpackt sein musste. Red hatte somit keine Chance gehabt, sein Lieblingsfutter zu erschnuppern. Am Ende war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als jede Sorte zu kaufen, die die gut bestückte Tierfachhandlung vorrätig hatte, und so lagerte in Kaorus zweitem Schlafzimmer, das er ohnehin nie benutzte, nun ein Futtervorrat, der ihnen die nächsten fünf Jahre reichen würde. Vorausgesetzt, Red verschmähte nicht alles, aber bislang hatte sich der Kater eher als wahre Fressmaschine gezeigt.

 

„Es ist so hart, damit umzugehen und mich gleichzeitig nicht zu verraten.“

 

„Ach Die …“ Shinya tätschelte seinem Gegenüber die Schulter und Kaoru bemerkte viel zu spät, dass er so in seinen Gedanken an seinen felinen Mitbewohner vertieft gewesen war, dass er einen essenziellen Teil der Unterhaltung nicht mitbekommen hatte.

„Jetzt verstehe ich, warum dich das alles so mitnimmt, aber vielleicht ist das deine Chance, endlich etwas zu ändern.“

 

Die schaute mehr als skeptisch und Kaoru knirschte mit den Zähnen – verflucht, er hatte auch wissen wollen, was seinen Freund so belastete. Nur deshalb lauerte er hier wie ein Schwerverbrecher in den Schatten und gerade, wo es interessant wurde, musste sein dummes Gehirn abdriften. Das war doch zum Mäusemelken.

 

„Als hätte ich nicht längst mein Glück versucht, stünde nicht so viel auf dem Spiel. Ich bin kein Masochist, Shin.“

 

„Das weiß ich, aber du hast auch die Tendenz, vorschnell das Handtuch zu werfen.“

 

„Leugnen ist zwecklos, was?“

 

„Absolut.“

 

„Na, schönen Dank auch.“ Die ließ kurz die Schultern hängen, atmete tief durch und richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. „Aber mal im Ernst, danke fürs Zuhören. Es hat gut getan, mit jemandem darüber reden zu können.“

 

„Predige ich dir nicht schon seit Jahren, dass du nicht immer alles in dich hineinfressen sollst?“

 

„Ja, das tust du.“ Die lachte und fuhr sich auf diese leicht beschämte Art und Weise durchs Haar, die Kaorus Magen jedes Mal aufs Neue in Aufruhr versetzte.

„Wird es dir nicht langweilig, immer recht zu haben?“

 

„Nein, wird es nicht.“ Shinya lächelte und sagte noch irgendetwas, was Kaoru jedoch nicht mitbekam, weil hinter ihm plötzlich Schritte erklangen. Ertappt zuckte er zusammen und ließ den Hotelschlüssel, den er bereits die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, hinter die Kisten fallen. Ging doch nichts darüber, vorbereitet zu sein. So kniete er keinen Herzschlag später vor dem schmalen Spalt zwischen Kisten und Wand und tat so, als würde er schon eine ganze Weile versuchen, seinen Schlüssel wieder an sich zu bringen.

 

„Ein interessantes Plätzchen hast du dir da ausgesucht.“

Schwarze Gucci Loafer traten in sein Blickfeld, als er den Kopf zur Seite drehte. Wie nicht anders zu erwarten, bestätigte ein Blick nach oben, dass sie zu niemand anderem als ihrem Sänger gehörten. Innerlich fuhr Kaoru erneut zusammen, als ihn das dumme Gefühl überkam, sich trotz aller Vorausschau verraten zu haben. Dennoch ließ er sich nichts anmerken, reckte sich noch einmal nach dem Schlüssel und zog ihn aus dem Spalt.

 

„Mir ist der Zimmerschlüssel heruntergefallen und hinter die Kisten gerutscht“, erklärte Kaoru sein Handeln in einem derart gelangweilten Tonfall, dass er sich selbst diese Lüge ohne Weiteres abgekauft hätte. Kyos hochgezogene Braue, die unter seinem fransigen Pony verschwunden wäre, hätte er sie sich nicht bis zur Unkenntlichkeit abrasiert, ließ ihn allerdings sogleich an seinen schauspielerischen Fähigkeiten zweifeln. Zu allem Überfluss hatten Shinya und Die sie entdeckt und gesellten sich zu ihnen.

 

„Jetzt fehlt nur noch Toshiya“, stellte der Drummer leise fest und Kaoru musste schlucken, um überhaupt einen Ton herauszubekommen.

 

„Er müsste in zehn Minuten zurück sein.“

Für einen zähen Augenblick war er sich sicher, aufgeflogen zu sein, aber eine entsprechende Reaktion seiner Kollegen blieb aus.

 

„So, so“, murmelte Kyo und zuckte in einer lapidaren Geste die Schultern. Einen endlosen Moment fixierten ihn die durchdringenden Augen noch, dann wandte sich der Sänger von ihm ab. Kaoru hätte am liebsten erleichtert ausgeatmet, lägen nicht zwei neugierige Augenpaare auf ihm.

 

„Was schaut ihr so? Lasst uns mit dem Soundcheck beginnen.“ Mit einer scheuchenden Handbewegung vertrieb er Shinyas und Dies interessierte Blicke und jagte die drei Musiker gleichzeitig vor sich her. Gut nur, dass Kyo grundsätzlich eher wenig Interesse an seinen Mitmenschen hegte und nicht nachgebohrt hatte. Dennoch hätte die ganze Sache auch besser laufen können. Es genügte ihm schon, dass Die noch immer ein Buch mit sieben Siegeln für ihn war und seine Spionageaktion dank seiner eigenen Dummheit vollkommen für die Katz gewesen war. Einen neugierigen, und wenn es darauf ankam, viel zu scharfsinnigen selbsterklärten Propheten an seinen Fersen kleben zu haben, war das Letzte, was er nun gebrauchen konnte.

 

~*~

 

„Tolle Show, Jungs“, lobte Kaoru, als er frisch geduscht in den Aufenthaltsraum der Konzerthalle zurückkehrte und sich auf das durchgesessene Sofa fallen ließ. Er war müde, aber zufrieden, denn ihr Konzert war reibungslos über die Bühne gegangen. Endlich schien ihre Pechsträhne, was die Technik und ihr Equipment anging, ein Ende zu haben, und selbst die Zeit saß ihnen heute Abend für einmal nicht im Nacken. Lieber spät als nie oder wie hieß es so schön? Ihr Abschlusskonzert würden sie erst übermorgen geben und sein Rücken freute sich bereits darauf, diese Nacht nicht auf der unbequemen Liege im Tourbus verbringen zu müssen. Gerade bildete er sich ein, den sirenengleichen Ruf seines weichen Hotelbetts hören zu können, als ihn eine Stimme ganz anderer Natur aus seinen Gedanken riss.

 

„Deine Witze waren auch schon mal besser“, murrte Die, der schräg von ihm auf einem der Klappstühle lümmelte und seine glimmende Zigarette mit einem derart finsteren Blick anstarrte, dass das arme Tabakröllchen schreiend davongelaufen wäre, würde es sich nicht im Todesgriff seiner Finger befinden.

 

„Das war kein Scherz.“ Irritiert runzelte Kaoru die Stirn. „Alles in Ordnung mit dir?“

 

„In Ordnung? Ja, das wäre es vielleicht, wenn du dich endlich wieder normal verhalten würdest.“ Die vernichtete den Rest seiner Zigarette in einem Pappbecher, der ihm als behelfsmäßiger Aschenbecher diente und erhob sich.

„Ich hab mich drei Mal verspielt und da redest ausgerechnet du von einer guten Show? Normalerweise müsste ich längst so klein mit Hut sein.“

Die hielt ihm Daumen und Zeigefinger vor die Nase und wies damit auf den winzigen Spalt hin, den er zur Verdeutlichung seiner Aussage dazwischen gelassen hatte.

 

Nun gut, wo sein Freund recht hatte, hatte er recht und wenn er Shinyas und Kyos Mienen richtig deutete, waren auch die beiden der Meinung, dass Kaorus Lob unangebracht gewesen war. Verdammt, und da hatte er geglaubt, Die einen Gefallen damit zu tun, seine kleinen Patzer großmütig zu überhören. Eine derbe Fehleinschätzung– mal wieder. Nun jedoch zurückzurudern, war ganz und gar nicht sein Stil, also zuckte er nur nonchalant mit den Schultern.

 

„Ich bin mir sicher, so wie wir den Fans eingeheizt haben, ist das niemandem aufgefallen.“ Er winkte ab. „Zieh also nicht so eine Mine, der Gesamteindruck zählt.“

 

Die holte Luft und sah noch immer so unzufrieden und auf Krawall gebürstet aus, dass Kaoru alles, nur kein Einlenken erwartete. Noch bevor sein Gitarristenkollege jedoch loslegen konnte, betrat Toshiya den Raum und lenkte die Aufmerksamkeit aller auf sich.

 

„Hey, was haltet ihr davon, wenn wir heute Abend nicht im Hotel essen? Ich hab vorhin nicht weit von hier einen coolen Diner entdeckt, in dem es riesige Burger gibt.“

Der Bassist war in der Mitte des Raums stehen geblieben und rubbelte mit einem Handtuch über seine noch tropfenden Haare.

 

„Können wir machen“, murrte Die mit wenig Elan, als hätte ihn sein Beinahe-Ausbruch sämtliche Energie gekostet. Er zupfte sich einen Zopfgummi vom Handgelenk, um sich die Haare zu einem unordentlichen Knoten im Nacken zusammenzubinden, zog seine Jacke von der Stuhllehne und schob sich an Toshiya vorbei aus dem Raum. Kaoru biss sich auf die Unterlippe – verflucht, er wurde aus diesem Kerl einfach nicht schlau.

 

„Was hat er denn?“, murmelte Toshiya, den fragenden Blick auf die Tür gerichtet, durch die ihr Gitarrist gerade verschwunden war.

 

„Wenn ich das mal wüsste“, seufzte Kaoru lauter, als er gewollt hatte und zündete sich nun seinerseits eine Zigarette an.

 

„Ja, also …“ Für einen kurzen Moment wirkte Toshiya irritiert, dann jedoch kehrte das Lächeln auf seine Lippen zurück. „Was sagt der Rest zu meinem Vorschlag? Leader-sama, kommst du mit?“

 

„Mh, Burger klingen gut, ich bin dabei.“

 

Normalerweise war Kaoru nach einer Show lieber für sich, um runterzukommen und den Stress des Tages in Ruhe abbauen zu können. Nach Dies Reaktion würde er jetzt jedoch den Teufel tun und ihn so vom Haken lassen. Ja, zugegeben, er hatte mit seinem Lob wieder einmal genau das Falsche zum falschen Zeitpunkt gesagt, aber das gab Die noch lange nicht das Recht, so überzureagieren. Was war nur los mit ihm?

 

„Und was ist mit euch? Kyo? Shinya?“, hörte er Toshiya fragen, aber achtete nicht weiter darauf, was gesagt wurde. Nach so vielen Jahren ihrer Zusammenarbeit hätte der Bassist längst wissen müssen, dass er sich bei den beiden auf verlorenem Posten befand. Nach einer Show war Kyo meist froh, wenn er nur noch ins Bett kam, und riesige Burger waren nichts, womit man Shinya aus der Reserve locken konnte. Dennoch fühlte sich Kaoru in diesem Augenblick auf eine verquere Art mit dem jüngeren Mann verbunden. Es war zwar etwas anderes, Kyo und Shinya nicht davon überzeugen zu können, gemeinsam Abendessen zu gehen, dennoch biss sich Kaoru an Die gerade auf ähnliche Weise die Zähne aus.

 

Was musste er tun, um diesen Dickschädel dazu zu bringen, ihm zu sagen, was er falsch machte? Je mehr er sich bemühte, seinem Freund etwas Gutes zu tun, desto unleidiger wurde er.

In Momenten wie diesen wäre er gern wieder Kao, der Kater. Dann würde er Die nun suchen, um seine Beine schmeicheln und so laut und herzzerreißend Maunzen, bis der Große gar keine andere Wahl hatte, als ihn auf den Arm zu nehmen. Er vermisste es, Dies lange Finger in seinem Fell zu spüren und die Nase an seiner Halsbeuge zu vergraben, um diesen anheimelnden Duft nach allem, was Die war, in sich aufnehmen zu können. Kaorus Herz zog auf diese ganz bestimmte Weise, die er in den letzten Wochen als Sehnsucht identifiziert hatte, und ließ ihn schwer seufzen.

 

„Ehm, Kaoru? Kommst du?“

 

Toshiyas zögerliche Stimme holte ihn ins Hier und Jetzt zurück und er musste feststellen, dass seine Zigarette unbeachtet bis auf den Filter heruntergebrannt war. Himmel, er musste aufhören, gedanklich ständig abzudriften. Von Shinya und Kyo war nichts mehr zu sehen und als er sich erhob, hielt ihm der Bassist mit einem einladenden Lächeln die Tür auf. Er konnte die Frage, was mit ihm los war, in den dunklen Augen funkeln sehen und entschied sich dafür, sie mit einer wegwischenden Handbewegung abzutun.

 

„Ich bin wohl müder, als ich gedacht habe“, murmelte er mit einem schiefen Grinsen und boxte Toshiya beim Vorbeigehen angedeutet in den Bauch. „Also, wo bleibst du? Alte Männer brauchen was in den Magen, damit sie endlich ins Bett können.“

 

„Ha! Das hast jetzt du gesagt, aber ich werde mich hüten, dir zu widersprechen.“

 

~*~

 

Sein Burger schmeckte hervorragend und wüsste Kaoru nicht, dass er es später bereuen würde, hätte er sich noch einen Zweiten bestellt. Allerdings schien das Essen nicht bei allen Anwesenden so gut anzukommen.

 

„Schmeckt es dir nicht?“, fragte er mit nur halb leerem Mund, als sein Blick auf Dies Teller fiel, der noch nahezu unberührt war.

 

„Doch, doch, ich lass mir nur mehr Zeit.“

 

„Aber dann wird dein Essen kalt“, schaltete sich Toshiya ein und schob sich seine letzte Pommes in den Mund. „Ich hol mir noch eine Portion, willst du auch, Leader?“

 

„Nein, aber danke.“ Einen Moment sah er ihrem Bassisten hinterher, bevor er sich wieder Die zuwandte. Sein Freund zupfte einen schmalen Streifen Salat aus seinem Burger, betrachtete ihn einen Herzschlag lang, bevor er ihn sich in den Mund schob. Kaoru grinste, beobachtete dieses Schauspiel noch drei weitere Male, bevor er sich einen Kommentar nicht länger verkneifen konnte.

 

„Du hättest dir auch einen Salat bestellen können.“

 

„Hu?“

 

„Na, wenn du sowieso nur das Grünzeug isst.“

 

Dies Miene verfinsterte sich, bevor er kurz mit den Augen rollte, den Burger in beide Hände nahm und demonstrativ ein großes Stück abbiss.

 

„Jetzt zufrieden?“, maulte er mit vollem Mund und mühte sich redlich ab, den zu großen Bissen hinunterzuwürgen. Irgendwie verging Kaoru gerade der Appetit, was weniger an Dies Tischmanieren und vielmehr an der noch immer miesen Laune des anderen lag.

 

„So war das nicht gemeint.“

 

Kaoru unterdrückte ein Seufzen und schaute seitlich aus dem Fenster. Die Scheibe spiegelte so stark, dass er in der nächtlichen Dunkelheit kaum etwas erkennen konnte, aber selbst tagsüber bot diese Gegend nichts Sehenswertes. Das Diner lag nur einen Steinwurf von der Konzerthalle entfernt in einem Industriegebiet außerhalb der Stadt. Nichtssagende Bürokomplexe reihten sich zwischen heruntergekommenen Lagerhallen und Fertigungsanlagen mit hohen Schornsteinen aneinander und Kaoru schätzte, dass das einzig Aufregende, das diese Gegend regelmäßig zu Gesicht bekam, die Konzertbesucher waren.

Selbst das Innere des Diners schien sich seinem Standort angepasst zu haben und wartete mit zweifelhaft verlebtem Charme auf. Die Sitzbänke und Hocker waren durchgesessen und wo die Kunstlederbezüge zu ihren Glanzzeiten in kräftigem Rot geleuchtet haben mussten, war davon lediglich ein verblasst schmutziges Rosa übrig geblieben. Der wischbare Boden war vergilbt, klebte von zu vielen Putzmittelrückständen und bei manchen hartnäckigen Flecken wollte Kaoru gar nicht wissen, was sie verursacht hatte. Hätte er seine Umgebung mit einem Wort beschreiben müssen, wäre es trostlos gewesen. Ebenso trostlos wie er sich fühlte, wenn er an Die dachte. Was hatte er nun schon wieder falschgemacht?

 

Toshiya, der sich mit einem lang gezogenen Ausatmen wieder auf seinen Hocker fallen ließ, holte ihn aus dem unangenehmen Schweigen, das sich über ihn und seinen Freund gelegt hatte. Worüber hätten Die und er auch reden sollen? Auf eine lockere Unterhaltung hatte sein Gegenüber heute offensichtlich keine Lust und auf die Frage, was Dies verdammtes Problem war, würde Kaoru nur eine ausweichende oder gar keine Antwort bekommen. Dafür kannte er den anderen zu gut.

 

„Was los?“, erkundigte er sich also stattdessen bei ihrem Bassisten. Toshiya lächelte ihn schief an, bevor er seine Extraportion Pommes in die Mitte des Tisches schob und einladend darauf wies.

 

„Mir ist nur gerade bewusst geworden, dass wir alt werden.“

Kaoru, der sich soeben drei der Kartoffelstäbchen in den Mund geschoben hatte, hob fragend die rechte Braue, während Die nur weiterhin mürrisch versuchte, seinen Burger mit Blicken zu vernichten.

„Früher haben wir es nach einer Show krachen lassen und heute sitzen wir in einem Diner und stopfen uns mit leeren Kalorien voll.“

 

„Schließ nicht von dir auf andere“, murrte Die, legte seinen nicht einmal halb aufgegessenen Burger beiseite und hielt sich stattdessen an seiner Cola light fest. Gerade so schaffte Kaoru es, nicht mit den Augen zu rollen – ein bockiger Teenager war nichts gegen das Theater, das der Gitarrist gerade veranstaltete. Warum war er überhaupt mitgekommen, wenn man ihm nichts recht machen konnte?

 

„Wenn ich mich an unsere letzte After-Show-Party in Amerika erinnere, bin ich froh, dass wir alt geworden sind“, meinte Kaoru an ihren Bassisten gewandt und schickte ein gepeinigtes Grinsen hinterher. „Ich möchte dich daran erinnern, dass du im Krankenhaus gelandet bist, weil du dachtest, im Klub einen auf Patrick Swayze machen zu müssen.“

 

„Das war es allemal wert. Außerdem verdrehst du gerade die Tatsachen.“ Toshiya lachte, eindeutig in den Fängen der Nostalgie gefangen, denn damals hatte der jüngere Mann definitiv nicht viel zu lachen gehabt.

„Ich hatte schon vor der Tour Probleme mit dem Rücken, meine Tanzeinlage hat ihm vermutlich nur den Rest gegeben.“

 

„Schlimm genug“, brummte Kaoru, den Mund voll Pommes, die er mit einem großen Schluck Cola hinunterspülte. „Und kaum warst du wieder auf den Beinen und wir endlich am Flughafen, ist uns aufgefallen, dass Die seinen Pass verloren hat.“

 

„Stimmt, das war …“ Toshiya begann zu lachen und machte eine Bewegung, als hätte er Die auf die Schulter klopfen wollen, aber der Gitarrist war ihm zuvorgekommen und so schwungvoll aufgestanden, dass sein Stuhl mit lautem Klappern nach hinten umkippte.

 

„Ich fasse es nicht, dass du mir das noch immer vorwirfst“, zischte er und funkelte Kaoru aus zusammengekniffenen Augen derart giftig an, dass sich in seinem Magen ein bleierner Klumpen formte. „Mir reicht‘s, ich verschwinde.“

 

Kaoru war so überrumpelt von Dies Ausbruch, dass er ihm nur mit offen stehendem Mund hinterhersehen konnte. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere, während er zu begreifen versuchte, was soeben geschehen war.

 

„Oje.“ Toshiya seufzte, beugte sich zur Seite und richtete den umgeworfenen Stuhl wieder auf. „Das nenne ich mal ein gehöriges Missverständnis.“

 

„Missverständnis?“ Kaorus Schock wandelte sich in Ärger, als er nach seiner Cola griff und den Rest seiner Starre mit der dunklen Brause herunterschluckte. „Er benimmt sich wie ein unreifer Teenager, der auf Teufel komm raus nach einem Grund sucht, um wütend zu sein. Das hat nichts mit einem Missverständnis zu tun.“

 

„Geh ihm nach.“

 

„Wieso sollte ich? Er ist alt genug, um sich allein wieder einzukriegen.“

 

„Spricht da nicht gerade nur dein verletzter Stolz aus dir?“

 

„Wie bitte?“

 

„Ich meine ja nur. Wenn dir sowieso schon aufgefallen ist, dass mit Die heute irgendwas nicht stimmt, ist das jetzt der perfekte Zeitpunkt, um herauszufinden, was los ist.“

 

„Das …“, Kaoru rieb sich über seinen getrimmten Kinnbart. „Das ist erstaunlich logisch.“

 

„Tu nicht so, als könnte man von mir keine logischen Schlüsse erwarten.“

 

„Na ja, häufig sind sie nicht.“

 

„Hau ab, Leader, und kümmere dich um Die, sonst gibt es gleich noch ein Bandmitglied, das nicht gut auf dich zu sprechen ist.“

 

Kaoru presste die Lippen aufeinander, als er sich erhob und sich aus der Bank schob. Dies Worte hatten ihn gekränkt, aber Toshiya hatte recht – seinen Freund nun zu konfrontieren, war besser, als weiterhin im Nebel zu stochern.

 

„Wartest du hier auf uns oder nimmst du dir selbst ein Taxi zurück zum Hotel?“

 

„Vielen Dank, Toshiya, für deinen unbezahlbaren Rat, was würde ich nur ohne dich tun? Ach, keine Ursache, Leader, das hab ich doch gern gemacht.“

Kaorus rechte Braue stieg immer höher, während er darauf wartete, dass der zu groß geratene Kindskopf namens Toshiya mit seinem Schauspiel fertig wurde.

„Schon gut, schon gut. Ich nehme mir ein Taxi. Mann, Mann, Mann, da bekommt man es ja mit der Angst zu tun, wenn du einen so anstarrst.“

 

„Hast du die Adresse vom Hotel?“ Ohne auf Toshiyas Worte einzugehen und ohne seine Antwort abzuwarten, zog Kaoru eine der Visitenkarten des Hotels aus der Jackentasche, die er am Morgen noch vorausschauend eingesteckt hatte, und hielt sie dem Bassisten hin. „Hier.“

 

„Danke, Leader.“ Die Karte verschwand in den Tiefen von Toshiyas Umhängetasche, bevor ihn die dunklen Augen des jüngeren Mannes für einen langen Moment fixierten. Toshiyas Art mochte oft quirlig und oberflächlich wirken, aber in Augenblicken wie diesen war unverkennbar, wie wichtig ihm die Menschen um ihn herum waren. „Viel Erfolg. Ich drück ‘nen Daumen, okay?“

 

„Drück lieber beide.“

 

~*~

 

„Die? Die!“ Kaoru ging über den nur schummrig beleuchteten Parkplatz des Diners und hoffte inständig, seinen Freund noch zu entdecken. Wer wusste schon, ob der andere sich die Adresse des Hotels gemerkt hatte oder wo er landen würde, würde er versuchen, einem Taxifahrer den Weg zu beschreiben. Anders als der Rest von ihnen sprach der Gitarrist zwar wenigstens ausreichend Englisch, um sich überhaupt verständigen zu können, aber man musste ja nichts riskieren.

„Die!“

 

„Würdest du bitte aufhören, auf einem gottverlassenen Parkplatz in der amerikanischen Pampa nach dem Tod zu schreien?“, zischte es plötzlich auf seiner linken Seite und eine Hand packte seinen Arm. Kaoru zuckte erschrocken zusammen, obwohl er die Stimme seines Freundes bereits nach den ersten Worten erkannt hatte.

 

„Das ist dein verdammter Name, Die, wie soll ich dich sonst rufen?“, schnappte er und rieb sich über die Brust, wo sein Herz wie wild pochte. Es war unsinnig gewesen, so schnippisch reagiert zu haben, aber seine Nerven lagen blank und ihre Umgebung trug nicht gerade dazu bei, dass er sich sicher fühlte.

 

„Was willst du?“

 

„Na, was werde ich schon wollen? Mit dir reden, zum einen, und zum anderen dafür sorgen, dass du nicht abhandenkommst.“

 

Die schnaubte, zog ein letztes Mal an seiner heruntergebrannten Zigarette, bevor er sie unter dem Absatz seiner Stiefel zerdrückte. Seine Augen funkelten im schummrigen Licht der Parkplatzbeleuchtung, als er Kaoru finster musterte.

 

„Ich bin ein erwachsener Mann, falls du das vergessen haben solltest, und brauche keinen Babysitter.“

 

„Dann benimm dich wie einer und nicht wie ein bockiges Kind“, knurrte Kaoru, selbst eine Zigarette zwischen den Lippen, die er sich gerade ansteckte. Er nahm einen tiefen Zug, bis seine Lungen brannten, und atmete mit einem leisen Seufzen aus. Er musste sich beruhigen.

„Wenn du ein Problem mit mir hast, dann sag es endlich. Lass uns darüber reden und die Sache aus der Welt schaffen, in Ordnung?“

 

„Schön, von mir aus. Ich sag dir, was mein Problem ist“, zischte Die, entfernte sich einige Schritte von ihm und fuhr sich aufgebracht durch die Haare, bevor er sich wieder zu ihm herumdrehte.

„Du wirfst mir Dinge vor, die Jahre zurückliegen und dann tust du so, als hätte ich übertrieben reagiert! Geht es eigentlich noch?“

 

„Die.“ Kaoru atmete bewusst tief ein und aus, um sich von Dies hitzigem Temperament nicht anstecken zu lassen. Wie leicht wäre es gerade, ebenso aufgebracht zu reagieren, den anderen auf gleiche Weise anzuschreien, aber nein, das würde rein gar nichts bringen. Er ballte die Fäuste und lockerte die Finger wieder, bevor er den Blick hob, um seinen Freund offen anzusehen.

„Du solltest wissen, dass ich dir diese Sache nie übel genommen habe – damals nicht und heute auch nicht. Das gerade eben war ein Scherz und es tut mir leid, dass ich nicht vorher darüber nachgedacht habe, dass dich meine Worte verletzen könnten.“

 

„Du tust es schon wieder“, wisperte Die und im Gegensatz zu Kaoru waren seine Fäuste so fest geballt, dass seine Arme zu zittern begannen. „Hör auf damit.“

 

„Womit?“ Kaoru schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, was der andere von ihm wollte und zu der noch immer schwelenden Wut in seinem Magen gesellte sich nach und nach Hilflosigkeit – eine Mischung, die explosiver nicht hätte sein können.

 

„Hör auf, dich zu entschuldigen“, zischte Die. „Hör auf mich Dutzend Mal am Tag zu fragen, wie es mir geht und hör auf mit Lob um dich zu werfen, wo es nichts zu loben gibt. Ich ertrage es nicht mehr, ständig deine Blicke im Nacken zu spüren, verstehst du? Ich habe keine Ahnung, was du dir in deinem Oberstübchen zusammengesponnen hast noch was das Ganze zu bedeuten hat, aber ich werde nicht länger das Versuchskaninchen für dein Sozialexperiment spielen!“ Die letzten Worte hatte die ihm ins Gesicht geschrien, bevor er sich schwungvoll herumgedreht hatte und davonging.

 

„Bleib stehen“, murmelte Kaoru, warf seine Zigarette zu Boden und eilte dem Gitarristen hinterher. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er sich selbst nicht mehr denken hören konnte. Vielleicht dachte er aber auch gar nicht, als er die Hand nach Dies Schulter ausstreckte und ihn schwungvoll herumdrehte.

„Ich sagte, bleib stehen!“ Nun war Kaoru es, der laut geworden war und dem der Atem in hektischen, kurzen Stößen über die Lippen kam. „Könntest du endlich damit aufhören, dich in deine Hirngespinste hineinzusteigern, und einfach vernünftig mit mir reden?“

 

„Hirngespinste? Willst du behaupten, ich bilde mir nur ein, dass du dich seit Wochen nicht mehr wie du selbst benimmst?“

 

„Die, ich …“

 

„Nein.“ Dies Hand schnitt durch die Luft, als würde er eine unsichtbare Linie zwischen ihnen ziehen, eine Grenze, die Kaoru nicht zu überschreiten hatte.

„Es gibt nichts zu bereden! Ich will einfach meinen Freund zurück, nicht den Zombie, der sich in Arbeit vergräbt und auch nicht diesen Abklatsch eines guten Samariters!“

 

Dies feuriger Blick paralysierte ihn und gleichzeitig stieg in Kaoru ein Gefühl auf, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Sein Herzschlag beschleunigte sich, ließ seine Gliedmaßen beben und schickte Hitze in seine Wangen. Er dachte nicht nach, als er seine Finger in den Stoff von Dies Sweatshirt grub oder als er den größeren Mann näher und auf Augenhöhe zog. Dies Mund stand einen Spalt offen, ob vor Überraschung oder Empörung hätte Kaoru nicht sagen können.

„Du machst mich wahnsinnig!“

 

„Ich mach dich wahnsinnig? Du machst mich wahnsinnig! Einmal würde ich wissen wollen, woran ich bei dir bin und was zum Teufel du eigentlich von mir willst!“

 

„Was ich von dir will?“ Ihre erhitzten Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und Kaorus Hand zitterte, so fest krallte er die Finger noch immer in Dies Oberteil.

„Im Moment will ich dich am liebsten küssen, damit du wenigstens für eine Sekunde den Mund hältst und zuhörst!“

 

Kaoru erstarrte in jeder Bewegung und selbst Die schien die Luft angehalten zu haben. Eine unerträgliche Ewigkeit starrte er seinem Gegenüber in die schockgeweiteten Augen, obwohl er am liebsten im Erdboden versunken wäre. Viel zu langsam kehrte das Leben in seine Gliedmaßen zurück, bis er es endlich schaffte, seinen Klammergriff vorsichtig zu lösen. Kaoru senkte den Arm und den Blick gleichermaßen, bevor er einen Schritt zurücktrat.

 

„Das war … es tut mir …“

 

„Was hast du da gerade gesagt?“ Dies Stimme war nicht mehr als ein Hauchen und wenn Kaoru ehrlich war, erstaunte es ihn, dass der andere überhaupt ein Wort herausbrachte.

 

„Nichts. Ich …“

Er schüttelte den Kopf und hasste sich dafür, keinen klaren Gedanken fassen zu können.

„Kannst du mir für einen Moment einfach nur zuhören?“, bat er und suchte fahrig nach einer weiteren Zigarette. Seine Finger zitterten, als er die Letzte aus der Schachtel zog, aber statt sie sich zwischen die Lippen zu klemmen, fiel sie auf den schmutzigen Asphalt zu seinen Füßen.

 „Fuck“, zischte er, fuhr sich übers Gesicht, bevor er die Kippe Kippe sein ließ und erneut den Blick seines Freundes suchte. Dies Miene hatte sich nicht verändert, aber nun nickte er lauernd, als wäre er ein Raubtier, das nur auf einen Fehler seiner Beute wartete, um zuzuschlagen. Kaoru schluckte.

 

 „Während meiner unfreiwilligen Auszeit …“

‚Während ich als Kater mit dir zusammengelebt habe …‘, dachte er im Stillen und fühlte, wie sich ein dicker Kloß in seiner Kehle bildete. ‚Verflucht, das kann doch nicht so schwer sein!‘

Kaoru presste die Lippen aufeinander, zwang sich jedoch, weiterzusprechen, auch wenn es sich so anfühlte, als wären seine Gedanken nichts weiter als chaotisch umherwirbelnde, vollkommen nutzlose Fragmente.

„Ich meine, ich hatte die Chance, über vieles nachzudenken. Mir ist bewusst geworden, dass ich Fehler gemacht habe und dass ich mich vor allem dir gegenüber unfair verhalten habe. Ich weiß, dass ich dich in letzter Zeit ständig weggestoßen habe, obwohl du dir Sorgen gemacht hast, und ich denke, ich verstehe jetzt, wie sehr es dich gekränkt haben muss, dass ich deine Hilfe nie annehmen konnte. Ich war in einem Strudel aus Arbeit gefangen und habe darüber vergessen, dass ich nicht alles allein erledigen muss. Meine Unfähigkeit, Verantwortung abzugeben, hat dich verletzt und das tut mir aufrichtig leid.“

 

Kaoru seufzte und rieb sich über seine müden Augen.

„Du bist mir wichtig. Ich meine, vermutlich bist du der einzige Mensch auf dieser Welt, der stur genug ist, es mit mir auszuhalten.“

Ein schiefes Lächeln schlich sich auf Kaorus Lippen und als er den Blick hob, sah er, dass auch Dies Mundwinkel verräterisch zuckten.

„Ich war dumm, mal wieder. Ich hätte gleich mit dir reden sollen, statt dich mit meinen übertriebenen Versuchen, alles wiedergutzumachen, noch mehr zu kränken.“ Kaoru verstummte in Erwartung einer Reaktion, die jedoch auch nach mehreren langen Sekunden auf sich warten ließ.

„Ehm, Die? Du weißt, wie unfähig ich in solchen Dingen bin, also sag mir bitte, ob es etwas gibt, womit ich diese ganze Misere aus der Welt schaffen kann.“

 

Dies Blick wirkte ungläubig, als er mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel massierte, bevor er für einen langen Moment in den Himmel starte. In Kaorus Magen rumorte es und er war sich sicher, dass das nicht von dem Burger herrührte.

 

„Ja verdammt, es gibt etwas“, sagte Die endlich und in seiner Stimme lag ein Unterton, den Kaoru nicht näher erklären konnte. War sein Freund noch immer wütend auf ihn? Oder war er gelinde gesagt am Ende seiner Geduld angekommen, weil Kaoru erneut unfähig war, die einfachsten, zwischenmenschlichen Konzepte zu begreifen? Was auch immer der Fall sein mochte, allein die Tatsache, dass es etwas gab, womit er alles wieder ins Lot bringen konnte, ließ ihm die Knie vor Erleichterung weich werden.

 

„Und was?“

 

„Sag noch einmal, was du vorhin gesagt hast.“

 

Kaorus Mund öffnete sich, aber fürs Erste kam ihm kein Wort über die Lippen. Ein naiver Teil in ihm hatte gehofft, Die hätte ihn vorhin nicht verstanden oder hätte seinen Ausrutscher als eine weitere Eigenartigkeit in seinem Verhalten abgetan, der er keine weitere Beachtung schenken musste. Eine derbe Fehleinschätzung seinerseits – schon wieder. Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, sich dumm zu stellen und zu behaupten, dass er nicht wüsste, wovon Die sprach. Aber nein, das würde der andere ihm niemals abkaufen und außerdem wäre es respektlos, ihn so vor den Kopf zu stoßen. Das hatte Die nicht verdient. Kaorus Kiefer schmerzte, so fest presste er die Zähne aufeinander und ein dumpfes Pochen in seinen Schläfen kündigte aufziehende Kopfschmerzen an.  Verflucht, wo war eine Zigarette, wenn man eine brauchte?

 

„Die, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“

 

„Sag es noch einmal“, knurrte sein Gegenüber gefährlich und funkelte ihn aus halb zusammengekniffenen Augen an.

 

„Im Moment …“, begann er stockend, „will ich dich am liebsten küssen, damit …“

 

„Das reicht schon.“

 

„Okay“, murmelte Kaoru mit tauben Lippen und nur seinem Stolz war es zu verdanken, dass er nun nicht feige die Augen schloss, sondern seinem Freund weiterhin ins Gesicht sah. „Die, ich …“

 

Eine harsche Handbewegung unterbrach ihn. Dies Miene war ausdruckslos, als er fragte: „Und was ist, wenn ich das nicht will?“

 

‚Worte sind scharf wie eine Messerklinge.‘

Kaoru erinnerte sich daran, diesen Satz einmal in einem Buch gelesen zu haben. Er wusste nicht mehr, wie der Titel lautete oder wer der Autor des Romans gewesen war. Was er jedoch bestätigen konnte, war die Wahrheit, die in diesen wenigen Worten steckte. Er senkte den Blick und für einen irrwitzigen Moment glaubte er tatsächlich, ein blutiges Messer in seiner Brust stecken zu sehen.

 

„Dann …“, hörte er sich wie aus weiter Ferne sagen, als er den Kopf hob und mit einem Blick in Dies Augen das Messer noch tiefer drückte. „Hoffe ich, dass du mir diese Dummheit verzeihen kannst und mir die Chance gibst, dir endlich wieder der Freund zu sein, den du verdient hast.“

 

Die Zeit schien still zu stehen und hätte sich hinter ihm ein Abgrund aufgetan, in den Dies Urteil ihn stürzen würde, hätte es ihn nicht gewundert. Statt jedoch weiterer Worte teilte erst ein Lächeln und dann ein befreites Lachen Dies Lippen, was es schaffte, Kaoru endgültig zu verunsichern. Er fühlte sich klein und dumm, als er die Reste seines Stolzes wie einen schützenden Mantel um sich legte und die Arme vor der Brust verschränkte.

 

„Wir sollten zurück ins Hotel“, stellte er tonlos fest und wandte sich zum Gehen. Oder er hätte es getan, hätte sich in diesem Moment nicht Dies Hand auf seinen Unterarm gelegt. Kaoru fixierte die langen Finger, die blasse Haut, die sich über sie spannte. Verdammt, sie waren ihm so vertraut.

 

„Sieh mich an.“

Er tat, was von ihm verlangt wurde und wurde mit einem Lächeln belohnt, das sich so unerwartet wie zu Hause anfühlte, dass ihm der Atem stockte.

„Ich wusste, dass er noch in dir ist.“

 

„Wer?“, krächzte Kaoru mit halb versagender Stimme.

 

„Der immer rationale, sture, komplizierte, und unmögliche Mann, in den ich mich vor Jahren verliebt habe.“

 

Mit jedem Adjektiv war Die ihm näher gekommen, bis Kaoru jedes ruhige Ausatmen als Kribbeln auf seinem Gesicht fühlen konnte. Es gab keine Worte, die er in diesem Augenblick hätte sagen können, keine Entschuldigungen oder Rechtfertigungen. Das Messer fiel klappernd zu Boden und die Wunde in seinem Herzen schloss sich, als es Adrenalin und unbändige Freude durch seine Adern pumpte. Noch vor wenigen Stunden war er sich nicht sicher gewesen, was diese neuen Gefühle für seinen alten Freund zu bedeuten hatten, und jetzt war es beinahe lachhaft, wie sehr er sich etwas vorgemacht hatte.

 

„Dann … hast du nichts dagegen, wenn ich dich küsse?“

 

„Absolut nicht.“

 

Es bedurfte lediglich einer minimalen Bewegung, einem Zucken gleich, um Dies Lippen mit den eigenen zu berühren. Der Parkplatz, der Diner, ja, vielleicht sogar ganz Amerika rückten in den Hintergrund, als sich Die ins Zentrum seines Universums schob. Kaoru erschauerte knochentief und warme Hände legten sich an seine Schultern, brachten ihn näher gegen den größeren Körper. Traumwandlerisch langsam löste er die Verschränkung seiner arme, glitt mit gespreizten Fingern über Dies Brust, den Hals hinauf, bis er die Rechte in den weichen Strähnen vergrub. Die Zeit war ein Konzept, das bedeutungslos geworden war, als sich die etwas spröden Lippen seines Freundes teilten und eine warme Zunge den Geschmack nach Tabak und Cola in seinem eigenen Mund verstärkte. Wenn es einen perfekten Kuss gab, dann war es dieser hier in all seiner glorreichen Unperfektheit.

 

Ein lautes Krachen ganz in ihrer Nähe riss sie aus ihrer glückseligen Zweisamkeit und ließ sie erschrocken auseinanderfahren.

 

„Fuck!“

 

„Was zum …?“

 

Panisch schauten sie zu den großen Abfallcontainern, aus deren Richtung der Lärm gekommen war. Hatte sie jemand gesehen? Was, wenn sich ein Fan hierher verirrt und sie erkannt hatte? Oder schlimmer noch, was wenn jemand ein Problem damit hatte, dass sie sich in aller Öffentlichkeit geküsst hatten? Verdammt, wie hatten sie nur so unvorsichtig sein können. Doch ein erster Blick enthüllte keinen Menschen, der sich in den Schatten herumdrückte, nur zwei grüne Katzenaugen, die im schummrigen Licht fast unheimlich leuchteten.

 

„Nur eine Katze“, murmelte Die hörbar erleichtert und gluckste. „Ich bin um mindestens zehn Jahre gealtert.“

 

„Dafür hast du dich aber gut gehalten.“ Kaoru grinste, wenn auch noch etwas zittrig. Sein erster Gedanke war gewesen, dass die Zauberkatze ihn bis nach Amerika verfolgt hatte, um ihn wieder in einen Kater zu verwandeln, weil er, was Gefühle anging, einfach ein Idiot war. Aber nein, das war selbst für das, was er erlebt hatte, zu weit hergeholt, oder?

Ihr feliner Besucher wählte genau diesen Moment, um einen beeindruckenden Buckel zu machen, bevor er mit leisem Fauchen vom Container sprang und blitzschnell über den Parkplatz davonhuschte. Der schwache Schein einer Laterne enthüllte mehrfarbiges, geschecktes Fell, kein tiefes Schwarz, und unwillkürlich atmete Kaoru erleichtert aus. Er war wirklich ein paranoider Dummkopf. Für einige Herzschläge sah er dem Tier hinterher, bevor er sich wieder zu seinem Freund herumdrehte. Dies Lachen war verstummt und als ihm Kaoru fragend ins Gesicht sah, lag ein zärtliches Lächeln auf seinen Lippen.

 

„Was ist?“

 

„Nichts weiter.“ Die schüttelte den Kopf und legte ihm den Arm um die Schultern, wie er es früher so oft getan hatte, wenn sie spät nachts und angeheitert nach Hause gewankt waren. Kaorus Inneres wurde weich wie Butter und bevor sein Stolz auf die Idee kommen konnte, diesen schönen Moment zu versauen, lehnte er sich gegen seinen Freund und genoss seine Nähe, die er viel zu lange schon vermisst hatte. Auch wenn er kein Kater mehr war, und sicher kein Verlangen danach hatte, das jemals wieder zu ändern, gab es Dinge, auf die er so schnell nicht mehr verzichten wollte. Und das hier gehörte definitiv dazu.

 

„Lass uns im Hotel weiterreden, okay? Ich glaube, ein Parkplatz in der amerikanischen Pampa ist nicht gerade der richtige Ort dafür.“

 

„Vor allem nicht, wenn mir der Sinn nach mehr als nur reden steht.“ Die kicherte, ein so alberner Laut, dass Kaoru breit grinsen musste, obwohl sein Magen unverzüglich begonnen hatte, wilde Purzelbäume zu schlagen. Er schielte zu seinem Freund hinauf, auf dessen Wangen sich ein leichter Rotschimmer zeigte. Kaorus Grinsen vertiefte sich. Sie würden reden müssen, egal was Die angedeutet hatte, aber die Nacht war lang und selbst er war nicht vernünftig genug, um sich nicht mindestens einen ausführlichen und diesmal ungestörten Kuss zu gönnen.

Lektion 10 - Sei einfach nur glücklich

Ein kühler Wind trug den Geruch von Regen und würzigem Herbstlaub ins Zimmer. Kaoru brummte, als sich über seinen nackten Rücken eine dicke Gänsehaut ausbreitete, die ihn erschauern ließ. Schlaftrunken tastete er nach der Bettdecke, zog sie höher und über seine Schultern, bevor er sich stärker an den warmen Körper zu seiner Rechten schmiegte. Erneut war ein Brummen zu vernehmen, das nun allerdings nicht von ihm stammte. Lange Arme legten sich um ihn, dirigierten ihn so, dass eines seiner Beine zwischen die seines Bettpartners glitt und sein Kopf auf der nicht minder unbekleideten Brust zum Liegen kam. Er war immer wieder aufs Neue erstaunt darüber, wie bequem diese Position war. Als hätten die Konturen ihrer Körper beschlossen, sich perfekt einander anzupassen, um ihm keinen Grund zu geben, überhaupt ans Aufstehen zu denken.

 

„Guten Morgen“, murmelte Die mit vom Schlaf herrlich rauer Stimme, schob eine Hand in Kaorus Haare und begann, sanft hindurchzufahren.

Falls sein Körper bis eben noch so etwas wie Anspannung in sich hatte, verflüchtigte sich diese wie auf Knopfdruck. Kaoru atmete aus, die Augen noch immer geschlossen und lauschte dem starken, gleichmäßigen Herzschlag, der ihn auch als Kater immer beruhigt hatte. Er dachte nicht mehr oft an diese Zeit vor einigen Monaten zurück, aber in Momenten wie diesen fühlte er sich wieder genau wie damals.

Geliebt, beschützt, gehalten und gleichzeitig freier, als er es je zuvor gewesen war.

 

„Morgen“, erwiderte er mit einiger Verspätung und hätten ihn Dies Finger nicht noch immer gekrault, er hätte behauptet, sein Freund wäre wieder eingenickt.

„Hast du gut geschlafen?“

 

„Es ging. Die Nacht war ein bisschen unruhiger, als ich es mir gewünscht hätte.“

 

„Zu viel im Kopf?“

 

„Ja, aber dafür ist das Aufwachen gerade umso schöner.“

 

Kaoru summte zustimmend, presste einen Kuss auf Dies Brust, bevor er sich etwas hochdrückte, um nun gänzlich zwischen seine Beine zu rutschen.

„Ich weiß auch schon, wie ich es noch schöner machen kann.“

 

„Tust du das?“ Die grinste, von einer Sekunde auf die andere deutlich wacher, und schloss genießend die Augen, als Kaoru begann, langsam sein Becken kreisen zu lassen.

„Uhm, du hast morgens wirklich immer die besten Ideen.“

 

„Ich weiß.“

Kaoru beugte sich tiefer, suchte und fand diese eine Stelle am Hals seines Freundes knapp unter dem rechten Ohrläppchen, die ihn immer so herrlich erschauern ließ. Und auch diesmal brauchte es nur eine zarte Berührung seiner Lippen, einen kitzelnden Zungenschlag, um Die ein leises Keuchen zu entlocken. Ein zufriedenes Lächeln hob Kaorus Mundwinkel, während er kleine Küsse auf der gestreckten Haut verteilte. Er konnte die Gänsehaut spüren, die unter seinen Berührungen erblühte und das Beben, das ihr folgte. Die gluckste, was ihn automatisch lächeln ließ, als er sich etwas hochdrückte, um seinem Freund ins Gesicht sehen zu können.

„Was ist?“

 

„Dein Bart kitzelt.“ Dies Finger festigten den Griff in seinem Haar, dirigierten ihn höher, bis weiche Lippen seinen Mund für sich vereinnahmten. Nun war er es, dem ein genießendes Seufzen entkam, besonders als Die seine Beine aufstellte und die freie Hand vielsagend auf seinen Hintern schob.

 

„Soll ich mich nachher rasieren?“, raunte er fragend, während er es sich nicht nehmen ließ, kleine Küsse entlang Dies Kiefer zu verteilen. Kurz schloss er die Augen, als sich die Lust prickelnd in seinem Magen sammelte, er spüren konnte, wie sein Freund immer stärker auf ihn reagierte.

 

„Nein“, stöhnte Die, die Zähne ins Fleisch seiner Unterlippe gegraben und den Kopf in den Nacken gelegt. Wie magisch angezogen haschte Kaoru nach der entblößten Kehle, leckte über den Adamsapfel, der hüpfte, als Die schluckte.

„Ich mag deine Schnurrhaare.“

 

Für einen Moment verstand er nicht, was der andere meinte, dann verbarg er sein Lachen an Dies Halsbeuge.

„Du bist unglaublich.“

 

„Ja~, unglaublich scharf auf dich, also beweg dich schneller.“

 

„Dein Wunsch sei mir Befehl.“

Mit einem kleinen Biss in die weiche, duftende Haut vor seiner Nase untermalte er seine Worte, bevor er gierig nach Dies Lippen haschte. Sein Freund kam ihm nicht minder leidenschaftlich entgegen, obwohl ihm immer öfter ein heiseres Stöhnen entkam. Himmel, wie Kaoru diese kleinen Laute liebte.

 

Erneut fegte eine lebhafte Brise durch das Schlafzimmer, doch nun begrüßte er die leichte Abkühlung. Eine schnelle Handbewegung verbannte ihre Decke ans Fußende des Bettes und sorgte gleichzeitig für mehr Bewegungsfreiheit, die er natürlich für sich zu nutzen wusste. Sein Gewicht auf den rechten Ellenbogen verlagernd drängte er seine freie Hand zwischen ihre erhitzten Körper. Wo Die bis eben eher passiv alles genossen hatte, was er mit ihm anstellte, kam er ihm nun fordernd entgegen, verstärkte Reibung, Druck und Hitze, bis Kaoru ihren Kuss lösen musste, um ein genussvolles Knurren freizulassen.

 

„Hör bloß nicht auf“, keuchte Die, den Kopf ins Kissen gepresst und die Augen fest zusammengekniffen – ein Bild der absoluten Hingabe. Gott, wie schön er war.

 

„Hab ich nicht vor“, erwiderte Kaoru gepresst, als sich Lust und Verlangen zu einem Ball aus gleißender Hitze in seinen Lenden formten. Lange würde er nicht mehr durchhalten, viel zu weit lag es schon wieder zurück, dass sie auf diese Weise Zeit füreinander hatten.

 

„Kaoru, ha~!“

 

Die bäumte sich auf und stöhnte herrlich lang gezogen, ein Laut, der Kaorus Inneres in flüssige Lava verwandelte. Himmel, ihm war heiß. Sein Arm zitterte, sein Atem kam ihm in hektischen Stößen über die Lippen und Dies Fingernägel, die sich harsch in seine Schulterblätter drückten, raubten ihm auch noch die letzte Zurückhaltung. Seine Bewegungen wurden schneller, wilder und als Die unter ihm zuckte, sich klebrige Feuchtigkeit zwischen ihren Bäuchen ausbreitete, gab es nichts auf dieser Welt, das seinen Fall noch aufhalten konnte. Er erstickte sein Aufstöhnen an Dies Halsbeuge, hielt und ließ sich halten, bis das ärgste Zittern seiner Gliedmaßen nachgelassen hatte.

 

„Mmmh.“ Die schnurrte wie ein zufriedener Kater, drückte ihm einen langen Kuss auf die Schläfe und begann, sanft über seinen Rücken zu streicheln.

„Genau so möchte ich in Zukunft bitte immer aufwachen.“

 

„Hätte der Tag mehr als vierundzwanzig Stunden, wäre ich sofort dabei.“

 

„Musst du immer so rational sein?“

 

„Du wolltest es so.“

 

„Auch wieder war. Aber weißt du, was auch wahr ist?“

 

„Mh?“

 

„Wir haben eine ganze Woche Urlaub, was heißt, sieben Tage ohne Wecker und Zeitdruck, aber genau auf diese Weise hier aufwachen.“

 

„Haargenau so?“

 

„Na~, sei ruhig kreativ.“

 

Kaoru gluckste, bewegte sich ansonsten jedoch keinen Millimeter. Seine Glieder waren herrlich schwer und wenn es nach ihm gegangen wäre, würden sie das Bett heute überhaupt nicht mehr verlassen. Allerdings gab es in ihrem Appartement zwei gewisse haarige Mitbewohner, die dieses Vorhaben bestimmt weniger gutheißen würden. Wie aufs Stichwort ertönte ein klägliches Maunzen direkt vor der Schlafzimmertür; und das vertraute Geräusch von Pfoten, die am Türblatt scharrten, machten deutlich, wie dringend da jemand nach Aufmerksamkeit verlangte.

 

Die murrte unleidig, schob ihn sanft zur Seite und setzte sich auf.

„Ich kümmere mich um Diva und Red und du bleibst genau hier, hörst du?“

 

„Und weshalb sollte ich das tun?“

Kaoru rollte sich auf den Rücken, stellte ein Bein auf und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

 

„Weil ich noch nicht fertig mit dir bin, Mister.“

Die lächelte anzüglich, stand auf und beugte sich noch einmal zu ihm herunter, um ihm einen langen, leidenschaftlichen Kuss aufzudrücken.

 

„Mh, dann beeil dich.“

 

~*~

 

„Hey du. Es hat zu regnen aufgehört.“

 

„Schön.“

 

Kaoru sah nicht auf, als sein Freund das Arbeitszimmer betrat, sich hinter ihn stellte und begann, seine Schultern zu massieren. Er hatte sich wirklich auf das Dokument konzentrieren wollen, immerhin war er noch nicht fertig damit, aber Dies Finger taten Dinge mit ihm, die keinen weiteren logischen Denkprozess zuließen. Ein angetanes Brummen entkam ihm und unwillkürlich lehnte er sich in die angenehme Berührung. Mit geschlossenen Augen zog er sich die Lesebrille von der Nase, warf sie auf den Schreibtisch und konnte sich gerade so noch davon abhalten, die Arme auf der Tischplatte zu verschränken und den Kopf darauf abzulegen, um Die noch mehr Freiraum zur Eliminierung seiner Verspannungen zu geben. Himmel, was musste sein Freund auch so unverschämt talentierte Finger haben? Die blieb stumm, massierte ihn weiter und Kaoru war sich sicher, ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen sehen zu können, würde er genau in diesem Moment die Augen öffnen. Wärme flutete seinen Brustkorb, wickelte sich wie ein Kokon um sein Herz und ließ ihn für einen langen Moment alles bis auf den Mann in seinem Rücken vergessen.

 

„Du solltest nicht immer so gekrümmt vor dem PC sitzen“, tadelte sein Freund und nun waren es Kaorus Mundwinkel, die sich zu einem kleinen Schmunzeln hoben. Er griff nach einer von Dies Händen, küsste die Innenfläche, bevor er einen schnellen Blick auf die Taskleiste besagten Computers riskierte.

 

‚Was? Schon nach drei Uhr nachmittags?‘

Kein Wunder, dass die gekommen war, um nach ihm zu sehen, wenn er sich schon wieder deutlich länger als nur die versprochene Stunde in seiner Arbeit vergraben hatte. Er legte den Kopf in den Nacken, um Die ansehen zu können, und schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln.

„Wollen wir etwas nach draußen gehen?“

 

„Genau deshalb bin ich hier.“

Die küsste seine Stirn, die Nasenspitze und das Kinn, bevor er einen Schritt zurücktrat.

„Ich zieh mich schon mal an.“

 

„Dann gehe ich davon aus, dass ich den Vertrag über unser neues Merch, den mir Fujida gerade geschickt hat, nicht schnell noch durchlesen darf?“

 

„So ist es. Für den Rest des Tages gehörst du nur mir.“

 

Dies Lächeln war breit, strahlend und so unwiderstehlich, dass Kaorus Herz beschloss, einfach einen Schlag auszusetzen, bevor es mit doppeltem Tempo weiterschlug. Er stand auf, packte seinen Freund um die Hüfte und stahl sich einen langen Kuss.

‚Danke, Die, manchmal weiß ich wirklich nicht, was ich richtig gemacht habe, um dich in meinem Leben zu verdienen‘, dachte er.

„Na schön, weil du es bist“, sprach er laut aus, doch sein Versuch nonchalant zu wirken, hatte lediglich zur Folge, dass sich eine von Dies fein gezupften Augenbrauen hob. Sein Freund wusste haargenau, was gerade in ihm vorging und badete regelrecht darin.

 

Geschlagen schüttelte er den Kopf, küsste im Vorbeigehen Dies Wange und schlüpfte im Flur in Schuhe und Jacke. Er konnte es nicht immer sagen, ja, vielleicht sogar nicht einmal zeigen, aber er war Die unendlich dankbar dafür, dass er auf der einen Seite nachsichtig mit ihm war und auf der anderen dafür sorgte, dass er sich nicht noch einmal so vollkommen in seiner Arbeit verlor.

 

~*~

 

Das Herbstlaub knisterte und raschelte unter ihren Sohlen und der Wind verfing sich in den Ästen der Ahornbäume, wirbelte noch mehr rote Blätter umher. Kaoru atmete die kühle Luft ein, die nach den Regenschauern der letzten Stunden herrlich frisch und sauber duftete.

 

„Es war eine gute Idee, nach draußen zu gehen“, murmelte er, die Finger zur Seite hin ausgestreckt, um kurz und verstohlen über Dies Handrücken zu streicheln.

 

„Es war ja auch meine.“

 

Kaoru schnaubte amüsiert, als sich im selben Moment neben ihm ein Rabe mit lautem Krächzen in die Lüfte erhob. Er folgte dem Vogel mit Blicken, sah zu, wie er sich immer höher und höher in den blassblauen Himmel schraubte. Der Park war um diese Uhrzeit nur spärlich besucht und Kaoru sah seine Chance gekommen, Dies Finger endlich richtig mit den seinen zu verschränken. Er würde Hand in Hand mit ihm weitergehen, wie er es schon seit einer halben Stunde tun wollte, doch da blieb der andere stehen und deutete nach rechts auf ein Gebäude, das sich halb hinter Büschen und den Ahornbäumen versteckte.

 

„Sieh mal, dort drüben.“

 

„Aha, und, was sehe ich da?“

 

„Dort hat ein neues Café eröffnet, ich hab gestern die Anzeige gelesen und glaub mir, solche Eisbecher hast du im Leben noch nicht gesehen.“

 

„Eisbecher …“

 

„Sie haben auch Cold Brew und Slow Coffee, alles, was dein schwarzes Herz begehrt.“

 

 „Mein schwarzes …“, begann er lachend, wurde jedoch von einer Bewegung unweit von ihnen abgelenkt. Automatisch schaute er in die Richtung, aus der er es rascheln gehört hatte und verstummte, als ihm nur allzu bekannte, grüne Katzenaugen Entgegenfunkelten.

 

„Kaoru? Alles okay?“ Die war seinem Blick gefolgt, musterte die Parkbank und das Unterholz aus fragend zusammengekniffenen Augen, schien jedoch nichts Ungewöhnliches zu erkennen.

„Was hast du?“

 

„Ehm, nichts. Ich … Weißt du was?“ Demonstrativ drehte er den Katzenaugen den Rücken zu und sah Die beschwichtigend an.

„Geh doch schon mal vor und sicher uns einen Platz. Ich rauch nur noch schnell eine und bin gleich bei dir.“

 

Kaoru wusste, dass er ein mieser Schauspieler war, daher wunderte ihn Dies skeptischer Blick nicht. Was ihn jedoch beinahe aus dem Konzept brachte, war der schnelle, flüchtige Kuss auf seinen Wangenknochen und die Dankbarkeit, die plötzlich in den schönen Augen lag.

 

„Du bist ein Schatz“, murmelte Die, rieb sich über den Oberarm, wo sich – Kaoru erinnerte sich wieder – seit ein paar Tagen ein Nikotinpflaster befand.

„Aber lass mich nicht zu lange warten.“

 

„Würde mir im Traum nicht einfallen.“

Einen langen Moment sah er seinem Freund hinterher und konnte nicht fassen, dass das Schicksal für einmal auf seiner Seite war. So lange zumindest, bis er sich wieder an die Katzenaugen zurückerinnerte und sich unwillkürlich fragte, ob selbst Dies Entschluss, das Rauchen aufzuhören, durch Magie bekräftigt worden war.

„Zauberkatze?‘“, fragte er halblaut und kam sich nur deswegen nicht wie der letzte Idiot vor, weil niemand in der Nähe war, der ihn hätte hören können. Langsam ging er auf die Bank zu, setzte sich und zündete sich eine Zigarette an.

 

„Dein Mensch sieht glücklich aus“, hörte er eine Mischung aus Maunzen und Sprache, leicht verzerrt für seine rein menschlichen Ohren, bevor die schwarze Katze ebenfalls auf die Bank sprang und ihn aus ihren unergründlichen Augen zu mustern begann.

„Und du erholter. Ihr scheint euch gegenseitig gutzutun.“

 

„Ja, er tut mir gut“, bestätigte Kaoru murmelnd, hob die Hand und erwiderte Dies kurzes Winken, bevor sein Freund im Café verschwand, ohne seinen pelzigen Besuch bemerkt zu haben.

„Warum bist du hier?“

 

„Höre ich da etwa Besorgnis aus deiner Stimme?“

Kaoru hob eine Augenbraue, zog erneut an seiner Zigarette, aber ließ sich nichts weiter anmerken. Oder zumindest dachte er das, bis die Zauberkatze erneut zu sprechen begann.

„Ich werde dich nicht noch einmal in einen Kater verwandeln, wenn du das denkst. Ich sagte dir doch schon, ich erfülle Herzenswünsche und dein Herz weiß gerade ganz genau, was es will. Dafür brauchst du mich also nicht.“

 

Kaoru fühlte, wie die Spitzen seiner Ohren heiß wurden und war froh um die Wollmütze, die sie vor viel zu wissenden Blicken verbarg. Die Zauberkatze kam näher, schien nicht bemerkt zu haben, was ihre Worte in ihm auslösten, und legte sich ungeniert auf seinen Schoß. Überrumpelt sah er auf das schwarze Fellbündel herab, unwissend, was er tun sollte, bis ihn die grünen Augen derart auffordernd fixierten, dass er nicht anders konnte, als den ihm hingestreckten Bauch zu kraulen. Beinahe hätte er laut aufgelacht, als ein tiefes und so normales Schnurren den kleinen Leib zum Vibrieren brachte, dass er sich für den Moment wie in einem schlechten Film fühlte. Sein Leben war zu einer Komödie verkommen, in der er die Hauptrolle spielte. Kopfschüttelnd schnippte er seine Zigarette davon und versuchte, dem warmen Gefühl in seinem Inneren einen Namen zu geben.

 

Dein Mensch sieht glücklich aus.

Und das tat er wirklich. Über die letzten Monate waren die Schatten unter Dies Augen verschwunden und die scharfen Linien seines Gesichts wieder weich geworden. Seine Rippen stachen nicht mehr hervor, wenn er sein Shirt auszog und Kaoru hatte sehr wohl bemerkt, dass der Gürtel seines Freundes nicht mehr bis zum letzten Loch zugezogen werden musste, um seine Jeans an Ort und Stelle zu halten.

 

‚Himmel, er will sogar zu rauchen aufhören‘, dachte er und konnte kaum fassen, was ihm gerade klarwurde. Er tat Die ebenso gut, wie Die ihm.

 

Dein Herz weiß gerade ganz genau, was es will.

Und auch diese Erkenntnis der Zauberkatze entsprach der Wahrheit. Kaoru hatte sich noch nie in seinem Leben so vollkommen und … zu Hause gefühlt.

 

„Dann wolltest du also nur nach mir sehen?“, fragte er verspätet.

 

„Ja und nein.“

 

„Kryptisch wie immer.“ Kaoru lächelte. Die Katze erhob sich, schüttelte sich heftig, um ihr Fell wieder in Ordnung zu bringen, und sprang von seinem Schoß.

„Ich glaube, ich bin dir noch einen Dank schuldig, ohne deinen Zauber wäre ich heute nicht da, wo ich bin.“

 

Erneut fixierten ihn die stechenden Augen, bevor sie ihm ein langes Blinzeln schenkte. Kaoru erkannte ein katzenhaftes Lächeln, wenn er es sah und spürte, wie sich der letzte Rest Skepsis der Zauberkatze gegenüber aufzulösen begann.

 

„Meine Verabredung ist hier. Alles Gute … Kao.“

 

Noch bevor Kaoru irgendetwas hätte sagen können, war sie auch schon im Dickicht verschwunden. Kopfschüttelnd erhob er sich und wollte den Weg zum Café einschlagen, als ihm am Ende des Parks eine Gestalt auffiel. Sie war ein ganzes Stück entfernt, trug schwarze, eng anliegende Jeans und einen weiten, ebenfalls schwarzen Hoody, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Irgendetwas an diesem Anblick kam ihm eigenartig bekannt vor …

Ja, ganz sicher. Er kannte diese Silhouette, diese Haltung, die so entspannt und gleichzeitig aufmerksam wirkte.

Der Fremde – ja, Kaoru war sich sicher, dass es sich um einen Mann handeln musste – bückte sich, als die Zauberkatze aus dem Unterholz auftauchte und auf ihn zulief. Ohne Weiteres nahm er das kleine Tier auf den Arm, streichelte über ihr Köpfchen und sagte etwas, was Kaoru aufgrund der Entfernung nur als leises Raunen wahrnehmen konnte. Er spürte, wie sein Mund aufklappte und ihm ein ungläubiger Laut entkam.

 

„Was zum …“

Die Gestalt sah auf, direkt in seine Richtung. Einen langen Moment passierte nichts, dann zog sie sich die Kapuze vom Kopf, enthüllte gelbblonde Haare und ein koboldhaftes Grinsen. Kaoru fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

„Kyo?“

 

Er konnte nicht fassen, was er gerade mitangesehen hatte und noch viel weniger, was das alles zu bedeuten hatte. Er blinzelte einmal, zweimal, während er noch immer die Stimme der Zauberkatze im Ohr hatte.

Meine Verabredung ist hier …

Das … das … Was hatte das zu bedeuten?

Steckte Kyo mit der Zauberkatze unter einer Decke?

Hatte er, wie Kaoru selbst, einmal Bekanntschaft mit ihrem Zauber gemacht?

Oder – und diese Vorstellung ließ ihn endgültig an seinem Verstand zweifeln – hatte Kyo die Zauberkatze auf ihn angesetzt?

Kaoru wusste nicht, was er denken, geschweige denn tun sollte.

 

Jede Entscheidung diesbezüglich wurde ihm abgenommen, als Kyo spöttisch salutierte und ihm den Rücken zudrehte. Der Sänger ging, ohne ihm auch nur im Ansatz aus seiner Krise zu helfen oder wenigstens eine Erklärung für das alles zu liefern. Die Zauberkatze saß lässig auf einer von Kyos Schultern, wie eine moderne Neuinterpretation einer klassischen Hexenkatze, und sah noch einmal in seine Richtung, bevor beide hinter der nächsten Biegung verschwanden.

 

Wie lange er blicklos vor sich hin starrte und versuchte, einen logischen Gedanken zu fassen, hätte er hinterher nicht sagen können. Erst das anhaltende Klingeln seines Handys schaffte es, ihn ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Dies Name leuchtete auf dem Display auf und mit Schrecken stellte er fest, dass er seinen Freund hatte warten lassen.

 

„Tut mir leid“, meldete er sich anstelle einer Begrüßung und beeilte sich, zum Café zu gelangen.

„Ich hab jemanden getroffen und mich verquatscht.“

Okay, diese Erklärung entsprach nicht ganz der Wahrheit, kam ihr aber wenigstens nahe genug, um Kaorus schlechtes Gewissen nur leicht anspringen zu lassen.

„Bin gleich bei dir.“

 

„Alles gut, ich wollte nur wissen, wo du bleibst. Soll ich dir schon mal einen Kaffee bestellen?“

 

Man musste Die einfach lieben, nicht?

Kaoru für seinen Teil fühlte erneut wohlige Wärme durch seine Adern rauschen, als er keine Spur des Vorwurfs aus der Stimme seines Freundes heraushören konnte.

„Sehr gern, du weißt ja, was ich mag“, erwiderte er mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, das sich weitete, als er Dies Antwort hörte.

 

„Besser als du selbst.“

 

„Wo du recht hast … Aber sag mal, Die, weißt du, ob Kyo seit Neuestem eine Katze hat?“

 

„Kyo? Nicht dass ich wüsste, wieso?“

 

„Ach, nur so.“

 

Kaoru verabschiedete sich, während dessen er bereits beim Café angekommen war. Statt jedoch gleich hineinzugehen, blieb er vor der Tür stehen, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt.

Ob er sich das gerade alles nur eingebildet hatte?

Vielleicht war es doch nicht Kyo gewesen, nur ein Mann, der ihm wahnsinnig ähnlich gesehen hatte?

Aber … dieses Grinsen und dieses spöttische Salutieren.

Nein, Kaoru war sich verdammt sicher, dass es Kyo gewesen war.

Außerdem …

 

Er erinnerte sich an die Blicke zurück, die der Sänger Kao, dem Kater, immer zugeworfen hatte. Sie waren derart wissend gewesen und jetzt im Nachhinein war Kaoru sich sicher, dass Kyo sich die ganze Zeit über köstlich amüsiert hatte.

Kyo war es gewesen, der diese unsägliche Debatte, ob Kao nun kastriert werden musste oder nicht, beendet hatte, bevor Die auf dumme Ideen gekommen war.

Kyo hatte ihn aus dem Tierheim geholt und Kyo hatte als Erster bemerkt, dass sich zwischen ihm und Die etwas verändert hatte, nachdem er wieder zum Menschen geworden war.

 

„Manipulativer Mistkäfer“, knurrte er halblaut, als er die Tür zum Café aufdrückte und ihm sogleich warme, aromatisch duftende Luft entgegenschlug. Eine Kellnerin warf ihm einen irritierten Blick zu – sie musste gehört haben, was er gerade gesagt hatte – aber er ignorierte sie. Stattdessen gönnte er sich einen tiefen Atemzug, um sich zu sammeln. Er würde Kyo nach ihrem Urlaub zur Rede stellen und eine Erklärung fordern. Ja genau, das würde er tun. Er straffte die Schultern und sah sich nach Die um, der ihm von einem Tisch in der hinteren Ecke aus winkte und ihm ein umwerfendes Lächeln schenkte.

‚Ach, Die.‘

Hätte Kaoru es nicht besser gewusst, er hätte geschworen, gerade an Ort und Stelle geschmolzen zu sein. Vielleicht würde er das ganze Katzendebakel aber auch einfach auf sich beruhen lassen und dankbar dafür sein, dass alles so gekommen war, wie es gekommen war.

 

„Hey, Mister.“

 

„Hallo“, echote er, zog sich die Mütze vom Kopf und schälte sich aus der Jacke, bevor er sich neben Die auf die Bank schob. Als hätte sie schon immer dorthin gehört, legte er seine Hand auf den Oberschenkel seines Freundes, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Kurz huschte so etwas wie Erstaunen über Dies Gesicht, bevor sich lange Finger zwischen die seinen schoben und sie leicht drückten.

 

„Ich hab dir einen marokkanischen Kaffee bestellt. Mal etwas anderes, mh?“

 

„Ich vertrau darauf, dass du besser weißt als ich, was ich will.“ Kaoru lächelte verliebt, als er Dies Worte von gerade eben an ihn zurückgab und goss den tiefschwarzen Kaffee aus einer filigranen Silberkaraffe in ein kleines Glas. Dies blick noch immer haltend nahm er einen testenden Schluck und brummte zufrieden, als sich das würzig-bittere Aroma auf seiner Zunge ausbreitete.

„Perfekt.“

Erneut schenkte ihm Die ein wundervolles Lächeln, das er ganz automatisch erwiderte.

„Genauso perfekt, wie du für mich bist.“

 

 

 

 

~ The End ~


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, wie finden wir den Anfang der Story?
Ich weiß, um ehrlich zu sein, noch nicht so genau, was das hier werden soll. *lacht* Das kommt davon, wenn sich Kaoru mit einer Schnapsidee in meine Träume schleicht. Feedback und Input eurerseits sind daher extrem gern gesehen. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (11)
[1] [2]
/ 2

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-27T22:02:53+00:00 28.04.2024 00:02
Das mag jetzt vermessen klingen, aber ich hab bei jedem Part mit Kyo nur darauf gewartet, dass er sagt, "Na Kaoru? WIe ist es bei Dai?"
oder so etwas in der Art XD

Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-27T21:16:56+00:00 27.04.2024 23:16
Hihi
Jaja, "Zieh dich aus, leg dich hin, wir müssen Reden."
*hüstel*
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-27T20:05:02+00:00 27.04.2024 22:05
Hach wie schön dass Red sich nun doch Kaorus Namen merken konnte. Aber Kaokater hat es ihm ja gut beigebracht XD
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-27T19:21:27+00:00 27.04.2024 21:21
Darüber habi ch seit Dai und Kaokatze zusammen gek0ommen sind gedacht. Ob Red und Diva Dai trösten können? Ach es tut mir so leid dass im Leben ein Gewinn meist mit einem Verlust gepaart sein muss
*traurig ist*
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-27T18:16:57+00:00 27.04.2024 20:16
Hach Dai *knuddel*
Nichts als Ärger mit diesem Leader und YAY!!! *Fangirl-Fähnchen schwingt*
Kyo ist auch wieder dabei hihi
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-27T12:55:34+00:00 27.04.2024 14:55
*weint fast*
Och nööö, gerade an dem Tag, an dem Dai ihm das saget. Böse Autoren-universums-erschafferin
Das kann man doch nicht machen.
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-27T00:12:33+00:00 27.04.2024 02:12
Ich habe so unfassbar lachen müssen über Kyo. Mal wieder, dein Kyo ist so unfassbar genial haha
Antwort von:  yamimaru
27.04.2024 09:19
Hehe, danke! Freut mich, dass der Gute dich zum Lachen bringen konnte. So soll das sein. <3
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-26T23:43:04+00:00 27.04.2024 01:43
Niiiiiiiiiiiiiicht Kaokater du bist doof. Wie willst du denn den Rückweg finden?
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-26T23:05:48+00:00 27.04.2024 01:05
Daisukes untrüblicher Instinkt. haha
Man könnte glatt meinen *grins*
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-26T22:32:18+00:00 27.04.2024 00:32
Ohhh armer Kaokater, ach je. Da sdieht man es wieder arbeit schädigt die Gesundheit bei übermäßigem Konsum. XDDD


Zurück