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Katzenjammer

von

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Lektion 1 - Überleg dir genau, was du dir wünschst.

„Kaoru, es ist schon spät, du solltest für heute Feierabend machen.“

Eine Berührung an seiner Schulter ließ ihn zusammenfahren und sich unwillig die Kopfhörer von den Ohren ziehen. Sein Gesichtsausdruck musste mörderisch sein, als er sich zu dem Störenfried herumdrehte, denn dieser machte sogleich einen Satz zurück und hob beschwichtigend beide Hände.

„Woa, friss mich nicht gleich auf. Du brauchst deinen Gitarristen noch.“ Ein unglaublich attraktives Lächeln erhellte das Gesicht seines Gegenübers, gegen das Kaoru jedoch schon seit Jahren immun und daher lediglich genervt von der Störung war.

 

„Was willst du, Die?“

 

„Ich will, dass du endlich nach Hause fährst. Der Song läuft dir nicht davon.“

 

„Und wegen so einer Lappalie reißt du mich aus meinen Gedanken?“ Kaoru rieb sich über die Nasenwurzel, um seine generell schlechte Laune nicht in Wut umschlagen zu lassen.

„Du kannst gehen, ich komm hier allein klar.“

 

„Darum geht es mir doch gar nicht.“

 

„Die! Lass mich einfach in Ruhe weiterarbeiten. Was kümmert es dich?“

 

„Was es mich kümmert? Ernsthaft? Du sitzt seit Stunden über die Regler gebeugt, hast weder etwas gegessen noch getrunken und siehst aus, als würdest du jeden Augenblick vom Stuhl kippen. Also bitte sag mir noch einmal, warum es mich nicht kümmern sollte?“

 

 „Kannst oder willst du nicht verstehen, was ich sage?“ Gereizt fuhr Kaoru sich durch die Haare. „Fahr nach Hause, Die, und lass mich arbeiten! Deine Fürsorge in allen Ehren, aber die kann ich gerade weder gebrauchen noch will ich sie.“ Ohne noch eine Sekunde länger auf seinen Bandkollegen einzugehen, drehte er sich herum und widmete sich erneut den Einstellungen. Dieser Song war härter zu knacken als eine Kokosnuss, aber er würde den Teufel tun und jetzt aufhören. Kaoru wusste, würde er Dies Ratschlag folgen und für heute Schluss machen, würde er ohnehin kein Auge zutun, weil ihn der Song bis in den Schlaf verfolgte. Wo war er also noch gleich gewesen, bevor er auf so überflüssige Art und Weise unterbrochen worden war?

 

„Na, schön, ich geh dann, aber mach nicht mehr allzu lange, okay?“

 

Argh, beinahe wäre ihm ein Knurren entkommen, als es erneut Dies Stimme war, die seine Denkprozesse unterbrach. Zu mehr als einem vagen Brummen konnte er sich daher auch nicht aufraffen, bevor er nach den Kopfhörern griff und sie sich fest auf beide Ohren presste. Genug mit den Störungen, er hatte zu arbeiten.

 

Den verletzten und besorgten Blick, mit dem Die ihn noch eine ganze Weile betrachtete, bekam der Leader gar nicht erst mit. Leise fiel die Tür ins Schloss, sperrte auch noch das letzte Licht aus, und ließ das Studio in nicht mehr als dem bläulichen Flackern des PC-Bildschirms zurück.

 

~*~

 

„Oh, Gott.“

 

Kaoru stand von seinem Platz vor dem Mischpult auf, legte beide Hände an seine Seiten und drückte den Rücken durch. Selbiger gab mehrere, ungesund klingende Knackgeräusche von sich, bevor sich ein dumpfer Schmerz einstellte, der nun schon seit Monaten sein ständiger Begleiter war. Es war halt scheiße, wenn man alt wurde, stellte er nicht zum ersten Mal fest und machte sich daran, seine wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken. Wenigstens war er endlich zufrieden mit dem Song, sodass er sich für heute eine Pause gönnen konnte. Er wusste zwar, dass er spätestens morgen beim nochmaligen Hören die ein oder andere Passage finden würde, die einer weiteren Überarbeitung bedurfte, war sich jedoch auch im Klaren darüber, dass er jetzt nichts Brauchbares mehr zustande bringen würde.

 

Im Zwielicht des Studios tastete sich Kaoru voran, bis er den Lichtschalter nahe der Tür fand und die Deckenbeleuchtung mit einem mechanischen Surren zum Leben erweckte. Blinzelnd ob der Helligkeit rieb er sich über die schmerzenden Augen und wagte einen kurzen Blick auf die Uhr. Wie befürchtet, war der neue Tag längst angebrochen und es vollkommen ineffizient, jetzt noch nach Hause zu fahren. Vor einigen Jahren, als ihn sein Rücken noch nicht gequält und seine Kopfschmerzen noch nicht zu einem dauerhaften Begleiter geworden waren, hätte er sich nun den Futon aus dem Schrank geholt und im Studio übernachtet. Mittlerweile war das jedoch keine Option mehr. Nicht zum ersten Mal verfluchte er sein Alter und den stetigen Abbau seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Warum konnte dieser dumme Haufen Zellen nicht einfach das tun, wofür er gebraucht wurde?

 

Alles mentale Lamentieren half jedoch nichts und so fuhr Kaoru den PC und alle anderen Gerätschaften herunter, löschte das Licht und machte sich mit schlurfenden Schritten auf den Weg in die Tiefgarage. Es war nicht so, dass er einer weiteren Nacht unruhigen Schlafs freudig entgegensah, aber zumindest sein Rücken würde es begrüßen, wenn er sich für ein paar Stunden langmachte.

 

Gut, dass ihn so spät hier niemand mehr hören konnte, denn das Ächzen, das er nicht hatte zurückhalten können, als er sich in den Sitz seines Autos sinken ließ, hatte einen eindeutig schmerzvollen Unterton. Verdammt, er brauchte dringend einen Termin bei seinem Chiropraktiker. Für eine Sekunde schloss er die Augen, atmete betont gleichmäßig ein und wieder aus, bis das Ziehen in seinem unteren Rücken und den Schultern wieder zu dem dumpfen Schmerz wurde, den er mittlerweile sehr gut ignorieren konnte. Vielleicht wurde es langsam aber sicher doch Zeit, sich ein paar Tage freizunehmen. Kurz flackerte Dies Gesicht vor seinem inneren Auge auf und beinahe hatte er die Stimme des anderen wieder im Ohr, die ihm sagte, dass er nach Hause gehen sollte. Ein unangenehmes Gefühl zog sich durch seinen Magen, das sich, hätte er es näher analysieren wollen, als schlechtes Gewissen herausgestellt hätte. Die meinte es ja nur gut, verstand jedoch nicht, dass er ihn mit seiner Besorgnis meist nur aus den Gedanken riss und damit seine Arbeitslast unweigerlich vergrößerte.

 

Mal ehrlich, was würde denn passieren, würde er für ein paar Tage die Zügel aus der Hand geben?

Das blanke Chaos würde ausbrechen, seine Stapel an unbeantworteter Korrespondenz neue Höhen erreichen und die Band vor die Hunde gehen.

DAS würde passieren!

Niemand ahnte auch nur im Mindesten, was er Tag täglich zu organisieren hatte, damit sich seine Kollegen ausschließlich auf den kreativen Teil ihrer Arbeit konzentrieren konnten.

 

Kaoru war so sehr in seinen Gedanken gefangen, dass er niemandem hätte erklären können, wie er aus der Tiefgarage gefahren war. Gut, dass es so etwas wie ein Muskelgedächtnis gab, das routinierte Arbeitsabläufe auch ohne vollständig anwesende Hirnleistung abspulen konnte.

„Und gut, dass kaum etwas auf den Straßen los ist“, murmelte er, sich nur allzu deutlich bewusst, wie gefährlich es war, derart unaufmerksam zu sein, als er an einer roten Ampel anhielt. Noch ein Zeichen dafür, dass er geistig und körperlich bald das Ende seiner Leistungsfähigkeit erreicht hatte.

 

Sich über die brennenden Augen reibend fuhr er an, bog nach links ab und war gerade dabei, zu beschleunigen, als er aus dem Augenwinkel einen Schatten auf die Straße springen sah. Mit einem Ruck und quietschenden Reifen kam sein Auto zum Stehen. Der Gurt schnitt schmerzhaft in seine ohnehin angeschlagene rechte Schulter und sein Herz schlug so schnell und heftig in seiner Brust, dass er für eine lange Sekunde nichts weiter als das Blut in seinen Ohren rauschen hörte.

 

„Scheiße, was war das?“, japste er erschrocken, während er mit zitternden Fingern nach dem Gurtöffner tastete, es aber erst nach einigen Fehlversuchen schaffte, sich abzuschnallen. War das ein Tier gewesen? Ein … Kind? Oh, Himmel, hoffentlich hatte er es, was auch immer es gewesen war, nicht angefahren. Seine Knie fühlten sich so weich an, als würden sie ihn keinen Schritt tragen können, als er langsam ausstieg und sich umsah.

 

Im ersten Moment konnte er zu seiner grenzenlosen Erleichterung nichts Ungewöhnliches erkennen. Kein Körper, der reglos vor seinem Auto lag, keine verräterisch rote Spur oder andere Hinweise, die darauf schließen ließen, dass sein Wagen etwas gerammt hatte. Er wollte schon befreit ausatmen, als er ein klägliches Jammern unter seinem Auto hörte. Die eigentlich laue Frühlingsluft wurde so schnell zu Eis in seinen Lungen, dass er glaubte, auf der Stelle ersticken zu müssen. Unwirsch schob er jedoch auch dieses körperliche Unbehagen beiseite, als er sich hinkniete, um unter den Wagen sehen zu können. Das Licht einer nahen Straßenlaterne wurde von zwei grünen Augen reflektiert, die ihn vorwurfsvoll zu mustern schienen.

 

„Hallo, du“, murmelte er so beruhigend, wie er konnte, jedoch war das Zittern seiner Stimme nicht zu überhören. Er fühlte sich vollkommen überfordert mit der Situation. Was sollte er tun, wenn das Tier verletzt war? Und selbst wenn nicht, wie sollte er es unter seinem Auto herauslocken? Er konnte schlecht die ganze verbleibende Nacht auf der Straße hockend verbringen. Es war ohnehin ein Wunder, dass ihm in den letzten Minuten noch kein einziges Fahrzeug entgegengekommen war. Sollte er die Unfallstelle absichern? Konnte man hier überhaupt von einem Unfall sprechen? Sein Kopf dröhnte und ein penetrantes Stechen hinter seinen Augen machte ihm das Denken schwer.

 

Plötzlich spürte er eine zaghafte Berührung an seinen Fingern, weiches Fell, das über seine Haut strich. Er musste die Hand nach dem Tier ausgestreckt haben, stellte er fest, als er dabei zusah, wie eine große, schwarze Katze langsam unter seinem Auto hervorkam. Die hellrosa Nase berührte immer wieder seine Haut und er bildete sich ein, die tiefen Atemzüge hören zu können, mit denen sein Geruch erforscht wurde.

 

„Wenigstens scheinst du nicht verletzt zu sein“, murmelte er und war selbst erstaunt darüber, wie sehr ihn diese Tatsache erleichterte. Mittlerweile war die Katze vollständig unter dem Wagen hervorgekommen und Kaoru ließ prüfend seinen Blick über den kräftigen Körper gleiten. Nein, verletzt schien sie wirklich nicht zu sein, und es machte sogar den Anschein, als würde sie mit jedem verstreichenden Moment mehr ihre Angst vor ihm verlieren. Gerade rieb sie sich am Stoff seiner Jeans und ein Schnurren, das in der Stille der Nacht erstaunlich laut klang, ließ den gesamten Katzenkörper vibrieren.

 

Kaoru hatte zwar noch nie ein Haustier besessen, aber Diva, Dies Katzendame, hielt immer große Stücke auf ihn, wenn er den Gitarristen besuchte. Das schien ihm nun auch hier zu Gute zu kommen.

Er seufzte leise, als ihm wieder einmal schmerzlich bewusst wurde, wie lange es her war, dass DIE und er sich außerhalb des Jobs gesehen hatten. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, zu der sie es sich zur Routine gemacht hatten, ihre Feierabende mit einem Bierchen oder gutem Essen gemeinsam zu verbringen. Diese zwanglose Vertrautheit hatte jedoch im gleichen Maße abgenommen, wie ihm die Arbeit über den Kopf gewachsen war. Kaoru presste die Lippen aufeinander, bevor ihnen ein weiteres Seufzen entweichen konnte. Diese Art von Gedanken würde ihn nicht weiterbringen, also war es müßig, sich noch länger mit ihnen zu beschäftigen. Außerdem gab es gerade deutlich Wichtigeres. Die Katze zum Beispiel, die er nun vorsichtig unter den Vorderpfoten und dem Hinterteil fasste, um sie von der Straße zu heben. Das Schnurren verstärkte sich, als er den warmen Körper gegen seine Brust lehnte und sich ächzend erhob.

 

„So, jetzt stellt sich nur die Frage, was ich mit dir mache, hu?“

Erst jetzt hatte er Gelegenheit, die Katze näher zu mustern, aber viel zu sehen gab es nicht. Das Fell des Tierchens war komplett schwarz, die Augen hingegen leuchteten in einem ungewöhnlich satten Grün. Leider konnte er weder ein Halsband noch eine Tätowierung erkennen, die ihm Aufschluss gegeben hätten, ob sich ein armer Besitzer nun Sorgen um seinen entlaufenen Liebling machte. Kurz sah sich Kaoru um, bevor er mit seiner tierischen Begleitung wieder ins Auto stieg.

 

„Tu mir nur einen Gefallen und mach jetzt keine Sperenzchen, okay?“, sprach er die Katze an, als könnte sie ihn verstehen, während er sie auf den Beifahrersitz setzte.

„Ich fahr nur kurz auf den Parkplatz dort drüben, damit das Auto aus dem Weg ist.“

Gesagt, getan und die Mieze blieb sogar still sitzen. Wenn nur alles in seinem Leben so reibungslos funktionieren würde.

 

Wieder schaltete er den Motor ab und stieg aus, nachdem er einen prüfenden Blick zur Seite geworfen hatte, wo sich die Katze jedoch gemütlich zusammengerollt hatte und zu dösen schien. Der Parkplatz gehörte zu einem Supermarkt, der auch nachts geöffnet hatte. Er würde eine Kleinigkeit zu Fressen besorgen, das war nach dem Schreck das Mindeste, was er für sie tun konnte, und dann endlich nach Hause fahren. So gepflegt, wie sich ihr Fell angefühlt hatte, hatte sie gewiss ein gutes Zuhause und würde auch dorthin zurückkehren, sobald er sie wieder freiließ.

 

Mit seiner Errungenschaft in der Hand kehrte er wenige Minuten später zu seinem Auto zurück. Die Katze hatte sich keinen Millimeter bewegt und schreckte nicht einmal hoch, als er die Beifahrertür neben ihr öffnete.

 

„Na komm, Pantherchen, ich hab hier was Feines für dich.“ Er zog den Aluminiumdeckel der Schale mit Katzenfutter ab, die er eben erstanden hatte, und hielt sie ihr vor die Nase. Ein grünes Auge öffnete sich, der Kopf hob sich kurz, um das Futter beschnuppern zu können, bevor sich die Mieze nur noch enger zusammenrollte. Kaoru seufzte, hatte jedoch ein schiefes Grinsen auf den Lippen, als er sich hinhockte, um auf Augenhöhe zu sein.

„Katze müsste man sein, was? Den ganzen Tag schlafen, zwischendurch fressen und für Streicheleinheiten musst du nichts weiter tun, als süß auszusehen. Du hast wirklich das perfekte Leben, Pantherchen. Unter anderen Umständen würde ich dich mit zu mir nehmen, aber ich hab keine Zeit für ein Haustier. Du wärst nur den ganzen Tag allein und ich zu müde, wenn ich nach Hause komme, um mich noch mit dir zu beschäftigen. Du hast hier ein viel besseres Leben. Also komm.“

 

Er hob die Katze an, stand auf und trug sie einige Meter weg vom Parkplatz, wo sie in Ruhe würde fressen können. Sie murrte zwar kurz, begann aber das Futter in erstaunlicher Geschwindigkeit zu dezimieren, nachdem er sie davorgesetzt hatte. Ein letztes Mal streichelte Kaoru über das weiche Fell, bevor er sich erhob und zu seinem Wagen zurückging. Aus der Entfernung blickte er sich noch einmal um und wisperte: „Ich wünschte wirklich, ich könnte für ein paar Tage dein Leben führen. Keine Verantwortung, keine Termine, nichts worüber ich mir Sorgen machen muss.“

 

Ruckartig hob die Katze den Kopf und für einen unheimlichen Moment glaubte er, die tiefgrünen Augen aufleuchten zu sehen. Dann jedoch sprang das Tier davon, wohl durch irgendetwas aufgeschreckt, und war nicht mehr zu sehen. Nur die leere Katzenfutterschale stand einsam und verlassen auf der Straße, aber Kaoru hatte nun wirklich keine Energie mehr, sie fortzuwerfen.

 

Kopfschüttelnd stieg er in sein Auto, setzte zurück und fuhr endlich nach Hause. Die grünen Katzenaugen verfolgten ihn noch bis in seine unruhigen Träume, aber bis zum nächsten Morgen machte er sich keine weiteren Gedanken über diese seltsame nächtliche Begegnung.

 

~*~

 

Lauter Straßenlärm weckte ihn. Verärgert drehte er sich auf die andere Seite und grummelte. Er würde es wohl nie lernen, das Fenster über Nacht nicht geöffnet zu lassen. Egal, er war müde und noch hatte sein Wecker nicht geklingelt. Kein Grund also, jetzt schon sein warmes Bett zu verlassen. Wieder röhrte ein Motor und jetzt erst roch er den unangenehm beißenden Gestank von Autoabgasen und aufgeheiztem Gummi. Machten die Halbstarken aus dem dritten Stock wieder einmal einen auf Tokyo Drift auf dem Parkplatz direkt unter seinem Schlafzimmerfenster? Verdammt, er wollte sich längst bei der Hausverwaltung deswegen beschwert haben, aber nicht einmal dafür hatte er genügend Zeit.

 

Schnaubend rollte er sich erneut herum, streckte die Arme über den Kopf und bog den Rücken durch. Erschrocken zuckte er zusammen, rechnete damit, dass sein kaputtes Kreuz ihm diese unüberlegte Bewegung mehr als nur ein bisschen übel nehmen würde, aber der altbekannte Schmerz blieb aus. Seltsam.

Blinzelnd öffnete er die Augen und wurde sogleich von der Sonne geblendet. Spätestens jetzt begann ihm bewusst zu werden, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmen konnte. Sein Schlafzimmer lag auf der Nordseite seines Appartements. Es war also unmöglich, dass die Morgensonne durch seine Fenster schien, selbst wenn er vor einigen Stunden vergessen haben sollte, die Vorhänge zuzuziehen. Wieder heulte ein Motor auf, irgendetwas klapperte metallisch schrill und das rhythmische Geräusch schneller Schritte ließ seine Ohren zucken.

 

Moment … seine Ohren?

Kaoru kam so schnell auf die Beine, dass er damit rechnete, ihm würde schwarz vor Augen werden, stattdessen änderte sich kaum etwas an seinem Blickwinkel. Der asphaltierte Boden war noch immer ungewöhnlich nah an seinem Gesicht, der Himmel stattdessen unendlich weit entfernt.

Asphalt? Blauer Himmel? Der typische Geruch eines schmutzigen Hinterhofs?

Fuck. Hatte er getrunken und wusste nichts mehr davon? Er war gestern nach Hause gefahren und hatte sich ins Bett gelegt. Da war kein Tropfen Alkohol im Spiel gewesen.

 

Kaoru machte einen Satz zurück, als er knapp neben der Stelle, auf der er sein Nachtlager aufgeschlagen haben musste, eine unappetitlich grünliche Pfütze ausmachen konnte. Igitt! Wo zum Teufel war er hier nur aufgewacht und wie war er hierhergekommen? Warum wirkte seine ganze Perspektive verschoben und weshalb fühlte sich sein Körper so klein und eigenartig schmerzfrei an? Er trippelte auf der Stelle, stolperte über seine eigenen Beine und landete auf dem Hintern. Frustriert schüttelte er sich und hob die Hand, um sich übers Gesicht zu wischen. Das Blut gefror ihm in den Adern, als sich sein Blick nicht wie erwartet auf seine mit Tattoos übersäte Hand richtete, sondern auf eine Pfote fiel, die mit grau-schwarz-getigertem Fell bedeckt war.

 

Sein Verstand setzte aus, als er kopflos über den Parkplatz zu rennen begann, der an den Hinterhof angrenzte, in dem er aufgewacht war. Vollkommen verschreckt wich er Einkaufswägen, parkenden und fahrenden Autos aus, bis er sich auf einen Gehweg retten konnte. Der Strom aus sich unvorhersehbar bewegenden Menschenbeinen, die auf ihrem Weg zur Arbeit rücksichtslos voranschritten, war jedoch alles andere als ein sicherer Platz zum Durchatmen. Ein Turnschuh trat ihm schmerzvoll in die Seite, der spitze Absatz einer eleganten Schnürsandale bohrte sich beinahe in seine Pfote und ein abgetretener Lederschuh schleuderte ihn in die Regenrinne der angrenzenden Fahrbahn. Kaum eine Sekunde hatte er Zeit, seine Orientierung wiederzufinden, als ein Schwall schmutzigen Wassers über ihn hereinbrach, weil ein Auto direkt neben ihm durch eine Pfütze gefahren war. Sich schüttelnd rappelte er sich auf, versuchte hektisch herauszufinden, wo er sich befand, aber alles sah so anders aus.

 

Eine Lücke in der Menschenmenge auf dem Gehweg tat sich auf, bot ihm die Chance, wieder in den relativ sicheren Hinterhof zurückzukehren. Doch auch hier bekam er keine Gelegenheit, sich sein weiteres Vorgehen zu überlegen oder endlich zu begreifen, was überhaupt mit ihm geschehen war, denn ein unheilvolles Knurren ließ ihm wortwörtlich die Nackenhaare zu Berge stehen. In seinem verstörten Zustand konnte er nicht einmal zuordnen, welchem Tier er gegenüberstand. Er sah nur gelbe Augen, spitze und viel zu lange Zähne …

 

„Lauf schon!“, rief ihm jemand zu und für einen irrwitzigen Moment glaubte er, seine eigene Innere Stimme zu ihm sprechen zu hören. Dann schepperte jedoch etwas neben ihm, was das knurrende Monstrum für einen Moment ablenkte und ihm die Möglichkeit gab, sich nach der Stimme umzusehen. „Komm schon, rauf hier!“

Kaoru traute seinen Augen nicht. Neben ihm, auf einem verbeulten Müllcontainer, hockte eine schwarze Katze und fixierte ihn mit ihren unheimlich grünen Augen.

„Beweg dich, oder willst du zu Hundefutter werden?“

 

Es war allein seinem Überlebensinstinkt zu Schulden, dass er sich aus seiner Starre reißen und tun konnte, was die Katze von ihm verlangte. Mit einem Satz sprang er auf den Container. Allerdings hatte er seine Sprungkraft überschätzt, überschlug sich mehrmals und hätte auf dem rutschigen Metall den Halt verloren, der massige Körper der schwarzen Katze nicht zur anderen Seite geschubst.

 

„Da… danke“, stotterte er, vollkommen durch den Wind und außer Atem. „Wo bin ich? Was ist mit mir passiert?“

 

„Na, nicht dafür. Aber jetzt halt die Luft an und folge mir.“

 

„Was? Aber …“ Kaoru wollte Antworten, verdammt, aber die Katze war schon auf einen Mauervorsprung nahe dem Container gesprungen und machte nicht den Anschein, sich unterhalten zu wollen. Zumindest nicht so lange die reelle Chance bestand, als Snack für den Köter zu enden, der gerade versuchte, Kaoru zu erreichen. Mit gesträubtem Fell und einem Fauchen machte er einen Satz weiter in die Mitte des Containers und visierte den Mauervorsprung an. Verdammt, der war so weit entfernt, das würde er nie schaffen, aber was blieb ihm anderes übrig? Tief durchatmend nahm er Anlauf, machte sich im Flug so lang, wie er konnte, und landete tatsächlich sicher auf der rettenden Mauer.

 

„Na, geht doch, ich dachte schon, du wolltest dort unten Wurzeln schlagen.“ Die schwarze Katze saß nicht weit von ihm entfernt, putzte sich lässig den Hinterlauf, während sie ihn aus dem Augenwinkel musterte. „Du musst wirklich noch einiges lernen, wenn du hier draußen überleben willst. Von wegen, den ganzen Tag schlafen, fressen und gestreichelt werden, was?“ Hätte sie gekonnt, Kaoru war sich sicher, sie hätte ihn angegrinst, während er sie lediglich mit weit aufgerissenen Augen mustern konnte.

 

„Du bist die Katze von heute Nacht, nicht wahr?“

Sie nickte.

„Und du kannst sprechen?“

 

„Tu nicht so, als wäre das so ungewöhnlich. Ich kann nichts dafür, dass ihr Menschen nicht zuhören könnt.“

 

„Aber, wieso?“

 

„Wieso du mich jetzt verstehen kannst?“

Nun war er es, der stumm nickte.

„Weil du jetzt einer von uns bist, Katerchen.“

 

Kaorus Mund fühlte sich starr an, aber er hätte nicht sagen können, ob das dem Schock geschuldet war oder der Tatsache, dass ein Katzenmund andere Bewegungen machte, als er sie gewohnt war. Himmel, allein dieser Gedanke hatte das Potenzial, ihn in blinde Panik zu versetzen.

 

„Was hast du mit mir gemacht?!“, rief er plötzlich, um der Angst, die durch seine Adern jagte, wenigstens auf diese Weise Ausdruck verleihen zu können.

 

„Ich habe dir lediglich deinen Wunsch erfüllt.“

 

Wie aus weiter Ferne hörte Kaoru plötzlich das geisterhafte Echo seiner eigenen Stimme: „Ich wünschte wirklich, ich könnte für ein paar Tage dein Leben führen. Keine Verantwortung, keine Termine, nichts worüber ich mir Sorgen machen muss.“

„Oh nein, nein, das … das hab ich so doch nicht gemeint. Ich meine … mach das sofort wieder rückgängig!“

 

„Das kann ich nicht.“

 

„Was? Wie meinst du das, du kannst das nicht? Dir hab ich diesen Albtraum hier doch zu verdanken!“

 

Die Katze vor ihm murrte in einer Weise, die tiefstes Unverständnis für seine Lage ausdrückte.

„Du warst nett zu mir, hast mir sogar Futter gegeben. Da ist es doch ganz normal, dass ich mich revanchiere, besonders, wenn du es mir so leicht machst und einen Wunsch äußerst.“

Ausführlich streckte sie sich, als gäbe es auf der ganzen Welt nichts, was sie aus der Ruhe bringen konnte und begann, ihren Bauch zu putzen.

„Ich bin eine Zauberkatze, ich erfülle Herzenswünsche, aber mache sie nicht rückgängig, verstehst du?“

 

„Aber das war doch nur so daher gesagt“, murmelte Kaoru, plötzlich jeglicher Kraft beraubt, und hockte sich hin. „Ich habe keine Zeit, eine Katze zu sein. Ich habe Verpflichtungen, es gibt Menschen, die auf mich angewiesen sind und mich suchen werden, wenn ich nicht zu unseren Terminen erscheine.“

 

„Ach, mach dir darüber mal keine Sorgen. Das ist das Tolle an meinem Zauber, niemand wird dich vermissen.“

 

„Wirklich?“

 

„Ja.“

 

Zum ersten Mal, seit er in diesem Albtraum aufgewacht war, spürte er so etwas wie Hoffnung in sich aufkeimen. Er erhob sich, ging einige Schritte nach vorn und blickte in den Innenhof hinab. Der Hund hatte das Interesse an ihnen verloren und war verschwunden. Jetzt, wo er sich in Ruhe umsehen konnte, kam ihm die Umgebung eigenartig bekannt vor. War das nicht der Supermarkt dort drüben, in dem er vor einigen Stunden das Katzenfutter gekauft hatte? Die Tatsache, dass er ausgerechnet hier als Katze erwacht war, war auf eine eigenartige Weise das Erste, was ihm seit seinem Erwachen logisch erschien. An diesem Moment der Klarheit hangelte er sich weiter, versuchte, das, was ihm widerfahren war, mit dem in Einklang zu bringen, was die Katze ihm gerade erzählt hatte.

Sie war also eine Zauberkatze und hatte ihm seinen Herzenswunsch erfüllt, weil er ihr etwas Gutes getan hatte. So weit, so fantastisch.

 

„Was ist …“, begann er und hatte das Gefühl, die Zahnrädchen seines Denkapparats rattern hören zu können, als ihm eine zündende Idee kam. „Ich wünsche mir, wieder ein Mensch zu sein!“

 

„So funktioniert das nicht.“

 

„Was? Wieso? Du sagtest doch, du erfüllst Wünsche.“

 

„Herzenswünsche, mein Guter. Du musst es schon ernst meinen, wenn du dir etwas wünscht.“

 

„Aber … Ich meine es ernst!“

 

„Wohl nicht.“ Die Katze leckte sich über die Lefzen und Kaoru wurde den Eindruck nicht los, deutliches Amüsement in dem sonst so starren Gesicht erkennen zu können.

„So, da das jetzt geklärt ist … “ Mit einem Buckel, der sicher beeindruckender war, als sein eigener, streckte sie sich und hüpfte auf das niedrige Dach des nahestehenden Unterstellplatzes für Einkaufswägen.

„Ich habe weitaus interessantere Dinge zu tun, als den ganzen Morgen deine Fragen zu beantworten. Pass auf dich auf, Katerchen, und denk dran; du musst es auch wirklich so meinen, wenn du dir was wünscht. Ciao!“

 

„Halt! Warte!“ Er versuchte, die Verfolgung aufzunehmen, aber kaum war er ebenfalls auf dem durchsichtigen Plastikdach des Unterstands gelandet, war seine Wunscherfüllerin nach unten auf den Parkplatz gesprungen und so schnell zwischen den Autos verschwunden, dass er sie aus den Augen verloren hatte.

„Verflucht!“ Ein klägliches Maunzen verließ seinen Mund, was einige der Einkaufenden verwundert zu ihm aufsehen ließ.

 

„Mama, schau mal, ein Kätzchen!“ Ein kleiner Junge zog aufgeregt an der Hand seiner Mutter und deutete zu ihm nach oben. Kaoru duckte sich, schlich den Weg zurück, den er gekommen war, und kauerte sich vorerst so eng zusammen, dass ihn hoffentlich keiner sehen würde.

 

Er brauchte Zeit, um nachdenken zu können.

Sein Magen gab ein jämmerliches Gurgeln von sich.

Und etwas zu essen.

 

tbc …


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, wie finden wir den Anfang der Story?
Ich weiß, um ehrlich zu sein, noch nicht so genau, was das hier werden soll. *lacht* Das kommt davon, wenn sich Kaoru mit einer Schnapsidee in meine Träume schleicht. Feedback und Input eurerseits sind daher extrem gern gesehen. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-26T22:32:18+00:00 27.04.2024 00:32
Ohhh armer Kaokater, ach je. Da sdieht man es wieder arbeit schädigt die Gesundheit bei übermäßigem Konsum. XDDD


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