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Neue Perspektiven

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Neue Perspektiven

„Beginne deinen Tag mit einem Lächeln“, riet der kleine Wandkalender, den ihr Vater im Vorjahr gekauft und an die Wand gehängt hatte. Es war der Vormittag eines sonnigen Samstags; Barbara streckte ein weiteres Mal die Arme in die Luft.  Sich den Schlaf aus den Augen reibend, stand sie schließlich auf, und schlürfte hinüber zum Schrank. Das heutige Outfit würde aus einem weißen, ärmellosen Top und einer kurzen, blauen Hose bestehen, entschied sie spontan und zog sich schnell um.

Sie war froh, überhaupt Kleidung gefunden zu haben, dank ihrer ungewöhnlichen Körpergröße von 195 Zentimeter hatte sie es alles andere als einfach. Weshalb sie mittlerweile nicht mehr sonderlich anspruchsvoll war. Hauptsache, die Proportionen stimmten.

Kaum hatte sie alles zurechtgerückt, ging sie hinüber zum Spiegel. Doch nach wie vor war ihr nicht zum Lächeln zumute, auch nicht für einen Kalenderspruch. Die Haare waren wie immer stark und ungezähmt, eines der Dinge, die sie von ihren Eltern geerbt hatte. Dass sie diese vor wenigen Monaten zu Rasta-Locken hatte umgestalten lassen, hatte ihr dabei schon eine Menge Arbeit abgenommen.  Diese band sie fix zu einem Pferdeschwanz zusammen.

Doch die Haare waren nicht der Grund, warum sie es nicht über sich brachte, ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern. Viel mehr lag es an dem Edelstein, welcher sich in ihrer Brust befand, direkt auf dem oberen Teil des Brustkorbs. Ihr Oberteil hatte einen viel größeren Ausschnitt, als sie es zuerst angenommen hatte und so zeigte sich ihr Edelstein in seiner kompletten Pracht. Ein Schmuckstein in perfekter Tropfenform, aus einem angenehmen, dunklen Grün. Gesprenkelt mit hellroten Tropfen prangte aus ihrem menschlichen Körper heraus. Ein Stein, welcher den Kern der Existenz ihrer Mutter dargestellt hatte und welche sie ihr nun weitergegeben hatte.

Wieder sah Barbara erst ihr Gesicht an, dann ihre Arme und Schultern. Die hellroten Flecken, welche deutlich von ihrer dunklen Hautfarbe herausstachen, hätten wie kleine Sonnenbrandflecken wirken können. So hatte sich ihr Vater früher den Erzieherinnen oft genug erklären müssen, dass es sich dabei weder um Blut noch um nicht abgewaschene Farbe handeln würde, sondern um ein Teil ihrer natürlichen Hautfarbe. Schon lange hatte sich Barbara an ihr Aussehen gewohnt, zwar hatte sie es eine Zeitlang mit Abschminken versucht, doch das hatte sie schnell sein lassen. Immerhin passten sie gut zu ihren roten Augen, welches ihr die eine oder andere besondere Rolle im Schultheater verpasst hatten.

Wieder betrachtete sie ihren Körper, sie hasste ihr Aussehen nicht und doch kostete sie es nach wie vor Überwindung, die nicht-menschliche Seite der breiten Öffentlichkeit zu zeigen. Immer wieder musste sie sich neugierigen Fragen stellen und die Antworten konnte sie schon lange im Schlaf aufsagen.

 

Noch einmal sah sie sich ihr Spiegelbild an, kaute auf ihrer Unterlippe herum und beschloss, ihren Vater um Rat zu bitten. Welchen sie auch recht schnell in der Küche fand, als er in einer Pfanne etwas anzurühren schien.

„Barbara, Honey, ich wünsche dir einen guten Morgen“, sagte er und winkte ihr zu, immer noch den Pfannenwender in der Hand. Barbara winkte zurück, bevor sie sich den Frühstückstisch ansah. Offenbar war ihr Vater deutlich früher wach geworden, sie konnte sehen, dass der Tisch bereits vollständig gedeckt worden war. Gläser mit Orangensaft, ein Teller mit Bacon und gebratenen Kartoffelscheiben, wie auch eine Menge Toast und Käsescheiben warteten darauf, verspeist zu werden.

„Setz dich doch ruhig schon, ich bin mit dem Rührei gleich fertig“, entgegnete ihr Vater und drehte sich wieder zum Herd um, um ein paar letzte Handgriffe zu unternehmen. Barbara ging der Einladung nach, setzte sich an den Tisch und nippte an ihrem Orangensaft. Wenige Minuten später verteilte ihr Vater das Rührei gerecht unter ihnen auf, bevor er sich zu seiner Tochter an den Tisch gesellte und ihr einen guten Appetit wünschte.

„Danke, dir auch einen guten Appetit“, sagte Barbara und stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Dann sah sie ihren Vater an, welcher mit seinen 160 Zentimeter an Körpergröße deutlich kleiner als sie selbst war. Die Farben ihrer Haare und ihrer Haut: die menschlichen Teile ihres Aussehens, hatte sie klar und deutlich von ihm. Während der Edelstein, die Augenfarbe und die Flecken nur von ihrer Mutter stammen konnten.

Als Barbara nach mehreren Minuten immer noch nicht mit dem Essen begonnen hatte, sah ihr Vater sie besorgt an.

„Ist alles in Ordnung, Honey?“, fragte er und tunkte eine Toastscheibe in seinen Kaffee hinein. Bis heute verstand Barbara nicht, warum er das tat, hinterfragte es jedoch nicht weiter. Sie nahm stattdessen eine Gabel voller Rührei, schluckte es so schnell wie möglich herunter und sah dann ihren Vater wieder an.

„Kannst du mir wieder ein wenig über Mutter erzählen? Wie war sie wirklich? War sie genauso groß wie ich? War sie… genauso stark wie ich?“, fragte Barbara, während sie wieder Teile ihres Frühstücks auf dem Teller herumschob. Ihr Vater sah sie dagegen erst überrascht, dann erfreut an.

„Das ist wirklich sehr lange her, dass du etwas über deine Mutter wissen wollest“, sagte er und schien sich über das Interesse seiner Tochter zu freuen. Doch erst, als diese richtig mit dem Essen begann, fing er zu erzählen an.

„Nun, deine Mutter war wirklich etwas Besonderes, etwas Einzigartiges. Es ist nun fast 25 Jahre her, als wir uns kennengelernt haben und ich habe jeden Moment mit ihr genossen. Wir hatten sehr viel Spaß miteinander, vieles war für sie komplett neu, aber auch ich konnte eine Menge lernen. Und irgendwann… ja, da war dann die Liebe im Spiel und ich wollte dann Bloody nicht mehr so schnell gehen lassen.“

Bloody, der Spitzname, den ihr Vater seiner großen Liebe verpasst hatte. Nun musste Barbara doch ein wenig lächeln.

„Du hast sie Bloody genannt, weil sie eine Bloodstone war, nicht wahr?“, fragte sie, als er eine kurze Pause für seinen kaffeegetränkten Toast machte.

„Ja, das war sie. Bloodstone war eine Quartz-Soldatin, um also deine Fragen zu beantworten, sie war stark und groß. Sie war sogar noch ein wenig größer als du. Du siehst ihr so ähnlich und du hast auch viel von ihrer Persönlichkeit geerbt. Es ist schade, dass ihr beiden euch nie wirklich kennenlernen konntet. Aber das ist nun mal das Schicksal eines Gems, die ihren Körper für das Leben ihres Kindes aufgegeben hat.“

Das ist eines der wenigen Dinge, die ihr Vater ihr bereits als Kind erklärt hatte, auf die Frage, warum sie keine Mama hätte. Dass ihre Mutter ein Gem war, ein außerirdisches Wesen von einem fernen Planeten, welches hier Zuflucht und ein neues Leben gesucht hatte. Sie war lange herumgeirrt und hatte schließlich ihren Vater kennen- und lieben gelernt. Bis sie sich schließlich ein eigenes Kind gewünscht hatte. Doch als Gem konnte Bloodstone ohne ihren Edelstein nicht existieren, war ihr Körper nur eine feste Projektion ihres Körpers. Das Aussehen wurde gesteuert von ihrem Edelstein, welches sowohl ihr Hirn als auch ihr Herz war. Um ihrem Kind den Edelstein weitergeben zu können, hatte Bloodstone für immer ihre physische Form, ihre Projektion aufgegeben und war so auf diese Art ein Teil ihrer Tochter geworden.

Und der Edelstein hatte sich von Anfang an wunderbar an den organischen Körper angepasst. Dass weder ihre Luftröhre noch ihre Aorta durch die Position ihres Edelsteins behindert wurden, war für die Ärzte immer ein gutes Zeichen gewesen, aber auch ein Wunder. Für Barbara war es schon immer normal gewesen, Halbmensch und Halbgem zu sein, und dennoch…

„Machst du dir immer noch Gedanken wegen deiner Körpergröße? Und deiner Kräfte?“, fragte ihr Vater und hatte wie immer einen wunden Punkt bei ihr getroffen.

Barbara nickte und nahm einen großen Schluck ihres Orangensaftes. Sie zählte in Gedanken die unzähligen Gläser auf, die sie mit ihrer starken Kraft zerdrückt hatte und auch andere Momente, in denen sie ihre Kräfte nicht immer so gut hatte einschätzen können. Doch als sie wieder in die Augen ihres Vaters blickte, sah sie nichts außer Stolz, Wärme und Liebe.

„Deine Mutter war eine Soldatin und für den Schutz eines ranghohen Gems zuständig. Diese Stärke hat sie an dich weitergegeben, damit wird dir niemand etwas anhaben können. Ich weiß, du schämst dich dafür, aber das muss nicht sein. Außerdem hast du nicht nur eine körperliche Stärke in dir, sondern auch eine seelische“, sagte er und deutete auf Barbaras Edelstein. Sie sah nun ebenfalls hinunter.

„Weil ich meinen Edelstein frei zeige und ihn nicht verstecke?“, fragte sie und dieses Mal nickte er mit dem Kopf.

„Ja, das hast du schon lange nicht mehr gemacht. Auch kann ich deine Flecken sehen, die versteckst du ja immer, so oft du kannst. Aber heute kann ich das alles sehen und das macht mich wirklich stolz auf dich. Du solltest ruhig auch diese Teile deines Körpers zeigen, das bist nun mal du und wer damit ein Problem hat… nun, das ist dann sein Problem“, sagte er und trank den Rest seines Kaffees.

„Ich weiß, es ist nur… ich hatte als Kind so oft Probleme wegen meiner starken Kräfte…“, sagte Barbara, bevor sie abbrach.

„Und diese Kräfte hast du nun unter Kontrolle, außerdem sind sie dir in deiner Arbeit mehr als hilfreich. Glaub mir, viele Menschen, auch Männer, würden dich um deine körperlichen Kräfte beneiden. Nicht jeder kann problemlos ein bis zwei Autoreifen pro Arm tragen. Und Traktorreifen erst recht nicht“, sagte er und blickte seine Tochter wieder stolz an. Gleichzeitig wünschte er, seine Tochter würde sich der Welt ein wenig mehr öffnen, so wie es ihre Mutter getan hatte.

Die meiste Zeit verbrachte sie in ihrem Zimmer und ging ihren Hobbys nach, wenn sie nicht gerade in der Werkstatt seines Bruders arbeitete. Er hatte sie vor wenigen Jahren erst als Lehrling, dann als feste Angestellte in seiner Autowerkstatt aufgenommen und immer wieder ihre Leistungen positiv bewertet. Auch seine Kollegen hielten große Stücke auf sie, sie war trotz ihrer Größe und Stärke auch ziemlich schlau und fingerfertig, einen Reifenwechsel erledigte sie sofort und zuverlässig. Doch in ihrer Freizeit hielt sie sich am liebsten versteckt, sie hatte viel zu sehr Angst, wieder irgendwas leichtfertig zu zerstören oder kaputt zu machen.

Er seufzte ein wenig, bevor er sich wieder um ein Lächeln bemühte und belegte eine seiner Toastscheiben mit ordentlich viel Käse.

„Nun, ich freue mich, dass du wieder Fragen über deine Mutter stellst, das hast du lange nicht mehr getan. Wie kommt es dazu?“, wollte er neugierig von ihr wissen. Barbara blickte wieder auf ihren Gem herunter.

„Ich hatte mir Gedanken gemacht, mich gefragt, ob Mutter es auch als Fluch gesehen hatte oder ob es ganz normal für sie war.“

Ihr Vater sah sie ruhig an, dann legte er seine überladene Toastscheibe ab.

„Deine Mutter hat mir einmal erzählt, wenn Gems gemacht werden, dann kommen sie vollständig heraus. Ohne, dass noch irgendeine Art von Entwicklung stattfindet. Sie kennen ihre Fähigkeiten, sie kennen ihre Stärken und sie wissen, was zu tun ist, wie in einem Bienenstaat. Doch erst so richtig auf der Erde konnte Bloody sich selbst kennenlernen. Sie wusste lange nicht, dass man nicht nur zerstören, sondern auch etwas aufbauen und bewahren kann. Sie lernte, wie sie ihre Kräfte für das Gute benutzen kann und nicht nur zum Unterdrücken oder zum Kämpfen. Sie musste so wie du eine Menge durchmachen und lernen, denke dir also nichts, auch sie konnte auch nicht von Anfang an alles perfekt.“

Er griff über den Tisch hinweg die Hand seiner Tochter und streichelte sie.

„Deine Kräfte sind kein Fluch, denk nur, was du bereits jetzt für wundervolle Dinge damit erreichen kannst“, sagte er und lächelte sie an. Barbara lächelte zurück, größtenteils jedoch nur, um ihrem Vater die Sorgen vom Herzen zu nehmen.

„Das kann sein“, sagte sie und nahm ihre Hand weg, woraufhin ihr Vater seinen Arm wieder zurückzog. „Irgendwann werde ich bestimmt eine richtige Bestimmung für meine Kräfte finden, aber ob das wirklich jemals der Fall sein wird, daran habe ich ehrlich gesagt meine Zweifel.“

Ihr Vater überlegte, was er noch erwidern könnte, doch beließ es schließlich dabei. Stumm aßen sie den Rest ihres Frühstücks auf, dann half Barbara beim Abräumen und Abwasch mit. Hin und wieder versuchten sie ein Gespräch aufzubauen, doch so richtig in Plauderlaune kam keiner der beiden mehr.

„Und, was hast du für heute geplant?“, fragte er sie neugierig, während er die letzten Teile des Geschirrs aufräumte.

„Ich dachte, ich gehe vielleicht ein wenig joggen, ich habe von Onkel David einen Schrittzähler für meine guten Noten letztens bekommen und ich dachte, ich könnte den doch mal benutzen“, sagte sie und hob ihren Arm, an welchem sich der Schrittzähler in Form einer Uhr befand. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich so rausgehen sollte. Ich habe einfach in den Schrank gegriffen und …“

Da spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und sah zu ihrem Vater herunter.

„Lass das Oberteil ruhig an, soll doch die ganze Welt deinen Edelstein sehen, das ist doch völlig in Ordnung. Außerdem sieht er wunderschön an dir aus. Du bist ein Halbgem und darauf solltest du ruhig stolz sein“, sagte er, ließ jedoch offen, warum sie darauf stolz sein sollte. Gänzlich überzeugt war sie nicht, dennoch versuchte sie sich darauf einzulassen. Und wenn es nur war, um ihrem Vater einen kleinen Gefallen zu tun.

„Ok, dann gehe ich mal“, sagte sie, und gab ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn. Wenn, dann sollte sie es gleich in die Hand nehmen, bevor sie es sich nochmal anders überlegte und ein anderes Oberteil anzog. Oder sich gleich dafür entschied, in ihrem Zimmer zu bleiben. Doch bereits seit zwei Monaten nahm sie sich vor, den Schrittzähler zu benutzen und wollte es nicht wegen dem falschen Outfit noch weiter in die Zukunft hinausschieben. Auch, wenn ihr die Ausrede mehr als willkommen gewesen wäre.

„Viel Spaß und vergiss deinen Schlüssel nicht, ich fahre nachher mal kurz zu meinem Bruder rüber, um mit ihm was zu klären“, sagte ihr Vater und reichte ihr den Schlüsselbund. Welchen Barbara wieder dankbar annahm. Dass sie ihn wieder einmal verlegt hatte, das war ein stummes Geheimnis zwischen den Beiden, für das keine Worte nötig waren.

„Danke, werde ich machen“, sagte sie, steckte noch ihr Handy in die Hosentasche und verließ die gemeinsame Wohnung.

„Eine Bitte noch, komm bitte rechtzeitig zum Abendessen wieder nach Hause, ich koche dir dafür auch dein Lieblingsgericht“, rief ihr Vater Barbara noch hinterher und sie versprach es ihm.

 

Sie mochte die kleine Stadt, in welche sie geboren und aufgewachsen war. Den kunstvollen Springbrunnen am Marktplatz, an welchem sie früher ihren Vater bei jeder Gelegenheit von oben bis unten nassgespritzt hatte. Die kleinen, beschaulichen Häuser, wie sie dicht an dicht nebeneinanderstanden. Die vielen Autos, die den Ort durchquerten, wenn der nächstgelegene Highway wieder verstopft war, ob durch eine Baustelle, einen Unfall oder beides.

Sie mochte es auch, dass der Ort ruhig genug war und jeder Bewohner seiner eigenen Tätigkeit in Ruhe nachging.

Und auch die meisten Menschen in ihrer näheren Umgebung kannten sie. Die ältere Dame, die mittlerweile auf die Hilfe eines Rollators angewiesen war und ihr immer wieder einen Apfel aus ihrem Garten schenkte. Die Kinder, die ihr immer kräftig zuwinkten, wenn sie Barbara aus der Ferne sehen konnten. Oder auch die vielen Erwachsenen, die sie freundlich grüßten oder hin und wieder um einen Gefallen baten. Als Dank wurde sie oft selbstgemachten Kuchen, Limonaden oder einem Ladenrabatt entlohnt. Sie mochte es hier, es war eines der Orte, an denen sie sich vollkommen wohlfühlte. Musste sie für einen größeren Einkauf in einer der umliegenden Städte, sah es bereits anders aus und sie war für jedes Mal dankbar, wenn ihr Vater die nötigen Einkäufe für sie übernahm.

Doch an diesem Tag war etwas anders. Zwar hatten die Dorfbewohner hin und wieder einen Blick auf ihren Edelstein werfen können, doch noch nie hatte sie ihn in ihrer vollen Pracht gezeigt, zumindest nicht mehr seit dem Beginn ihrer Pubertät.

Nervös strich sie sich über den Edelstein, üblicherweise war dieser durch ein T-Shirt mit hohem Kragen bedeckt. Dass er nun seit langer Zeit so sichtbar war, machte sie nun doch ein wenig unsicher. Schnell blickte sie zu allen Seiten, doch sie konnte kaum Menschen erkennen, welche wie sie unterwegs waren. Sie blickte auf ihre pinken Sandalen, dann atmete sie tief ein und aus, drehte sich zur Seite und begann zu laufen.

Ihr Schlüsselbund klimperte in ihrer Hosentasche, die Sonne schien warm auf ihre Haut und der leichte Wind strich über ihren Nacken wie ein sanftes Seidentuch.

Stets die Umgebung im Blick, joggte Barbara sich von Straße zu Straße, hier und da begrüßten sie die Ortsbewohner, doch in ein richtiges Gespräch kamen sie nicht. Erst, als sie eine vertraute Stimme hörte, blieb sie stehen und wechselte die Straßenseite. Vor einem Gartenzaun kam sie zum Stehen.

 

„Granny, schön dich zu sehen!“, begrüßte Barbara die ältere Frau freudig mit einem Lächeln. Diese lächelte zurück, während sie sich mit großer Mühe an ihrem Wagen abstützte.

„Freut mich ebenfalls, dich zu sehen, mein Kind!“, sagte Granny und schob sich mit ihrem Gehwagen ein Stück näher an den Zaun heran.

„Heute habe ich etwas ganz Feines für dich, das wird dir gefallen. Komm doch herein, Liebes, du brauchst gar keine Scheu zu haben“, sagte sie ruhig und beständig; und Barbara ließ sich das nicht zweimal sagen. Mit flotten Schritten war sie zum Gartentor geschritten und hatte dieses nach Betreten des Grundstücks hinter sich verschlossen.

In ihrem Mund lief das Wasser zusammen, wusste sie nicht nur Grannys guten Äpfel zu schätzen, sondern auch die leckeren Kuchen und Eclairs, die Barbara hier und da als Dank für die Hilfe bekam. Zwar bestand zwischen ihnen kein richtiges, verwandtschaftliches Verhältnis und doch fühlte es sich für Barbara an, als wäre sie wirklich die Enkelin der freundlichen, alten Dame. Und sie war sie sicher, dass Granny das Gleiche spürte. Der Spitzname, mit dem Barbara die ältere Dame ansprach, tat sein Übriges.

Wieder strich Barbara mit den Fingerspitzen über ihren Edelstein. Auch Granny hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, was würde sie dazu sagen? Doch diese lächelte nur, als sie Barbara langsam und ein wenig wacklig mit dem Rollator entgegenkam. Es dauerte ein paar Sekunden, bis diese sie erreicht hatte, doch für Granny würde sich Barbara alle Zeit der Welt nehmen.

„Heute ist wirklich ein schöner Tag, nicht wahr? Hat auch viel geregnet in letzter Zeit, da tut ein wenig Sonne auf der Haut sehr gut“, meinte Granny und trat dicht an Barbara heran.

„Ja, es ist wirklich sehr schön heute. Deswegen habe ich mich auch entschieden, ein wenig zu joggen, solange das Wetter sich noch hält“, erwiderte Barbara.

Granny nickte ihr ein wenig zu, ging ein paar wenige Schritte zu ihrem Haus und drehte sich zu Barbara um.

„Ich habe auch welche für deinen Vater gemacht, die kannst du ihm gerne mitnehmen, wenn du möchtest“, ließ aber dabei offen, was sie damit genau meinte. Barbara folgte ihr, versuchte aber, ihre Schritte anzupassen, damit sie nicht schneller als die ältere Dame wurde.

„Sehr gerne, aber wenn es möglich ist, würde ich es gerne nach meiner Joggingtour mitnehmen, dann kann ich das dann auch direkt nach Hause tragen“, meinte Barbara. Seite an Seite folgte sie der älteren Dame zu ihrem Haus, die beiden gingen an diesem vorbei und kamen erst auf der Terrasse zum Stehen.

Auf dem ersten Blick konnte Barbara erkennen, womit ihr Granny eine Freude machen wollte: Auf dem Terrassentisch befand sich ein Teller mit dutzenden Gebäckstücken, welche wie ein Donut geformt waren. Gebannt starrte Barbara die unbekannten Köstlichkeiten an.

„Freut mich, dass sie dir gefallen. Greif ruhig zu und probiere eins, nur keine Scheu“, sagte Granny, die sich in der Zwischenzeit dem nächstbesten Stuhl genähert hatte, um sich darauf zu setzen. Barbara ließ sich das nicht zweimal sagen, griff zu einem der Gebäckstücke und biss kräftig hinein. Sofort bemerkte sie den angenehmen, süßen Geschmack von Äpfeln im Mund, welcher sich mit dem Teig in ihrem Mund zu einer Einheit vermischte.

„Granny, das schmeckt ja unglaublich, was ist das?“, fragte sie, kaum, hatte sie ihren Bissen heruntergeschluckt.

Granny sah sie lächelnd an und während sie ihre Knie rieb, antwortete sie: „Das sind Apfelküchlein, schön, dass es dir schmeckt. Ich habe sie schon lange nicht mehr gemacht, seit meine Kinder aus dem Haus sind. Und ich habe in letzter Zeit so viele Äpfel ernten können, da dachte ich, es wäre mal schön, mal wieder welche zu backen.“

Die ältere Dame seufzte und fasste sich mit einer langsamen Bewegung in die Richtung ihres unteren Rückens.

„Nur leider macht mein Rücken nicht mehr so mit, wie er es damals getan hatte, als ich noch so jung und knackig war. Zum Glück habe ich meine Enkel, die mich ab und zu besuchen und mir bei der Apfelernte helfen.“

Barbara sah die ältere Frau an, erst mitleidig, dann nachdenklich.

„Wenn du möchtest, kann ich dir auch gerne aushelfen, immerhin bist du immer so freundlich zu mir und teilst auch oft dein Essen mit mir. Das würde ich gerne zurückzahlen“, sagte sie entschlossen und sah sich um, als könnte sie etwas sehen, womit sie der alten Dame helfen könnte. Granny fing dagegen zu lächeln an.

„Du bist wirklich ein gutes Kind, ich danke dir. Ich möchte dir keine Umstände machen…“, meinte sie, doch Barbara schüttelte mit dem Kopf.

„Nein, Granny, es wäre nur selbstverständlich. Mir tut es dagegen leid, dass es mir nicht eher aufgefallen ist, dass du Hilfe brauchst.“

Kaum hatte Barbara das ausgesprochen, beobachtete sie, wie Granny sich etwas umständlich aus dem Stuhl erhob, auf sie zuging und ihre Hand an ihre Wange legte.

„Das macht doch nichts, du hast doch immer so viel zu tun, bei dir zuhause oder in der Werkstatt. Da ist das doch normal“, versuchte Granny zu beschwichtigen, doch Barbara schien mit dieser Antwort nicht zufrieden zu sein. Grannys Blick dagegen wanderte von Barbaras Gesicht auf deren Brust, und diese folgte dem Blick der älteren Dame.

„Oh, dass mir das erst jetzt auffällt… meine Augen sind auch nicht mehr die Besten.“

Ohne jede Spur von Scheu berührte Granny Barbaras Edelstein erst mit der Fingerspitze, dann mit der Handfläche. Ein Lächeln huschte dabei auf ihr Gesicht.

„Es ist lange her, dass du deinen Edelstein so frei gezeigt hast. Damals warst du noch ein so kleines Mädchen… wie die Zeit vergeht.“

„Ja, es ist wirklich lange her“, sagte Barbara, doch sie wollte nicht zugeben, dass sie sich lediglich beim Oberteil im Schrank vergriffen hatte.

„Er fühlt sich so warm und beruhigend an. Seine Farben sind wunderschön und klar, er ist ein Teil von dir, das macht dich zu etwas besonderem“, sagte Granny und streichelte den Edelstein ein wenig. Barbara errötete, wusste nicht so recht, wohin mit ihren Gefühlen oder mit welchen Worten sie diesen Ausdruck verleihen könnte. Also erwiderte sie einfach Grannys Lächeln und wartete, bis die ältere Dame ihre Hand wieder wegnahm.

„Danke, das ist sehr freundlich“, sagte Barbara dezent nervös.

„Es ist nur die Wahrheit“, sagte Granny, ging wieder zu ihrem Sitzplatz zurück und strich sich erneut über ihren Rücken. Dann fiel ihr Blick auf den Teller.

„Nimm ruhig, mein Kind, es mehr als genug da… oh, da fällt mir ein, ich sollte noch welche für deinen Vater zur Seite legen“, sagte sie, mühte sich ein weiteres Mal aus dem Stuhl heraus und betrat langsam das Haus durch die Terrassentür. Barbara folgte ihr, einem Gefühl folgend, der älteren Dame eventuell ihre Hilfe anbieten zu können. Kaum standen die beiden in der Küche, begann Granny sich umzusehen. Sie blickte in den einen oder anderen Schrank, doch was immer sie suchte, sie wurde nicht fündig. Schließlich fiel ihr Blick auf einen kleinen Wandschrank, welcher sich allerdings außerhalb der Reichweite der kleinen, älteren Dame befand.

„Sieht so aus, als hätte die Haushaltshilfe sämtliche meiner Tupperdosen dort oben verstaut. Das ist aber unpraktisch, so komme ich ja nicht mehr an sie heran… Kindchen, kannst du sie mir bitte herausholen?“, fragte Granny und Barbara trat sofort an den Wandschrank heran. Kaum hatte sie ihn geöffnet, meine Granny: „Nimm am besten die grün-weißen, die sind am besten dafür geeignet.“

Barbara ging der Bitte nach und holte die Dosen heraus, doch anstatt sie Granny zu reichen, ging sie damit in den Garten zurück. Nach einer kurzen Zeit hatte Granny sie eingeholt.

„Danke dir, mein Kind. Ich in meinem Alter tue mich schon schwer, besonders, wenn die Dinge so weit oben sind und ich mich wegen meinem Rücken nicht mehr so strecken kann.“

Dann sah sie Barbara an, die wieder nervös grinste. Dennoch konnte sie nicht abstreiten, dass ihre Körperhöhe für genau solche Probleme eine gute Lösung war.

„Aber ich will dich jetzt auch nicht mit all meinen Problemen aufhalten, geh ruhig weiterlaufen, ich werde derweil die Apfelküchlein verstauen, damit du sie nachher mitnehmen kannst. Dein Vater wird sich sehr freuen“, sagte sie, doch Barbara zögerte. Auf der anderen Seite war das Auffüllen von zwei Plastikdosen nichts, was die alte Dame nicht allein schaffen würde, und so nickte sie.

„In Ordnung, dann mache ich mich wieder auf den Weg und komme später wieder. Vielen Dank schon mal!“, verabschiedete sie sich, verließ den Garten und setzte ihren Weg fort.

 

Kaum war sie wieder zurück auf dem Gehweg, hatte sie recht schnell ihren Rhythmus wiedergefunden. Gestärkt mit positiven Worten und einer leckeren Nascherei, lief Barbara in einem konzentrierten, raschen Tempo die Straße entlang. Der Hauptstraße folgend, sah sie wie nach wie vor kaum Menschen, die ihren Weg in irgendeiner Art und Weise kreuzte. Auf die Hauptstraße folgte die eine oder andere Nebenstraße. Für einen kurzen Moment überlegte sie zum Baggersee zu laufen, doch entschied sich spontan dagegen. Vielmehr wollte sie bei den Nebenstraßen bleiben, auch, weil der See zu dieser Zeit voller Menschen gewesen wäre. Und das wollte sie lieber vermeiden. Zwar störte es sie nicht, dass wenige Menschen wie Granny oder ihr Vater ihren Edelstein gesehen hatten, doch eine Menschenmasse, wie sie vermutlich am See aufzufinden sein würde, das wäre ihr jetzt noch zu viel gewesen.

So joggte sie sich durch eine ruhige Straße nach der anderen, bis ihr etwas ins Auge fiel. Am Rande der anderen Straßenseite parkte ein kleiner Transporter, einer, wie sie ihn oft bei Umzügen gesehen hatte. Auch dieses Mal schien es sich um einen Umzug neuer Stadtbewohner zu handeln, welcher wohl nicht sonderlich reibungslos abzulaufen schien. Sie hörte ein lautes, dumpfes Geräusch aus dem Inneren des Transporters, gefolgt von einem Fluch.

„Ist alles in Ordnung da drinnen?“, fragte Barbara besorgt, blieb jedoch neben dem Wagen stehen. Kurz herrschte Ruhe, dann konnte sie eine Männerstimme hören, die ihr antwortete.

„Vielen Dank, ja, bei uns ist alles in Ordnung“, sagte die eine Männerstimme zu ihr heraus.

„Nur mit dem Unterschied, dass uns ein gewisser Jemand gehörig im Stich gelassen hat“, schloss sich eine zweite Stimme der Konversation an.

„Naja, er meinte es doch nicht so…“, versuchte die erste Stimme diesen gewissen Jemand zu verteidigen. Doch die zweite Stimme unterbrach ihn dabei.

„Jetzt nimm ihn nicht auch noch in Schutz, er wusste genauso wie wir schon lange von diesem Umzug und dann hat er auf einmal doch viel weniger Zeit. Dabei weiß er doch ganz genau, dass wir ihn brauchen, für uns beide allein ist das doch viel zu schwer.“

Barbara konnte ein lautes, entnervtes Schnaufen aus dem Inneren des Transporters hören und konnte sich gut vorstellen, wie er sich fühlte. Für einen kurzen Augenblick hatte sie den Impuls, ihre Hilfe anzubieten, den Jungs beim Tragen zu helfen. Aber sie waren Fremde, wie würden sie reagieren, wenn sie ihren Edelstein sehen würde? Oder dass sie kräftiger war, als man es ihr ansehen würde?

Unsicher biss sie sich auf ihre Lippe, atmete tief ein und aus. Überlegte das Für und Wider, während sie die beiden Stimmen dabei belauschte, wie sie versuchten, den schweren Gegenstand erneut anzuheben.

„Deine Kräfte sind kein Fluch, denk nur, was du bereits jetzt für wundervolle Dinge damit erreichen kannst.“

„…er ist ein Teil von dir, das macht dich zu etwas besonderem.“

Die Worte ihres Vaters und der netten, alten Granny gingen ihr durch den Kopf; und da fasste sie sich ein Herz. Sie ging um den Transporter herum, bis sie an der offenen Seite der Ladefläche stand.

„Sagt mal, kann ich euch vielleicht helfen? Ich sehe nicht so aus, aber ich bin stark und kann auch schwere Dinge transportieren“, sagte sie und die zwei jungen Männer, die sich erneut an einem großen Sofa abzumühen schienen, drehten sich in ihre Richtung.

„Oh, das ist wirklich sehr nett, wir könnten eine dritte Person wirklich gut gebrauchen“, sagte die erste Stimme und die zweite nickte ihm nur zu. Barbara wartete auf keine weitere Bestätigung, sondern betrat den Transporter und nahm die ganze Situation unter die Lupe. Die beiden jungen Männer, stark verschwitzt, hatten versucht, eine Couch für drei Personen aus dem Wagen zu transportieren. Doch bisher waren sie daran gescheitert und einer von ihnen sah aus, als wäre er kurz vorm Aufgeben.

„Am besten wäre es, wenn ich die Couch hier anpacke“, sagte Barbara und positionierte sich in der Mitte.

„Wir alle drei sollten die Couch gleichzeitig hochheben, so sind die Kräfte gleichmäßig verteilt und dann sollten es wir es einfacher haben“, koordinierte sie die beiden herum und sie nahmen den Vorschlag widerstandslos an. Doch kaum griffen die beiden jungen Männer an die Couch, um sie zu nehmen, schüttelte Barbara energisch mit dem Kopf.

„Nein, Moment, ihr dürfte die Couch nicht so hochheben, das ist nicht gut für euren Rücken“, sagte sie und ging in die Hocke.

„Macht es am besten so, dann könnt ihr beim Aufstehen die Couch anheben und es ist auch weniger belastend für die Rückenmuskulatur.“

Die beiden jungen Männer sahen sich an, und taten es ihr dann gleich. Kaum waren sie wie Barbara in Position, zählte diese bis drei. Mit einem gewaltigen Ruck erhoben sich alle drei und trugen die Couch aus dem Transporter heraus, erst die schräge Ladefläche herunter und dann ins Haus hinein. Kaum waren sie im Inneren des Gebäudes, trugen sie die Couch noch ein kleines Stück, bevor sie es in einem Raum mit der gleichen, rückenschonenden Bewegung wieder absetzten. Barbara vermutete, dass es sich bei dem halbleeren Raum um das zukünftige Wohnzimmer handeln musste. Erleichtert atmeten alle drei auf, bevor sich die jungen Männer dankbar an Barbara wandten.

„Danke dir, das war echt sehr hilfreich von dir. Ohne dich hätten wir das gar nicht geschafft“, sagte einer der beiden.

„Darf ich fragen, wie du heißt?“

„Ach, das ist doch selbstverständlich, in einer kleinen Gemeinde wie dieser helfen sich alle Bewohner gegenseitig, wo sie nur können. Mein Name ist Barbara und ihr seid…?“, fragte sie zurück.

„Ich bin John und das ist Mike“, beantwortete John ihre Frage und deutete auf seinen Freund, der sich gerade den Schweiß von der Stirn wischte.

„Wir hatten eigentlich noch einen Freund namens Tommy, aber als es dann mit dem Umzug richtig ernst wurde, hatte er auf einmal überhaupt keine Zeit mehr. Danke, wir würden wahrscheinlich noch heute Abend in dem Transporter stehen und uns überlegen, wie wir die Couch rausbekommen“, meinte John zu ihr. Mike sah sie dagegen sehr interessiert an.

„Du bist wirklich sehr stark, fast schon so stark wie Tommy, alle Achtung“, sagte er anerkennend. Barbara zuckte mit den Schultern.

„Die Stärke habe ich von meiner Mutter geerbt, sie war, als sie noch lebte, auch ziemlich kräftig, wenn nicht sogar kräftiger als ich. Außerdem arbeite ich in einer Autowerkstatt, da muss ich oft schwere Reifen wechseln und ins Lager tragen, das stärkt die Muskeln auch ungemein“, meinte sie und rieb sich mit der linken Hand über den rechten Oberarm. Sie hoffte, sie hatte nicht zu abgehoben geklungen, doch die beiden jungen Männer schienen nur noch mehr von ihr beeindruckt zu sein. Sie konnte es ihnen an den Augen ablesen, es war das gleiche, warme Funkeln, wie sie es zuvor bei Granny erkannt hatte. Dann wechselten ihre Blicke von Barbaras Gesicht auf ihre Brust und sie wusste genau, worauf die beiden schauten. Wieder biss sich Barbara unsicher auf die Lippe, überlegte, wie sie den beiden ihren Edelstein am besten erklären könnte, doch sie kamen ihr zuvor.

„Oh, das ist das denn, das sieht ja klasse aus!“, sagte Mike und trat ein Stück näher an sie heran. „Ist das so eine Art Schmuck?“

John schüttelte mit dem Kopf.

„Das ist doch ganz eindeutig eine Kette, nur mit einer unsichtbaren Schnur, was denkst du denn?“

„Na, dass es ein Piercing ist, was sollte es denn sonst sein?“, argumentierte Mike. John schüttelte wieder mit dem Kopf.

„Nicht ganz“, begann Barbara zu erklären. „Der Stein ist ein Teil meines Körpers, dank ihm bin ich so stark und auch so groß. Ich habe ihn von meiner Mutter geerbt.“

John und Mike sahen sich an, dann wieder Barbara.

„Das ist ja echt cool, sehr praktisch, auch für deinen Job“, sagte Mike, nicht ohne Stolz.

„Ja, das ist viel cooler als Tommys stundenlange Vorträge übers Pumpen und den richtigen Einsatz von Eiweiß während, vor und nach der Trainingsphase“, fügte John hinzu.

Unsicher sah sie zwischen den beiden hin und her.

„Euch macht das alles also keine Angst? Weder mein Edelstein noch meine Kräfte?“

Die beiden sahen sie für ein paar Sekunden an, dann schüttelten sie mit den Köpfen.

„Nein, warum sollten wir Angst haben? Das ist doch unglaublich“, sagte John und sah Barbara fragend an. Diese blickte zum Boden.

„Weil ich früher Angst hatte. Ich war bereits als Kind viel stärker als die anderen und mir sind oft Dinge kaputt gegangen, weil ich das noch nicht unter Kontrolle hatte. Ich hatte so Angst, dass ich anderen wehtun würde, obwohl ich das gar nicht wollte. Oder dass man mich deswegen ablehnen würde“, sagte sie und berührte ihren Edelstein. Da spürte sie eine Hand auf der Schulter. Barbara sah auf, die Hand gehörte Mike.

„Aber heute scheint doch alles gut zu sein, du hast deine Kräfte anscheinend unter Kontrolle und mit dem Stein siehst du echt ziemlich cool aus. Ist mal eine andere Art von Körperzierde, sieht man doch nicht jeden Tag.“

„Außerdem ist er von deiner Mom und sie scheint dir sehr wichtig zu sein, wenn du den Stein bis heute behalten hast“, schloss sich John der Meinung seines Freunds an.

„Und die roten Flecken auf dem Stein passen perfekt zu den Flecken auf deinem Körper.“

Noch immer unsicher blickte sie an sich herab, auf die Flecken auf ihren Armen.

„Die stören auch nicht?“, fragte sie vorsichtshalber nach. Wieder bekam sie doppeltes Kopfschütteln als Antwort.

„Weißt du, wir kommen aus einer Großstadt, da sieht man wirklich eine Menge Leute. Die einen haben Tattoos überall, andere Sommersprossen und einer unserer besten Freunde hat seit seiner Kindheit überall auf seiner Haut Vitiligo. Der startet nächsten Monat eine Karriere als Model für Badekleidung“, erzählte John und Barbara konnte an der Tonlage erkennen, wie wichtig John dieser beste Freund war.

„Hey, ich will ja nicht unverschämt klingen oder so“, begann Mike das Thema zu wechseln. „Aber hättest du vielleicht noch ein wenig Zeit? Wir haben noch das eine oder andere schwere Möbelstück im Wagen. Tommy hat uns zwar geholfen, die ganzen Sachen von der alten Wohnung in den neuen Wagen zu bekommen, aber den Rest der Geschichte kennst du ja.“

„Ja, das wäre echt klasse, wir könnten deine Hilfe gut gebrauchen. Also nur wenn du Zeit hast und Lust, natürlich. Wäre aber stark, wenn du uns bitte helfen könntest“, fügte John hinzu. Barbara sah zwischen den beiden hin und her, dann verschränkte sie ihre Finger und ließ diese laut aufknacken.

„Gerne doch, dann lasst uns doch keine Zeit verlieren. Holen wir diese Möbel rein, bevor es Abend wird“, sagte sie und die beiden jungen Männer begannen zu grinsen.

„Danke, damit hast du was gut bei uns“, sagte Mike, als sie sich auf den Weg zum Transporter machten.

 

So vergingen die nächsten drei Stunden, in welchen die drei erst einen fast neuen Kühlschrank, dann einen Schrank und anschließend zwei Sportgeräte aus dem Transporter in die neue Wohnung der beiden Männer trugen. Hier und da machten sie eine kurze Pause, tranken zusammen Wasser oder hielten Smalltalk über das eine oder andere Thema. Doch dann war der Transporter bis auf wenige Kisten leer und die Batterien der drei ebenfalls. Zufrieden, mit halbleeren Wasserflaschen in der Hand, betrachteten die drei ihr heutiges Werk.

„Vielen Dank, wie gesagt, du hast bei uns noch was gut“, sagte Mike und hob die Handfläche nach oben. Sofort erwiderte Barbara das Highfive, gefolgt von John, der ihr ebenfalls eins geben wollte.

„Was auch immer es ist, lass es uns wissen und wir helfen dir. Zu 100% und auch vollständig, nicht nur zur Hälfte“, wollte John sie wissen lassen. Barbara lächelte ein wenig.

„Danke, das weiß ich zu schätzen. Und ich habe euch gerne geholfen, die Sachen sind auch alles andere als leicht gewesen, ich an eurer Stelle hätte mich auch über ein wenig Hilfe gefreut.“

Gerade, als Barbara ihre Flasche ansetzte, um einen weiteren Schluck daraus zu nehmen, schien Mike etwas eingefallen zu sein. Er ging zu John, berührte ihn an der Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dieser hörte erst aufmerksam zu, bevor er ebenfalls zurückflüsterte. Dabei sahen sie immer wieder zu Barbara, diese blickte verwirrt zurück. Die beiden flüsterten für ein paar Minuten, dann kamen sie geschlossen zu Barbara zurück.

„Mike hatte gerade eine Idee, also, wie du deine Kräfte für etwas positives einsetzen kannst, ohne dass du Angst haben musst, anderen zu schaden“, fing John zu reden an.

„Oh, und was wäre das?“, fragte Barbara neugierig nach.

„Nun, ich und John hier sind in einer Football-Mannschaft, genauer gesagt haben wir uns, als wir uns hier damals in der Gegend umgesehen hatten, für eine eingetragen. Drüben, in der größeren Stadt“, sagte Mike und deutete mit dem Finger in die Ferne.

„Ja, und da dachten wir uns, hey, vielleicht wäre das ja was für dich? Dort tragen alle Schutzkleidung, jeder dort ein wenig kräftig und es geht zwar ein wenig rau zu, aber am Ende passen wir doch auf, damit alle ihren Spaß an dem Sport haben. Du kennst doch Football, oder?“, fragte John vorsichtig nach. Barbara nickte.

„Ja, ich kenne diese Sportart, hin und wieder schaue ich mit meinem Vater ein Spiel an, aber selbst habe ich es noch nie ausprobiert. Ich habe es auch ehrlich gesagt nie in Erwägung gezogen… meint ihr, es wäre eine gute Idee?“

Wieder legte Mike seine Hand auf Barbaras Schultern.

„Glaub mir, so jemanden wie dich hätten wir gut als Running Back in unserer alten Mannschaft gebrauchen können, oder als Wide Receiver, wenn nicht sogar als Quarterback.“

„Wir haben morgen unser erstes Training dort, wenn du möchtest, kannst du es dir ja gerne mal ansehen. Also nur ansehen, du musst dich ja nicht gleich eintragen. Der Trainer scheint ziemlich in Ordnung zu sein. Ich bin mir sicher, wenn wir mit ihm reden, lässt er dich mindestens zusehen, damit du einen guten Eindruck von der Mannschaft und dem Sport bekommen kannst. Glaub mir, live ist das viel besser. Vielleicht lässt er dich sogar beim Training mitmachen? Wenn es dann nichts für dich sein sollte, wäre das auch in Ordnung, du hättest keinerlei Verpflichtungen. Na, was meinst du?“

Gespannt, wie Barbaras Antwort ausfallen würde, sahen die beiden jungen Männer sie an. Diese blickte dagegen auf den Boden und überlegte. Beobachtete stumm den Boden und ging ihre Optionen durch. Dass sie ihre Kraft nicht nur für die Arbeit, sondern auch für etwas positives wie einen Mannschaftssport benutzen könnte. Sie selbst wäre nie auf diese Idee gekommen und fand sie sehr verlockend. Zumal ihr Vater des Öfteren den Wunsch geäußert hatte, dass er sich für seine Tochter mehr soziale Kontakte wünschen würde, kannte sie doch außer den Kollegen aus der Werkstatt, Granny und vielen vereinzelten Stadtbewohnern niemand anderen mehr. Durch einen gemeinsamen Sport hätte sie zumindest die Möglichkeit, mehr Freunde in ihrem Alter zu finden.

„Es ist eine gemischte Mannschaft, falls du dich gewundert haben solltest. Es sind auch ein paar andere Frauen mit dabei“, fügte John hinzu, dem wie Mike aufgefallen war, dass Barbara mehrere Minuten mit Nachdenken verbracht hatte. Diese atmete tief ein, dann aus.

„Danke für das Angebot, vielleicht kann es ja tatsächlich nicht schaden, wenn ich morgen mitkomme und mir das Ganze mal zumindest ansehe. Von den Regeln des Sports  habe ich bereits gehört und es wäre ein netter Ausgleich zu dem, was ich sonst in einem Alltag mache. Ich hoffe nur, ich bin den anderen gegenüber nicht zu sehr im Vorteil …“

„Da musst du dir keine Gedanken machen, bei dem Sport geht es ja auch ums Köpfchen. Zumindest gleichen wir beide es so im Sport aus, dass wir nicht die Kräftigsten sind. Wobei ich keine Zweifel habe, dass es dir nicht auch an Köpfchen mangelt“, sagte Mike und lächelte zufrieden.

„Aber freut mich, dass du morgen mitkommen möchtest, das wird dir bestimmt gut gefallen. Sag mal“, wollte Mike dann von ihr wissen. „Hast du heute noch was vor? Wenn du Lust hast, könnten wir ja zu dritt noch ein bisschen was unternehmen und uns schon mal gegenseitig näher kennenlernen.“

Barbara überlegte, doch kann kam ihr eine Eingebung und sie schüttelte mit dem Kopf.

„Nein, etwas vor habe ich nicht. Aber dass wir uns kennenlernen, das wäre eine gute Idee und ich weiß auch schon, wo wir das machen könnten. Es gibt da nämlich eine ältere Dame hier im Dorf, die sehr leckeres Essen macht und es gerne mit mir teilt. Ihr Name ist Granny und ich denke, ihr müsst sie auf jeden Fall kennenlernen.“

Mike sah zu John und dieser sah zu Mike zurück. Sie nickten und blickten dann zu Barbara herüber.

„Sehr gerne, dann lass uns diese Granny mal besuchen“, sagte John und begann, zusammen mit Mike Barbara zu dieser unbekannten, freundlichen Frau zu folgen.

Während die drei auf dem Weg waren, begann Barbara ihre Entscheidung zu überdenken. Hatte sie sich zu schnell entschieden? War es eine gute Idee? Innerlich versuchte sie, diese Gedanken abzuschütteln. Ob es richtig war, diesen Weg zu wählen, würde sich erst morgen entscheiden. Und wenn die Reaktionen der Rest der Mannschaft so positiv ausfallen würde, wie es bereits bei John und Mike der Fall war, dann dürfte einem neuen Hobby nichts im Wege stehen. Sie sollte sich nur nicht unterkriegen lassen. Sie musste nur entschlossen genug sein, dann würde es ihr gelingen.

 

Entschlossen beschritt sie am nächsten Morgen ihren Weg mit neuem Tatendrang. All die Jahre hatte sie sich vor ihren Kräften, ja vor sich selbst gefürchtet, aber die gestrigen Ereignisse hatten ihr die Augen geöffnet. Sie wollte diese Fähigkeiten nicht länger als Fluch, sondern von heute an als Gabe betrachten. Nie wieder wollte sie sich selbst leugnen oder vor anderen verstecken müssen. Sie wusste bereits, wohin sie ihr Weg jetzt führen würde.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Dem Bloodstone oder auch Heliotrop wird nachgesagt, dass er u.a. Aggressionen mildern und Mut für Entscheidungen geben kann; und überhaupt eine beruhigende Wirkung haben soll. Komplett anzeigen

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