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Crescent

Deep Red
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Eigentlich wollte ich heute das vorletzte Kapitel von Pale Blue veröffentlichen, entschied mich dann jedoch kurzfristig um, weshalb ihr heute Katsuyas Gedanken weiterverfolgen könnt, bevor es nächsten Monat zum geplanten Finale kommen wird. Das Lied A Lonely Melody, das ich diesmal ausgewählt habe, ist dabei das Einzige in dieser Geschichte welches nicht aus einem Anime oder Videospiel stammt, sondern von Patrik Pietschmann, dessen Darbietungen ich in letzter Zeit doch ganz lieb gewonnen habe. Ich hoffe, dass ihr auch gefallen daran finden werdet und wünsche viel Spaß beim Lesen. Komplett anzeigen

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A Lonely Melody

Der Mittwoch zog langsam vorüber und der nervige Piepton eines Weckers läutete nach einer zermürbenden Nacht den nächsten Morgen ein. Die niederschmetternden Gedanken vom Vortag stimmten den Blonden wenig fröhlich auf den Schulalltag, denn dort würde er wieder auf Kaiba treffen, der sein gedankliches Chaos allein mit seiner Anwesenheit aufrechterhielt. Zudem spürte er auch heute wieder die stechenden Blicke, die sich einige Male in seinen Rücken bohrten und nach einem unauffälligen, prüfenden Blick wie vermutet dem Firmenchef zuzuordnen waren. Normalerweise wäre es ein Grund zur Freude, dass der Brünette ihm seine Aufmerksamkeit schenkte, ohne dass sie zankend aneinander gerieten. Jedoch machte sich in Anbetracht der Umstände und der Tatsache, dass er ihn stillschweigend aus der Ferne zu beobachten schien, ein unangenehmes Gefühl im Blonden breit. Er wusste nicht, wie er dieses Verhalten deuten sollte und beschloss daher, wie bereits zu Beginn der Woche auf Abstand zu gehen. Natürlich dauerte es nicht lange, bis seine Freunde auf ihn zukamen und sich nach dieser Offensichtlichkeit erkundigten.

 

„Jonouchi-kun”, sprach Yuugi seinen Freund in der Pausenzeit an, während die anderen ebenfalls herantraten. „Sag mal, kann es sein, dass du dich mit Kaiba-kun gestritten hast? Also nicht so wie sonst, sondern halt so richtig. Du weißt schon…”, versuchte der König der Spiele sich verständlich auszudrücken, als Anzu direkt das Wort ergriff: „Was Yuugi damit sagen will ist, dass irgendwas mit dir nicht stimmt und wir einfach wissen wollen, ob alles in Ordnung ist.”

„Leute, ist das euer Ernst? Was sollte denn mit mir nicht stimmen?“, reagierte der Angesprochene überrascht und legte das bekannte Lächeln auf.

„Naja, du bist in letzter Zeit so abwesend und siehst irgendwie ein bisschen niedergeschlagen aus“, brachte Yuugi wiederum seine Bedenken an.

 

„Das kommt nur davon, weil ich bereits ernsthaft meine Karriere als herausragender Meister-Duellant plane“, log der Blonde daraufhin und reckte siegessicher die Nase in die Höhe, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. „Streiten verbraucht ne ganze Menge Energie. Freut euch doch, dass es mal etwas ruhiger in unserer Klasse ist! Ist doch ne tolle Sache!“

„Ja, vielleicht. Aber geht es dir auch wirklich gut?“, hakte Yuugi noch einmal mit seinem Kulleraugenblick nach, den er immer dann aufsetzte, wenn er um seine Freunde besorgt war.

„Es ist alles gut, okay?“, versicherte der Blondschopf mit seinem stets unbekümmert wirkenden Lächeln, um auch die letzten Zweifel zu zerstreuen. „Apropos. Sag mal Honda, hast du schon das neue Videospiel im Game Center gesehen?“, lenkte er das Interesse der Freude auf ein anderes Thema und somit erfolgreich von der lästigen Fragerei nach Kaiba ab. Er machte sich selbst schon genug Gedanken um den Firmenchef seines Interesses und seine Freunde konnten ihm ohnehin nicht dabei helfen. 

 

Also tat er die Sache wie immer einfach mit einem wohlwollenden Lächeln ab. Dass Yuugi noch einige Zweifel daran hegte, ob es Jonouchi, wie er selbst gesagt hatte, auch wirklich gut ginge, konnte er wiederum nicht vermeiden. Jedoch musste es der Kleinste in der Runde, wie alle anderen auch, wohl akzeptieren, wenn sein bester Freund ihm nicht den Grund seines doch eher ungewöhnlichen Verhaltens verriet. Wie sollte er ihm auch klar machen, dass er sich in Kaiba verguckt hatte und das schon vor geraumer Zeit? Nicht einmal Shizuka hatte er davon erzählt und das sollte auch bestenfalls so bleiben. Irgendwann hätte er diese Sache sicherlich überwunden, auch wenn er es sich in diesem Moment noch nicht vorstellen konnte. 

 

Natürlich machte auch Kaiba seinerseits keinerlei Anstalten, diese plötzlich entstandene Distanz in irgendeiner Form zu verringern. Sicher war er sogar froh darüber, dass Jonouchi ihm nicht mehr ständig auf die Nerven ging. Außerdem hatte der Blonde den anderen streng genommen sogar belogen und sich als jemand anderes ausgegeben, der er nicht war. Vermutlich hatte er es verdient, dafür bestraft zu werden. Doch Fortuna urteilte wahrlich grausam über ihre Günstlinge. Mit guter Miene zum bösen Spiel beteiligte sich Katsuya wieder am Gespräch der Freunde und versuchte so, die unliebsamen Gedanken zumindest für den Moment aus seinem Kopf zu verbannen. Dass ihm dies nicht gänzlich gelang, war leider das unschöne Ergebnis der letzten Tage, an denen er den Brünetten täglich in der Schule sah und ihn offenkundig mied, so gut er es eben vermochte. 

 

Inzwischen war es wieder Samstag geworden und die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Zu Hause hielt es Jonouchi aufgrund der anhaltenden inneren Unruhe nicht lange aus, sodass er an diesem Tag etwas früher als gewohnt zu seinem abendlichen Arbeitsplatz ging. Im besten Fall konnte er so die noch verbleibende Zeit bis zur Öffnung des Lokals nutzen, um auf dem hauseigenen Piano ein Lied zu spielen und sich für einen kurzen Moment in den Klängen der Töne zu verlieren. Allerdings half auch dieses altbewährte Mittel inzwischen nur noch bedingt, um sich von der Realität abzulenken. Als er schließlich am Crescent ankam, traf er an der Hintertür direkt auf Trader Vic, der mit seinen Besorgungen des Tages, einem Macallan Whiskey sowie einem Glenmorangie, im Arm gerade den Schlüssel ins Schloss steckte und aufsperren wollte, als er den jungen Mann bemerkte.

 

„Guten Abend, Jonouchi-kun. Du bist heute aber früh dran. Normalerweise beginnt deine Schicht doch erst in gut einer Stunde“, sagte er in einem leicht verwunderten Tonfall, nachdem er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte.

„Ja, stimmt”, sagte der Blonde daraufhin etwas verlegen, nachdem er seinen Chef ordnungsgemäß begrüßt hatte, und betrat gemeinsam mit dem Barbesitzer das Gebäude. „Ich hatte etwas Zeit übrig und bin irgendwie automatisch gleich hierher gekommen. Außerdem hatte ich gehofft, dass ich vielleicht, also wenn niemand was dagegen hat, ein wenig Klavier spielen könnte, solang die Bar noch geschlossen ist“, sprach er seine ungeordneten Gedanken wortwörtlich aus. 

„Nun, du weißt, dass wir deinem Pianospiel immer gern beiwohnen. Auch die Gäste vom letzten Wochenende waren sehr beeindruckt von deinem Können. Ich habe sogar einige Anfragen erhalten, wer denn dieser unbekannte Pianist gewesen sei und wann er wieder auftreten würde.“ Mit einem Schmunzeln im Gesicht sah er zu Katsuya, während dieser verlegen über das unerwartete Lob drein schaute. 

 

„Übrigens, das Paket, das noch immer im Büro liegt. Hast du dir nochmal Gedanken darüber gemacht, wer dir das geschickt haben könnte?“, fragte er seinen Angestellten mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. Jonouchi hatte zwar darüber nachgedacht, kam jedoch zu keinem sinnvollen Ergebnis in dieser Sache und verneinte die Frage des Barchefs mit einem Kopfschütteln. Trader Vic hatte wiederum einen einschlägigen Verdacht, der sich zwischenzeitlich sogar bestätigt hatte. Doch offenbar wusste der Blonde noch nicht, wer sein Gönner war. Also behielt er dieses Geheimnis vorerst für sich. 

„Ich habe noch ein wenig Büroarbeit zu erledigen, ehe die Bar öffnet. Sei so gut und nimm diese beiden Flaschen mit zum Tresen, bevor du dich an das Piano setzt“, sagte er und übergab Jonouchi die hochprozentigen Spirituosen, die er von seinem Einkauf mitgebracht hatte. Natürlich nahm Katsuya sie entgegen und begab sich postwendend in die Lounge, um seinem geliebten Hobby nachzugehen. Den Whiskey stellte er wie gewünscht auf der Theke ab und setzte sich sogleich ans Piano, um zu spielen.

 

Helle Töne erklangen im Raum, während sich die Augen des blonden Pianisten schlossen und er für diesen winzigen, flüchtigen Moment alles um sich herum vergessen wollte. Doch so sehr er es auch versuchte, es schien ein fruchtloses Unterfangen zu bleiben. Denn die negativen Gedanken, die ihn über die letzte Woche begleitet hatten, bissen sich regelrecht fest und nagten unaufhörlich an ihm. Die letzten Tage waren so schleppend langsam vergangen und doch war es wieder Samstag geworden. Bald würde er mit großer Sicherheit wieder auf diesen einen Menschen treffen, der seine Gefühlswelt immer wieder durcheinander brachte und sein innerliches Chaos nur noch mehr bestärkte. Es waren Empfindungen, die mit Leichtigkeit alles andere von einen Augenblick auf den nächsten zu verdrängen schienen. Etwas Essenzielles, das in diesem Alter nicht einmal unüblich war, gerade dann, wenn es um romantische Gefühle und die damit verbundene erste große Liebe ging. 

 

Katsuya trug dieses Geheimnis schon so lange mit sich herum und konnte es sich nicht von der Seele reden, geschweige denn dem Brünetten gestehen. Einzig dem Piano konnte er sich anvertrauen, ohne dass er sich dafür rechtfertigen oder eine unliebsame Konsequenz fürchten musste. Immerhin schien der Firmenchef sein erklärter Rivale zu sein und keiner seiner Freunde würde ihn verstehen können. Er und Kaiba besaßen ja noch nicht einmal so etwas wie eine auch nur im entferntesten Sinne angedeutete freundschaftliche Basis miteinander, die den Blonden in irgendeiner Weise nützen würde. Doch auch das würde die Sache nicht einfacher zwischen ihnen machen. Denn sie würden sich auch mit einer etwaigen kameradschaftlichen Verbindung niemals näher kommen, als bis zu der kunstvoll verzierten Maske, mit der er sich feige tarnte und als jemand anderes ausgab. Sobald sie jedoch fiele, war die Maskerade und alles damit Verbundene ebenfalls endgültig vorbei. Wieso war das, was unerreichbar erschien, stets am schmerzlichsten zu ertragen? Immer wieder drängten sich ihm die unliebsamen Gedanken zu dieser aussichtslos wirkenden Situation mit Kaiba auf und ließen ihn keinen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation finden. 

 

Letztendlich musste er sich der traurigen Wahrheit stellen und die bittere Pille schlucken, dass er niemals Zacks Platz, den er selbst geschaffen hatte, einnehmen könnte. Und wenn er schon keine Wahl hatte, wieso sollte er dann nicht einfach so weitermachen wie bisher? Es war vorher doch auch kein Problem gewesen, die Distanz zu wahren und sich nur im Streitgespräch anzunähern. Diese unveränderlichen Gegebenheiten hinzunehmen, wie sie eben waren, und sich einzureden, dass es sowieso keine Aussicht auf Veränderungen geben würde. Also beschloss er, dieses Geheimnis weiterhin für sich zu behalten und wieder zu den altbekannten Gewohnheiten zurückzukehren. Die missliebigen Gefühle schob er beiseite, schloss sie tief in seinen Gedanken ein und wollte die kurzen Momente an den Samstagabenden weiterhin genießen, bevor ihn die Realität bereits am darauffolgenden Montag wieder einholte und sich die insgeheim gehegten Hoffnungen erneut als unerfüllbare Traumvorstellungen entpuppten. 

 

Er beendete sein ruhiges Spiel, welches eine bittersüße, resignierende Note innehatte und nahm einen tiefen Atemzug, bevor er sich schließlich von seinem Lieblingsplatz im Crescent erhob, um es seinen Kollegen gleichzutun und die üblichen Vorbereitungen zur Eröffnung der Bar zu treffen.

 

„Was höre ich da für einen ausgedehnten Seufzer von unserem Küken?“, drang die bekannte Stimme von Dante an sein Ohr, der hinter der Theke hervortrat und den jungen Mann am Klavier begrüßte.

„Sagen wir einfach, es war eine anstrengende Woche“, antwortete der Angesprochene mit einem schiefen Grinsen im Gesicht und grüßte freundlich zurück.

„Soso, eine anstrengende Woche also. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt auf einen klassischen Fall von Liebeskummer tippen“, sprach er seine Gedanken direkt aus und traf zu Jonouchis Verlegenheit damit vollkommen ins Schwarze.

„Woher…?“, setzte der Jüngere daraufhin an und erhielt ein wissendes Grinsen als Antwort. War es denn wirklich so offensichtlich, was in ihm vorging?

 

„Ganz einfach. Ich war auch mal in deinem Alter und kann mich noch gut an die Dinge erinnern, die mich damals mehr als alles andere beschäftigt haben. Gerade zu Schulzeiten habe ich nicht selten ähnlich reagiert wie du gerade. Ich kann dir jedoch sagen, dass das rückblickend meist völlig überzogen war und du das in deinem späteren Leben wesentlich entspannter sehen wirst als heute“, gab er aufmunternd seine Erfahrungswerte weiter und vermutlich hatte er mit seinen Ausführungen sogar recht. 

Doch soweit war der Blonde mit seinem innerlichen Martyrium noch nicht gekommen, um das auch erkennen zu können. Immerhin brach gerade im Hintergrund seine kleine, schon immer recht zerrüttete Welt auseinander, sollte seine Freizeitaktivität an den Samstagabenden zu Kaiba durchdringen inklusive der Tatsache, dass sein Tun einige Leute nebst ihm selbst in Schwierigkeiten bringen würde. Dennoch bedankte er sich für die wohlwollenden Worte bei seinem Kollegen und verschwand mit einem trübseligen Ausdruck in den Augen in die hinteren Räumlichkeiten, die nur dem Personal vorbehalten waren, um sich umzukleiden und pünktlich mit seiner Arbeit zu beginnen. 

 

Nachdem er sein bekanntes Kellneroutfit angelegt hatte, fiel ihm wieder dieser flache Karton ins Auge, in dem sich der noch immer sorgfältig verpackte Frack befand, der ihm wie auf den Leib geschneidert war. Einige Augenblicke fixierte er die dunkle Verpackung mit seinen Blicken, als wolle er durch sie hindurchsehen, um erkennen zu können, von wem er die Kleidungsstücke erhalten hatte. Wer machte sich solche Mühe, ohne zu wissen, ob es Zack jemals tragen würde? Gab es denn gar keine Hinweise auf seinen Gönner? Vielleicht war es eine charmante junge Dame, die ihm etwas Gutes tun wollte? Seine Gedanken schweiften direkt wieder zu der dunkelhaarigen Schönheit, die er bei ihrem ersten Zusammentreffen völlig falsch eingeschätzt hatte. Wäre sie es gewesen, hätte sie sich jedoch mit Sicherheit zu erkennen gegeben. 

 

Sogleich wanderten seine Gedanken weiter und blieben wie so oft in letzter Zeit erneut bei dem Firmenchef hängen, an den er bereits vor geraumer Zeit sein Herz verloren hatte. Wieso konnte dieser ignorante Kerl es nicht einfach finden und seine Zuneigung erwidern? Doch so etwas geschah nur in fabelhaften Märchen und schnulzigen Liebesgeschichten, in denen sie beide wohl niemals mitspielen würden. Ein Paar, das durch alle Widrigkeiten gehen musste, um zum Schluss zu erkennen, dass es die wahre Liebe war. Hollywood war wahrlich unrealistisch, was derlei Illusionsproduktionen betraf. 

Katsuya rollte mit den Augen, als er bemerkte, dass er sich genau solch ein Happy End wünschte und musste sich ironischerweise kurz selbst für diese Fantasterei belächeln. Natürlich waren diese Hollywoodstreifen nur die unwirkliche Fantasie eines Autors, der sich die Wahrheit mit Hilfe der Traumfabriken ausschmücken wollte, um die verträumten Menschenmassen zu begeistern. Dessen war er sich durchaus bewusst. 

 

Also schob er den Karton sowie seine missmutige Gedankenwelt beiseite, richtete sein Kellneroutfit und versteckte sein Gesicht zusammen mit seinen Gefühlen erneut hinter der kunstvoll verzierten Maske, um sich der bitteren Wahrheit zu entziehen. Wenig später betrat er, geschützt in seiner Verkleidung, wieder die Lounge, die in wenigen Momenten ihre Pforten für die Gäste öffnen würde. Etwas zerknirscht bemühte er sich, ein Lächeln aufzusetzen, das im ersten Moment nicht recht sitzen wollte, und sah, wie Ada die Tür des Lokals öffnete. Er selbst begab sich wieder zurück zur Theke, auf der er die von Trader Vic anvertrauten Spirituosen abgestellt hatte, während die ersten Gäste das Lokal betraten. An der Bar angekommen, traf er erneut auf seinen Kollegen und Barkeeper Dante, der die hochprozentigen Getränke bereits in Augenschein genommen hatte. 

 

„Unser Chef hat offenbar wieder neue Errungenschaften von der gestrigen Messe mitgebracht“, gab er seine Erkenntnis an den Jüngeren weiter. „Dort oben sind noch freie Plätze. Stell sie am besten einfach neben den El Dorado Rum, den er kürzlich mitgebracht hat.“ Mit einem Fingerzeig deutete er in das verspiegelte Regal hinter ihnen und überließ Zack das Einräumen der edlen Whiskys. Dieser nahm sich eine Klapptrittleiter zu Hilfe und begann, die Flaschen sorgsam zu verstauen. Als er wieder hinabgestiegen war und sein Hilfsmittel an seinen dafür vorgesehenen Ort zurückgestellt hatte, wandte er sich zu Dante, um ihm unterstützend zur Hand zu gehen. Dieser betrachtete den Blonden für einen Moment etwas argwöhnisch und schien zu überlegen. 

 

„Was ist?“, fragte der Jüngere irritiert. „Hab ich was im Gesicht?“ Doch die Antwort seines älteren Kollegen verwirrte ihn nur noch mehr, als dieser folgendes antwortete: „Im Gegenteil, es fehlt etwas. Ich gebe zu, dass ich mich bereits daran gewöhnt habe, sodass es mir jetzt fast ungewohnt erscheint. Du trägst heute deine Kontaktlinsen gar nicht“, sprach er seine Gedanken aus und bemerkte, wie Zack plötzlich erstarrte und ihn mit großen Augen ansah. Dantes Aussage schien ihn zu schockieren, sodass er sich im nächsten Moment mit einem „Verdammt!“ auf den Lippen umwandte und schnellstmöglich den Weg zu den Örtlichkeiten des Lokals antrat. 

 

Natürlich war es keineswegs seine Absicht gewesen, dass er die grünen Linsen nicht eingesetzt hatte. Vielmehr beschäftigten ihn so viele Dinge gleichzeitig, nachdem er sich umgekleidet hatte, dass er sie lediglich in seiner Hosentasche verstaut hatte, sie dann jedoch aufgrund der Grübelei um das Päckchen mit dem Frack schlichtweg vergessen hatte. Unruhig fasste er in seine Seitentasche und zog das kleine Plastikgefäß, in dem er seine Kontaktlinsen aufbewahrte, hervor. Seit Kaiba diese Bar regelmäßig besuchte, trug er sie jeden Abend, um unerkannt seinem Schwarm näherkommen zu können, und ausgerechnet dann, wenn er sein Geheimnis unbedingt bewahren wollte, passierte ihm solch ein Fauxpas. Zum Glück hatte er seinen stets aufmerksamen Barkeeper des Vertrauens an seiner Seite, der ihn auf dieses Versäumnis direkt hingewiesen hatte. 

 

Mit schnellen Handgriffen legte er seine schützende Maske ab und öffnete den ersten Behälter, um die Linse zu entnehmen. Dadurch, dass er sie bereits mehrere Wochen, inzwischen sogar Monate benutzt hatte, war er recht geübt, was das Einsetzen anbelangte, sodass er nur knapp eine Minute später sein rechtes Auge von dem bekannten Honigbraun in einen moosgrünen Ton färbte. Kurz atmete er tief ein und versuchte, seinen in die Höhe getriebenen Puls wieder etwas zu beruhigen, als er die zweite Linse aus der Flüssigkeit heraus fischte. Es war alles gut. Er hatte noch genug Zeit. Kaiba war zudem nie direkt nach Öffnung des Lokals vor Ort gewesen, dafür arbeitete er einfach zu lang an den Wochenenden und hatte vermutlich sowieso noch anderweitige Verpflichtungen mit potentiellen Kunden oder Firmen. 

 

Der Blonde platzierte die Linse auf seinem Zeigefinger und versuchte, sie mit unruhiger Hand in sein linkes Auge einzusetzen, was jedoch wie auch auf der rechten Seite nicht auf Anhieb klappen wollte. Nach ein paar weiteren Versuchen rutschte sie ihm schlussendlich noch vom Finger und fiel auf den dunklen Fliesenboden. Sofort beugte er sich nach unten und versuchte, das verloren gegangene Objekt schnellstmöglich wiederzufinden. Durch die dunklen Fliesen war die kleine Sehhilfe jedoch nicht gleich auszumachen, sodass der Blonde sich kurzerhand auf den Boden knien musste, um besser sehen zu können. Erleichterung machte sich breit, als er die grün schimmernde Linse erspähte und im Begriff war, die Hand danach auszustrecken. Im selben Moment öffnete sich unverhofft die Tür zu den Räumlichkeiten, sodass der junge Kellner plötzlich erschrak. Er senkte seinen Kopf daraufhin noch etwas weiter nach unten, ohne genau gesehen zu haben, wer eingetreten war. 

 

Als die Person jedoch direkt darauf zu sprechen begann, blieb Jonouchi beinahe das Herz stehen. Und als wären es noch nicht genug von Fortunas Schikanen, begab sein Gegenüber sich zu ihm nach unten in die Hocke und würde ihm direkt ins Gesicht sehen, wenn der Blonde seinen Kopf nur leicht anheben würde. Natürlich musste es der brünette Firmenchef sein, der sich gerade direkt vor ihm befand und ihm mit einem hörbaren Unterton in der Stimme seine Hilfe anbot. Im Affekt hob Katsuya schützend seine Hand und versteckte damit seine honigbraune Iris, die noch nicht von der moosgrünen Linse verdeckt wurde. Sein Puls schien in ungeahnte Höhen zu schießen und würfelten seine Gedanken wild durcheinander. Doch es konnte immer noch alles gut werden. Er musste sich nur beruhigen und einigermaßen vernünftig antworten, sodass er den anderen im besten Fall abwimmeln konnte. Seine Maske konnte ihn dieses Mal nicht schützen, ebenso wie die verloren gegangene Kontaktlinse. 

 

Also erklärte er kurz in einer etwas abgehackten Sprechweise die tatsächliche vorherrschende Problematik der verlorenen Sehhilfe und versicherte dem Brünetten, dass er keine Unterstützung von ihm benötige. Doch der Firmenchef ließ sich gewohnheitsgemäß nicht so leicht abwimmeln und reagierte unerwartet auf Jonouchis Ablehnung: „Wie immer um keine Ausrede verlegen.“ Diese Äußerung jagte dem Blonden einen deutlichen Schauer über den Rücken und ließ ihn in seinem Tun erneut erstarren. Dennoch wollte er den mehr als offenkundigen Verdacht zerstreuen und antwortete gespielt unwissend, dass er nicht wüsste, wovon der Firmenchef sprach. Doch die nachfolgende Äußerung des Älteren ließ auch das letzte Bisschen Hoffnung in ihm restlos ersterben: „Ich denke, das weißt du sehr wohl, Bonkotsu.“ 

 

Jonouchi hob bei dieser eindeutigen Bezeichnung, die der Firmenchef ausschließlich für ihn verwendete, schlagartig den Kopf und blickte auf die ausgestreckte Hand des Brünetten direkt vor ihm, in der seine verlorengegangene, farbige Kontaktlinse lag. Kaiba hatte ihn also doch bereits vollkommen durchschaut und der Blonde wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Alles, was er so vehement versucht hatte zu verhindern, würde nun eintreten und all seine Bemühungen waren letztendlich umsonst gewesen. Jonouchi war sich sicher, dass diese Offenbarung den schlechtestmöglichen Ausgang nehmen würde. Den unumstößlichen Beweis fand Kaiba schließlich, als er in einer fließenden Bewegung die Hand des Blonden nahm und das enthüllte, was dieser so entschieden zu verstecken versuchte. 

 

„Du bist es also tatsächlich…”, bestätigte er die aufgedeckte Lüge und brachte damit Jonouchis mühsam aufgebautes Kartenhaus langsam zum Einsturz. Dessen Blick schweifte zu den wunderbar blauen Augen des Firmenchefs, die ihn durchdringend ansahen und mit stummen Fragen zu löchern schienen. Ohne dass er auch nur einen Muskel bewegen oder einen klaren Gedanken fassen konnte, starrte er ihn unverhohlen an und versank in den dunklen Tiefen ohne Aussicht auf Rettung.
 

 

To Be Continued…

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  mor
2024-01-17T16:21:39+00:00 17.01.2024 17:21
wieso ist Jonouchi nicht in den Personalraum zurückgegangen und Tort seine Kontaktlinsen anzuziehen?
Antwort von:  Tiaiel
17.01.2024 20:07
Der Weg zu den Toiletten war einfach kürzer, der Behälter mit den Linsen war in seiner Tasche und manchmal trifft man eben Entscheidungen, die so nicht die besten waren. ^^ Jonouchi ist ja schon immer ein kleiner Glücksspieler gewesen und tatsächlich bekommt man die Linsen, wenn man etwas versiert ist auch schnell rein. (eigene Erfahrungswerte von mehreren Jahren Halloweenkostümierung^^) Außerdem hätte Seto ihn so oder so damit konfrontiert. Es wäre also nur eine Frage der Zeit gewesen, wann er es an diesem Tag getan hätte. Er konnte seinem Schicksal also nicht entgehen. Lieben Dank für deinen Kommi, liebe mor ^^/)


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