Zum Inhalt der Seite

Neuanfang

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Neuanfang
 

Seufzend fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare und starrte auf den Bildschirm. Mittlerweile kannte ich die Zeilen schon in- und auswendig, so oft hatte ich sie gelesen. Ich wusste genau, was ich dort vor Monaten geschrieben hatte und ich stand auch heute nach wie vor hinter jedem einzelnen Wort. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass es in meinem Herz leicht zwickte. Immer noch nach der ganzen Zeit. Mein Kiefer spannte sich an, während meine Augen abermals über die Seite huschten.
 

„Ich habe schon oft gehört und auch selbst gesagt, dass Bandkollegen wie eine Familie sind. Das stimmt. [...] Eigentlich mag ich die Bezeichnung ‚bester Freund‘ nicht, weil es sich anfühlt, als hätten meine Freunde und Kollegen eine Rangfolge bei mir. Aber ich denke, es ist okay, ihn meinen besten Freund zu nennen.“
 

Mühsam schluckte ich den Kloß in meinem Hals herunter und lehnte mich im Stuhl zurück.

Oh Mann, ich wusste, dass ich gut mit Worten umgehen konnte, auch wenn mir des Öfteren vorgeworfen wurde, mich im Alltag durchaus wie ein emotionales Trampeltier zu benehmen. Aber was Texte anging, war ich nun mal gut und dieses Mal hatte ich es sogar geschafft, mich selbst in rührselige Stimmung zu versetzen. Mist!

Kurz überflog ich die Zeilen meiner Bandkollegen und blieb schlussendlich an Miyas kurzem Statement hängen. Ein kleines Schmunzeln zupfte an meinen Mundwinkeln. Ganz der Leader oder besser: ganz Miya, wie er leibt und lebte. Entweder er schwieg und behielt sein Pokerface bei oder er redete wie ein Wasserfall – man mochte es kaum zu glauben.

An diesem Dezembertag hatte er sich aber definitiv für Ersteres entschieden, jedenfalls was sein Statement anging. Am liebsten hätte ich ihn damals geschüttelt, um noch weitere Zeilen aus ihm herauszubekommen, aber er hatte mich nur ungerührt angesehen und gemeint, mein Text würde locker für uns alle reichen und Yukkes wäre die passende Ergänzung dazu.

Kopfschüttelnd scrollte ich nach oben, warf einen flüchtigen Blick auf die letzten News, ehe ich die Seite schloss und den Laptop zuklappte.

Abermals seufzte ich. Ohne das helle Licht des Bildschirms war es mit einem Mal unangenehm düster im Raum. Die ersten Strahlen der Sonne schafften es noch nicht, sich an den Nachbarhäusern vorbeizumogeln, nur die Vögel waren schon tatkräftig dabei, den Morgen zu begrüßen. Doch dafür hatte ich gerade keinen wirklichen Sinn. Mein Kopf fühlte sich ungewohnt voll an, meine Augen brannten, weshalb ich sie für einen Moment schließen musste. Obendrein wollte das drückende Gefühl in meiner Brust, das mich die halbe Nacht wach gehalten hatte, einfach nicht verschwinden.
 

Jetzt waren es schon vier Monate. Nein, falsch. Eigentlich war es fast auf den Tag genau vor einem Jahr gewesen, als Satochi uns das erste Mal von seinem Vorhaben, aus der Band auszusteigen, erzählt hatte. Vielleicht war ich deshalb so aufgekratzt, da sich diese Woche der Moment jährte, der meine kleine Musikerwelt derart durcheinander gewirbelt hatte. Ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz ein paar Kilo zunahm und sich unangenehm schwer anfühlte, als ich daran zurückdachte.

Ach Sato…

Ich war irgendwie nicht wirklich überrascht oder gar geschockt gewesen. Während Yukke wohl zunächst gedacht hatte, Sato wollte uns verarschen, hatte ich sofort geahnt, dass dem nicht so war. Sein mattes Lächeln und der entschuldigende Blick, als er vor uns saß und uns die Botschaft überbrachte, hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt. Er log nicht. Er verarschte uns nicht, sondern meinte es bitterernst.
 

‚MUCC ist eine Band, die sich immer weiterentwickelt. Ich kann da einfach nicht mehr mithalten.‘
 

Warum Sato? Warum hast du nicht früher etwas gesagt?

Ich verstand es nicht, hatte mehrere Male versucht, ihn davon zu überzeugen, dass dem nicht so war, dass die Live-Auftritte das Gegenteil bezeugen, doch er war bei seiner Entscheidung geblieben.
 

‚Tatsuro, es ist einfach so. Ihr alle werdet immer besser, entwickelt euch weiter und ich kann das nicht. Ich halte euch dabei bloß auf. Glaub mir, es ist besser so.‘
 

Ich hatte nicht sauer auf ihn sein können. Enttäuscht ja, weil er nie etwas gesagt hatte. Weil er geschwiegen hatte, als er sich nicht mehr im Stande sah, seinen Beruf mit Freude und Leidenschaft auszuführen und weil er erst mit uns gesprochen hatte, als er sich gedanklich schon verabschiedet hatte. Wir waren nicht nur Kollegen, sondern auch Freunde, weshalb das Ganze einen umso bittereren Beigeschmack hinterließ. Ich hatte nicht gewollt, dass er litt – das hatten wir alle nie.

Für Yukke waren die ersten Wochen nach Satos Offenbarung hart gewesen. Es hatte vieler Gespräche zwischen ihnen bedurft, um Yukke aus seiner Erstarrung zu befreien. Was Miya anging: vermutlich hatte er es schon eher geahnt als wir Übrigen. Vielleicht war er auch deshalb so streng zu Sato gewesen und die Monate davor zum Sklaventreiber mutiert. Es war im Nachhinein schwer zu sagen, da seine kühle Miene und stoische Gelassenheit selbst an jenem Tag nicht von ihm abgefallen waren. Dennoch wusste ich, er litt und machte sich insgeheim Vorwürfe. Er konnte es nicht abstreiten, denn auch er hatte schwache Momente gehabt, besonders bei den letzten, gemeinsamen Konzerten.

23 Jahren gingen eben nicht spurlos an einem vorbei.
 

Ein leises Knarren holte mich aus meinen wehmütigen Gedanken und das plötzliche Gewicht auf meinem Schoß ließ mich überrascht aufsehen. Ich brauchte einige Sekunden, ehe ich den Weg aus meinen Erinnerungen fand. Leuchtend grüne Augen blinzelte mich träge an und schienen sich kein bisschen daran zu stören, dass sich mein Puls gerade verdoppelt hatte. Mich zu so früher Stunde derart zu erschrecken. Doch anstatt mich lautstark zu beschweren, wie ich es sonst meistens tat, fand meine Hand den Weg in das weiche, gescheckte Fell und das leise Schnurren, das gleich darauf ihren Körper vibrieren ließ, half meinem Puls sich allmählich zu beruhigen.

„Tetochi, kannst du auch so schlecht schlafen wie ich?“

Natürlich bekam ich keine Antwort und erntete nur ein kurzes Blinzeln dafür. Katze müsste man sein. Kein Chaos im Kopf, keine komischen Stimmungen, sondern einfach nur ein entspanntes Leben voll Schlaf, Streicheleinheiten und Dienern, die einem das Leben versüßten und einem das Essen brachten. Aktuell hatte ich das Gefühl, sie versuchte ihren persönlichen Diener mittels Telepathie in die Küche zum Futternapf lotsen, so intensiv wie sie mich ansah.

Schmunzelnd kraulte ich sie zwischen den Ohren, bis sie schließlich das ungleiche Blickduell aufgab und ihre Augen genüsslich schloss. Tetochi, die Zweite ihrer Art, machte definitiv einer divenhaften Katze alle Ehre, aber ich liebte sie, trotz ihrer Launen und ihrer Vorliebe meine Schränke in regelmäßigen Abständen gänzlich auszuräumen. Sie war eben noch jung, auch wenn meine bessere Hälfte das selten als Begründung gelten ließ und lieber fluchend hinterherräumte. Tetochis Vorgänger waren diesbezüglich pflegeleichter gewesen, dennoch konnte ich meiner Prinzessin nur selten ihre Wünsche abschlagen und das wusste sie auszunutzen.

Während ihr Schnurren die Stille des Raumes füllte, wanderte mein Blick zum Fenster, hinter dem es langsam heller wurde. Vereinzelte Sonnenstrahlen zeichneten lange Schatten auf die gegenüberliegenden Häuser, die langen Vorhänge tanzten im lauen Luftzug. Es sah verdächtig nach einem angenehmen Frühlingstag aus.

Eine leichte Berührung auf der Brust holte mich aus meiner Betrachtung, augenblicklich starrte ich in vorwurfsvolle Augen.

Herrje, wie hatte ich ihr nicht genug Aufmerksamkeit schenken können?

Ich versuchte mich an einem entschuldigenden Lächeln, auch wenn ich wusste, dass Tetochi das sicher nicht durchgehen ließ, und strich einige Male nachdrücklich über ihren Rücken, ehe ich mein Gesicht in ihr Fell vergrub. Herrlich weich. Seufzend schloss ich die Augen und genoss die Wärme, die von dem schmalen Katzenkörper ausging.

Hach…

Heute war ich wirklich in seltsamer Stimmung und da hatte der Tag noch nicht einmal richtig angefangen. Ich konnte nur hoffen, dass sich das im Laufe des Tages legen würde. Irgendwie fühlte ich mich leer, dennoch gleichzeitig so unruhig, dass ich nicht mehr hatte schlafen können, obwohl es dringend nötig gewesen wäre. Yukke zog mich bereits wegen meiner Augenringe auf, obwohl sie bei ihm nicht weniger stark waren.
 

Nach einigen Minuten spürte ich, dass es Tetochi zu viel wurde. Sie hatte für ihre Verhältnisse ziemlich lange durchgehalten. Unruhig bewegte sie sich in meinen Armen, so blieb mir nichts anderes übrig, als mich umständlich aufzurichten und sie schließlich freizugeben. Mit einem eleganten Satz landete sie auf dem Boden, schaute mich noch einmal auffordernd an, ehe sie sich durch den schmalen Spalt der Tür zwängte und im Wohnzimmer verschwand.

Ich sah noch einen Moment lang auf die Stelle, wo sie verschwunden war, ehe ich mich seufzend abwandte und meinen Blick wieder auf Wanderschaft schickte. Ich wusste gerade nichts mit mir anzufangen. Am liebsten wäre ich zurück ins Bett gekrochen, doch im Augenblick war ich zu unruhig, im Kopf zu durcheinander, um richtig entspannen zu können. Es war zum Haare raufen. In dieser verwirrenden und sentimentalen Stimmung konnte ich mich selbst am wenigsten leiden. Wenn das so weiterging, würde ich noch irgendeinen Songtext voller Weltschmerz oder wahlweise vollgestopft mit tiefen Gefühlen verfassen, nur um das Ganze irgendwie in Worte fassen zu können und meine Gedanken etwas zu klären.

Ehe ich mir weiter Ideen für mögliche Texte zurechtlegen konnte, blieben meine Augen an etwas auf dem Schreibtisch hängen. Wie gebannt starrte ich auf den unscheinbaren Bildrahmen neben meinem Laptop. Automatisch fingen meine Mundwinkel an zu zucken, als ich danach griff und die Menschen darauf betrachtete. Himmel, war das lange her, mindestens drei Jahre. Erschöpft und verschwitzt grinsten wir blöde in die Kamera. Die Euphorie des Abschlusskonzertes steckte noch in uns und war nicht zu übersehen. Die Welt schien in Ordnung, obwohl ich mittlerweile wusste, dass es damals schon in Sato angefangen hatte zu gären.
 

Die Tür knarrte leise, was ich allerdings nur am Rande registrierte. Zu sehr war ich in der Betrachtung meiner Kollegen und Freunde versunken, weshalb ich auch mehr zu mir selbst als zu Tetochi murmelte: „Komm ja gleich, Prinzessin.“ und mit den Fingerspitzen sanft die Linien des Rahmens nachfuhr. Zwischen den milde lächelnden Staffleuten stachen wir als Band sehr heraus: Sato zog neben mir eine seiner üblichen Grimassen, gleichzeitig brüllte ich irgendetwas Richtung Fotograf – was es gewesen war, wusste ich beim besten Willen nicht mehr. Der erblondete Miya schmunzelte unübersehbar – ein Moment mit Seltenheitswert – und selbst Yukke mit seinem markanten Haarschnitt grinste offen und fröhlich vor sich hin. Genauso selten wie bei Miya, denn meist legte er für Fotos nur sein übliches Mona Lisa Lächeln auf. Umso wertvoller war dieses Bild für mich. Was würde ich dafür geben, die Zeit zurückdrehen zu können?

Ein leises Räuspern ließ mich zusammenfahren.

„Seit wann nennst du mich ‚Prinzessin‘?“

Die Schwere in meiner Brust wurde von einer kleinen Herzattacke zur Seite geschubst. Beinahe hätte ich das kostbare Bild auf den Boden befördert, so plötzlich wie das Original meines kleinen Topfschnittträgers im Türrahmen stand und mich aus kleinen Augen anblinzelte. Hastig legte ich das Foto auf dem Tisch ab.

„Yukke…“

Ich klang ein wenig atemlos, während ich versuchte mein rasendes Herz zu beruhigen. So viele Schreckmomente in so kurzer Zeit konnten nicht gut für die Gesundheit sein.

„Du bist ja schon wach.“

Langsam trat er ein, das Gähnen mehr schlecht als recht versteckend.

„Es war so kalt im Bett.“

Fröstelnd zog er die Schultern hoch und rieb sich mit den Händen über die bloßen Arme.

„Frostbeule…“

Das unwillige Murren quittierte ich mit einem Grinsen und hielt ihm dafür auffordernd die Hand hin, die er sofort ergriff. Mann, was hatte er für kalte Pfoten? Generell sah Yukke aus, als würde er am liebsten sofort wieder ins Bett fallen und ins Traumland verschwinden. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, seine Augenringe waren heute eindeutig tiefer als meine – egal, was er behauptete. Und gerade dieser derangierte Anblick wärmte mich von innen und ließ einen kleinen Mottenschwarm in meinem Bauch aufflattern. Ach, hätte ich nur mein Handy hier, um dieses Bild festzuhalten. Ein verpennter Yukke als Hintergrund machte sich immer gut, auch wenn er das sicher anders sah.

Still vor mich hin grinsend zog ich ihn auf meinen Schoß, was ihm einen überraschten Laut entlockte.

„Ey, Tatsuro.“

„Guten Morgen erstmal.“

Ich hauchte ihm einen kleinen Kuss auf den Mund, bevor ich meine Arme um ihn schlang und meinen Kopf an seiner Schulter vergrub. Die Umarmung kam beinahe einer Umklammerung gleich, aber das störte weder ihn noch mich sonderlich. Während ich seine Nähe und Wärme genoss, spürte ich, wie vorwitzige Finger durch meine langen Haare strichen, mit ihnen spielten. Das leichte Ziepen auf der Kopfhaut ließ mich genießerisch seufzen.

„Wie lang bist du eigentlich schon wach?“

Yukkes von der Nacht raue Stimme brachte mich eine kleine Gänsehaut.

„Weiß nicht. Wie spät ist es denn?“, nuschelte ich in sein Shirt. Er lachte leise.

„Definitiv zu früh jedenfalls.“

Statt darauf einzugehen, löste ich mich von seiner Schulter, um mit den Lippen seinen Hals entlangzufahren und ihm einen flüchtigen Kuss unter das Ohr zu hauchen. Gleichzeitig machten sich meine Hände selbstständig und mogelten sich unter sein Schlafshirt. Ihnen folgte augenblicklich eine Gänsehaut und ein zartes Erschaudern, als ich über seine Seiten strich. Die Finger in meinem Nacken verharrten. Schmunzelnd folgte ich noch einmal seiner Halslinie, ehe ich erneut gegen seine Schulter sank. Ich atmete tief ein, sein Duft stieg mir in die Nase und hatte in diesem Moment so etwas herrlich Beruhigendes an sich, dass ich gar nicht anders konnte, als mich in dieses Gefühl fallen zu lassen. Seine weiche Haut unter meinen Fingerkuppen, sein warmer, mir so vertrauter Körper, der sich eng an mich schmiegte – alles schien in diesem Moment perfekt, wirre Gedanken und seltsame Stimmungen blieben gerade weit entfernt.
 

Nach einer Weile merkte ich, wie Yukke sich leicht verspannte, auch wenn seine Finger abermals auf Wanderschaft gingen.

„Tatsuro, ich würde gern duschen, ich stinke bestimmt.“

Was hatte er denn für Sorgen? Belustigt schnaubend drückte ich meine Nase stärker gegen seinen Hals und atmete übertrieben tief ein.

„Tust du nicht.“ Tat er wirklich nicht. Er roch einfach nach Yukke.

Für einen Moment hielten seine Finger inne und ich dachte schon, ihn überzeugt zu haben, weiter auf meinem Schoß sitzen zu bleiben. Doch gleich darauf wandte er sich erneut unruhig in meiner Umarmung. Hatte ich die Situation nicht vorhin schon einmal erlebt?

Seufzend löste ich mich von seiner Schulter und warf ihm von unten einen schmollenden Blick zu.

„Muss das sein?“

Yukke sah für einige Sekunden wirklich etwas zerknirscht aus.

„Ich wollte doch nur –“

Ich unterbrach seinen Rechtfertigungsversuch, indem ich ihn kurzerhand zu mir zog und seinen Mund mit einem langen Kuss verschloss.

„Nichts mit ‚ich wollte‘“, raunte ich, als wir uns voneinander lösten. „Du weißt doch, ich beschwer mich schon, wenn mir was nicht passt und dein Geruch ist gerade das, was mich am wenigsten stört. Du riechst immer gut.“

Yukke blickte mich einen Moment lang schweigend an, ehe er nun seine Lippen auf meine presste und mir wortwörtlich den Atem raubte.

Himmel…

Erst nach einer kleinen Ewigkeit trennten wir uns, diesmal endgültig, da Yukke von meinem Schoß rutschte. Mit Genugtuung sah ich, dass er sich so wackelig auf den Beinen hielt, wie ich mich fühlte. Mit leicht zusammengekniffenen Augen fing er mein Grinsen auf, es fehlte sicher nicht viel und er hätte mir die Zunge rausgestreckt. Er kannte mich zu gut und wusste, wie sehr mir seine schwachen Momente gefielen und ich sie am liebsten ausnutzte.

„Danke für deine ehrliche Einschätzung meines Körpergeruchs.“

Ich lachte schallend auf und brachte ihn damit ebenfalls zum Grinsen.

„Ich geh jetzt trotzdem duschen.“

Während ich immer noch leise vor mich hin lachte, wandte er sich zur Tür, um seinen Worten Taten folgen zu lassen. Kurz blieb er stehen und warf mir einen vielsagenden Blick zu.

„Du kannst auch sehr gern mitkommen, damit wir danach gemeinsam frühstücken können.“
 

*
 

Murrend starrte ich auf den Fernseher und presste frustriert die Lippen zusammen. Es konnte doch nicht sein, dass ich nun bereits zum dritten Mal infolge an genau derselben Stelle abstürzte. Die Regenbogenpiste war definitiv nicht meine Strecke und wenn mich Mario, Luigi und wie sie alle hießen, ständig abdrängten, konnte das ja auch nicht besser werden.

Blöder Mist!

Übellaunig schmiss ich den Controller hinter mich auf die Couch, ehe ich die Konsole ausschaltete. Mit dem Zocken würde es heute nichts mehr werden.

Ich warf einen kurzen Blick auf den Kratzbaum neben dem Fenster, von wo aus mich Tetochi mit Argusaugen beobachtete. Ihr Schwanz zuckte unruhig.

„Was denn los? Hunger?“

Selbst wenn meine Prinzessin gerade keinen Hunger hätte, was mich sehr verwundern würde, ich hatte ihn definitiv. Es war bereits nach Mittag, wie mir mein Magen mit einem kläglichen Knurren verkündete, und das Frühstück Stunden her.

Ohne auf eine Reaktion zu warten, stand ich umständlich und mit steifen Gliedern vom Boden auf und ging in die Küche. Ich hatte definitiv zu lange auf dem Boden gesessen.

Der Kühlschrank war mir nicht wohlgesonnen, so musste eine Portion Instant-Ramen genügen. Misstrauisch beäugte ich die Packung, die anscheinend seit Jahren in den Tiefen meiner Schränke vor sich hin vegetiert hatte. Gut, Jahre war übertrieben, vermutlich aber seit Yukke bei mir eingezogen war, denn seither hatte ich kaum noch auf Fertigprodukte zurückgegriffen. Für gewöhnlich kochte er unter der Woche oder ich schwang sogar selbst den Kochlöffel. Nur fehlte mir heute die Motivation, irgendetwas Kulinarisches zu zaubern und zum anderen war Yukke direkt nach dem Frühstück ins Studio gefahren. Zu Aufnahmen und um Miya, wie Yukke so schön gesagt hatte, auf die Finger zu schauen oder ihn im besten Fall zurück ins Leben zu holen. Denn wenn unser Leader sich einmal in ein Projekt vertieft hatte, vergaß er gerne mal Schlafen und Essen, wenn ihn keiner daran erinnerte. Und das kam in letzter Zeit häufiger vor.
 

Seufzend ließ ich mich auf einen der Stühle fallen und wartete darauf, dass die Nudeln weich wurden. Dummerweise war das nicht genug Beschäftigung für mein Hirn, um nicht wieder in Gedanken zu versinken. In Yukkes Beisein war die seltsam drückende Stimmung von heute Morgen verschwunden geblieben, selbst als ich ihm davon erzählt hatte. Weshalb ich ihn in seinem ursprünglichen Plan auch bestärkt hatte, Miya Gesellschaft zu leisten, obwohl er zunächst nicht sonderlich überzeugt gewirkt hatte. Das Zocken hatte mich dann weiterhin erfolgreich abgelenkt.

Doch nun war es still, bis auf die Geräusche der Stadt, die durch das gekippte Fenster zu mir hereindrangen. Ich spürte die Stille auf meinen Schultern lasten und augenblicklich kroch jenes drückende Gefühl in mir hoch.

Ich versuchte mich auf das Essen zu konzentrieren, doch allein bei dem Geruch zog sich mein Magen zu.

Ach Mann.

Angeekelt starrte ich in die Schüssel, in der die Nudeln sich selbst aufzulösen schienen.

Heute war nicht mein Tag. Eindeutig nicht.

Mit einem Ruck stand ich auf, ließ alles stehen, und tigerte ins Wohnzimmer zurück, wo Tetochi immer noch unbeweglich auf ihrem Baum lag und jede meiner Bewegungen verfolgte.

Nur konnte ich das gerade nicht ertragen. Mit einem Mal kam mir die Wohnung unnatürlich klein vor, ich musste hier raus.

Vielleicht sollte ich ebenfalls ins Studio fahren? Nein, heute nicht. Wenn Miya einen seiner besonders arbeitswütigen Tage hatte, wollte ich nicht in Gefahr laufen, ihm zu begegnen. Das könnte ich mit meiner aktuellen Stimmung nur schwer ertragen und Yukke wollte ich nicht zwischen den Fronten wissen.

Aber wohin dann?
 

Schnell warf ich mich in Schale, wie immer mit Mütze und Brille, und verließ die Wohnung.

Die Helligkeit und der angenehm frische Wind trafen mich wie ein Schlag. Angewurzelt blieb ich stehen, versuchte mich nicht von den ganzen Eindrücken überschwemmen zu lassen. Die Haustür fiel leise hinter mir ins Schloss. Ich konnte mir nicht erklären, warum mein Herz mit einem Mal so schnell schlug. Mein Blick huschte die Straße entlang, einige Fußgänger liefen vorbei, beachteten mich nicht.

Es dauerte ein paar tiefe Atemzüge lang, bis ich mich wieder im Griff hatte.

Wirklich nicht mein Tag.

Das nervte. Ich wollte mich nicht so fühlen, konnte dieses Gefühl in mir nicht ertragen, das mich derart unruhig machte. Das musste aufhören! Und am wenigsten wollte ich erneut Yukkes besorgte Miene sehen, heute Morgen hatte mir gereicht. Selbst wenn ich versuchte solche Tiefs, so selten sie auch waren, zu verstecken, es gelang mir nie. Ich trug meine Emotionen immer nach außen, ob ich wollte oder nicht.

Aber heute Abend musste ich wieder der Alte sein, ein halber Tag in seltsamer Stimmung reichte.

Mit gestrafften Schultern trat ich auf die Straße.
 

*
 

In unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Wohnkomplex, den ich mein Zuhause nannte, befand sich ein Park. Die meiste Zeit des Jahres war er unscheinbar, sogar recht langweilig, doch aktuell schien er zum Treffpunkt des gesamten Stadtviertels zu werden. Unzählige Leute mit Picknickdecken und Kameras tummelten sich unter den Kirschbäumen, die in ihrem rosafarbenen Kleid selbst der Sonne Konkurrenz machten.

Ich hatte den Frühling schon immer gemocht. Abgesehen von der Natur, die zu neuem Leben erwachte, fühlte es sich jedes Jahr so an, als würde sich etwas ändern, als könnte alles anders und besser werden. Unabhängig davon, ob dem so war.
 

Langsam ging ich an den vielen Grüppchen vorbei, ließ meinen Blick über das Blütenmeer wandern. Die Sakura hatte ihren Höhepunkt noch nicht vollends erreicht, dennoch entkam keiner ihrem Zauber. Ich spürte, wie ich allmählich ruhiger wurde, es zupfte sogar ein kleines Lächeln an meinem Mundwinkel. Ja, es fühlte sich gerade wirklich nach Neubeginn an, in welcher Form auch immer. Wie lange war es her, dass ich mir die Zeit genommen hatte, mich unter einen dieser Bäume zu setzen, mit gutem Essen und wahlweise mit einem Tee oder Bier in der Hand? Zu lange. In den letzten Jahren waren wir meist mit Touren oder Studioaufnahmen beschäftigt gewesen, die Tage waren nur so an uns vorbeigerast. Jetzt bedauerte ich es, dass wir es nicht einmal geschafft hatten, einen Nachmittag auf diese entspannte Weise gemeinsam zu verbringen. Denn plötzlich wirkten solche Momente in weite Ferne gerückt.

Ich hielt einen Moment inne, beobachtete die Grüppchen, wie sie lachend zusammensaßen und für ein paar Stunden dem Alltag entkamen.

Vielleicht sollte ich die anderen in den nächsten Tagen einfach dazu zwingen, hierher zu kommen. Es konnte uns allen nur guttun.
 

Mit einem Mal vibrierte das Handy in meiner Hosentasche.

Stirnrunzelnd starrte ich auf den kurzen Text.

>Morgen 11 Uhr im Studio. Sei pünktlich. Miya<

Was sollte das heißen? Ich war immer pünktlich. Also meistens.

Schnaubend schob ich das Handy zurück. Da hatte jemand sehr gute Laune, wie mir schien. Ich musste ihn demnächst wirklich mal nach draußen entführen, damit er einmal etwas anderes sah als die Arbeit und wenn es nur für zwei oder drei Stunden war.

Kopfschüttelnd lief ich weiter.

Miya, Miya, die Gute Laune Fee persönlich.

Ungewollt drängte sich ein kleines Lachen auf meiner Brust, was mich selbst überraschte. Anscheinend wirkte der Spaziergang gerade wahre Wunder und dabei war ich sonst überhaupt kein Freund davon, besonders nicht alleine. Wenn Yukke hier wäre, wäre es sicher noch besser gewesen. Aber der würde wohl erst heute Abend wieder aus Miyas Fängen entlassen werden.
 

Abermals blieb ich stehen und starrte auf den Baumstamm vor mir, obwohl es dort nichts zu sehen gab. Wenn Yukke nicht da war und Miya arbeitete, dann könnte ich doch bei –

Schnell schüttelte ich den Kopf, um die plötzliche Eingebung zu vertreiben. Nein, so spontan konnte ich nicht bei ihm auftauchen. Das wäre einfach… Nein! Früher hatte ich oft beim ihm auf der Matte gestanden, wenn mir langweilig gewesen war oder mich etwas anderes beschäftigte, doch mittlerweile, besonders während des letzten Jahres, war diese unregelmäßige Tradition fast gänzlich eingeschlafen.

Unsicher kaute ich auf der Unterlippe herum, während ich mit mir rang.

Aber warum eigentlich nicht?

Ehe ich es mir anders überlegen oder gar nicht einen Rückzieher machen konnte, verließ ich zielstrebig den Park. Es war nicht weit.

Mit wachsender Nervosität lief ich durch die engen Straßen des angrenzenden Wohngebiets. Wie oft war ich schon hier entlanggegangen? Sehr oft auf alle Fälle, schließlich wohnten wir nicht einmal zwei Kilometer auseinander.

Doch sollte ich wirklich –? Gerade heute?

Gedanklich gab ich mir eine Kopfnuss und schob alle Zweifel von mir. Natürlich sollte ich! Und besonders heute. Mit einem Mal war ich wütend, wütend auf mich.

Was sollte das ständige Zweifeln? Ich war doch sonst nicht so! War doch egal, welcher Tag heute war. Wir waren seit Jahren Kollegen und befreundet und daran änderte sich nichts so schnell.
 

Das Haus, vor dem ich schließlich stehen blieb, unterschied sich nicht groß von den anderen in dieser Straße. Die helle Fassade war etwas in die Jahre gekommen, aber gepflegt, unzählige Grünpflanzen schmückten den Eingang. Bevor ich erneut ins Grübeln geraten konnte, drückte ich schnell die Klingel, auf der Takayasu stand.

Sekundenlang herrschte Stille, dann erklang hektisches Fußgetrappel von drinnen und die Tür wurde schwungvoll zur Seite geschoben. Das alte Holz ächzte verdächtig.

„Onkel Tatsuro!“

Sofort schlossen sich zwei dünne Ärmchen um meine Beine, nur mit Mühe gelang es mir das Gleichgewicht zu halten.

„Was machst du hier? Du warst so lange nicht mehr bei uns!“

Ich musste lachen, weil mich Yumi mit ihrer stürmischen Art mal wieder völlig über den Haufen rannte. Sanft fuhr ich ihr durch die langen, schwarzen Haare, während sie weiter auf mich einredete und mich dabei ansah, als wäre ich seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Ich bekam beinahe ein schlechtes Gewissen, dabei waren nur einige Monate gewesen. In Kinderaugen eine schiere Ewigkeit. War sie gewachsen?

„Auch wenn es schon eine Weile her ist, lässt du mich trotzdem rein?“

Für einen Moment starrte sie mich von unten herauf an, als würde sie überlegen, ob sie mich als Strafe für meine lange Abwesenheit vor der Tür stehenlassen sollte. Doch ihre Begeisterung siegte.

„Na gut.“ Widerwillig ließ sie mich los und warf mir noch einen prüfenden Blick zu, nur um sicherzugehen, dass ich nicht sofort wieder verschwinden wollte. „Komm rein. Mama ist arbeiten und Papa oben.“

Schneller als ich reagieren konnte, war sie ins Innere verschwunden, mit einem lauten „PAPAAA“ im Gepäck.

Schmunzelnd trat ich mir die Schuhe von den Füßen und folgte ihr ins Haus.

Laute Schritte kamen die Treppe heruntergepoltert und begleitet von einer mir vertrauten Stimme, die mich gleichzeitig lächeln ließ und mir einen sanften Stich ins Herz verpasste.

„Yumi, was ist denn? Wer hat -“

Er brach mitten im Satz ab, als er mich im Eingangsbereich entdeckte. Seine plötzliche Starre hätte mich eigentlich zum Lachen gebracht, doch der unsichere Ausdruck in Satochis Gesicht rief mein schlechtes Gewissen erneut auf den Plan.

Es war wirklich viel zu lange her, dass ich hierhergekommen war, das merkte ich. Es war nicht so, dass wir uns in der Zwischenzeit gar nicht mehr gesehen hatten, schließlich bereitete sich eine Tour nicht von alleine vor und diverse Aufnahmen mussten unter Dach und Fach gebracht werden, bevor er die Musik endgültig an den Nagel hing. Aber irgendwie war es etwas anderes, ob man sich im Studio begegnete oder zu Hause. Viel vertrauter.

„Tatsuro.“

Plötzlich fand ich mich in den nächsten Armen wieder. Ein leises Lachen ließ seinen Körper erbeben, als er mich an sich drückte.

„Was machst du denn hier?“

Ich stimmte in sein Lachen ein.

„Du färbst ziemlich auf deine Tochter ab, weißt du das? Ihr stellt schon dieselben Fragen.“

„Na, das will ich ja auch meinen.“

Grinsend ließ er mich los und trat ein paar Schritte zurück.

„Komm rein, komm rein. Was willst du trinken?“

Schon war er im angrenzenden Wohnzimmer verschwunden. Langsam ging ich ihm nach und sah gerade noch, wie Yumi durch die schmale Hintertür nach draußen in den Garten huschte.

Das schlechte Gewissen nagte an mir, denn Satochis Freude mich hier zu sehen, war beinahe überwältigend. Das hatte ich gar nicht verdient. Um mir nichts anmerken zu lassen, rief ich ihm nach: „Du tust ja gerade so, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen, dabei waren wir letzte Woche erst im Studio, wenn ich dich erinnern darf.“

Sato tauchte im Durchgang zur Küche auf, bereits ein Glas in der Hand. In seinem Gesicht flackerte etwas, am liebsten hätte ich meine unüberlegte Aussage zurückgenommen.

Unsicher sah er mich an, suchte nach den richtigen Worten.

Bevor er etwas sagen konnte, klaute ich ihm das Glas aus der Hand und trat den Rückzug ins Wohnzimmer an.

„Ich nehme übrigens eine Cola, wenn du hast.“

Kurz war es still, dann hörte ich ihn schnauben. Mit Schwung ließ ich mich auf das weiche Sofa fallen, das das Zimmer dominierte und einen schönen Blick in den angrenzenden, kleinen Garten erlaubte.

Oh Mann, seit wann waren wir so leicht zu verunsichern? Die Frage konnte ich mir selbst beantworten: seit einem guten Jahr.

Zwar hatten wir alle nach der schwierigen Anfangsphase versucht zur Normalität zurückzukehren, hatten es auch recht gut hinbekommen, aber dennoch hatte sich etwas verändert. Wir gingen vorsichtiger miteinander um, weniger gelöst.

Also kein Wunder, wenn er sich so über diesen Überraschungsbesuch freute, wenn sich unser Kontakt fast nur noch auf die Arbeit beschränkte.

Das war nicht fair.
 

„Hier.“

Etwas Kaltes berührte kurz meine Wange und ließ mich sichtlich zusammenzucken. Er setzte sich neben mich und drückte mir die Flasche in die Hand, die mir gerade eben noch Frostbeulen im Gesicht verursacht hatte. Sein Lächeln war zurück.

„Also nochmal von vorne: Womit hab ich deine spontane Hausvisite verdient? Willst du schauen, ob aufgeräumt ist?“

„Nö, war nur spazieren und dachte, ich komm mal vorbei.“

Satochis Augenbraue wanderte derart weit nach oben, dass ich lachen musste.

„Ja, okay, vielleicht hatte ich auch nichts Ordentliches zu essen mehr im Hause.“

War doch egal, ob das Sinn ergab und der ganze, nervige Rest, der damit einherging, war gerade sowieso nicht wichtig. Es war einfach schön, sein breites Lächeln zu sehen.

„Hast du ein Glück, dass ich mal wieder zu viel gekocht habe.“

Ehe ich antworten konnte, war er in der Küche verschwunden und ich hörte Geschirr klappern.

Im selben Moment kam Yumi von draußen herein.

„Guck mal, was ich für dich gepflückt habe.“

Strahlend hielt sie mir einen kleinen Strauß Blumen unter die Nase, die verdächtig danach aussahen, als seien sie sehr gewaltsam der Erde entrissen worden. Ich kannte mich mit Blumen nicht sonderlich gut aus – ich war froh, wenn ich Schneeglöckchen und Krokusse unterscheiden konnte – aber ich ahnte bereits, dass das liebevoll gepflegte Blumenbeet hinter dem Haus, eigentlich nicht für solch wild zusammengewürfelte Sträuße angelegt worden war.

„Vielen Dank.“

Schmunzelnd nahm ich ihr den Strauß ab. An einigen Stängeln klebte Erde.

„Sie sind wirklich sehr schön.“

Yumi wirkte reichlich zufrieden, während ich versuchte unauffällig, ein wenig Ordnung in das Blumendurcheinander zu bringen. Ich hoffte, ich brach hier gleich keine kleinen Mädchenherzen, wenn ich ihr einen anderen Vorschlag für den Strauß unterbreitete.

Vertrauensvoll beugte ich mich zu ihr, als würde ich ihr ein Geheimnis verraten.

„Weißt du was?“, flüsterte ich ihr über die Geräusche aus der Küche hinweg zu. „Ich denke, der Strauß ist hier viel besser aufgehoben. Pflanzen und ich sind nicht unbedingt die besten Freunde und bis ich zu Hause bin, sind sie bestimmt verwelkt.“

Auf ihren enttäuschten Blick fügte ich hinzu: „Deine Mama freut sich aber bestimmt darüber.“

Sofort war das Strahlen zurück.

„Hast recht, Mama freut sich sicher, sie liebt Blumen.“

Und schon war sie ebenfalls Richtung Küche verschwunden, vermutlich um eine Vase zu holen.
 

Wenig später standen die Blumen hübsch drapiert auf dem Tisch – Sato hatte das neue Arrangement mit einem Schmunzeln zur Kenntnis genommen – und hatte ich eine große, dampfende Schüssel Ramen vor mir. Kein Vergleich zu meinem ersten Versuch heute Mittag. Da lagen Welten dazwischen. Genüsslich schloss ich die Augen, während ich die Nudeln in mich hinein schlürfte. Satochi war schon immer der beste Koch in der Band gewesen. Es war nicht so, dass wir anderen gar nichts zustande brachten, doch verglichen mit ihm, waren wir nur schnöde Pommesbudenbesitzer und er führte ein 5 Sterne Restaurant. Oder so ähnlich.

„Schmeckt‘s?“

Mehr als ein zufriedenes Brummen bekam ich nicht heraus, erntete dafür ein schiefes Grinsen. Unwillkürlich fielen mir Yukkes Worte vom Dezember wieder ein.

‚Satochi liebt es, die Menschen lächeln zu sehen.‘

Ja und wenn er das nicht mehr über die Musik erreichte, dann wenigstens über das Essen. Denn mich machte er damit definitiv glücklich.

Pappsatt stellte ich die Schüssel beiseite und lehnte mich zurück, nicht ohne dabei auf meinen leicht gewölbten Bauch zu klopfen.

„Gott, war das köstlich.“

„Satoshi reicht und Danke, das freut mich zu hören.“

Lachend stand er auf und räumte den Tisch ab.

„Du bist echt ein perfekter Hausmann. Kochen kannst du, Aufräumen tust du, bevor sich wer beschwert. Ein Traum aller Schwiegermütter.“

„Glaub mir, meine Frau und meine Schwiegermutter wissen das durchaus zu schätzen“, tönte es aus dem Nebenraum. Ja, da hatte Emi wirklich einen guten Fang gemacht.

Schmunzelnd beobachtete ich Yumi dabei, wie sie ihre Schulsachen ordentlich auf einen Stapel zusammenschob und einen Teil gleich in die Tasche verschwinden ließ. Während ich dieses Familienidyll auf mich wirken ließ, bekam ich einmal mehr das Gefühl, dass es für Sato die richtige Entscheidung gewesen war. Ich war nie ein großer Familienmensch gewesen, Kinder waren auch nicht so meins und nur eine Handvoll von ihnen konnte ich gut genug leiden, dass ich freiwillig mit ihnen Zeit verbrachte. Satochis Tochter gehört natürlich dazu. Wiederum war es nie ein Geheimnis gewesen, dass er Kinder liebte und sich immer eine große Familie gewünscht hatte, was bisher nicht möglich gewesen war. Doch nun… Auch wenn sein Ausstieg wehtat und es sich immer noch unrealistisch anfühlte, gönnte ich ihm sein neues Leben. Solange er glücklich und mit sich im Reinen war. Und das war er, das konnte jeder sehen. Denn dieses Lächeln, das in den vergangenen Jahren so rar geworden war, war mittlerweile wieder sein ständiger Begleiter.

Im Moment schenkte er sein Lächeln seiner Kleinen, während sie die letzten Zettel sortierten. Ganz der stolze Vater.
 

Plötzlich traf mich Satos fragender Blick, anscheinend hatte ich sie etwas zu lange stillschweigend beobachtet.

„Alles gut, lasst euch nicht stören.“

„Ach, wir sind sowieso gleich fertig. Yumi wollte gleich zu ihrer Freundin, die Straße runter. Nicht wahr, wolltest du doch?“

Doch anstatt ihrem Papa zu antworten, sah sie mich nachdenklich an.

„Bist du nachher noch da, wenn ich wiederkomme, Onkel Tatsuro?“

Ein Schmunzeln ließ meine Mundwinkel zucken.

„Wann bist du denn wieder da?“

„Später.“

Aha, sehr präzise. Dachte Sato wohl auch, dem Blick nach zu urteilen, den er mir über den Kopf seiner Tochter zu warf.

„Na ja, vermutlich nicht. Ich muss dann zurück, bevor Yukke zu lange wartet.“ Um die Enttäuschung aus ihrem Gesicht zu vertreiben, fügte ich schnell hinzu: „Aber ich komme bald wieder mal vorbei.“

„Wie bald?“

„Sehr bald. Dein Papa kocht zu gut.“

Das stimmte sie milde und sie nickte bekräftigend, als hätten wir einen Pakt geschlossen, aus dem ich nun nicht mehr herauskam. Wollte ich auch gar nicht und meinte es auch so. Ich warf Sato einen vielsagenden Blick zu, den er mit einem leichten Nicken beantwortete. Wir verstanden uns nach wie vor ohne Worte.

„So, jetzt bring dein Zeug schnell in dein Zimmer, damit wir loskönnen.“
 

Während Yumi mit ihren Ranzen in der Hand nach oben flitzte, ließ sich Sato mit einem Seufzen neben mich auf das Sofa fallen.

„Hätte nie gedacht, dass Schule nochmal so anstrengend sein könnte. Und dabei ist das erst die zweite Woche.“

„Und du weißt, es kann nur schlimmer werden.“

„Erinner mich bloß nicht daran“, stöhnte er theatralisch auf, aber ich sah genau, dass seine Mundwinkel zuckten. Das Ganze machte ihn Spaß, das brauchte er gar nicht zu leugnen.

„Sag mal, Tatsuro, willst du dann gleich gehen oder bringst du Yumi noch mit zu ihrer Freundin? Sie würde sich sicher freuen“, fügte er leise hinzu. Vermutlich würde nicht nur sie sich darüber freuen. Wie könnte ich da ‚Nein‘ sagen?

„Na klar, komm ich mit.“

So etwas wie Erleichterung machte sich in seinem Gesicht breit und am liebsten hätte ich noch mehr gesagt, aber mir fiel nichts Passendes ein. Es rührte mich, dass Sato mich weiterhin wie ein Familienmitglied behandelte, gleichzeitig schalte ich mich einen Idioten. Warum sollte er auch nicht? Schließlich wechselte er ja nur den Job und riss nicht gleich alle Brücken hinter sich nieder und löschte sein altes Leben aus. Wir waren und blieben eine Familie, auch wenn wir uns nicht mehr ständig sahen.
 

„Was trödelt ihr hier rum? Wollten wir nicht los?“

Satochi und ich zuckten beide gleichermaßen zusammen, als Yumi plötzlich im Durchgang zum Flur stand und uns ungeduldig anschaute.

Hastig erhoben wir uns, doch bevor ich ihr nach draußen folgen konnte, wurde ich am Arm festgehalten. Fragend sah ich über die Schulter zu meinem Bandkollegen, der mit einem Mal etwas nervös wirkte.

„Hast du eigentlich nachher noch mehr Zeit? Ich meine, wenn du nicht gleich nach Hause musst. Wobei… Yukke wartet bestimmt schon und -“

„Ja, ich habe Zeit“, unterbrach ich ihn und machte eine wegwischende Handbewegung. „Yukke ist sicher noch im Studio und Miya wird ihn nicht vor Einbruch der Dunkelheit gehen lassen.“

Ein wissendes Lächeln huschte über Satos Lippen, oft genug hatten wir solche Studiotage selbst miterlebt.

„Gut, ich möchte dir gerne etwas zeigen.“
 

*
 

Yumi hatte mir zum Abschied das Versprechen abgenommen, nächstes Mal unbedingt Onkel Yukke und Onkel Miya mitzubringen und wenn nicht beide auf einmal konnten, dann wenigstens Onkel Yukke. Vor Miya hatte sie seit jeher Respekt, er konnte schon ziemlich einschüchternd wirken, selbst wenn er es nicht darauf anlegte. Aber an Yukke hatte sie einen Narren gefressen.

Nach dem hoch und heiligen Indianerehrenwort und einer festen Umarmung hatte sie uns schließlich gehen lassen.

Und mit einem Mal war es wie früher, alle Zurückhaltung, das wehmütige Schweigen waren wie weggeblasen. Als hätte sich ein Schalter umgelegt, aber vielleicht lag es auch nur am sonnigen Wetter. Gelöst gingen wir durch das Wohngebiet, wobei Sato die Führung übernahm, da ich nicht wusste, wohin er wollte. Nach einer geraumen Weile bemerkte ich, dass wir den Weg Richtung meines Wohnviertels eingeschlagen hatten.

„Sato, wo willst du eigentlich hin? Wolltest du mir nicht etwas zeigen? Meine Wohnung kenn ich schon.“

Lachend schüttelte er den Kopf und ging unbeirrt weiter.

„Sei nicht so ungeduldig, wir sind gleich da.“

Unmittelbar vor uns lag der Park, an dem ich vorhin schon vorbeigekommen war. Jetzt zum späteren Nachmittag war es sogar noch voller, wenn das überhaupt möglich war. Doch der Zauber der Kirschbäume wurde trotzdem nicht schwächer. Neben Sato blieb ich stehen, sah auf das Meer an rosa Blüten, das sich vor uns auftat. Das Stimmengewirr um uns herum konnte ich erfolgreich ausblenden, vielmehr glaubte ich das leise Rauschen der Bäume aus der Geräuschkulisse herauszuhören, die sich sanft im lauen Frühlingswind bewegten.

„Schön, nicht? Ich freue mich jedes Jahr drauf.“

Ich konnte Sato nur stumm beipflichten. Diesbezüglich tickten wir gleich.

„Ich hab schon überlegt, ob wir nicht mal picknicken gehen sollten.“

„Klingt nach einem guten Plan. Vielleicht am besten sogar hier, der Park liegt schließlich recht bequem auf halber Strecke.“

„Dann ist es nicht so weit, wenn wir nach Hause torkeln.“

„Ich lass dich aber liegen, solltest du fallen. Nur damit du es weißt.“

Es tat gut, so herumzualbern und gleichzeitig Pläne zu schmieden.
 

„Was wolltest du mir denn jetzt zeigen? Den Park kenn ich übrigens schon, falls du es nicht mitbekommen hast.“

„Ach? War mir glatt entfallen.“

Dass er mit den Augen rollte, hörte ich auch so, da musste ich ihn nicht mal ansehen.

„Oder wolltest du jetzt picknicken?“

Fragend warf ich einen Blick auf die große Tasche, die er schon die ganze Zeit mit sich herumtrug.

„Nein, nein, machen wir ein andermal.“

Geschickt wich er meinem Blick mit einem Grinsen aus und steuerte auf einen der Ausgänge des Parks zu.

„Los, komm. Wir sind fast da.“

Wenige Straßen weiter blieben wir schließlich vor einem kleinen, unscheinbaren Gebäude stehen. Es passte sich perfekt in die schmale Ladenstraße ein. Das Auffälligste daran war der Baulärm, der durch die helle Bauplane zu uns nach draußen drang. Ich wusste, was Sato mir zeigen wollte und mein Herz machte einen aufgeregten Hüpfer. Neugierig trat ich näher, versuchte einen Blick ins Innere zu erhaschen. Schon einige Mal hatte Sato davon erzählt, nur war ich noch nie hier gewesen. Gut, bis heute hatte ich auch nicht gewusst, dass sein neuer Traum nur wenige hundert Meter von meiner Wohnung entfernt lag.

„Und was sagst du?“

Der unsichere Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich schwieg einen Augenblick lang, ließ das Bild auf mich wirken. Obwohl die Arbeiten im vollen Gange waren, war der Stil des zukünftigen Izakayas deutlich erkennbar. Und was auch immer ich bisher erwartet hatte, jetzt wo ich einmal hier war, musste ich gestehen, dass ich mir Sato perfekt hinter dieser Theke vorstellen konnte. Grinsend trat ich zurück und drehte zu ihm herum.

„Es ist bald fertig, oder? Wann willst du eröffnen?“

Sein Blick schweifte über die Fassade des Gebäudes, in seinem Lächeln konnte ich den Stolz und die Freude wiedererkennen, die jedes Mal sein Gesicht erstrahlen ließ, wenn er von seinen Plänen erzählte.

„Vermutlich Ende Mai. Nach der Tour“, setzte er leise hinzu, vermied dabei meinen Blick.

Ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz schwer wurde, doch gleichzeitig freute ich mich für ihn. Er hatte das Kochen schon immer geliebt. Bereits in der Anfangszeit von MUCC hatten wir gescherzt, sollte es mal nicht so gut laufen, Sato käme auf alle Fälle als Koch irgendwo unter und könnte uns dann durchfüttern.

„Wehe, das wird kein großer Erfolg.“

„Ich tu mein Bestes.“

Ich trat neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn an mich.

„Gut, sonst müsste ich mir ja gleich wieder ein neues Lieblingsrestaurant suchen“, meinte ich lächelnd, während ich den Druck um seine Schultern verstärkte. „Aber du wirst das schon machen, ich glaub an dich.“

Ich spürte das tiefe Seufzen, das Satos Körper verließ. Er lehnte sich gegen mich und ich hatte das Gefühl, alle Anspannung war aus ihm gewichen. Das leise „Danke“ an meiner Schulter überhörte ich beinahe. Eine Weile standen wir so da, ehe er sich tief ausatmend von mir löste und mich unerwartet ernst ansah.

„Das bedeutet mir unheimlich viel.“

Glänzten seine Augen? Mist, ich hatte einen Kloß im Hals.

Schnell wandte ich den Blick ab und starrte auf die Blauplane.

„Aber ich bekomm dann einen Stammplatz, damit das klar ist. Am besten an der Theke, so habe ich dich immer im Blick. Und für Yukke auch… und Miya und -“

Sein Lachen unterbrach mich.

„Bekommst du, nur ist dann die Theke voll.“

„Mir egal, sind ja auch noch ein paar Tische da.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich ein wenig zurücktrat und das Ganze noch einmal auf mich wirken ließ. Ich konnte es schon vor meinem geistigen Auge sehen.

„Ich hoffe ja, dass überhaupt andere Leute kommen. Nicht, dass ich euch nicht gern als Gäste habe, aber du weißt schon…“

Ich boxte ihm unsanft gegen die Schulter. Sein „Ey“ überging ich gekonnt, warf ihm dafür den strengsten Blick zu, den ich zustande brachte.

„Zweifel nicht ständig an dir und deinen Fähigkeiten.“ Denn nichts anderes hatte er gerade getan. Schon wieder und wir wussten, wie das endete. „Du machst seit jeher das leckerste Essen, besonders die Ramen, also glaub an dich! Und wenn ich dein Essen mag, werden es auch andere mögen.“

Einen Moment lang blinzelte er mich verblüfft an, ehe sich ein verschmitztes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.

„Du magst doch jedes Essen.“

Als ich ihn erneut boxen wollte, parierte er geschickt und lachte laut auf.

„Okay, okay, ich hab's verstanden.“

„Das will ich auch hoffen. Red dich selbst nicht immer klein. Du willst das hier doch, oder nicht?“

„Ja…“

„Siehst du. Und glaub mir, du wirst auch in Zukunft viele glückliche Gesichter sehen, diesmal eben durch dein Essen und nicht durch die Musik. Du schaffst das schon.“

Bevor ich mich versah, fand ich mich in einer festen Umarmung wieder. Ich war zu überrascht, als das ich angemessen reagieren konnte.

„Danke, Tatsuro. Danke, dass du so bist, wie du bist und bitte bleib einfach so.“

Ach, Satochi.

Meine Augen brannten, während ich den leisen Worten lauschte.

„Und komm oft vorbei… Geht natürlich aufs Haus.“

„Sag das nicht, sonst musst du gleich wieder zumachen, weil ich alles wegfuttere.“

Mit einem schniefenden Lachen ließ er mich los und wischte sich über die Augen.

Oh Mann… Da hatte ich gleich selbst einen Frosch in der Kehle. Unauffällig räusperte ich mich.

Wir waren schon zwei Nasen. Standen hier mitten auf der Straße, vor der Baustelle und starrten uns mit feuchten Augen an, auf der Suche nach den richtigen Worten. Ich war einfach nicht für so viele Emotionen gemacht. Wirklich nicht.
 

Schließlich gab sich Sato als Erster einen Ruck und bückte sich nach seiner Tasche, die schon seit einer geraumen Zeit den Boden schmückte.

„Hier, bevor ich es vergesse.“

Gleich darauf balancierte ich einen Stapel an verschiedensten Dosen und Boxen auf den Armen.

„Ich habe heute Vormittag etwas experimentiert und eigentlich wollte ich es den Nachbarn zum Verkosten gegeben, aber ich dachte, wenn du schon einmal da bist und sowieso Stammgast wirst, kannst du mir ja gleich eine Rückmeldung geben, wie du es findest.“

Etwas sprachlos starrte ich auf den Stapel. Abgesehen davon, wie ich das Ganze ohne Unfall nach Hause transportierte, blieb eher die Frage, wer das alles essen sollte.

„Und vielleicht kannst du es auch mit Yukke teilen… und Miya, falls du ihn in den nächsten Tagen sehen solltest“, fügte er so leise hinzu, dass ich irritiert aufblickte. Da schwang noch etwas anderes mit.

„Sollte ich überhaupt etwas übrig lassen, werd ich ihnen vielleicht ein paar Probehäppchen abgeben.“

Überlegend blickte ich auf die Dosen, als mir eine Idee kam.

„Oder weißt du was? Ruf Miya einfach mal an und frag ihn, was er davon hält, wenn du ihn ebenfalls als Testesser einstellst.“

Seit Satos Entschluss auszusteigen, war die Situation zwischen den Beiden merklich angespannt. Als hätten sie Angst irgendetwas Falsches zu sagen und so vorsichtig, wie sie miteinander umgingen, hatte man manchmal das Gefühl, sie bestünden beide aus Glas. Es tat schon beim Zusehen weh. Und sie konnten beim besten Willen nicht wollen, dass das ewig so blieb. Vielleicht konnte das hier eine neue Chance für sie sein.

Satochi nickte langsam.

„Ja, vielleicht mach ich das.“

Dann straffte er sich und warf einen vielsagenden Blick auf den Stapel in meinen Armen.

„Lass mich unbedingt wissen, wie es schmeckt, damit ich weiß, was ich verbessern kann.“

Ob es überhaupt etwas zu verbessern gab, war mal dahin gestellt, aber Sato zuliebe würde ich mich als Restaurantkritiker und nicht als Fan seines Essens versuchen.

„Soll ich bis Freitag einen Bericht verfassen oder reicht das mündlich bei den Proben?“
 

*
 

„Tatsuro, was machst du denn hier?“

Das war heute bereits das dritte Mal, dass ich diesen Satz hörte. Grinsend sah ich von meinem Handy auf und begegnete Yukkes verwunderten Gesichtsausdruck. Er sah müde aus. Es war, wie ich vermutet hatte, Abend geworden und so wie ich Miya einschätzte, hatten sie heute keine Sekunde gefaulenzt. Vermutlich würde mich morgen dasselbe Schicksal ereilen, aber morgen war noch weit weg.

Umständlich erhob ich mich von der Treppenstufe. Es war nicht unbedingt die beste Idee meinerseits gewesen, mich eine halbe Stunde lang vor die Haustür zu setzen, um auf Yukkes späte Heimkehr zu warten. Doch nach diesem Tag hatte ich nicht in der Wohnung bleiben wollen und das Wetter war immer noch angenehm. Generell fühlte ich mich gerade ziemlich gut – ganz anders als am Morgen. Richtig lebendig eben und das musste genutzt werden.

Ich putzte mir den nicht vorhandenen Dreck vom Hintern, ehe ich Yukke einen schnellen Kuss stahl und gegen seine Lippen raunte: „Ich dachte, wir gehen picknicken.“

Verwirrt blinzelte er mich an.

„Ähm, sag mal, Tatsue, geht's dir gut?“

„Jap und deshalb gehen wir picknicken“, grinste ich und deutete auf den bereitstehenden Korb.

„Jetzt?!“

Er starrte mich so entgeistert an, als hätte ich behauptet, die Sonne drehe sich um die Erde.

„Ja, jetzt.“

„Aber… es ist doch schon dunkel.“

„Quatsch dunkel. Da hinten ist es noch hell.“

Er wirkte nicht sonderlich überzeugt.

„Ach, komm schon. Wir müssen ja nicht ewig bleiben, aber wenigstens kurz raus in den Park. Haben wir ewig nicht mehr gemacht.“

Sekunden verstrichen, in denen er mich einfach nur zweifelnd ansah und sich vermutlich fragte, woher meine Motivation rührte, dann entkam ihm ein übertriebenes Seufzen und er schloss kurz die Augen.

„Womit hab ich das verdient? Erst triezt mich Miya und jetzt darf ich nicht mal auf mein Sofa.“

„Nachher darfst du, aber vorher nutzen wir den Abend.“

Er haderte noch etwas mit sich, aber ich wusste, dass ich gewonnen hatte. Seufzend nickte er.

„Aber nur weil du es bist.“

Ich drückte ihm einen festen Kuss auf die Lippen, dann schnappte ich mir grinsend den Korb und nahm seine Hand.

„Du liebst mich doch genau dafür.“

Sein leises „Bin mir da gerade nicht so sicher.“ beantwortete ich mit einer Grimasse und zog ihn kommentarlos hinter mir her.

Im Augenblick war es mir egal, ob uns irgendwer beobachtete, viele Leute waren sowieso nicht mehr unterwegs und gerade genoss ich die warme Hand in meiner viel zu sehr, als dass ich mir über komische Blicke Gedanken machte.
 

Am Eingang des Parks blieben wir stehen, Yukke gab einen überraschten Laut von sich.

„Ich wusste gar nicht, dass sie nachts die Bäume beleuchten.“

Ich auch nicht, doch um so besser für unser Picknick.

Einige Meter entfernt breitete ich die Decke zwischen den Bäumen aus und ließ ich mich mit einem zufriedenen Seufzen darauf fallen. Dafür, dass es heute tagsüber so hier voll gewesen war, konnte man den Park jetzt beinahe als leer bezeichnen. Nur hier und da saßen vereinzelte Pärchen oder Nachtschwärmer unter den Bäumen, deren Kronen vom warmen Licht der Scheinwerfer erhellt waren.

Yukke stand etwas unsicher herum, weshalb ich ihn kurzerhand mit einem kräftigen Ruck neben mich zog und ihm einen Pappbecher in die Hand drückte, den ich mit Tee füllte.

„Jetzt entspannt dich mal.“

„Und was ist, wenn uns jemand sieht?“

Ich konnte mir nur knapp ein Augenrollen verkneifen. Das war eins der Dinge, an die ich gerade nicht denken wollte.

„Ist doch egal. Ein Picknick unter Freunden stört doch keinen.“

Ehe er reagieren konnte, drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange und grinste frech.

„Und ein wenig Fanservice hat noch niemanden geschadet.“

„Quatschkopf.“

Dennoch zuckten seine Mundwinkel, als er einen Schluck aus dem Becher nahm.

„Sag mal, was hast du da eigentlich alles mit?“

„Ach das…“

Ich nahm einen Teil der Bentoboxen aus dem Korb und drapierte sie vor uns. Yukke bekam große Augen und gab ein kleines Raunen von sich.

„Wer soll das denn alles essen?“

„Das hab ich mich auch gefragt.“

Neugierig hob ich einen Deckel an und spähte hinein – etwas, das ich mir bisher verkniffen hatte. Das Treffen mit Sato war zwar schon vor ein paar Stunden gewesen, aber das Essen sah noch herrlich frisch und lecker aus.

„Da ist anscheinend jemand wirklich der Experimentierwut erlegen“, murmelte ich mehr zu mir, während ich auf die Auswahl starrte. Verschiedene Nudel- und Reisgerichte, eingelegtes Gemüse, Fisch – alles war dabei. Laut sagte ich: „Mit besten Grüßen von Satochi. Das hat er mir vorhin in die Hand gedrückt und gemeint, wir sollten das für ihn verkosten. Deshalb musst du jetzt mit durch.“

Yukke warf mir einen verwunderten Blick zu.

„Du hast Sato getroffen?“

„Hm, ja. Heute Nachmittag.“

Sekundenlang musterte er mich, als würde er nach etwas Bestimmtem in meinem Gesicht suchen, dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Zügen aus und er griff nach den bereitliegenden Stäben.

„Das ist schön. Hatte schon Panik, du hättest das hier selbstgemacht. Aber jetzt weiß ich ja, dass das nur gut sein kann.“

Meiner angedeuteten Kopfnuss wich er feixend aus und begann zu essen.
 

*
 

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Boxen endlich leer waren. Und wie sollte es auch anders sein? Es war unheimlich lecker, ganz nach Sato-Style. Sein Essen hatte immer einen gewissen Wiedererkennungswert.

„Ich glaube, Sato wollte uns mästen, garantiert. Morgen brauch ich kein Frühstück.“

Mit einem Ächzen ließ ich mich nach hinten auf die Decke fallen und streckte alle Gliedmaßen von mir.

„Trägst du mich nach Hause?“

Ich versuchte mich am wehleidigsten Gesichtsausdruck, den ich auf Lager hatte, was anscheinend nicht sonderlich gut funktionierte, denn Yukkes rechte Augenbraue zuckte nur belustigt nach oben.

„Warum sollte ich?“

„Weil sich dein Liebster nicht mehr bewegen kann und du ihn sicher nicht hier liegen lassen möchtest.“

Sein heiseres Lachen brachte mich zum Grinsen, doch statt wenigstens einen Hauch Mitleid vorzutäuschen, legte er sich neben mich und tätschelte meinen Bauch. Für gewöhnlich hätte es dafür sofort was auf die frechen Finger gegeben, doch gerade war ich zu träge dafür.

„Jetzt übertreib mal nicht. Es waren zwar viele, aber kleine Portionen.“

„Ich hatte aber heute Mittag schon Ramen bei ihm zu Hause… das hält lange an.“

Wieder war von Mitgefühl keine Spur und ich bekam nur ein Schnauben zu hören.

„Ich hätte ja fast gesagt, Selbstschuld, aber Satos Essen macht süchtig, von daher kann ich das verstehen. Allerdings denke ich, wenn wir noch eine Weile liegen bleiben, schaffst du den Heimweg selbst. Du bist mir nämlich etwas zu schwer.“

Zum Beschweren kam ich nicht, da die Lippen, die meine versiegelten, jedes Wort im Keim ersticken.

Zwischen den Küssen murmelte er leise: „Wir hätten ja auch Miya morgen etwas mitbringen können.“

„Für den steht noch eine Portion im Kühlschrank.“

Ruckartig löste er sich von mir und sah mich verwundert an.

„Tatsuro? Bist du's? Seit wann kannst du so nett und vorausdenkend sein? Aua.“

Mit einer Grimasse rieb er sich die Seite, in die ich ihn gerade gezwickt hatte.

Also echt mal! Ich konnte nett sein – wenn ich denn wollte. Und heute fühlte ich mich gut genug, um mal etwas fürs Karma zu tun.

„Übrigens...“

Yukke schaute sich schnell um, aber mittlerweile waren wir wirklich die Einzigen im Park. Ich wollte gar nicht wissen, wie spät es war.

„Ich finde die Idee mit dem Picknick super. Danke, dass du mich überredet hast.“

Er schmiegte sich enger an mich und gleich darauf spürte ich erneut seine Lippen auf meinen. Diesmal länger und intensiver. Ein angetanes Seufzen entfloh mir, als ich meine Arme um ihn schlang und ihn an mich drückte. Meinetwegen könnten wir den Tag öfter auf diese Weise ausklingen lassen. Nacht-Picknick hatte eindeutig etwas für sich.

Als wir uns schließlich voneinander lösten, glänzten Yukkes Augen so herrlich verführerisch, dass ich nicht anders konnte, als ihm noch einen Kuss zu stehlen.

„Ich glaube, wir sollten immer so spät picknicken gehen.“

Ich musste lachen, allerdings weniger, weil er so atemlos klang, sondern weil wir beide denselben Gedanken gehabt hatten.

„Bin dafür. Und vielleicht können wir Satochi überreden, einen Lieferdienst einzuführen und es direkt hierher bringen zu lassen.“

„Oh ja, da wird er sich sicher freuen und am besten wir bestellen kurz vor Feierabend und wenn er persönlich liefert, kann er dann auch gleich da bleiben und wir machen einen drauf.“

Ich konnte gar nicht sagen, wie sehr mir der Gedanke gefiel, obwohl er nur Spinnerei war.

Schmunzelnd strich ich über Yukkes Rücken, während ich das Blütenmeer über uns betrachtete und gedanklich noch einmal das Treffen mit Sato Revue passieren ließ.

„Sag mal, Yukke, warst du eigentlich schon mal bei dem Restaurant?“

Ich spürte, wie er sein Kinn auf meinem Brustkorb abstützte und mich von unten ansah.

„Nein, weiß nicht mal genau, wo es ist. Warum fragst du?“

Mein Schmunzeln wurde zu einem Grinsen.

„Es liegt hier gleich um die Ecke. Also theoretisch könnten wir jeden Abend dort einfallen.“

Yukke stockte kurz, dann vergrub er sein Gesicht in meinem Shirt und schnaubte amüsiert.

„Guter Plan, wobei ich mir vorstellen kann, dass sich Satos Freude in Grenzen hält, wenn wir täglich bei ihm aufschlagen.“

„Ach, der soll sich mal nicht so haben“, widersprach ich.
 

Wir alberten noch eine Weile herum, spannen Ideen weiter, bis sich eine angenehme Stille auf uns legte und jeder seinen Gedanken nachhing. Die Geräusche der Stadt waren deutlich leiser geworden, selbst die Bäume schienen zu schweigen.

„Sag mal, Tatsue“, murmelte Yukke. „Glaubst du, er schafft das?“

Ich schwieg einen Moment lang, betrachtete das Blütenmeer über unseren Köpfen, ehe ich mit den Fingern zärtlich durch seine Haare fuhr und ihm einen Kuss auf die Stirn drückte.

„Bestimmt. Wichtig ist, dass er glücklich ist und ich denke, das ist er.“
 

ENDE
 

Nachwort:

Zunächst: ich hoffe, es hat gefallen ^^ Ich muss sagen, die Geschichte liegt mir sehr am Herzen. Seit ich im Dezember von Satochis Ausstieg erfahren habe, brannte mir eine persönliche Verarbeitungsgeschichte unter den Nägel. Denn es war ein Schock für mich gewesen, besonders dass er generell der Musik den Rücken kehren will. Es tut mir im Herzen weh, besonders nach dem Interview vom Januar (glaub ich). Darin erklärt er noch einiges und ich musste das einfach irgendwie verarbeiten. Und das ist dabei rausgekommen. Also einige Details beruhen auf den Statements (zu finden auf der MUCC Homepage und von mir hier etwas freier übersetzt, damit es in den Text passt ^^) und eben Satochis Interview. Ich bin immer noch etwas wehleidig, denn sobald man ihn live oder generell in aktuellen Videos sieht, wirkt der Ausstieg so unrealistisch. *Seufz* aber wie gesagt: Hauptsache, er ist glücklich und zufrieden und er wirkt mit sich definitiv im Reinen.
 

Würde mich wie immer über Feedback freuen ^^

Liebe Grüße

Luna



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück