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Nährendes Nachbeben

von

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Flucht

„Schlägt dich dein Vater?“

Immer wieder hörte sie die Frage des FBI Agenten in ihrem Kopf. Jodie hatte zwar versucht gehabt, etwas zu sagen, war aber letzten Endes verstummt.

„Schlägt dich dein Vater?“

Auch wenn er der Meinung war, dass sie sich nicht schämen musste, schämte sie sich dennoch. Und sie hatte Angst vor ihrem Vater. Erneut hatte sie versucht gehabt, etwas zu sagen. Aber dann hatte sich auch schon ihr Vater zu ihnen gesellt. Dass er ihren Standort überwachte, wusste sie und sie ahnte auch, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, um ihre Nachrichten zu lesen. Aber selbst wenn er dies tat, er hätte nie so schnell zu Hause sein können. Hatte er also direkt nach ihr das Büro verlassen oder war er Shuichi gefolgt, weil er das Gefühl hatte, dass dieser zu ihr wollte? Oder beobachtete er seinen Partner ebenfalls?

„Schlägt dich dein Vater?“

Selbstverständlich hatte ihr Vater sie rein geschickt, immerhin durfte niemand die Wahrheit darüber erfahren, was er mit ihr machte. Wegen Kleinigkeiten erhob er bereits die Hand gegen sie. Früher hatte sie noch die Kraft gefunden sich zu wehren, aber mittlerweile ließ sie es über sich ergehen und fügte sich ihrem Schicksal. Es gab sowieso kein Entkommen und je ruhiger sie dabei war, desto schneller war es zu Ende.

„Schlägt dich dein Vater?“

Jodie lehnte sich gegen die Wand im Flur des Hauses. Ihr Herz klopfte wie wild. Ja. Wie sehr wollte sie ihm diese Antwort entgegen schreien, aber sie hatte sich nicht getraut – vor allem dann nicht, als ihr Vater da war. Warum musste es auch so schwer sein?

Die Haustür stand noch einen Spalt offen, sodass Jodie das Gespräch zwischen ihrem Vater und Shuichi mitbekam. Ihr war nicht bewusst, dass sich der Agent so sehr um sie sorgte, dass er sogar das Haus der Familie beobachtet hatte.

Stalker.

Jodie schluckte. Wie konnte ihr Vater diese Behauptung aufstellen, wenn er doch die Wahrheit kannte. Jodie sah auf den Boden. Was sollte sie nur tun? Selbst wenn sie sich jetzt vornahm, Shuichi zu helfen und im Fall der Fälle für ihn auszusagen, konnte ein Blick ihres Vaters dafür sorgen, dass sie es doch nicht tat. Aber Shuichi konnte doch nicht wegen ihr seinen Job verlieren.

„Ich wollte nur mit Jodie sprechen…nach heute im Büro dachte ich, dass zwischen uns noch etwas Ungesagt blieb. Bitte entschuldigen Sie, dass es für Sie so vorkam, als würde ich Jodie belästigen oder stalken“, hörte sie Shuichis Stimme.

„Dann hören Sie jetzt damit auf?“

„Ja“, antwortete Akai.

Erschrocken riss Jodie die Augen auf. „N…n…ein…“, wisperte sie leise. Er durfte sie doch nicht so schnell wieder aufgeben. Jodie war den Tränen nahe. Um nicht zu schreien, legte sie die Hand auf ihren Mund und schloss die Augen. Bitte nicht, flehte sie in Gedanken. Aber Jodie kannte die Konsequenzen, schließlich hatte ihr Vater diese bereits angekündigt und es war nicht das erste Mal.

Es gab schon einmal einen FBI Agenten, der ihrem Geheimnis sehr nahe kam. Sie hatte Ryan Jackson damals auch im Büro kennen gelernt und sich auf Anhieb mit ihm verstanden. Mit der Zeit hatte ihr Vater allerdings bemerkt, dass sie anfing Ryan zu vertrauen. Er hatte sie sogar auf ihre blauen Flecken angesprochen. Und auch wenn sie sich wieder zurückzog, hatte sie sie insgeheim gehofft, dass Ryan mit ihrem Vater sprach. Aber es passierte nichts. Ihr Vater hatte sich nicht geändert und ihr Leben hatte sich auch nicht normalisiert.

Dennoch hatte ihr Vater schnell reagiert und damit gedroht die Karriere des jungen Mannes zu zerstören, sollte er sich nicht von Jodie fernhalten. Schließlich war alles genau so eingetroffen und Ryan der Korruption beschuldigt. Ehe etwas Öffentlich wurde, hatten sie sich darauf geeinigt, dass der Agent das Büro verließ und damit auch aus ihrem Leben verschwand. Als Jodie ihren Vater das erste Mal auf sein Mitwirken ansprach, hatte er noch verneint, beim nächsten Mal gab er zu, dass er getan hatte, was getan werden musste. Damals hatte Jodie gelernt, dass ihr Vater nicht einmal davor zurückschreckte das Leben einer anderen Person zu zerstören, wenn er so an sein Ziel kam.

Dabei war er früher ganz anders. Er war liebevoll, spielte oft mit ihr und lächelte viel. Aber nachdem ihre Mutter gestorben war, hatte er sich verändert. Anfangs war ihr die Veränderung noch gar nicht so aufgefallen und bewusst gewesen. Zudem hatte sie auch geglaubt, dass jeder Vater so war und sich entsprechend um sein Kind sorgte. Nach dem Tod ihrer Mutter durfte Jodie nicht mehr bei Freunden übernachten, wurde von ihrem Vater immer in die Schule gebracht und auch abgeholt. Die Wochenenden verbrachte sie entweder alleine zu Hause oder in ihrem Garten. Wenn sie mit Freunden spielen durfte, kamen diese immer zu ihr. Als Jodie nach dem Grund fragte, antwortete ihr Vater mit der Arbeit als Begründung. Damals hatte Jodie diese für richtig gehalten, immerhin war ihr Vater FBI Agent und hatte einige Feinde. Ihr Vater war damals sogar so weit gegangen, dass er sämtliche Lehrer der Schule, deren Familien, alle Schüler und deren Familien überprüfte und sicherstellte, dass es keine Verbindung zu einem Kriminellen gab, dem er ein Leben hinter Gittern bescherte oder der zur gleichen Organisation gehörte wie Sharon Vineyard. Doch die Einschränkung in ihrem Leben blieb. Allerdings fand sie früher diese Fürsorge noch toll, erst mit der Pubertät hatte sich alles geändert. Jodie wollte wie ihre Klassenkameraden sein, sie wollte sich mit Freunden treffen ohne von ihrem Vater dabei beobachtet zu werden, sie wollte alleine nach draußen gehen, auch mal abends draußen sein…egal was, Hauptsache, ihr Vater war nicht in der Nähe. Aber leider war sie nicht wie jedes andere Kind, sie war die Tochter eines FBI Agenten. Und natürlich verstand sie seine Beweggründe, aber bei anderen Familien klappte es schließlich auch.

Das erste Mal hatte er die Hand gegen sie erhoben, als sie zu einer Geburtstagsfeier eines Mitschülers gehen wollte. Jodie hatte gegen das Verbot ihres Vaters getobt, war auf ihr Zimmer gegangen und hatte schließlich versucht aus dem Fenster zu klettern. Ihr Vater hatte allerdings diese waghalsige Aktion mitbekommen und entsprechend reagiert. Danach war die Schwelle überschritten und er erhob immer häufiger die Hand gegen sie, wobei er penibel darauf achtete, dass er ihr Gesicht unbeschadet ließ – zumindest während der Schulzeit.

Obwohl Jodie bereits volljährig war, hatte sie es noch nicht geschafft ihm zu entkommen. Nach allem was er immer wieder tat, hatte sie keine Kraft mehr. Außerdem wo sollte sie hin? Sie hatte keine Freunde, keine Familie mehr und früher oder später hätte ihr Vater sie gefunden. Da konnte sie auch gleich aufgeben und sich ihrem Leben fügen. Und was sie nicht vergessen durfte, er schlug sie nur dann, wenn sie selbst daran schuld war. Mittlerweile glaubte sie es sogar. Wäre sie damals nicht nach der Vorlesung mit Shuichi ins Café gegangen, hätte sie nicht dafür büßen müssen. Und Jodie wusste, dass er mittlerweile ihren Standort überwachte, aber dennoch hatte der Tag etwas von Normalität. Und die hatte sie dringend gebraucht.

Jodie ließ ihren Tränen freien Lauf. Wann würde sie diesem Schicksal endlich entkommen? Warum konnte sich ihr Vater nicht ändern? Er entschuldigte sich zwar immer wieder für seine Ausrutscher, hatte ihr aber auch im gleichen Moment die Schuld daran gegeben. Jodie wünschte sich doch einfach nur ein ganz normales Leben – so wie jeder Andere. Und wie sollte es weitergehen? Würde sie für immer zu Hause wohnen, nur damit ihr Vater weiterhin die Kontrolle über sie hatte oder würde sie irgendwann ausziehen dürfen? Wann durfte sie einen Freund haben, eine Familie gründen und arbeiten? Denn für Jodie war eine Sache klar: Sie wollte nicht beim FBI anfangen – nicht solange ihr Vater in der gleichen Niederlassung war und ein Auge auf sie haben würde.

Als sich die Tür schloss, zuckte Jodie zusammen. Sie sah auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Mit gerötetem Blick beobachtete sie ihren Vater. „Ist…er…weg?“, fragte sie leise.

Jodie hörte das Geräusch eines Schlages und ehe sie sich versah, landete sie unsanft auf dem Boden. Ihre Wange brannte und sie fuhr mit der Hand vorsichtig an diese Stelle.

„Was hast du dir dabei gedacht?“, wollte er aufgebracht wissen.

Jodie bekam kein Wort heraus.

„Ich hab dich was gefragt!“, schrie er.

„Dad…dy…“, wisperte die junge Frau. „Ich…habe…nichts…gesagt…“

Agent Starling musterte sie. Er glaubte ihr nicht. „Hasst du mich so sehr?“, fragte er. „Willst du mein Leben zerstören?“

Jodie schüttelte den Kopf.

„Warum Jodie? Warum?“

Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

Der nächste Schlag traf sie im Gesicht.

„Verstehst du es nicht?“, zischte er sie an. „Ich mach das alles nur, weil ich um deine Sicherheit besorgt bin. Ich will nicht, dass dir irgendwas passiert. Und was machst du? Du triffst dich mit ihm und sorgst dafür, dass er anfängt unser Haus zu beobachten. Wahrscheinlich hat er auch schon Ermittlungen gegen mich angestellt.“ Agent Starling verengte die Augen. „Ich werde mich im Büro danach erkundigen müssen.“

Wieder erklang ein dumpfer Schlag. Wieder und wieder.

„Du weißt, was das für ihn heißen wird. Ich muss mich darum kümmern und du wirst ihn nie wieder sehen. Haben wir uns verstanden?“

Jodie schluchzte. Alles was sie getan hatte um ihr Gesicht zu schützen, war vergebens. Ihre Lippe war aufgeplatzt und an ihrer Wange zeichnete sich seine Hand ab. Außerdem hatte sie Blessuren an den Armen. Ihr Vater hatte wieder einmal dafür gesorgt, dass sie entweder die nächsten Tage nicht mehr nach draußen konnte oder die Blessuren verstecken musste.

„Ich habe dich gefragt, ob wir uns verstanden haben.“

Jodie nickte verängstigt und blieb auf dem Boden liegen.

„Gut. Ich habe mir den restlichen Tag frei genommen“, entgegnete er wütend. „Ich hoffe, du freust dich darüber.“ Er musterte seine Tochter und seufzte. „Ach, Jodie, was soll ich nur mit dir machen? Wieso verstehst du nicht, dass ich doch nur will, dass es dir gut geht. Wieso zwingst du mich nur zu diesen…drastischen Maßnahmen?“, fragte er seufzend. Er reichte ihr die Hand, aber Jodie nahm sie nicht. Starling seufzte ein weiteres Mal. „Komm, steh auf und schau, dass du wieder vorzeigbar bist“, fügte er hinzu.

Jodie richtete sich langsam auf und berührte ihre Wange. Sie zuckte zusammen.

„Im Badezimmer ist noch Desinfektionsmittel“, sagte der FBI Agent. „Wenn du damit fertig bist, bereite bitte das Essen vor.“

Jodie nickte zaghaft.

„Ich bin im Arbeitszimmer“, gab er von sich und ging nach oben.

Jodie sah ihrem Vater nach. Sie zitterte und stand langsam auf. Torkelnd bewegte sich Jodie auf das Badezimmer zu und wusch sich ihr Gesicht. Sie behandelte die Wunden mit dem Desinfektionsmittel und betrachtete sich im Spiegel. Jedes Mal hatte sie das Gefühl, ein Stückchen mehr gealtert zu sein und spielte – wie die anderen Male auch – mit dem Gedanken ihrem Leben ein Ende zu bereiten, nur damit es endlich aufhörte.

Jodie seufzte leise auf. Den Mut brachte sie nicht auf und so konnte sie sich wieder nur ihrem Schicksal fügen. Die junge Frau verließ das Badezimmer und sah zur Haustür. Nur ein paar Schritte und dann konnte sie ihm vielleicht entkommen. Aber wo sollte sie ihn? Es gab draußen nichts für sie und trotzdem hatten sich ihre Beine wie von alleine bewegt. Sie war ganz langsam nach draußen gegangen, hatte die Tür leise geschlossen und sah in den Himmel. Ihr Handy lag oben in ihrem Schlafzimmer, sodass ihr Vater ihre Bewegungen nicht überwachen konnte.

Die junge Frau schluckte, setzte ein Bein vor das andere und ehe sie sich versah, lief sie die Straße entlang. Sie lief und lief und kam schließlich in einem Wohngebiet an. Jodie hatte die Adresse in der Vergangenheit bereits oft in der Suchmaschine eingegeben und sich dort die Umgebung angesehen, sodass sie glaubte, schon einmal dort gewesen zu sein. Schnurrstracks ging sie auf ein Wohnhaus zu und betätigte die Klingel mit dem Namen Akai.

Als das Summen ertönte, trat Jodie ein und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Sobald sich die Aufzugstür öffnete, ging auch die Tür zu seiner Wohnung auf und er trat nach draußen. Jodie machte einen Schritt auf ihn zu, verlor dann aber den Halt und landete auf dem Boden. Shuichi lief sofort zu ihr und kniete sich hin. Er betrachtete ihr Gesicht und schluckte. Das war also nach seinem Rückzug mit ihr passiert. Langsam hob der Agent die junge Frau auf seine Arme und trug sie in seine Wohnung.



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