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Die drei Sonnen von Arlon

von

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Kapitel 2

Das kann nicht wahr sein. Ich muss träumen, denn anders kann ich mir nicht erklären, was ich hier gerade sehe. Ein junger Mann sitzt, nein er hockt, auf meinem Schreibtischstuhl und sieht mich direkt an. Nur seine braunen Augen sind sichtbar, den Rest des Gesichts hat er hinter einem schwarzen Halstuch versteckt. Sein schwarzes Haar trägt er zum Teil offen, nur das Deckhaar hat er zu einem kleinen Zopf gebunden. Bestimmt gibt es eine Bezeichnung für diese Frisur, aber diese will mir in diesem Moment nicht einfallen.

Mit seinem Outfit aus schwarzem Stoff und Lederpartien in Anthrazit an seinen Schultern, Knien und Ellbogen, sieht er aus, als käme er gerade von einer Convention.

Dass er in meinem Zimmer hockt, lässt mich erschaudern und meine Nackenhaare stellen sich auf. Noch mehr macht mir der Gedanke Angst, dass ich diesen Mann zu kennen glaube.

„E-Emiras?“, keuche ich heiser, als ich meine Stimme endlich wieder gefunden habe. Es ist beängstigend, wie leicht mir sein Name über die Lippen kommt. Selbst mehrmaliges Blinzeln lässt ihn nicht verschwinden. Seine linke Augenbraue hebt sich langsam, während seine Augen sich minimal verengen. Sein Blick wirkt ziemlich amüsiert auf mich, ein bisschen verständnislos, da ich ihn schon eine ganze Weile ungläubig anstarre, doch hauptsächlich amüsiert. „Und? Sehe ich so aus, wie ich aussehe?“, fragt er mich mit einem frechen Grinsen, das über sein ganzen Gesicht zu gehen scheint. Er sieht fast exakt so aus, doch anstatt es ihm zu sagen, nicke ich nur zaghaft. Der Emiras im Spiel hat eine helle Hautfarbe, wie es in den meisten Spielen leider Gang und Gäbe ist. Der Emiras vor mir hat eine dunklere Hautfarbe. So oft habe ich ihn schon gesehen, bin mit ihm über die Felder gerannt, durch Gestrüpp geschlichen und habe Feinde mit ihm erledigt. Emiras ist mir seit Beginn ein guter Gefährte und unterstützt mich aus dem Hintergrund, wenn ich es verlange. Emiras ist der Sidekick meiner Bogenschützin. Ein sogenannter NSC, ein nicht spielbarer Charakter. Er unterstützt mich im Kampf oder gibt Tipps, wenn ich mal nicht weiter weiß.

Und genau dieser Charakter, jemand, der exakt so aussieht, hockt jetzt auf meinem Stuhl. Wie jemand, der gerade eine Fährte liest, nur dass sein Blick nicht auf den Boden gerichtet ist, sondern auf mich. Mir, die aussehen muss, als habe sie gerade einen Geist gesehen.

„Was tust du hier?“ Ich bin mitten in einen schlechten Witz geraten. Ich muss träumen, anders ist nicht zu erklären, was hier gerade passiert. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, denn ich habe schon einen ähnlichen Traum gehabt. Der Unterschied besteht darin, dass ich in diesem allerdings selbst in Arlon war.

„Ich wäre nicht hier, wenn es dafür keinen Grund gibt, Kimba.“ Woher kennt er meinen Namen? „Arlon ist in Gefahr. Die Sonnen wurden gestohlen und wenn nichts unternommen wird, werden Arlon und die anderen Inseln untergehen.“

Die Sonnen, drei an der Zahl, sorgen für das Gleichgewicht zwischen Arlon, Luxia und Moordal. Arlon, die größte der drei Inseln, hält sie sicher in einem hohen Turm versteckt.

Wenn sie entwendet oder zerstört werden gehen die Inseln unter, so sagt man. Zuerst verwelkt das Gras und die Beeren an den Sträuchern werden bitter, bis überall nur noch karge Wüste übrig bleibt. Dann verhungern die Tiere und die Bewohner.

So schlimm das klingt, es ist immer noch ein Spiel und in einem Spiel ist alles fiktiv. Niemand in der realen Welt wird zu Schaden kommen. Es ist nur eine Legende, die sich innerhalb der Spieler erzählt wird und die auf vielen Seiten, die über das Spiel berichten, erwähnt wird. Vielleicht wird es irgendwann mal in einem DLC, einem Zusatzpaket, das man kaufen kann, angeschnitten. „Und?“, zucke ich mit den Schultern, denn in meinen Augen gibt es keinen Grund zur Sorge.

Jedes Spiel besteht aus Aufgaben, die in verschiedene Schwierigkeitsstufen geteilt sind. Das Verschwinden der Sonnen würde ich gefühlsmäßig in Stufe vier von fünf setzen. Vier, weil dann bestimmt ein Bosskampf folgen wird und dieser bekommt dann Stufe fünf von fünf.

„Das ist kein Spiel“, höre ich seine raue Stimme, die ziemlich ernst klingt. „Wenn die Sonnen nicht zurückkommen, dann kannst du deine geliebte Freizeitbeschäftigung vergessen und wir unsere Heimat.“ Das kann er nicht ernst meinen. Arlon existiert nicht, genauso wenig, wie Luxia und Moordal. Und wenn es diese Inseln nicht gibt, gibt es Emiras ebensowenig. Die Logik dahinter ist also, dass ich in einem Traum versunken bin.

„Ich möchte jetzt schlafen. Ich muss morgen früh raus.“ Mit diesen Worten werfe ich mich zur Seite, drehe Emiras den Rücken zu und kneife fest meine Augen zusammen. Ich spüre das leichte Zittern meines Körpers. Nur ein Traum, es ist nur ein Traum, er ist gleich verschwunden, gleich wird er verschwinden. Wie ein Mantra wiederhole ich die Worte immer und immer wieder in meinem Kopf. „Gut. Dann schlaf eben, aber ich komme wieder und dann nehme ich dich mit, Kimba.“ Ich höre, wie er aufsteht und etwas zu Boden fällt. Erschrocken drehe ich mich um und sehe wie ein paar Bleistifte auf dem Boden landen und in meine Richtung rollen. Von Emiras keine Spur mehr. Er ist verschwunden, wie er gekommen ist, plötzlich und lautlos, so wie es von einem Dieb erwartet wird.

Meine Augen brennen, als ich sie öffne und direkt aus dem Fenster blicke. Die Sonne steht tief und scheint ihren Spaß zu haben mir das Öffnen der Augen zu erschweren, indem sie mitten in mein Gesicht scheint. Mit einem Grummeln ziehe ich die Decke über den Kopf und drehe mich zur anderen Seite. Der Traum von dieser Nacht steckt noch tief in meinen Gliedern. Die Bleistifte, die immer noch auf dem Boden liegen, sind einfach nur zufällig von meinem Schreibtisch gerollt. Es hat bestimmt eine kleine Erschütterung gegeben und ich habe unterbewusst gehört, wie sie in der Nacht vom Schreibtisch gerollt sind und es in meinen Traum eingebaut.

Doch der Traum kommt mir viel zu wirklich vor, so als hätte ich dieses komische Gespräch über die verschwundenen Sonnen in Arlon wirklich geführt. Während ich aus dem Bett steige, denke ich über Emiras‘ Worte nach. Wenn die Sonnen wirklich verschwunden sind, wäre es mit Arlon und seinen Bewohnern zu Ende. Keiner weiß um was es sich bei den Sonnen handelt, wie sie aussehen oder wie man sie überhaupt erkennen kann. Erwiesen ist nur, dass sie hoch oben in einem Turm zu finden sind, der von Fallen und Monstern gesäumt ist. Es ist beinahe unmöglich diesen zu erklimmen. Beinahe, denn irgendjemand hat es anscheinend geschafft.

Es kann kein Mensch gewesen sein. Vielleicht ein Draakin, denn sie waren bekannt für ihre exzellenten, magischen Fähigkeiten oder die Raba, die ganze Wunder in Tarnung vollbringen konnten. Wer hatte einen Grund, der Welt so einen großen Schaden zufügen zu wollen? Die richtige Antwort ist natürlich die Ersteller des Spiels. Sie wollen uns Spieler bei Laune halten, es ist also naheliegend, dass es sehr bald den Sonnen an den Kragen gehen wird.

Dieser Gedanke beschäftigt mich den ganzen Morgen über. Immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich mit meinen Gedanken wegdrifte. So dumm es klingt, aber je länger ich darüber nachdenke, glaube ein wenig daran, dass es kein Traum gewesen ist. Was passiert, wenn Emiras wirklich gestern Nacht in meinem Zimmer gewesen ist und mich bald holen kommt? Wohin er mich bringen möchte, kann ich mir denken und das ist absurd, denn die einzig, logische Antwort ist, dass er mich ins Spiel holen will. Wenn wir mal davon ausgehen, dass es möglich ist, bleibt immer noch die Frage, warum ich es bin, die mitgehen soll.

„Seht sie euch an, wie sie so still da sitzt. Bist du eine Puppe?“ Kirsten blickt mich herausfordernd an und neben ihr stehen natürlich ihre Chihuahuas und grinsen mit dümmlich Gesichtern. Mit einem hohen IQ sind Anne und Chantal nicht gesegnet und das sieht man beiden sehr gut an. Mehr als Ausschnitt zeigen und ihre Haare flattern zu lassen, haben sie nicht auf dem Kasten. Kirsten selbst ist schlau und raffiniert.

In einer Schlacht würde sie Reiter anführen und mit erhobenen Schwert vorne weggaloppieren. Ich stelle sie mir immer in einer silbernen Rüstung vor, den Helm im rechten Arm, während ihre kurzen, schwarzen Haare streng ihr spitzes Gesicht einrahmen. Wir stehen uns gegenüber hinter ihr berittene Soldaten in glänzenden Rüstungen. Hinter mir steht meine Gilde, wild zusammen gewürfelt in allen Größen, Farben und Formen. Vom Magier, über Drache bis hin zu Mischwesen ist alles dabei. Der Kampf beginnt, Schreie hallen durch die Nacht und dann passiert es. Ich hebe meinen Bogen, setze an und der Pfeil fliegt. Er rotiert in der Luft und durchschlägt surrend ihren Hals, ein glatter Durchschuss. Durch die Wucht fliegt sie im hohen Bogen aus dem Sattel und landet mitten im Matsch. Wie sehr ich mir doch wünsche, ihr das wirklich antun zu können.

Sie weiß, wie sie sich kleiden muss, um sexy aber nicht billig aus zu sehen. Die Männer liegen ihr zu Füßen und scheinen ihr jeden Wunsch von den Augen zu lesen, aber ich erkenne die Hässlichkeit in ihrem schönen Körper. Wäre Kirstin eine Figur in einem Buch, dann wäre sie das Mädchen, mit dem die naive Protagonistin unbedingt und um jeden Preis befreundet sein will. Doch ich wäre anders, ich würde meinen eigenen Weg gehen und mir Freunde suchen, die mich mögen, wie ich bin.

„Ich rede mit dir.“ Wieder stupst mich Kirsten mit ihrer Nagelfeile von der Seite an, so wie es zuvor getan hat. Das spitze Ende bohrt sich in meinen Oberarm, wo es sicher sine Spuren hinterlassen wird.

„Was willst du?“, versuche ich meine Stimme desinteressiert und kühl klingen zu lassen und glaube, dass es mir sogar ziemlich gut gelingt. „Lass mich deine Hausaufgaben abschreiben, Streber. Oder du gibst sie mir einfach sofort, was noch besser ist.“ Wie klug ihre Ideen doch manchmal sind. Dumm nur, dass sie eine totale Niete in Mathematik ist. Schlimmer noch als ich.

„Und was ist, wenn es rauskommt?“ Was es natürlich wird, denn die Lehrer wohnen nicht hinter dem Mond. „Du Dummerchen, du hast sie mir doch freiwillig gegeben. Wolltest mir halt helfen.“ Wieder spüre ich die Spitze der Feile, sie bohrt sich ein Stück fester in meinen Oberarm und morgen wird ein blauer Fleck an der Stelle sein.

Langsam schiebe ich ihr mein Heft zu, in dem die Hausaufgaben stehen. Gerne hätte ich gesagt, dass ich ein Ass im Ärmel habe, dass ich gewusst habe, dass es so kommt und zweimal die Aufgaben gelöst habe. Einmal so wie ich sie wirklich gemacht habe und einmal nur vor Fehlern triefend. Kirstin wäre es sowieso nicht aufgefallen.

Ich reibe mir den Arm, als Kirsten sich entfernt.

Emiras Worte gehen mir nicht aus dem Kopf. Der Traum wirkte so real, so echt und greifbar, dass ich mir mit jeder Sekunde unsicherer werde. Sind die Stifte nicht Grund genug? Noch bevor ich diesen Gedanken überhaupt beende, verwerfe ich ihn wieder. Es war ein Zufall, mehr kann nicht dahinter stecken. Als ob sich Charaktere aus Computerspielen plötzlich selbstständig machen, wie in dem Film Toy Story. Was kam als nächstes? Ein riesiger Roboter, der von einem Alien gesteuert wird und die Welt vernichten will? Gerade so schaffe ich es nicht selbst über mich zu lachen. Die anderen halten mich sowieso schon für verrückt.

Das war doch lächerlich. Kirsten klaut mir die Hausaufgaben und ich denke über einen bescheuerten Traum nach. Und das alles regt mich mehr auf, als es sollte.

Ich soll Arlon retten und die Sonnen zurück an ihren Platz bringen. Noch nicht einmal im Spiel sind die Sonnen in Gefahr, das habe ich heute Morgen noch gecheckt, außerdem weiß keiner, wer oder was genau diese Sonnen sind, geschweige denn, wie sie überhaupt aussehen. Das halten die Entwickler des Spiels geheim. Es gibt Mutmaßungen und verschiedene Theorien, die eine absurder als die andere, doch ob eine davon richtig ist, wurde bisher noch nicht bestätigt. Viele glauben, dass die Entwickler selbst noch nicht einmal wissen, wie sie sich die Sonnen vorstellen und bis heute daran gearbeitet wird.

Erst ein Räuspern zieht mich aus meinen Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Vor mir steht mein Lehrer und sieht nicht gerade erfreut aus. Die Arme vor der Brust verschränkt, hebt er seine rechte Augenbraue. „Würden wir dann wieder dem Unterricht beiwohnen oder lieber an unseren Trommelkünsten arbeiten?“

Jetzt erst fällt mir auf, dass ich die ganze Zeit über mit meinen Fingern auf dem Tisch getrommelt habe. Leise, aber wohl laut genug, dass der Rest der Klasse sich davon gestört fühlt.

Ich murmle eine Entschuldigung und verstecke meine Hände hektisch unter der Holzplatte, wo ich nervös mit dem Saum meines Pullovers spiele.

Ich habe absolut keine Ahnung, wie ich beim nächsten Mal reagieren will, wenn er wieder auftaucht. Fest steht, dass ich Emiras beim nächsten Mal nicht so einfach entkommen lassen kann.

Meine Hände ballen sich zu Fäusten, die auf meinen Knien liegen. Beim nächsten Mal. Das klingt, als würde ich darauf hoffen, oder wissen, dass es ein nächstes Mal gibt. Purer Schwachsinn! Niemand krabbelt so einfach aus einem Monitor und steht plötzlich in fremden Zimmern. Unsere Welt war technisch zwar sehr weit fortgeschritten, aber so etwas hätte man in allen Nachrichten publik gemacht. Ich muss also geträumt haben, ohne jeglichen Zweifel.



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