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Herz über Kopf

von

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Zwischen den Stühlen

Der Montagmorgen kam viel zu schnell und doch nicht schnell genug. Während ich noch meine Sachen packte und hektisch den Kühlschrank nach etwas Essbarem zum Mitnehmen durchsuchte, witzelte meine Mutter vom Frühstückstisch aus, dass ich es wohl eilig hätte, von zu Hause wegzukommen. Mein Vater brummte daraufhin, dass ja auch nur noch ein Jahr Zeit wäre, um ein gescheites Abschlusszeugnis auf die Reihe zu kriegen. Ich schwieg dazu und stürzte den Rest der dritten Tasse Kaffee dieses Morgens hinunter. Mit Chance würde sie die Müdigkeit der schlaflosen Nacht vertreiben. Ich hatte bis in die frühen Morgenstunden wachgelegen und mir ein Horrorszenario nach dem anderen ausgemalt.

 

„Fahr vorsichtig“, mahnte meine Mutter noch, als ich schon fast aus der Tür war.

 

„Bin ich doch immer“, erwiderte ich und ignorierte die Proteste meines Vaters, der es sich nicht nehmen ließ, das Gegenteil zu behaupten.

 

Ich schulterte meinen Rucksack und ging in den Stall, um mein Rad zu holen. Als ich es auf den Hof geschoben hatte, hielt ich einen Augenblick inne und strich nachdenklich über die geriffelte Oberfläche der Griffe. Sie sollte verhindern, dass man bei Sprüngen und ähnlichem abrutschte. Wie das ausgehen konnte, sah man oft genug in den Nachrichten. Durch die Geschwindigkeiten und das abschüssige Gelände, war schnell allerhand passiert. Es erhöhte den Kick, es ohne Absturz geschafft zu haben.

 

Vielleicht sollte ich mal wieder auf den Trail. Ein bisschen Anspruch reinbringen. Oder ich frage Benedikt, ob er am Wochenende mit mir den Weg im Forst abfährt. Der ist nicht so steil, da dürfte er mithalten können.

 

Die Idee im Hinterkopf schwang ich mich in den Sattel und trat in die Pedale. Wenn ich Glück hatte, konnte ich ihn noch vor der ersten Stunde abfangen und danach fragen. Der Gedanke ließ mich schneller fahren.

 

 

Als die Schule in Sichtweite kam, wurde ich zwangsweise langsamer. Um mich herum waren etliche Radfahrer unterwegs. Sie bevölkerten Geh- und Radwege und wichen schließlich auf die Fahrbahn aus, um schneller voranzukommen. Autos bogen in die kleine Straße ein, deren Rand mit Fahrzeugen vollgeparkt war, und quälten sich in endloser Reihe durch die verkehrsberuhigte Zone bis zu unserer Schule. Stimmen, Lachen und gelegentliches Hupen erfüllte die Luft. Die kleineren Schüler waren aufgeregt, ihre Freunde wieder zu treffen. Sie wuselten wie die Lemminge in Richtung Eingang, während sie einander zuwinkten oder sich beim Namen riefen. Dazwischen die Oberstufler – auch einige bekannte Gesichter – die sich mit mehr Bedacht näherten. Zu zweit, zu dritt oder auch allein strebten sie den großen Glastüren entgegen. Drinnen konnte ich bereits die Umrisse meiner Jahrgangskameraden entdecken. Sie belagerten die Ecke der Pausenhalle, die wir uns mit dem Eintritt in die letzten drei Schuljahre gesichert hatten. Nach unserem Abschluss würde die nächste Generation vorrücken und uns ersetzen.

 

Mit gemischten Gefühlen bog ich in den Weg ein, der mich zum Fahrradkeller bringen würde. Pflichtschuldig stieg ich ab, als ich die Rampe erreichte, die nach unten führte. Die Aufsicht führende Lehrkraft hätte mich sonst mit ziemlicher Sicherheit zurückgepfiffen und darauf konnte ich so früh am Morgen nun wirklich verzichten.

 

Unten war ein Gutteil der Ständer bereits belegt. Ich steuerte einen Platz neben einer der runden Säulen an und schob den Vorderreifen zwischen die zwei Metallstangen. Während ich mein Gefährt daran festkettete, hörte ich einen weiteren Radler in den Keller kommen. Er blieb im gleichen Gang stehen, das Geräusch seines Fahrradständers war zu hören, als er ausgeklappt wurde, und dann …

 

„Buh!“, machte es direkt hinter mir. Ich schrak zusammen und wirbelte herum. Benedikt grinste mich an, sodass ich unwillkürlich auch anfing zu lachen.
 

„Bist du verrückt“, rief ich trotzdem und schlug nach ihm. Er wich dem Schlag aus und kam gleich darauf wieder näher.
 

„Du warst so versunken, dass ich die Gelegenheit einfach nutzen musste.“
 

Seine Augen leuchteten und sein Gesicht war leicht gerötet. Unter dem Haaransatz glänzten ein paar Schweißtropfen im Schein der Neonröhren. Ich kämpfte mit dem Wunsch, ihn an mich zu ziehen.
 

„Wie war dein Sonntag?“

„Ruhig. Und bei dir?“

„Auch. Ich hab ein bisschen an einem Song gearbeitet.“

 

Benedikt lächelte. Seine Augen zogen mich an und gleichzeitig aus.

 

„Ist er gut geworden?“

„Weiß nicht. Glaub schon.“

„Krieg ich den mal zu hören?“

 

Ich atmete tief durch. Im Grunde war der Song für ihn, also …

 

„Ich brauch dafür ein Klavier. Habt ihr eins zu Hause?“

„Nein.“

„Dann sieht’s schlecht aus. Es sei denn …“

„Ja?“
 

Benedikt musterte mich aufmerksam.
 

„Es sei denn, du kommst mal mit zu mir. Ich … könnte ihn dir vorspielen.“

 

Ich sah das kleine Lächeln, das an Benedikts Mundwinkeln zupfte. Er unterdrückte es, so gut er konnte. Vielleicht um mich nicht unter Druck zu setzen. Vielleicht waren das aber auch nur meine Gedanken.
 

„Ja, gerne“, sagte er schließlich.
 

„Schön“, antwortete ich. Mein Blick glitt an ihm vorbei zu zwei Mittelstuflern. Sie hatten gerade ihre Räder abgeschlossen und befanden sich in ein Gespräch vertieft auf dem Weg zum Ausgang. Wenn sie außer Sichtweite waren, wären Benedikt und ich allein.

 

Benedikt hatte meinen Blick bemerkt. Seine Augen schwenkten wieder zu mir zurück und ich sah die Frage darin. Ich nickte unmerklich. Wir warteten mit angehaltenem Atem ab, bis die beiden Jungs endlich um die Ecke verschwunden waren. Als ich mir sicher war, dass uns keiner mehr sehen konnte, trat ich schnell auf Benedikt zu. Ich schloss die Augen, als ich seine Hände fühlte, die mich in eine Umarmung zogen. Seine Lippen streiften meinen Mund und ich öffnete ihn, ohne zu überlegen. Wir küssten uns tief. Leidenschaftlich. Benedikts Finger pressten sich in meine Seiten. Am liebsten hätte ich nie wieder damit aufgehört. Es fühlte sich so gut an. So echt.

 

Ich war kurz davor, ihn zu fragen, ob wir schwänzen sollten, als bereits die nächsten Schüler mit ihren Rädern in den Keller kamen. Schnell trennten Benedikt und ich uns wieder. Sahen in verschiedene Richtungen. Er trat in den Gang zurück, griff nach seinem Rad und schob es zu einem der weiter entfernten Fahrradständer. Ich hingegen nahm meine Tasche und ging los, ohne mich noch einmal umzudrehen. Es war besser, wenn wir nicht zusammen ankamen. Weniger verdächtig. Meine Lippen prickelten von dem Kuss.

 

 

„Hey, T! Hast dich ja am Wochenende gar nicht blicken lassen.“

 

Leon hob die Hand zum Gruß. Ich klatschte mit ihm ab und ließ mich neben Jo fallen, der bereits an eine der halbhohen Heizungen gelehnt dasaß. Er grinste, als er mich sah.

 

„Du siehst aus, als hättest du ne lange Nacht gehabt. Hat Mia bei dir gepennt?“

 

Sein Grinsen wurde anzüglicher und meines schief. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, ihm die „schlechte Neuigkeit“ erst auf dem Weg zum Unterricht zu beichten. Je weniger Zeit er hatte, um mich auszuqetschen, desto besser.
 

„Nein, hat sie nicht“, erwiderte ich kurz angebunden und sah woanders hin. Vielleicht würde er das Thema fallen lassen, wenn ich nur barsch genug reagierte. Leider hatte ich meine Rechnung ohne Jo gemacht.

 

„Oho“, machte er und hob abwehrend die Hände. „Hast du deine Tage oder was?“

 

„Nein.“

 

Meine Erwiderung war nicht viel mehr als ein dunkles, warnendes Knurren. Ich hatte keine Lust, ihm von der Sache zu erzählen, und jeder andere hätte das aus meinen einsilbigen Antworten wohl herausgehört. Jo hingegen schien davon nur noch mehr angestachelt zu werden.
 

„Nun sag schon, was los ist“, drängte er.

 

Ich seufzte innerlich und stellte mich dem Unvermeidlichen.
 

„Ich hab mit Mia Schluss gemacht.“

 

„WAS?“
 

Jo riss die Augen und den Mund sperrangelweit auf.
 

„Das ist nicht dein Ernst. Bist du irre?“

 

Ich zuckte mit den Schultern.

 

„Die Diagnose steht noch aus.“

„Ja, aber … ich dachte … Das fass ich jetzt ja nicht.“

 

Jo fiel tatsächlich aus allen Wolken. Dass Mia in diesem Moment am anderen Ende der Pausenhalle auftauchte, machte es nicht unbedingt besser. Zudem kam Benedikt ausgerechnet jetzt von unserer Seite aus herein und ging an den Tischen vorbei in Richtung Loserecke. Ich bemühte mich, ihm nicht nachzusehen. Das wiederum ließ mir nur die Wahl zwischen Mia oder Jo. Ich entschied mich für Letzteres.

 

Mein bester Freund hatte bemerkt, dass Mia im Anmarsch war. Sein Blick wanderte zwischen ihr und mir hin und her.

 

„Und jetzt?“, fragte er halblaut.

 

Auch Leon rutschte ein Stück näher, während Phillip so tat, als hätte er nichts mitgekriegt. Dass dem nicht so war, wurde mir spätestens klar, als ich Alina ein bisschen zu laut mit Jessica tuscheln hörte. Die Neuigkeit verbreitete sich wie eine angebrannte Pulverschnur. Sie sprang von Tisch zu Tisch, von Ohr zu Ohr und jeder wartete nur darauf, dass es irgendwo explodierte. Es erinnerte mich an die Sache, als ich mal von einer Verehrerin einen anonymen Liebesbrief bekommen hatte. Ich hatte Jo ganz im Vertrauen davon erzählt und mit ihm gerätselt, von wem er wohl stammen könnte. Am nächsten Tag war die Klasse einem Bienenstock gleichgekommen, an den jemand Feuer gelegt hatte. Es war nie herausgekommen, von wem der Brief gewesen war, aber seit dem Tag wusste ich, dass Geheimnisse bei Jo nicht besonders gut aufgehoben waren.
 

„Was soll jetzt sein?“, brummte ich halblaut als Antwort auf seine Frage. „Wir sind nicht mehr zusammen.“

 

„Ja, aber … das geht doch nicht.“

 

Jo schien immer noch vollkommen fassungslos. Wahrscheinlich wäre er weniger entsetzt gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass ich nach der Schule ins Kloster gehen und Mönch werden wollte. Oder mir meinen rechten Arm amputieren.

 

„Warum nicht?“, fragte ich möglichst gelangweilt zurück.

 

„Na weil … weil ihr immer zusammen wart.“

„Ja, und jetzt nicht mehr. Außerdem war es gar nicht immer.“

„Wie lange?“

„Zwei Jahre.“

„Krass.“

 

Jo stieß erneut einen Laut der Verblüffung aus, während ich mich bemühte, nicht in Mias Richtung zu schauen. Als ich doch hochblickte, sah ich, wie sie sich mit Anne unterhielt. Sie stand seitlich zu mir und strich sich gerade die Haare aus dem Gesicht. Ich konnte nicht anders, als sie anzusehen.
 

„Alter!“

 

Jos Stimme holte mich wieder zurück in die Wirklichkeit.
 

„Du schaust sie ja immer noch an wie ein Mondkalb. Jetzt sag schon, was los ist. Hat sie einen anderen?“

 

Ich schüttelte nur den Kopf.
 

„Es reicht einfach nicht mehr. Du solltest das doch kennen. Ich mag sie immer noch gern, aber das Kribbeln ist weg. Deswegen haben wir beide beschlossen, uns zu trennen.“

 

Ich sah Jo an und sein Gesicht zeigte echtes Bedauern.
 

„Tut mir leid, Mann“, sagte er und schlug mir nochmal auf die Schulter. „Ich hab immer gedacht, ihr heiratet mal oder so. So kann man sich irren.“

 

„Tja“, sagte ich dazu nur. Wie es aussah, war das Thema wohl doch schneller vom Tisch, als ich gedacht hatte.
 

„Und wann schwingst du dich wieder in den Sattel?“

 

Ich hob fragend die Augenbrauen.

 

Jo wagte ein Grinsen.
 

„Na ja. Ich meine, willst du dir was Neues suchen?“

 

Ich schüttelte den Kopf.
 

„Nein, erst mal nicht. Ich brauch erst mal ne Auszeit. Vielleicht in ein paar Wochen.“

 

Oder Monaten. Oder nie. Weil ich nämlich schon mit jemandem zusammen bin.
 

„Alles klar. Aber als Wingman kann ich dich doch noch hernehmen, oder?“

„Klar.“
 

Wie ich das regeln sollte, wusste ich zwar noch nicht, aber da ich ohnehin nicht mit Benedikt weggehen konnte …

 

„Hast du dir eigentlich schon den Stundenplan reingezogen? Montags als Erstes ne Doppelstunde Deutsch. Die haben doch den Arsch offen.“

 

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, wie Jo weiter über die Ungerechtigkeit des Schülerdaseins im Allgemeinen und seines im Besonderen lamentierte. Mit den Augen verfolgte ich immer noch, wie sich die Nachrichten von Mias und meiner Trennung weiter verbreitete. Nur noch wenige Schülerinnen, und sie würde Mia erreichen. Da, jetzt war es soweit. Ich konnte sehen, wie Vanessa sie ansprach. Mias Lächeln wurde gequälter und sie nickte flüchtig. Dabei huschten ihre Augen für einen Moment zu mir. Ich drehte den Kopf schnell in eine andere Richtung. Ich konnte sie jetzt nicht ansehen. Obwohl das hier genau das war, was wir vereinbart hatten, kam ich mir vor wie ein Verräter. Am liebsten hätte ich meine Sachen genommen und wäre gegangen. Aber natürlich ging das nicht. Also blieb ich und machte gute Miene zum bösen Spiel, als würde mich das alles nichts angehen.

 

Zum Glück rettete mich der Gong zur ersten Stunde vor weiteren Befragungen. Da Jo bereits in Erfahrung gebracht hatte, wo wir hinmussten, ließ ich mich einfach von ihm mitziehen in Richtung Altbau. Wir landeten in einer neunten Klasse, die offenbar um diese Zeit Sport hatte oder in einem der Fachräume ihr Unwesen trieb. Die U-Form der Sitzordnung weckte Erinnerungen in mir.

 

Ohne lange zu überlegen ging ich quer durch die Klasse in Richtung der Fenster und setzte mich auf einen freien Platz. Neben mir waren auf der linken Seite noch zwei Plätze bis zum Tischende. Jo folgte mir mit gerunzelter Stirn.
 

„Was machst du da?“

 

„Ich sitze“, gab ich zur Auskunft. „Solltest du auch mal probieren. Ist wirklich bequem.“

 

„Nein, das meine ich nicht. Ich meine, warum hier?“

„Warum nicht hier?“

 

Ich wusste natürlich, was er meinte. Seit unser Klassenverband aufgelöst und wir im Kurssystem zu Nomaden geworden waren, die immer da ihre Zelte aufschlugen, wo sich ein freier Platz bot, hatten Jo und ich uns angewöhnt, irgendwo in den hintersten Reihen zu sitzen. Dass ich mich jetzt wie auf dem Präsentierteller vor den Lehrertisch gesetzt hatte, schmeckte ihm sichtlich überhaupt nicht.

 

„Schon vergessen? Ich hab Deutsch als Prüfungsfach. Ich muss hier was lernen.“

 

Jo rollte nur mit den Augen.
 

„Ja ja, T der Streber. Na schön, dann rück mal rüber.“

 

Er knallte seinen Rucksack auf den Tisch vor mich, doch als ich mich nicht bewegte, rutschte er ihn einen Platz weiter nach innen und ließ sich neben mir auf den Stuhl fallen. Der erste Teil meines Plans war somit aufgegangen. Fehlte nur noch Teil zwei. Jo meckerte immer noch.

 

„Hauptsache, Erich lässt uns nicht wieder was von den ollen Griechen lesen. Die kommen mir inzwischen schon zu den Ohren raus. Wenn ich noch einmal 'Iphigenie' höre, fang ich an zu schreien. Die Tante nervt. Aber so was von.“

 

Ich verzog bei dem Gedanken an unseren vorangegangenen Lesestoff ebenfalls das Gesicht. Herr Kästner, dessen richtigen Vornamen wir nicht kannten, weil er so neu an der Schule war, dass er noch in keinem der unregelmäßig auftauchenden Jahrbücher genannt worden war, wurde von uns hinter seinem Rücken immer nur „Erich“ genannt. Erschwerend zum Nachnamen kam nämlich hinzu, dass er einer Bronzestatue des berühmten Schriftstellers erstaunlich ähnlich sah, auch wenn seine Augenbrauen sehr viel weniger ausgeprägt waren. Weitaus hervorstechender war hingegen seine spitze Zunge, die er auch gleich unter Beweis stellte, als er nur wenige Augenblicke nach uns den Raum betrat.

 

„Ach, ihr schon wieder. Man denkt, man ist euch endlich los, und dann kommt ihr doch wieder angekrochen, um hier in meinem Unterricht Desinteresse zur Schau zu stellen. Na ja. Wollen wir mal sehen, ob ich mir nicht noch ein wenig Arbeit ersparen kann. Also: Wer von euch hat vor, sich in Deutsch prüfen zu lassen?“

 

Neben meiner Hand gingen tatsächlich nur noch vier weitere Hände nach oben. Unter anderem die von Ben, unserem ehemaligen Klassensprecher, und Sandra, seiner Exfreundin und ebenfalls ehemaliger Klassensprecherin. Die beiden hatten sich bereits letztes Jahr getrennt, was jedoch keinen so wirklich überrascht hatte.

 

„Ah, immer noch die gleichen Todgeweihten wie im letzten Jahr. Nun ja. Lässt sich hoffentlich noch ändern, wenn ihr hört, was ich dieses Jahr mit euch geplant habe.“

 

Gemurmel wurde laut und gab mir die Gelegenheit, mich umzusehen. Dadurch, dass die Deutschkurse noch in der bis zur zehnten Klasse üblichen Besetzung abgehalten wurden, waren wir bis auf ein paar Neuzugänge und Abzüge durch Sitzenbleiber immer noch die gleiche Truppe wie in der Mittelstufe. Das bedeutet, dass Benedikt eigentlich in meinem Kurs hätte sitzen müssen. Ich konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Stattdessen referierte Herr Kästner vorne fleißig weiter.
 

„Weil wir uns hier mit den großen Errungenschaften deutscher Sprache beschäftigen, werden wir uns dieses Halbjahr einem der großen Meisterwerke widmen. Irgendwelche Ideen, was ich meinen könnte? Degenhardt?“

 

Der Tod in Venedig?“ Sandra saß aufrecht da mit ihrem asymmetrischen Pony und ihrer weißen Bluse, die ihr das Aussehen einer angehenden Staatsanwältin gab.

 

„Gute Idee, aber falsch“, gab Herr Kästner zurück. „Weiter.“

 

Krieg und Frieden.“ Ben, der seinen Einruf nur mit einem angedeuteten Melden angekündigt hatte, linste um Beifall heischend in die Runde. Es kam jedoch nur ein müdes Lächeln von Herrn Kästner und Desinteresse vom Rest des Kurses.
 

„Netter Versuch, Neumann, aber wieder falsch. Was hat denn unser Graf dazu zu sagen?“

 

Mein Herz machte einen kurzen Satz, denn ich wusste, dass ich damit gemeint war. Seit dem Tag, an dem ich ihn darauf hingewiesen hatte, dass mein Nachname von Hohenstein war, ließ unser Deutschlehrer es sich nicht nehmen, mir allerhand Adelsbezeichnungen an den Kopf zu werfen. Ich ließ es meist klaglos über mich ergehen.
 

'Das fliegende Klassenzimmer' vielleicht“, riet ich drauf los. Die schmalen Brauen meines Gegenübers hoben sich.

 

„Sie sind ja heute mal wieder ein ganz Witziger. Wohl einen Clown im Müsli gehabt. Aber diese Flausen werde ich Ihnen schon austreiben.“

 

Ich grinste.

 

„Ach … Dann lesen wir doch 'Emil und die Detektive'?“

 

Mir war vollkommen schleierhaft, was mich da gerade antrieb. Vielleicht eine neue Art von Selbstzerstörungswahnsinn. Im Kurs wurde Gelächter laut. Herrn Kästners Augenbrauen hingegen statteten sich einen Besuch ab.

 

Oh glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!“, proklamierte er und sah mich streng an. „Wissen Sie aus welchem Buch das ist?“

 

Immer noch kicherten einige, doch mir war beim Anblick meines Lehrers das Lachen im Halse steckengeblieben. Ich schluckte.
 

„Nein, leider nicht“, gab ich kleinlaut zu.

 

„Dann sollten Sie es schleunigst nachlesen. Und zwar im 'Faust', wenn ich bitten darf. Davon werden Sie ja wohl schon mal etwas gehört haben.“

„Ja?“

„Ist das eine Frage?“

„Nein.“

 

Her Kästner schnaubte nur.

 

„Will ich Ihnen auch nicht geraten haben, sonst dürfen Sie nämlich gleich noch eine Ehrenrunde drehen und jemand anderen mit Ihren Stümpereien belästigen. Und jetzt sehen Sie mal nach, wo Dorn und Wischnewsky bleiben. Die beiden sollten den 'Faust' aus der Bibliothek mitbringen, aber da sie noch nicht hier sind, hat sich Wischnewsky womöglich einen Bruch an einem Schnellhefter gehoben. Also gehen Sie und sehen Sie zu, was Sie mit ein bisschen Mund-zu-Mund-Beatmung erreichen können. Vorzeitiges Ableben ist keine Entschuldigung, um zu spät zum Unterricht zu kommen.“

 

„Bloß blöd, dass Anton kein Mädchen ist“, rief irgendjemand aus der hinteren Reihe. Ich verzog das Gesicht zu einem zähnestarrenden Lächeln.
 

„Wie witzig.“

„Ja sehen Sie mal, Sie haben den Humor nicht für sich allein gepachtet. Also los, ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf.“

 

Ich verbot mir eine weitere Bemerkung und erhob mich, um mich auf den Weg in die Lehrmittelbibliothek zu machen. Hinter mir begann Herr Kästner, irgendetwas in schrägen, kaum lesbaren Buchstaben an die Tafel zu schreiben. Als ich an der Bücherei ankam, fand ich Benedikt und Anton mit einem Wagen voller Bücher vor.
 

„Hey ihr beiden“, sagte ich und blieb an der Tür des bis an die Decke mit altem Papier vollgestopften Raums stehen. „Erich schickt mich. Ihr sollt euch beeilen.“

 

Die beiden drehten sich zu mir herum und Anton rückte sogleich seine Brille zurecht.
 

„Wir sind hier auf einige technische Schwierigkeiten gestoßen. Die anderen beiden Kurse lesen ebenfalls Faust. Es gibt daher nur noch drei Exemplare und die sind eher … minderwertig.“

 

Er deutete auf drei schon ziemlich zerfledderte Bücher. Bei einem fehlte der Einband, bei einem anderen die ersten vierzehn Seiten. Ich runzelte die Stirn.
 

„Und jetzt?“

„Jetzt haben wir uns erlaubt, eine Auswahl an Alternativen rauszusuchen. Möchtest du auch noch Wünsche anmelden?“

 

Ich warf einen Blick auf den vollbesetzten Wagen. Auf einem der obersten Stapel lagen „Die Physiker“ gleich neben „Das Glasperlenspiel“ und „Homo Faber“. Ich sah auf den Titel und musste schlucken.

 

„Wollt ihr die etwa alle mitnehmen?“

 

Anton sah mich geradeheraus an.

 

„Natürlich. Das mindert die Gefahr, dass er uns womöglich Lyrik des 19. Jahrhunderts lesen lässt. Ich halte nicht viel von Gedichten.“

 

Wieder verzog ich das Gesicht. Die Frage, ob Benedikt ihm schon von uns erzählt hatte, drängte sich mir auf und drohte alles zu ersticken. Ich hatte keine Ahnung, woran Benedikt das merkte, aber er trat mit einem Mal zu mir und legte den Kopf ein wenig schief.
 

„Hey, alles in Ordnung. Anton weiß Bescheid.“

 

Ich wünschte mir, ich hätte in dem Moment aufatmen können, aber ich konnte nicht. Zu groß war meine Angst, dass Benedikts bester Freund etwas dagegen haben könnte. Unsicher hob ich den Blick und sah ihn an. Anton schaute zurück. An seinem Gesicht war nicht abzulesen, was er darüber dachte, dass Benedikt und ich …

 

„Wenn du an meiner Meinung interessiert bist, könntest du mich danach fragen“, schlug Anton plötzlich vor. Ich blinzelte überrascht.
 

„Dich … was?“

 

„Mich fragen, was ich davon halte, dass ihr beide zusammen seid“, erklärte Anton noch einmal geduldig, als würde er mit einem Fünftklässler reden. „Deine Körperhaltung und deine angespannte Kiefermuskulatur lassen darauf schließen, dass dich diese Frage beschäftigt. Da ich einer von Benedikts wichtigsten Peers bin, ist es nur natürlich, dass du meine Reaktion fürchtest. Aber sei unbesorgt. Ich billige eure Verbindung.“

 

Wieder blinzelte ich. Vermutlich, weil mein Gehirn nicht wusste, welchen Befehl es auf eine solche Ansprache hin an meinen Körper zu senden hatte. Es war Benedikt, der mich aus der Situation rettete.
 

„Hey, entspann dich. Er hat gesagt, es ist alles okay. Er freut sich.“

 

Ich warf noch einen Blick auf Anton. So sah Anton aus, wenn er sich freute? Nun ja, das war … auch nicht anders, als er sonst aussah. Glaubte ich. Wieder musste ich schlucken.
 

„Ich … ja … es ist ein bisschen schräg, aber … ich freu mich, dass du es …. billigst.“

 

Anton nickte und jetzt streifte doch tatsächlich so etwas wie ein Lächeln sein Gesicht.

 

„Zwischen euch beiden war schon seit langem eine starke Anziehung zu bemerken. Ich war mir allerdings zugegebenermaßen nicht ganz sicher, wie es um deine sexuelle Orientierung bestellt ist. Ich hatte Bisexualität für am wahrscheinlichsten gehalten. So kann man sich irren.“

 

„Äh, ja“, machte ich. Mehr fiel mir dazu gerade nicht ein. Da stand dieses Männlein vor mir, das einen guten Kopf kleiner war als ich und etwa die Hälfte wog, mit kaum Muskeln, blasser Haut und einen breiten Mund in seinem nerdigen Gesicht und unterhielt sich mit mir über meine „sexuelle Orientierung“ als wäre es das Wetter.
 

Ich hörte, wie Benedikt leise lachte.
 

„Keine Bange, das macht er nicht so oft.“ Er wandte sich an seinen Freund. „Anton, hör auf Theo zu ärgern.“

 

Sogleich verschwand der überhebliche Gesichtsausdruck und wurde durch ein Grinsen ersetzt.
 

„Ach, ich wollte das schon lange mal machen. Außerdem ist Theos Fall wirklich sehr faszinierend. Er hat lange gebraucht, um es zu merken.“

„Wem sagst du das.“

 

Benedikts letzter Satz war mit einem Seufzen verbunden, doch in seinen Augen lag ein warmer Glanz. Er beruhigte meinen fliegenden Puls ein wenig.
 

„Wir sollten vielleicht zurückgehen“, sagte ich und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. „Erich wird bestimmt langsam ungeduldig.“

 

„Da hast du recht“, stimmte mir Anton zu. „Unsere Literaturauswahl sollte inzwischen ausreichend sein, um darunter etwas zu finden, das Herrn Kästner überzeugt. Ich persönlich hoffe ja auf etwas von Kafka.“

 

„Mit der Hoffnung stehst du aber alleine“, erwiderte Benedikt lachend und klemmte sich hinter die Griffe des Bücherwagens.

 

„Hilfst du mir“?, fragte er an mich gewandt.

 

„Klar“, gab ich zurück und wollte schon anfangen zu ziehen, als mir noch etwas einfiel. Ich blieb stehen und sah ihn an.
 

„Ich … neben mir sind übrigens noch zwei Plätze frei. Ich hab gedacht, dass vielleicht du und Anton …“

 

Benedikt richtete sich auf. Auf seinen Zügen lag leichte Verblüffung.
 

„Ich soll neben dir sitzen?“, fragte er. „Aber … was ist mit Jo?“

 

Ich zog die Schultern ein winziges Stück nach oben.

 

„Früher oder später wird er sich eh daran gewöhnen müssen, dass du jetzt Teil meines Lebens bist.“

 

Für einen Augenblick glaubte ich, dass Benedikt hinter dem Wagen hervortreten und mich küssen würde, aber er tat es nicht. Stattdessen lächelte er nur leicht.
 

„Das wird ihm aber gar nicht gefallen.“
 

„Ich weiß“, sagte ich leise. „Aber mir gefällt es.“
 

Der Erste, der jedoch nach unserer Rückkehr seinen Unmut kundtat, war Herr Kästner. Er beklagte wortreich den eklatanten Mangel an ausreichend "Faust" für alle. Dicht gefolgt von Jo, der sich beschwerte, als er die Bücherauswahl sah.
 

„Haben die die Bibliothek leergeräumt?“, raunte er mir zu und warf einen frostigen Blick in Benedikts und Antons Richtung.
 

„Nein, nur dafür gesorgt, dass du keine Gedichte analysieren musst“, gab ich ebenso leise zurück, während Herr Kästner immer noch wetterte.
 

„Ach so?“, machte Jo ganz erstaunt. „Na, dann sei ihnen verziehen.“
 

„Mir deucht, das ist eine wunderbare Idee“, flachste ich zurück und warf gleich darauf einen Blick zu Benedikt, der es sich neben mir gemütlich gemacht hatte.
 

„Das wird“, formte ich mit den Lippen und erntete ein angedeutetes Lächeln, bevor wir uns beide wieder dem Unterricht zuwandten. In meinem Bauch machte sich ein warmes, angenehmes Gefühl breit.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (7)

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Von:  fatua
2021-01-25T20:03:34+00:00 25.01.2021 21:03
Jetzt muss ich hier noch schnell kommentieren, bevor ich weiterlese ... Anton ist einfach genial. Aber auch den Erich fand ich sehr unterhaltsam. Vielleicht auch nur, weil meine eigene Schulzeit schon so lange her ist. Und überhaupt - Theo schlägt sich ja ganz gut. Ich hab Schlimmeres befürchtet für den ersten Tag. 😁
Antwort von:  Maginisha
26.01.2021 13:22
Hey fatua!

Freut mich, dass dich meine beiden Spezis begeistern können. Das mit dem Schlimmeren brauche ich dir ja jetzt nicht mehr zu beantworten...
Von:  z1ck3
2021-01-21T08:53:52+00:00 21.01.2021 09:53
Oh man die Physiker, wie habe ich sie gehasst... Aber nicht so arg wie der Prozess. Nee sorry Nation, Kafka kannst im Schrank lassen blergh.
Aber ansonsten mag ich den Kerl echt. Trocken wie Brot aber ein Herzenstyp. Meins hat er jedenfalls.

Und die anderen beiden, kriegen das schon gebacken. Bei jo bin ich mir nicht sicher, der hat mir im ersten Band schon so gar nicht gefallen wollen. Bin gespannt wie sich das entwickelt.
Antwort von:  Maginisha
21.01.2021 17:38
Hey z1ck3!

Sag bloß, du musstest das auch alles lesen. Ich erinnere mich gar nicht mehr, in welcher Klasse, aber eigentlich war alles doof, was man in der Schule lesen musste. :D

Anton ist aber wirklich ne Type, aber ich schreibe ihn wirklich gerne. ;)

Die anderen werden sich zusammenraufen, da bin ich sicher. Fragt sich bloß, wie das mit Jo wird. Wir werden es erleben. :)

Zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  z1ck3
21.01.2021 19:20
Na klar. Den ganzen ätzenden Kram. Das einzig gute Buch, dass ich im Deutschunterricht gelesen habe, war "Der Drachenläufer".

Schön, dass du trotz Autokerrektur wusstest, dass ich Anton meine :D
Antwort von:  Maginisha
21.01.2021 20:47
Klar. Ich bin schließlich auch Queen of Autokorrektur. :D

Und als "Der Drachenläufer" erschienen ist, hatte ich schon fünf Jahre Abi. Ich bin alt. 🙈
Antwort von:  z1ck3
22.01.2021 00:12
Nein nein nein nur älter als ich. Das ist ja nicht alt ;}
Von:  Ryosae
2021-01-20T21:03:49+00:00 20.01.2021 22:03
Das lief ja wie geschmiert! Und ich hatte Angst... pff 😂

Nein wirklich, ich freu mich. Auch wenn die erste Stunde wohl noch nicht vorbei ist.
Die Idee mit dem Sitzplatz war super! So schöpft niemand verdacht 😉
Die Zwei werden das schaffen. Ganz bestimmt. 😊

Schönes Kapitel btw. 😂 Irgendwie mag ich den Erich.
Vermisse die Gerüchteküche von der Schule so gar nicht. Du hast das gut beschrieben. Hoffe für Mia wird das nicht so schlimm, ich mag sie.

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
21.01.2021 17:36
Hey Ryosae!

Der Schultag ist ja noch nicht vorbei. ;) Aber ja, es lief auf jeden Fall besser, als Theo sich das so gedacht hatte. Mal sehen, wie lange noch. Aber ich denke auch, dass Theo und Benedikt so zumindest ein bisschen mehr Zeit "zusammen" haben. :)

Funfact: Ich mag Erich auch. Und wenn er nicht gerade Ziel von dessen Attacken ist, findet Theo ihn sogar recht amüsant. Er ist übrigens auch der Lehrer, von dem Benedikt im Epilog des ersten Teils sprach. :D

Mia wird sich zu behaupten wissen. Und bald wird sie ja vielleicht auch die Trennung überwunden haben. :)

Zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  Ryosae
21.01.2021 19:22
Hab mir allen ernstes den ganzen Epilog nochmal durchgelesen wegen des kurzen Auftritts von Erich 🤣
Ist echt ein riesen Unterschied in den Gedanken zwischen Benedikt und Theo.
Freu mich auf nächstes Kapitel 🥰
Von:  Snowprinces
2021-01-20T20:42:33+00:00 20.01.2021 21:42
Wie süß ich freue mich auf mehrrr

Liebe Grüße da lass
Antwort von:  Maginisha
21.01.2021 17:32
Hey Snowprinces!

Freut mich, dass es dir gefallen hat. :)

Zauberhafte Grüße
Mag


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