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Meeressturm

von

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Gift oder Gewissen

„Nun, meine Damen und Herren, was für eine aufregende und doch bedauerliche Unterbrechung unsers Programms! Leider, leider, scheiden Marvel aus Distrikt eins und Rue aus Distrikt elf damit aus!“ Caesar Flickermans laute Worte durchschneiden die fast schon andächtige Stille wie der Speer Rue vor wenigen Minuten. Die Kapitolbürger haben erstaunlich gelassene Methoden gefunden, sich von dem Grauen, welches sich vor ihren Augen ereignet, binnen Sekunden zu erholen und weiterzumachen, als wären nicht zwei Leben brutal beendet worden. „Einen großen Applaus bitte für unsere tapferen Tribute!“

Halbherzig schlägt Finnick die Hände zusammen, auch wenn er lieber den Kopf in ihnen vergraben würde. Es ist egal, welche Sieger auf der Tribüne er ansieht, in jedem Gesicht stehen Trauer, Zorn und Verbitterung geschrieben. Katniss Abschiedslied an die kleine Rue brennt sich Wort für Wort in sein Herz und obwohl er es nie zuvor gehört hat, ist er sich gewiss, dass er diese Zeilen nicht mehr vergessen wird. Den meisten Tributen bleibt keine Zeit, sich von gefallenen Verbündeten zu verabschieden und selten hat das Kapitol einem derart emotionalen Abschied beigewohnt. Noch dazu für den Tribut eines anderen Distrikts.

Selbst Annie hält den Kopf hoch erhoben, voller Trotz, und verfolgt das Geschehen in der Arena. Nur an dem leichten Zittern ihrer Unterlippe verrät sich, was dieser innere Kampf sie kostet. Überwältigender Stolz und der Wunsch, sie in seine Arme zu reißen, ringen in Finnicks Brust mit dem Zwang, der perfekte Sieger zu sein. Wenn Snow es geschafft hat, sogar Annies Tränen vor Zorn verdampfen zu lassen, dann will er sich nicht vorstellen, wie groß die Wut erst in Distrikt elf ist.

Während Caesar vorne auf der Bühne bereits wieder breit grinsend Witze reißt, ist auf der Leinwand im Hintergrund weiterhin Katniss zu sehen, deren Tränen in einem stummen Strom ihre Wangen herabfließen. Der leise Chor der Spotttölpel, die ihr Lied aufgreifen, treibt Finnick eine Gänsehaut über den Körper, obwohl er unter Flickermans lauter Moderation bloß ein schwaches Hintergrundgeräusch ist.

Sein Blick sucht Haymitch. Die Augen des Mentoren sind rot unterlaufen, aber diesmal ist Finnick sicher, dass es nicht am Alkoholpegel liegt. Neben Abernathy schluchzt Chaff leise an Seeders Schulter, doch die Miene seiner Distriktpartnerin lodert tödlicher als jeder Feuerball in der Arena. Der Hunger in ihren Augen verlangt nur eines – Rache.

Das Kapitol hingegen ist wieder zur Tagesordnung übergegangen. Für sie scheint der Tod zweier Tribute kaum mehr nennenswert, höchstens eine kleine Unterbrechung eines heiteren Abends, wie ein unerwarteter Stromausfall, der am Ende nur ein paar Minuten dauert und an den man sich bald gar nicht länger erinnert. Titania Creed vorne bei der Bühne nippt bereits wieder breit lächelnd an ihrem Champagner und Finnick ist froh, dass sie in diesem Moment viele Meter trennen.

Caesar plaudert noch ein wenig mit Seneca Crane, aber es ist überdeutlich, dass sie endlich den vierten und letzten Vorschlag zur Regeländerung präsentieren wollen. Erst jetzt wird Finnick bewusst, dass die gemeinsamen Siegesaussichten für Distrikt elf, denen er gestern voller Hoffnung eine Chance zugestanden hat, nun erloschen sind. Es bleiben nur zwei Teams übrig. Zwölf oder Zwei. Außenseiter oder Karrieros; Rebellion oder Unterdrückung. Jetzt steht alles auf einer Karte.

Unbemerkt von den meisten Zuschauern, deren Aufmerksamkeit sich Caesar Flickerman widmet, kommt Katniss langsam wieder zu Sinnen. Interessiert verfolgt Finnick, wie sie ein paar Schritte von Rues Leichnam ins Unterholz geht und eine Handvoll wilder Blumen pflückt. Wenn er dachte, die wehmütigen Zeilen ihres Liedes allein würden sich in sein Herz prägen, so liegt er falsch.

Bedächtig kleidet Katniss den leblosen Körper ihrer kleinen Verbündeten in ein Meer aus Lila, Gelb und Weiß. Blüten bedecken jene grässliche Wunde, die ihr Leben beendet hat, und ein buntes Farbenspiel umrahmt ihr Gesicht, bis es erscheint, als wäre sie in einen friedlichen Schlummer versunken. Das Kapitol hat ihren Tod zu verantworten, doch in diesen letzten Momenten gibt Katniss Rue ihren Frieden zurück. Und nicht nur ihr, auch Distrikt elf erweist sie die höchste Ehre.

Es verwundert Finnick nicht, dass die Szenen plötzlich einem schwarzen Bild weichen, nur damit wenige Sekunden später wieder Caesar Flickerman in Übergröße gezeigt wird. Freundschaft unter den Distrikten ist nur gewünscht, wenn diese gewaltsam, zum Beispiel mit einem Messer im Rücken, endet.

Viel verräterischer ist ohnehin das Gesicht des Präsidenten, dessen stahlharte Augen sich fest auf seinen obersten Spielmacher geheftet haben. Sein Kopf ist leicht schiefgelegt, die Hände ordentlich in seinem Schoß gefaltet. Snow hat seine Erscheinung unter Kontrolle. Weitgehend. Die Anzeichen seiner Unzufriedenheit sind winzig; schnell übersehen. Hätte Finnick ihm nicht so oft gegenübergestanden und die Enttäuschung in den Tiefen Snows eisblauer Augen lauern sehen, es würde ihm in diesen Sekunden wohl kaum auffallen.

Die Show unterdessen läuft unbeirrt weiter. Der ältere Herr, der als Letztes ein Los ziehen soll, schreitet mit reichlich angesäuerter Miene auf die Bühne. Sein großer Auftritt ist zweifellos ruiniert, denn überall im Saal tuscheln leise Stimmen miteinander – über die ersten drei Vorschläge und, Finnick hält den Atem an, Katniss Lied, ihre Blumen für Rue. Sie haben es nicht übersehen.

„Meine Damen und Herren, bitte einen großen Applaus für den letzten Regelvorschlag“, ruft Caesar Flickerman voll gekünsteltem Enthusiasmus und weist auf den Mann, der seine Hand bereits in der Glaskugel versenkt.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängerinnen macht er kein großes Aufheben darum, sondern zieht den verbliebenen Zettel hervor, reißt das Siegel auseinander und liest ausdruckslos die Zeilen darauf. „Die letzte vorgeschlagene Regeländerung lautet wie folgt: Jeden Tag, der ohne den Tod eines Tributs durch die Hand eines anderen Tributs vergeht, wird per Zufall ein Tribut auserwählt, dem durch seinen Tracker ein tödliches Serum verabreicht wird.“

Dieser Vorschlag ist zu viel des Guten, das merkt Finnick sofort. Die meisten applaudieren höflich, aber schon branden die ersten Diskussionen auf, wofür gestimmt wird und immer wieder hört er diese gewissen Worte. Zwei Sieger. Wenn stattdessen die letzte Regel in Kraft treten würde, wären die Spiele derart schnell vorbei, dass das Kapitol sich wahrscheinlich seines Spaßes beraubt sehen würde. Ganz davon ab, dass es jederzeit einen der Sponsorenlieblinge treffen könnte. Beim Geld hört für die meisten das Vergnügen auf. Aber zwei Sieger, das ist eine Verlockung, deren Wirkung Haymitch genau richtig eingeschätzt hat.

„Was für eine Auswahl!“, versucht Flickerman die anschwellenden Gespräche zu übertönen und sein Mikrofon lässt einen undankbaren Kreischlaut hören. Zumindest bringt das die Aufmerksamkeit zurück zu ihm. „Ab sofort haben Sie 24 Stunden Zeit, meine Damen und Herren, um für einen der vier Vorschläge abzustimmen! Nach Ablauf dieser Zeit wird die Regeländerung den verbliebenen Tributen verkündet. Oh, ich kann es gar nicht erwarten, zu sehen, wofür Sie sich entscheiden!“

Mit diesen Worten endet der förmliche Teil der Veranstaltung. Was nicht etwa heißt, dass Finnick entlassen ist. Titania Creed drängt sich mit einem Haifischzahnlächeln durch die Menge auf ihn zu und unter Snows stechendem Blick bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als ihr auf die Tanzfläche zu folgen. Wenigstens hat er die Gewissheit, dass Amber Annie wie eine Löwenmutter mit sich zieht, sobald der Pflichtteil vorbei ist und sie weit, weit weg von Snow bringt.

Titanias schreckliche Selbstverliebtheit kommt ihm bei ihren Walzerrunden auf dem Parkett zugute, denn sie hört nicht auf, davon zu reden wie aufregend es war, das Los zu ziehen. Es reicht, dass er an den passenden Stellen nickt oder ihr ein feingezuckertes Lob ausspricht. Belanglosigkeiten allesamt, aber es vermeidet unangenehme Stille zwischen ihnen, in denen ihr sein mühsam unterdrückter Zorn vielleicht doch auffallen könnte.

Nach drei Tänzen, die sich schier endlos ziehen, naht Finnicks Rettung in Gestalt eines bleichen Typs mit dunkelvioletten Lippen, der offenbar frischgebackener Erbe irgendeines Firmenimperiums ist, mit dem Titania sich unbedingt gut stellen will. Finnick schenkt dem Kerl einen fast schon mitleidigen Blick, bevor er die Hand seiner Begleitung an den Typen überreicht. Im Scherz warnt er ihn, ihm Titania ja nicht abspenstig zu machen – nicht, dass er ernstlich Sorge hätte. Sein Gegenüber scheint das aber umso ernster zu nehmen und versichert eilig, dass er rein geschäftliches Interesse verfolgt. Schade eigentlich.

Nun alleine in der wogenden Welt aus Satinkleidern, schrillem Glitzer und bunten Farben, lässt Finnick sich in Richtung Cocktailbar treiben. Hauptsache fort von der Tanzfläche und den begehrlichen Augen jener Damen und Herren, denen das nötige Kleingeld für einen Abend mit ihm fehlt oder die sich erst noch in Snows Gunst hocharbeiten müssen, um ein Angebot zu bekommen. Für sie ist er bei Veranstaltungen wie dieser Freiwild, denn sie geben sich der Hoffnung hin, dass er trotzdem etwas mit ihnen anfangen könnte.

Er gibt sich beschäftigt mit einem Drink in der Hand und sucht nach bekannten Gesichtern in der Menge, mit denen eine Unterhaltung wenigstens erträglich wird. Vor dem bunt durchmischten Hintergrund fällt sie ihm erst auf den zweiten Blick auf. Der Mangel an auffälligen Tierohren, metallisch glänzenden Tattoos oder einer unnatürlichen Hautfarbe lässt Dr. Gaia Gaul vor dem Farbenspiel der Kulisse verschwinden – zumindest fast. Vielleicht ist es ihre ungewöhnlich helle Haut, vielleicht aber auch das weiße Kleid, das Finnick letztlich auf sie aufmerksam macht, er ist sich nicht sicher. Etwas an ihr lenkt unweigerlich seinen Blick auf sie.

Der fehlende Kontrast zwischen dem hellen Stoff und ihrem bleichen Gesicht lässt sie durchscheinend wirken, wie eine Ertrunkene, die Stunden im Wasser trieb. Es wäre Finnick lieber, er wüsste nicht, wie so etwas aussieht, aber früher oder später hat jeder in Distrikt vier seine erste Begegnung mit einer Wasserleiche.

Dr. Gaul steht alleine vor der reichlich gefüllten Tanzfläche, ein Sektglas in der Hand, aus dem sie allerdings keinen Schluck nimmt. Wachsam gleitet ihr Blick über die Anwesenden, bis er schließlich an Finnick hängen bleibt. Für einen Moment starren sie einander unbeweglich an, dann setzt sie sich zu seiner Überraschung in Bewegung, geradewegs auf ihn zu. Er hat erwartet, dass sie vor ihm flüchten würde, aber sie durchmisst den Raum mit großen Schritten und voller Entschlossenheit, wobei ein Avox ihr eilig ausweichen muss.

Ein Lächeln hat sie nicht für Finnick übrig und genauso wenig reicht sie ihm die Hand. Stattdessen bleibt sie in einer Armlänge Entfernung stehen, ein unergründliches Funkeln in den hellbraunen Augen. „Mr. Odair. So trifft man sich wieder“, stellt sie höflich fest. „Ich hätte erwartet, Sie in der Nähe von Annie Cresta anzutreffen.“ Jetzt heben sich ihre Mundwinkel doch ein Stück, was der distanzierten Kühle in ihrem Blick keinen Abbruch tut.

Finnick legt den Kopf schief. „Dr. Gaul. Was für eine ... Überraschung. Ich bin froh, Sie weit fern von Annie anzutreffen.“ Auch wenn die Ärztin das Appartement nach ihrer Konfrontation in großer Hast verlassen hat und Annie ihm mehr als einmal versichert hat, dass sie ihr zu keiner Zeit wehgetan hat, kann er ihr nicht trauen. Vertrauensseligkeit wird seiner Erfahrung zur Folge oft mit einem Messer im Rücken bestraft, egal ob in den Hungerspielen oder im Kapitol.

Sie nickt langsam, offensichtlich hat sie diese Antwort erwartet. „Ja, vermutlich ist es besser so. Für uns beide.“ Ihren Zusammenstoß hat sie wohl ebenso wenig vergessen. „Auch wenn Sie sich keine Sorgen machen müssen. Immerhin ist mein Bericht zu einem positiven Schluss gekommen. Ich halte mein Wort.“

Die Aussage lässt Finnick nur eine Augenbraue heben. „Mit Verlaub, aber Sie werden verstehen, dass ich Sie trotzdem im Auge behalte. Gerade wenn Sie die Angewohnheit haben einfach – aufzutauchen.“

Dr. Gaul lässt ein amüsiertes Schnauben hören. „Mr. Odair, tun Sie mir den Gefallen, begleiten Sie mich ein paar Schritte.“ Auch wenn ihre Stimme sich nicht verändert hat, entgeht ihm nicht, dass sie ihn nicht gebeten hat.

Schon diese gut verborgene Drohung jagt einen Stoß Adrenalin durch ihn, der seine Muskeln verkrampfen lässt. Mit einem Blick in den Saal vergewissert er sich, dass Annie immer noch bei Amber ist. Er würde Snow zutrauen, dass er ihn bloß ablenkt, um sie ein weiteres Mal zu entführen. Seine Finger schließen sich fester um sein Cocktailglas, während er der Forscherin durch die wogenden Massen folgt.

„Es tut mir leid, dass wir einander auf dem falschen Fuß kennengelernt haben“, sagt sie ernst. „Ich glaube, Sie missverstehen meine Intentionen.“

Finnick spürt, wie sein Hals trocken wird. „Dann erklären Sie sich.“

Die Frau an seiner Seite schüttelt nur den Kopf und stellt ihr Glas auf das Tablett eines vorbeilaufenden Avox. „Nein. Ich werde es Ihnen lieber zeigen.“

Zielstrebig schlängelt sie sich zwischen den Gästen des Präsidenten hindurch, nur aufgehalten davon, dass Leute Finnick in einen kurzen Plausch verwickeln wollen oder ihm begeistert zuwinken. Die Lippen zu schmalen Strichen zusammengepresst erträgt sie seine Bewunderer, bis sie sich endlich in die weitläufige Lobby vorgearbeitet haben.

„Nun, werden Sie mir noch erklären, wohin wir gehen?“, fragt er, während sie mit klappernden High Heels vor ihm dreinschreitet, in einem Tempo, das angesichts der Höhe ihrer Absätze rekordverdächtig scheint.

„Geduld ist eine Tugend, Mr. Odair.“ Dr. Gaul dreht sich nicht einmal zu ihm um, sondern durchquert die Lobby, ohne die übrigen Gäste eines Blicks zu würdigen, die sich zum Plaudern hierher zurückgezogen haben.

Sie landen in einem langen und lichtlosen Gang, der zur Seite abgeht und Dr. Gaul schreitet zielstrebig voran, als wenn sie den Weg auch im Schlaf finden würde. Alles erweckt den Eindruck, dass kein normaler Bürger je diesen Ort betreten dürfte. In Finnick erwacht Beklemmung. Ausnahmsweise sollte er sich weniger Sorgen um Annie machen und mehr um sich.

Vor einem Fahrstuhl hält Dr. Gaul an und zieht einen Chip aus ihrem kleinen Handtäschchen, der ihr piepend Zutritt gestattet. Im Gegensatz zu den luxuriösen Glasfahrstühlen im Trainingscenter geben die automatischen Türen einen großen Metallkäfig preis, dessen Bedienfeld ausschließlich Kellergeschosse aufführt. Ganze fünfzehn Etagen unterhalb der Erde, verborgen unter dem Herzen des Kapitols.

Mit vor Nervosität feuchten Händen folgt Finnick der Forscherin. Geräuschlos schließen sich die Türen hinter ihm und sein Magen macht einen Satz, sobald der Fahrstuhl sich abwärts senkt. In ihm lauert eine dunkle Ahnung, was in der Tiefe wartet. Das Labor.

 

Hunderte Meter unter der Oberfläche wird offenbar, dass das Kapitol sich jeglichen überflüssigen Prunks entledigt hat. Als die Fahrstuhltüren aufgleiten, sieht Finnick sich dem blanken Herzen der Hauptstadt gegenüber, kalt und abweisend. Links und rechts vom Aufzug erstrecken sich schier unendliche Gänge, die so karg anmuten, dass es in ihm das Gefühl erweckt, alle Farbe wäre aus der Welt gewichen. Glänzender weißer Fliesenboden und Wände, beleuchtet von nackten Leuchtstoffröhren, die auch den letzten Schatten gnadenlos ausleuchten. An der Decke Kameras, die zweifellos jeden Schritt aufzeichnen. Feindschaft gegenüber dem Leben durchdringt das Kellergewölbe.

Nur Dr. Gaia Gaul in ihrem weißen Kleid passt an diesen unwirtlichen Ort. Bis auf ihre zart pinken Haare, der einzige bunte Fleck hier unten. „Stehen bleiben“, befiehlt sie in einem scharfen Ton, der unweigerlich sogar Finnick imponiert. Sie verschwindet hinter einer der zahlreichen gleichförmigen Türen dem Fahrstuhl gegenüber. Lange dauert es nicht, ehe sie wieder auftaucht, die klappernden Absätze gegen lautlose Gummischuhe getauscht und einen Kittel über dem Abendkleid. „Willkommen in meinem Reich, Mr. Odair.“ Sie breitet ihre Arme zu beiden Seiten aus, als gäbe es etwas zu präsentieren, außer weißer Einöde.

„Das ist also ihr Labor, nehme ich an?“

Dr. Gaul nickt. „Die Dovecote-Einrichtung zur experimentellen Mutationsforschung, um genau zu sein. Nicht alleine mein Labor, aber der Dreh- und Angelpunkt meiner Forschung.“ Die Spuren der ängstlichen Frau, die aus dem Appartement von Distrikt vier geflohen ist, sind fortgewischt.

Finnick strafft die Schultern. Snow heißt seinen Besuch an diesem Ort sicherlich nicht gut, das kann er sich nicht vorstellen. Nur, wenn hier unten eine Falle auf ihn wartet. Das wiederum können sie sich allerdings nicht erlauben, nicht bei ihm. „Also, warum bringen Sie mich hierher? Normalerweise behält das Kapitol seine Geheimnisse für sich. Und bei allem Aufheben, was man um uns Sieger macht, weiß ich doch um meinen Platz.“

„Folgen Sie mir, Mr. Odair“, erwidert die junge Forscherin bestimmt. „Es gibt eine Menge über uns, das sie nicht einmal ahnen – ungefähr so viel, wie es verschlossene Türen hier unten gibt. Machen Sie sich keine Illusionen, eine geöffnete Tür ist nicht mehr als ein einzelner Tropfen im Ozean der Geheimnisse. Mein Risiko, Sie nach hier unten zu bringen, nicht das des Präsidenten. Vielleicht können Sie sich das nicht vorstellen, doch auch sein Einfluss kennt Grenzen.“

Ihr Lächeln ist ein Musterbeispiel fröhlicher Unschuld, das ein kühles Prickeln über Finnicks Haut jagt. Er sieht zwei Möglichkeiten: Entweder, er hat Gaia Gauls Gefährlichkeit gehörig unterschätzt oder aber Gaia Gaul überschätzt sich selber gnadenlos. Schwer zu sagen, was ihm lieber ist.

Die zierliche Forscherin führt ihn den Gang zur Linken hinab. Außer ihrer beider Schritte ist kein Geräusch zu vernehmen. Türen ziehen vorbei und Finnick kann nicht anders, als sich vorzustellen, welch schreckliche Experimente hinter jeder davon lauern. Eine Regierung, die Menschen die Zungen herausschneidet, um stumme Sklaven aus ihnen zu formen; die Kinder auf Leben und Tod kämpfen lässt, der ist alles zuzutrauen. Die schiere Größe des Labors mit den sich immer weiter verästelnden Gängen bringt Finnicks Kopf zum Schwirren. Wie ein Spinnennetz breitet das Labyrinth sich unter der Stadt aus, den Präsidentenpalast im Mittelpunkt. Eine perfekte Todesfalle für die Feinde des Kapitols. Wer hier weggesperrt wird, der ist der Gnade von Snow und seinen Schergen ausgeliefert.

Er verkneift sich jedes Wort gegenüber seiner Begleiterin. Wer keine verfänglichen Fragen stellt, dessen Stimme zittert auch nicht verräterisch. Besser, Dr. Gaul ahnt nicht, wie tief sein Schock angesichts des gewaltigen Kellergewölbes reicht. Das hier ist seine Chance, eine einmalige Chance, etwas über die verborgene Forschung des Kapitols zu erfahren. Dr. Gaul weiß es vielleicht nicht, aber alleine die Tatsache, wie die Gänge angelegt sind oder der Fakt, dass es Zugangschips gibt, könnte Distrikt 13 eines Tages helfen. Für die Rebellion, versucht Finnick, sich zu beruhigen, für Annie. Die Worte sind längst zu seinem Mantra geworden, Besänftigung und Wahn zugleich.

Im Abstand von zwei Schrittlängen folgt er Dr. Gaul, bis diese abrupt vor einer nichtssagenden weißen Tür anhält, die sich kein Stück von den unzähligen anderen zuvor abhebt. Mit einem Piepen verschafft ihr kleiner Chip ihr Zugang. Ein schaler Lufthauch entweicht dem dahinterliegenden Raum, während die Tür aufschwingt und den Blick auf ... Schwärze freigibt.

Finnick hat noch mehr kalte Beleuchtung und weiße Fliesen erwartet, doch sobald Dr. Gaul unbeirrt über die Türschwelle in die Dunkelheit tritt, wird der Raum stattdessen in glutrotes Licht gehüllt, wie das der Sonne, kurz bevor der Horizont sie verschlingt, ohne ein Versprechen auf einen neuen Morgen. Blinzelnd kneift er die Augen zusammen, um durch das unerwartete Weltuntergangslicht den Raum zu erkennen. Schemen von Tischen mit glänzenden Oberflächen zeichnen sich ab und darauf – eine Art gläserne Käfige.

„Nur keine Scheu, Mr. Odair“, winkt Dr. Gaul ihn zu sich. „Solange Sie tun, was ich Ihnen sage, sind Sie hier genauso sicher, wie auf der Party oben. Vielleicht sogar noch mehr, wenn ich mir Ihre Verehrerschaft so ansehe ...“

Nur langsam folgt er ihrer Bitte. Leise klickend schließt sich die Tür hinter ihm, liefert ihn ganz der Forscherin aus. Er nimmt sich Zeit, als er zwischen den ersten Tischreihen entlang geht und lässt den Blick schweifen. Natürlich hängt auch hier eine Kamera, zur lückenlosen Überwachung. Bloß nicht zu schnell, nicht zu hastig bewegen. Fast beiläufig fährt er über die Kante eines Tisches. Massives Metall, kalt und glatt unter seinen Fingern, trotz der Wärme im Raum.

Dr. Gaul indes steht bereits am Ende der Reihen und streckt ihre Hand in einen der Glaskästen. „Ich habe Ihnen etwas zu zeigen, Mr. Odair. In der Annahme, dass sie mich dieses Mal richtig verstehen und wir damit unser kleines Missverständnis beilegen können.“

Zunächst hört er nur ein leises Klappern und Zischen, dann sieht er sie. Die Schlange. Ein schmales Band aus pink glänzenden Schuppen, auf denen sich das glutrote Licht bricht, während sich das Tier langsam Gaia Gauls Arm hinauf windet. Eine von der Art, die erst gestern in der Spielmacher-Falle für Rue eingesetzt wurde. Die Forscherin betrachtet das Reptil mit einem Ausdruck der Zuneigung und lässt sie ungerührt durch ihre Finger gleiten.

„Eine Mutation“, sagt Finnick laut und kämpft darum, keinen Schritt zurückzuweichen vor dem todbringenden Tier, das ein leises Zischeln ausstößt. „Ist das ihre große Enthüllung?“

„Fürchten Sie sich nicht?“

„In dieser Umgebung? Nein.“ Die Lüge kommt ihm erstaunlich leicht über die Lippen. „Das würde anders aussehen, wenn ich ein Tribut in der Arena wäre.“

„Eine kluge Entscheidung.“ Dr. Gaul nähert sich ihm einige Schritte, bis nur wenige Zentimeter fehlen, damit die grell geschuppte Schlange nach ihm schnappen könnte. Aber die Mutation nimmt keine Notiz von Finnick, sondern windet sich nur weiter um Gaia Gauls Unterarm und Hand. „Kontrolle ist das Stichwort. Das Kapitol kontrolliert, was diese Tiere denken, welchen Instinkten sie folgen, wen sie angreifen. Nichts obliegt dem Zufall, vom Aussehen bis hin zur Genstruktur. Im Gegensatz zu wilden Tieren sind sie schlicht ... berechenbar. Und zu Ihrem Glück halte ich in diesem Moment die alleinige Macht über meine Schätzchen in der Hand.“

Angewidert beobachtet Finnick, wie sie mit zwei Fingern den flachen Kopf der Giftschlange streichelt, als wäre diese ein niedliches Haustier, kein mörderisches Geschöpf wider der Natur. „Ich bekomme also eine Demonstration Ihrer Macht?“ Er lehnt sich gegen den Metalltisch hinter ihm und verschränkt abwartend seine Arme.

Amüsiert lacht Dr. Gaul auf. „Meine Macht? Ich fürchte, an dieser Stelle überschätzen Sie meinen Einfluss. Viel mehr handelt sich um unsere Macht. Es gibt noch mehr, außer mir, die hier forschen. Ich habe nur das Glück, dass meine Beziehungen mir Türen geöffnet haben, an denen andere lange Zeit kratzen müssen. Aber um Macht alleine geht es mir ohnehin nicht.“

Endlich tritt sie ein paar Schritte zurück. Finnick unterdrückt ein erleichtertes Aufatmen, während sie zu den Käfigen zurückkehrt. Die Schlange gleitet von Dr. Gauls Arm wieder in ihr gläsernes Gefängnis und verschwindet raschelnd im Sand.

„Letztlich geht es darum, welchem Zweck wir dienen. Macht ist ein praktisches Werkzeug, aber auch sie dient nur einem Zweck, genau wie alles, woran wir hier forschen.“ Sie nähert sich einem weiteren Glaskäfig, dessen Boden von einer schwarzen Schicht bedeckt zu sein scheint. Als Dr. Gaul ihre Hand in den Kasten steckt, kommt Bewegung in die Masse.

Ein unheilvolles Brummen erhebt sich und mit einem neuerlichen Schaudern erkennt Finnick, dass es sich in Wirklichkeit um viele einzelne Insektenleiber handelt, die jetzt auf Gaia Gauls Hand krabbeln. Sacht schüttelt die Forscherin ihre Finger, bis nur noch ein Tier bleibt, das sie vorsichtig aus dem Käfig hebt.

„Eine weitere Bekannte aus der diesjährigen Arena“, verkündet sie. „Eine Jägerwespe. Definitiv tödlicher als meine Schlangen, wie Katniss Everdeen uns wunderbar demonstriert hat. Aber keine Sorge, das Licht und die Wärme hält sie ruhig.“

Finnicks Atem wird in seiner Kehle zu Blei. Der Anblick des glänzenden Insektenleibs ruft Bilder von Cordelia wach, übersät von ihren sirrenden Körpern, ein entstelltes Zerrbild der einst hübschen Tributin, ihre panisch geweiteten Augen leblos. „Wie vereinbaren Sie diese ... abartigen Wesen bloß mit Ihrem Gewissen?“, entfährt es ihm. Seine Muskeln krampfen sich zusammen und er gräbt seine Finger tief in die Oberarme, um sich davon abzuhalten, schon wieder etwas Riskantes zu tun.

Gaia Gaul hebt die Schultern, doch ihr Blick bleibt auf die Jägerwespe gerichtet. „Ein Gewissen ist nichts, das sich für diese Aufgaben eignet. Und nicht alle Aufgaben kann man sich aussuchen. Für manche Ziele muss ein Opfer erbracht werden. Ich denke, in dieser Hinsicht sind wir uns recht ähnlich. Immerhin dürfen Sie sich genauso wenig ein Gewissen leisten, nicht wahr?“

Mühsam schluckt Finnick seinen gerechten Zorn hinunter. Das Schlimme ist – sie hat recht. Wie oft hat er schon seine Moral gebrochen? Das Spiel mit Haymitchs Tributen ist ebenso gewissenlos wie das sichere Opfer, das seine Schützlinge in diesem Jahr erbringen mussten. Ganz zu schweigen von seinen Taten in den Hungerspielen, die ihn nie wieder verlassen. Blut, das ihm für immer an den Händen klebt. „Das heißt nicht, dass ich kein Gewissen haben. Nur, dass ich es zum Schweigen bringe – bringen muss.“

„Exakt.“ Dr. Gaul sieht unbeirrt auf. „Warum wollen Sie unbedingt glauben, dass wir so verschieden sind? Wir haben unterschiedliche Beweggründe, aber doch ein geteiltes Problem. Oder sollte ich sagen – Leid?“

„Ich glaube nicht, dass Sie verstehen, was Leid heißt.“

„Ich gebe Ihnen sogar recht, Mr. Odair. Von Ihrem Leid – vom Leid aller Sieger – verstehe ich wenig. Aber maßen auch Sie sich nicht an, zu glauben, über mein Leben Bescheid zu wissen. Ich kann damit leben, dass Sie mich voller Vorwürfe ansehen. Denn ob Sie glauben oder nicht, mein angeblich nicht vorhandenes Gewissen ist rein.“ Sie schluckt und für einen Moment da wieder die Frau mit der zitternden Unterlippe, mehr Furcht als Selbstbewusstsein. „Wissen Sie, Liebe ist unsere größte Waffe oder aber Schwäche. Sie beflügelt uns oder sperrt uns ein. Was ist besser, alles riskieren, und vielleicht alles verlieren oder nichts riskieren und niemals gewinnen können? Ich glaube, Sie kennen die Antwort.“

Im Glutrot der Deckenlampen ist es unmöglich, zu erkennen, ob sie wütend oder traurig ist. Sie räuspert sich und holt tief Luft. Damit bietet sie Finnick genug Zeit für einen verbalen Angriff, doch er wartet nur gebannt auf ihre nächsten Worte. Er braucht nicht antworten, sie hat gesehen, wie weit seine Liebe für Annie reicht. Er hat bereits alles riskiert, aber was mag sie riskieren?

„Mr. Odair, ich weiß, was Ihnen droht, wenn Sie nicht vorsichtig sind.“ Dr. Gauls Stimme ist leise und so scharf, dass sie geradewegs durch Finnicks sorgfältig aufgebaute Fassade schneidet. „Kontrolle. Einmal mehr geht es um Kontrolle. Der Stich dieser Jägerwespe ist nicht nur todbringend. Ein Stich blockiert einzelne Nervenbahnen im Gehirn und verhindert die Aufnahme von elementaren Botenstoffen. Zwei Stiche lähmen wichtige Teile des Gehirns, die für das logische Denken verantwortlich sind. Drei Stiche führen unweigerlich zum Tod. Bei schwachen Organismen freilich schon früher.“

Wie gebannt starrt Finnick auf die Jägerwespe, die träge über Gaia Gauls bleiche Finger krabbelt. „Ich verstehe nicht, Dr. Gaul. Ich bin kein Tribut.“

„Oh, natürlich nicht. Das war erst die Einleitung. Stellen Sie sich das Gift dieser Tiere vor, aber ... reduziert. Nehmen Sie die Teile, die einen schnellen Tod bewirken, weg und lassen Sie nur jene, die mit Ihrem Gehirn spielen. Was erhalten Sie?“

„Ein Gift, das mein Gehirn zersetzt, aber mich äußerlich unversehrt zurücklässt?“

„Mehr noch, ein Gift, das die Kontrolle über ihr Denken übernimmt. Schleichend, Stück für Stück, bis Sie sich nicht mehr erinnern, wer Sie sind, woran Sie glauben oder was ihr hochgelobtes Gewissen ist. Meine Schlangen bringen den Tod, langsam ja, aber sicher. Doch das Jägerwespengift kann Schlimmeres als den Tod hervorrufen. Nicht in den Hungerspielen. Dort geht es alleine um den Tod. Aber außerhalb der Arena bieten sich genug Möglichkeiten für eine ... problemorientierte Anwendung.“

Tief in Finnick schreit die Stimme seiner Vernunft ihm zu, dass er rennen soll, weit weg von dieser Frau, doch stattdessen drückt er seine Füße fester gegen den Boden und zwingt sich, trotz trockener Kehle zu schlucken. „Also ist das eine Drohung?“

Endlich löst Dr. Gaul den Blick von ihrer Mutation und wendet sich wieder ihm. Die Jägerwespe auf ihrer Hand erzittert, als sie schluckt. „Eine Warnung.“

„Für wen?“

„Nicht für die, an die Sie denken. Ein letztes Mal – ich halte mein Wort, Mr. Odair. Annie Cresta braucht nichts von mir zu befürchten.“ Das rote Lampenlicht malt tiefe Schatten in Dr. Gauls Gesicht. „Aber vielleicht erinnern Sie sich im rechten Moment an diese Begegnung. Denn was nicht bezwungen werden kann, wird kontrolliert werden. Und dies hier“, sie streckt die Hand mit der schillernden Jägerwespe darauf aus, „bedeutet Kontrolle.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: irish_shamrock
2021-10-07T15:48:06+00:00 07.10.2021 17:48
Hallo Coro,

ich freue mich, dass es ein neues Kapitel gibt :) ...
Die Begegnung zwischen Finnick und Dr. Gaul jagt mir jetzt noch einen Schauer über den Rücken.
Wie immer bin ich beeindruckt und sehr angetan, wie du an deiner Parallelstory arbeitest und fleißig alles so bastelst, dass es als Nebenhandlung zum Original selbigem in nichts nachsteht.
Es sind diese kleinen, raffinierten Momente und Situationen, Worte und Handeln, die so eindringlich sind, dass mir jetzt noch beim Gedanken an pinke Giftschlangen und Jägerwespen alles kribbelt.

Ich wünsche dir viel Kraft fürs Weiterschreiben.

Liebe Grüße,
irish C:
Antwort von:  Coronet
09.10.2021 21:52
Liebe irish,

und ich freue mich wiederum, von dir zu lesen :)
Haha, es freut mich ja ein wenig, das zu lesen - dann habe ich mit Dr. Gaul schon einmal eines meiner Ziele erreicht, sie soll ein unbequemer Charakter sein. Und es freut mich, dass diese ganzen Geschehnisse nicht zu sehr an den Haaren herbeigezogen wirken. Die letzten Kapitel waren in der Hinsicht wirklich nicht einfach, deswegen hat's auch wieder länger gedauert (leider).

Vielen Dank für deine lieben Worte zu dem Kapitel, das spendet auf jeden Fall wieder neue Motivation!

Liebe Grüße
Coro


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