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Meeressturm

von

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Scherben der Erinnerung

Das Lächeln in Tias Gesicht, als sie mein Zimmer betritt, lässt nichts Gutes ahnen. Offenbar hat sie etwas Neues gefunden, mit dem sie mich foltern kann – oder festigen, wie sie es nennt.

Obwohl ich den Prozess mittlerweile gewöhnt bin, verfolge ich jede ihrer Bewegungen argwöhnisch.

Wie immer schaltet sie summend die Leinwand gegenüber vom Bett ein.

Ein neuer Ausschnitt der Arena, den ich nicht zuordnen kann, wird gezeigt. Heftiger Regen prasselt auf zwei Tribute ein, die sich ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen haben. Den Spielmachern ist wohl langweilig, wenn sie solche Wetterextreme hervorrufen.

Ein Blitz erhellt die Gegend und ich erkenne eine steinige Ödnis. Wo sind wir bloß in der Arena? Zu der waldigen Umgebung, die ich erst vor kurzem gesehen habe, passt es nicht.

Mühsam erklimmen die Tribute einen schmalen Felsvorsprung.

Mein Herz schlägt schneller. Etwas daran kommt mir nicht richtig vor.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Plateaus taucht eine andere Gestalt auf. Schon bevor der nächste Blitz die Szenerie beleuchtet, weiß ich, dass sie rote Haare und Sommersprossen hat.

„Victoria!“

„Nein“, stöhne ich, beim Anblick des kleinen Tributs, der auf seine ehemalige Verbündete zuläuft. Ich habe diese Aufnahme nie zuvor gesehen und erkenne trotzdem, was geschehen wird.

Es sind nicht die 74. Hungerspiele, sondern die 70. Spiele. Meine Hungerspiele.

Mich selber zu sehen, Momente bevor die Welt für immer zerbricht, ist ein eigenartiges Gefühl. Alles was passiert, ist fest in meine Erinnerung eingebrannt, und trotzdem ist die Perspektive neu.

Ich bin unfähig, wegzusehen, als die Kameras Pon zeigen. Sein strahlendes Gesicht erinnert mich so sehr an Edy. Ich schluchze, bevor überhaupt etwas geschehen ist. Er hätte nie sterben dürfen. Selbst nach all den Jahren kann ich mir nicht vergeben, ihn nicht gerettet zu haben.

Von Schmerzen gepeinigt sehe ich zu, wie wir drei Tribute uns begrüßen. Vermeintliche Verbündete, die einander scheu gegenüberstehen, bis Pon die Spannung löst.

„Vic! Ich bin so froh, dich gefunden zu haben!“

„Oh Pon“, erwidert das Mädchen, ihr eigenartig verzerrtes Lächeln erleuchtet von einem Blitz, „auch ich bin froh.“

Dieses Mal ist der Schmerz verdient. Könnte ich nur diese jüngere Version von mir anschreien, nicht so zögerlich zu sein. In ihrem – meinem – Gesicht sehe ich die Angst vor Victoria, die ein gewaltiges Messer in der Hand hält und doch stolpert sie nur hilflos einen Schritt nach vorne, anstatt Pon beiseite zu stoßen.

Ich erinnere mich genau, ihn von ihr fortstoßen zu wollen, aber jede Bewegung war viel zu langsam, als hätte sich die Luft in klebriges Gelee verwandelt.

In der Aufnahme sehe ich meine kleine Gestalt ihre Arme ausstrecken, nur Sekunden zu spät, nicht die Ewigkeiten, nach denen es sich anfühlte.

Wie schon bei Edy, passiert es am Ende schnell. Victorias Machete zischt durch die Luft. Der Kanonendonner geht beinahe im Donnergrollen unter.

Ich schreie wie ein verwundetes Tier, heute wie damals.

Mein altes Ich macht ihren letzten Atemzug, als sie Pons Speer in das Herz seiner Mörderin bohrt und alles verrät, woran sie jemals glaubte. Wie in einem Spiegel sehe ich mich schreiend zusammenbrechen. Tia und unsere Umgebung sind vergessen.

Eiskalter Regen durchweicht meine Kleidung, doch das ist egal. Vor mir liegt Pons Leichnam.

Ich halte ihn in den Armen, wiege seinen Körper wie ein kleines Kind. Bleib bei mir, versuche ich zu flehen, aber es kommen keine Worte aus meiner Kehle. Sein Kopf ist fort, einfach weg. Ich stoße die leblose Erinnerung an ihn von mir und kralle die Finger stattdessen in die Unterarme.

Ich will den Schmerz spüren, bohre die Fingernägel tief ins Fleisch, bis warmes Blut sich mit dem Regen vermischt. Vielleicht vergeht es dann. Ich presse meinen Kopf zwischen die Knie, um alle Geräusche zu vertreiben. Womöglich hört die Welt so auf, sich zu drehen.

Eine Lüge zum Überleben. Die Erinnerungen bohren sich wie Glasscherben ins Herz, zerreißen es und lassen mich verbluten. Dieser Schmerz ist für immer Mein.
 

Aus tiefster Dunkelheit klettere ich empor. Blinzelnd kämpfe ich um Orientierung. Über mir erstrahlt die weiße Decke im Licht einer grellen Leuchtröhre. Was ist geschehen?

Verwundert lasse ich den Blick durch das sterile Zimmer wandern. Nur mein Atem ist zu hören. Konzentriert auf dieses vertraute Geräusch forsche ich nach Anhaltspunkten. Mir scheint, ich müsse tot sein, aber hier bin ich und lebe, atme, denke.

Ich war in der Arena – halt, nein, das ist eine Aufnahme gewesen. Ein wichtiger Unterschied. Die Spiele sind Vergangenheit.

Zögerlich lasse ich den Gedanken an Pon zu. Aber nicht nur diese Erinnerungen kehren zurück, sondern auch die an meine Muschel daheim, am Muschelbaum.

Fast ein Jahr her, dass ich sie gemeinsam mit Finnick aufgehängt habe. Ob Wind und Wetter sie schon abgetragen haben? Falls ja, dann haben die guten Wünsche Pon erreicht. Vielleicht hat er mir längst vergeben. Ich hoffe es inständig.

Wenn ich etwas habe, wofür es sich lohnt, weiter zu leben, sind es die anderen Sieger, Isla – und Finnick. Die Menschen, die ich liebe. Der Gedanke wärmt mein Herz. Ich habe die Hungerspiele überlebt. Dann werde ich das hier ebenfalls überleben.

Diese neue Entschlossenheit wird jedoch mehr als einmal auf die Probe gestellt. Alle paar Stunden kommt Tia herein und zeigt mir Pons Tod, wieder und wieder, wie schon bei Edy.

Die Angst vor dem Schmerz ringt in meiner Brust mit der unendlichen Trauer. Tias Fragen schlagen ein wie Geschosse, mit jedem weiteren Mal vorwurfsvoller.

Ich versuche, mir die anderen Sieger vorzustellen, wie ich wieder bei ihnen bin und klammere mich an diese erfundene Glückseligkeit. Im Kopf beschwöre ich unseren Garten hinauf und bilde mir den Geschmack von frischen Erdbeeren auf meiner Zunge ein, anstelle des Gummistücks. Ich rufe mir das Gefühl der kühlen Erde unter den Fingern in Erinnerung, genauso wie das Summen der Insekten.

Trotzdem fällt es mir schwer, die Emotionen zurückzuhalten. Nicht nur hinsichtlich Pon, sondern auch mir gegenüber. Wegen dem, was ich Victoria angetan habe, deren Stimme in meinem Kopf Rache nimmt.

Ich verabschiede mich von dem unschuldigen Mädchen, das so gerne mit ihrem Vater fischte. Das am Meer saß und Blumenkränze flocht. Das in ihrer kleinen, halbwegs heilen Welt, zufrieden war. Sie ist fort, für immer.

Ich bin jemand Neues, aber das ist in Ordnung. Bei dem Gedanken an Finnick wird klar, dass ich trotzdem glücklich bin. Nur anders als vorher. Es gibt Sachen, für die es wert ist, zu leben, für die es sich lohnt, die Panik zu überwältigen.

Cordelia ist ebenfalls Teil meiner Vorstellung. Für sie muss ich stark sein, damit sie eine Chance hat. Und wenn sie weg ist – dann für alle, die danach kommen. Tue ich das nicht, gewinnt das Kapitol.

Und da lässt Tia endlich von mir ab. Sie verschwindet nach einer Sitzung und taucht nicht mehr auf. Wie lange ich daliege, den Blick auf die Decke gerichtet und doch nichts sehend, ist schwer zu sagen. Die Nebelfinger, inzwischen alte Bekannte von mir, lähmen meinen Körper, aber nicht den Verstand. Im Kopf habe ich mich eng zusammengerollt, eine dicke Decke aus Watte um das Bewusstsein gewickelt. Mags wäre stolz.

Der Zustand endet damit, dass Dr. Gaia Gaul ohne Vorwarnung auftaucht. Anders als Tia, lächelt sie bei meinem Anblick nicht, sondern seufzt nur.

„Hallo Annie“, sagt sie leise und mustert mich wachsam. „Ich habe gute Neuigkeiten für dich. Du hast es hinter dir. Tia meint, dass du bereit bist.“

Ich brauche einen Moment, um meinen Blick auf sie zu fokussieren.

„Bereit?“, krächze ich. „Wofür?“

Die junge Ärztin dreht geistesabwesend einen ihrer Ringe zwischen den Fingern. „Mit der Wirklichkeit konfrontiert zu werden.“

Mehr Szenen aus den Spielen. Ermattet lasse ich den Kopf zurück ins Kissen sinken und ziehe die mentale Schutzdecke wieder enger.

„Ich bringe dich zu deinem Vorbereitungsteam.“

Es dauert, bis die Worte zu mir durchsickern. Vorbereitungsteam. Das hat nichts mit der heimlichen Folter hier zu tun. Dafür muss ich nicht gut aussehen. Aber wofür dann?

„Was?“, frage ich Dr. Gaul verwirrt.

„Eigentlich sollten Friedenswächter dich hinbringen, aber ich dachte, das kann ich auch erledigen und dich schon ein wenig darauf ... einstimmen.“

Eine wirkliche Erklärung ist das nicht. Wieder versuche ich, mich aufzurichten, damit ich die Ärztin ansehen kann.

„Oh, entschuldige“, sagt sie beim Anblick meiner Verrenkungen, „lass mich erst die Restriktionen entfernen.“ Routiniert löst sie die Fesseln.

Endlich sitze ich wieder aufrecht. Erschöpft reibe ich die schmerzenden Handgelenke, während Dr. Gaul ein Paket neben mir ablegt. Neue Kleider, klärt sie auf. Etwas zu essen hat sie ebenfalls dabei, dieses Mal jedoch nur unappetitliche Riegel aus einer definitionslosen Masse. Es ist das erste Gericht im Kapitol, das nicht schmeckt. Trotzdem sättigen sie, sehr sogar.

Ich lasse den Blick unauffällig zu der Kamera gleiten. Wieder ist das rote Licht aus. Was hat diese Frau vor?

Solange ich esse, sitzt Dr. Gaul lediglich neben meinem Bett und spielt gedankenverloren an ihrem Ring herum.

„Also, Annie, Tia hat deinen Auftritt heute Abend bei Caesar Flickermans Arenanacht freigegeben. Das Programm ist dir sicher ein Begriff.“

Natürlich kenne ich es, jeder in Panem ist damit vertraut – schließlich ist es Pflichtfernsehen. Die Show findet drei, vier Mal abends statt und immer sind unterschiedliche Gäste geladen, die über die aktuellen Hungerspiele diskutieren.

„Keine Sorge, außer dir werden noch viele andere Leute da sein. Dein Redeanteil sollte nicht allzu groß ausfallen. Wichtiger ist, dass du eine fröhliche Präsenz zeigst. Nach deinem ... Zwischenfall während der Eröffnungszeremonie sorgen sich viele um dich, daher wollen wir ihnen zeigen, dass es dir gut geht.“

Statt zu antworten schiebe ich mir noch ein Stück von dem Riegel in den Mund. Schon wieder soll ich den Zuschauern präsentiert werden. Leere macht sich in meinem Bauch breit. Ich fühle mich ausgebrannt. Allein bei dem Gedanken an eine Bühne voller Scheinwerfer, die alle auf mich gerichtet sind, verliere ich den Mut.

„Nachdem du gelernt hast, deine Panik zu unterdrücken, sollte es kein Problem sein, dort über die Spiele zu reden. Es werden ein paar Ausschnitte gezeigt, aber da der letzte Tag vollkommen ereignislos war, brauchst du dir keine Sorgen machen. Es ist ein harmloser Test, um zu sehen, wie du damit klarkommst. Selbstverständlich bekommst du vorher eine Spritze, nur um ganz sicherzugehen.“ Sie lächelt mich an. „Das Oxyfix hat gute Ergebnisse erzielt, daher vertrauen wir darauf, dass es eine zuverlässige Unterstützung im Genesungsprozess sein wird.“

Anscheinend weiß Dr. Gaul nicht, was sie sonst sagen soll, denn in der entstehenden Stille nickt sie bloß bestätigend. Unsere Blicke kreuzen sich kurz und ich spüre unverhohlenes Interesse in ihrem. Ich schaue wieder zu Boden, doch ihre Augen ruhen weiterhin auf mir.

„Du bist die erste Siegerin, die ich getroffen habe“, sagt sie unvermittelt, „aber du scheinst die Einzige zu sein, die –“ sie stockt.

Vorsichtig sehe ich zu ihr. Dr. Gaul hat den Blick in ihren Schoß gerichtet, genauer auf den Ring an ihrem Finger, den sie schon wieder vor und zurück dreht.

„Die Einzige, die so stark betroffen ist.“ Sie verzieht ihr Gesicht. „Die Einzige, die ich je so schreien gehört habe.“ Als hätte sie bemerkt, was sie tut, lässt sie von ihrem Ring ab und faltet die Hände im Schoß. „Ich frage mich nur, woran das liegt. Tia hat da ihre These, aber ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann. In Anbetracht der starken Traumatisierung und der ungewöhnlichen Realitätsverschiebung ...“

Dr. Gaul bemerkt meinen Blick, der sich bei ihren letzten Worten unweigerlich verdunkelt hat. „Es tut mir leid, das ist vermutlich taktlos, so über dich zu reden. Ich will nur unbedingt fragen – weil ich nicht weiß, ob wir uns je wiedersehen – naja, ich frage mich halt, was du über deine ... Reaktion denkst?“

Sie beißt sich auf die Unterlippe, doch in ihren Augen brennt die Neugier.

Ich kaue auf einem Bissen des pappigen Riegels herum, unsicher, ob ich antworten soll. „Ich weiß nicht, wie es anders wäre“, sage ich schließlich, „aber jeder von uns Siegern hat seine eigenen Probleme. Ich will nicht tauschen, oder so. Es ist einfach ... Ich. Ein Teil von mir.“

Bedächtig nickt Dr. Gaul. „Interessant“, murmelt sie, ehe sie mich wieder anlächelt. „Entschuldigung, manchmal geht die Forscherin mit mir durch. Wie dem auch sei, wenn alles gut läuft – dann darfst du heute zurück ins Trainingscenter.“

Bei diesen Worten verschlucke ich mich fast an meinem Essen. Irgendwie hatte ich erwartet, dass die Folter noch länger dauern würde. Auf einmal wird die Leere in mir von einem Gefühl der Vorfreude durchflutet. Bin ich heute Abend schon wieder bei den anderen? Hastig schlinge ich die letzten Bissen hinunter und ziehe die neuen Kleider an.

Dr. Gaul hat nicht gelogen. Sobald ich fertig bin, öffnet sie tatsächlich die Tür. Mir war nicht klar, wie wenig ich daran geglaubt habe, bis wir einen vorsichtigen Schritt über die Türschwelle setzen.

Vor uns liegt ein langer Gang voll weißer Türen, der nur von einigen nackten Leuchtstoffröhren an der Decke beleuchtet wird. Nach Krankenhaus sieht es kein bisschen aus. Ein stechender Geruch von Reinigungsmitteln kitzelt meine Nase und ich niese. Gespenstisch hallt das Geräusch zwischen den kahlen Wänden wieder.

Ich folge Dr. Gaul durch den scheinbar endlosen Gang. Unterwegs gibt es nicht das geringste Anzeichen, wo wir sind. An den Türen hängen keine Schilder, die mir einen Hinweis geben könnten. Wir scheinen die Einzigen in dem Trakt zu sein, zumindest begegnen wir niemandem. Nicht einmal ein Flüstern ist zu vernehmen.

Dr. Gaul kümmert das alles wenig. Sie lotst mich mit großen Schritten durch den Gang und seine Abzweigungen. Offensichtlich weiß sie genau, wohin wir unterwegs sind. Ich hingegen verliere bei der dritten Gabelung die Übersicht.

Die Ärztin plaudert fröhlich über die Hungerspiele, wie sehr sie die Tribute bewundert, und fragt mich zu der Mentorenarbeit aus. Ich antworte zumeist einsilbig, denn in Gedanken bin ich schon bei der Show heute Abend und versuche, mich für alle möglichen Geschehnisse zu wappnen. Für Cordelia muss ich den besten Auftritt hinlegen, das bin ich ihr schuldig.

Der Gang vor uns öffnet sich alsbald zu einem großen Raum, von dem weitere Türen und ein schmaler Weg abgehen. Etwas, das aussieht wie ein gläserner Käfig, steht auf einem Rollwagen in der Ecke, sonst ist auch hier alles eintönig weiß. In den Geruch nach Sauberkeit mischt sich ein anderer, unidentifizierbarer. Ich bin mir fast sicher, dass er aus dem Glaskasten wabert, dessen Boden mit einer dichten Schicht aus Stroh zu bedeckt sein scheint.

Dr. Gaul verzieht nicht einmal das Gesicht, von daher gehe ich nicht davon aus, dass es sie überrascht. Wir halten vor einer großen Flügeltür, die keinerlei Klinke oder Knauf hat. Sie fummelt einen Schlüsselbund aus der Tasche ihres Kittels, seufzt dann aber. „Verdammt!“ Verlegen sieht sie mich an. „Bitte warte doch hier kurz hier, ich hab den Zugangschip in meinem Büro liegen lassen. Ich bin sofort wieder da!“

Bevor ich den Mund aufgemacht habe, verschwindet Dr. Gaul bereits im Laufschritt um die nächste Biegung. Die Arme um den Oberkörper geschlungen, ziehe ich mich in eine Ecke, möglichst weit von dem merkwürdigen Glaskäfig entfernt, zurück. Es ist so leise, dass man die Fische sprechen hören könnte, wie mein Vater immer gesagt hat, wenn es ihm zu still war.

Schon bilde ich mir ein, ein Rascheln gehört zu haben. Misstrauisch sehe ich zu dem Käfig hinüber, erkenne aber nichts. Bestimmt ist es nur Einbildung. Ich muss über mich selber lachen. Wahrscheinlich höre ich wirklich die Fische sprechen. Es würde ausgezeichnet zu meinem Ruf als „Verrückte“ passen.

Doch lange dauert es nicht, bis ich tatsächlich Geräusche vernehme. Schwere Schritte poltern durch den schmalen Gang gegenüber von dem, aus dem Dr. Gaul und ich gekommen sind. Eine dunkle Stimme sagt etwas Unverständliches.

Sofort habe ich das Bild von Friedenswächtern vor dem inneren Auge, die gleich über mich stolpern werden. Mein Herz klopft schneller. Die Erinnerung an die Behandlung bei dem letzten Zusammentreffen mit Snows Soldaten ist noch präsent. Bloß weg hier, befiehlt die Angst mir.

Ich taste hinter mir über die nackte Wand, aber natürlich gibt es hier keine Deckung. Bis meine Fingerspitzen den Rahmen einer Tür streifen und einen kühlen Lufthauch wahrnehmen. Sie ist angelehnt, nur einen Spaltbreit, doch das bedeutet, ich habe eine Fluchtmöglichkeit.

Die Schritte sind fast bei mir. Wieder höre ich die herbe Männerstimme, diesmal klar und deutlich. „Kann’s gar nicht erwarten, wenn die Jammerlappen endlich krepieren. Das hält man ja im Kopf nicht aus.“

Als bräuchte es noch irgendeinen Grund, drücke ich die Tür auf und schlüpfe hindurch. Der Raum dahinter liegt in tiefer Dunkelheit. Bevor meine Augen sich daran gewöhnt haben, rieche ich es. Irgendwie holzig - und lebendig.
 

Starr blinzle ich in die Schwärze meiner Zuflucht. Hier drinnen bin ich nicht alleine. Bei dem Geruch regt sich eine Erinnerung, aber es braucht einen Moment, bis ich die Empfindung zuordnen kann. Nur einmal im Leben habe ich es gerochen und doch nie vergessen.

Gelbe Augen, schimmernder Pelz und scharfe Krallen blitzen in meinem Kopf auf. Ein Berglöwe. Nur eine von vielen monströsen Kreaturen, die unsere Arena terrorisiert hat. Aus seinem aufgerissenen Maul roch es genauso, als er sich auf mich und Aramis stürzte, um uns zu verschlingen.

Am liebsten würde ich aus dem Raum fliehen, wären da nicht die Männer, die nun genau vor der Tür zu stehen scheinen. Ich höre das Knarzen ihrer Schuhsohlen auf dem blanken Boden und dann, zu meiner Überraschung, eine helle, weibliche Stimme.

„Das ist der Letzte auf unserer Liste. Sein Sie bloß vorsichtig mit dem Käfig, nicht, dass er noch entwischt. Dann reißt Dr. Gaul uns allen den Kopf ab!“

Ein Quietschen ertönt. Vermutlich bewegen sie den Rollwagen.

Den Atem angehalten verharre ich im Dunkeln, während die Männer draußen darüber diskutieren, wer den Kasten anpackt. Anscheinend haben sie Angst, vor dem, was darin ist. Genauso wie ich mich fürchte, herauszufinden, in wessen Behausung ich gelandet bin.

Zaghaft lösen sich erste Schemen aus der Dunkelheit, als meine Augen sich an die Schwärze gewöhnen. Es scheint ein riesiger Raum zu sein, zumindest verliert er sich in den Schatten. Neben mir erkenne ich einen großen Käfig, nicht aus Glas, sondern aus metallenen Gitterstäben, von der Decke bis zum Boden. Für einen Berglöwen ist er zu klein.

Leises Flügelraschen erschreckt mich fast zu Tode. Ich presse mir die Hand auf den Mund, um das Keuchen zu ersticken.

Nur eine Armlänge entfernt von mir sitzt ein dunkler Vogel hinter dem Gitter und starrt mich an. In dem kalten Luftstrom, der von irgendwoher durch den Raum weht, fröstle ich. Es ist albern, aber ich lege einen Finger an die Lippen, in der Hoffnung das Tier stumm zu halten.

Der Vogel legt den gefiederten Kopf schief und hüpft näher an die Gitterstäbe heran. Er kommt mir vage bekannt vor, obwohl ich nicht glaube, dass er in Distrikt vier heimisch ist. Interessiert mustert er mich aus glänzenden Augen und breitet dann raschelnd seine Flügel aus, schwarz mit hellen Spitzen.

Ich kann nicht verhindern, dass er seinen Schnabel öffnet. Statt eines Krächzens oder Zwitscherns aber dringen Worte aus seiner Kehle. Menschliche Worte.

Ich behalte euch im Auge! Ich behalte euch im Auge!

Wie versteinert stehe ich da. Weitere Vögel hüpfen aus dem Dunkel und greifen den Schrei auf, wiederholen ihn in ihren eigenen Stimmen, die kein bisschen nach Vogelzwitschern klingen.

Den Krach können die Leute draußen unmöglich überhören. Gleich werden sie hereinplatzen und nachsehen, was vor sich geht! Mein Herz droht aus der Brust zu hüpfen. Ich sehe mich nach einer Zuflucht um.

„Diese verdammten Biester! Immer nur am rumschreien. Ich verstehe echt nicht, was Gaul an den Viechern findet. Am liebsten würd ich denen den Hals umdrehen, aber sie findet es auch noch witzig, denen solche Sprüche beizubringen.“

Das ist wieder die herrische Frauenstimme.

„Haltet den Schnabel“, brüllt sie laut. Offensichtlich haben die Schreie sie kein bisschen überrascht.

Die Vögel hören jedoch nicht auf sie, sondern übersteigern sich gegenseitig in einem unheimlichen Konzert aus immer demselben Satz. Ich behalte euch im Auge!

Von diesen Tieren habe ich nur in den Schulbüchern gelesen. Schnattertölpel. Die misslungene Züchtung des Kapitols, die zur größten Waffe der Rebellen in den dunklen Tagen wurde. Kein anderes Lebewesen ahmt die menschliche Stimme derart getreu nach.

„Lasst uns sehen, dass wir fertig werden“, keift die Frau draußen, „je eher, desto besser. Und seid vorsichtig! Wenn Puffin euch beißt, bin ich nicht schuld.“

Einer der Männer brummt etwas und sie setzen sich endlich in Bewegung. Ich höre wie sich ihre Schritte entfernen, ebenso wie das Quietschen des Rollwagens.

Mit ihnen schwinden auch die Rufe der Schnattertölpel. Einer nach dem anderen klappen sie ihren Schnabel zu. Nur der Erste, sitzt immer noch auf seiner Stange und mustert mich interessiert.

Ich habe alles unter Kontrolle, sagt eine glatte Männerstimme, als das Tier seinen Schnabel öffnet, und überhaupt, seit wann ist das Ihre Sorge? Sie versorgen uns mit den richtigen Bestien und das war’s. Wir hingegen werden den Leuten geben, was sie brauchen. Das wird sie beschäftigen - dann kehrt auch Elf bald zur Normalität zurück. Bis dahin werden diese Tiere einen großartigen Einsatz haben. Ich erwarte Ihren Bericht, wenn unser Prachtstück vorbereitet ist. Genug Probenmaterial sollten sie ja mittlerweile haben.

Erschrocken stolpere ich einige Schritte von dem Schnattertölpel fort, der mich unschuldig ansieht, ehe er sein Gefieder putzt. Was immer der Vogel da wiedergegeben hat, es ist sicher nicht für meine Ohren bestimmt.

Ein anderer Tölpel fängt jetzt an zu sprechen. Mit Tias Stimme.

Unterschätzen Sie es nicht. Die Sieger sind gefährlich. Sie geraten außer Kontrolle. Besser, das Problem wird schnell behoben. Wir können nicht alle ruhig stellen.

Mein Hals schnürt sich zu. Nein, das ist sicher nicht für Außenstehende gedacht. Ich sollte den Raum schleunigst verlassen, aber ich bleibe wie festgefroren stehen. Diese Informationen sind wertvoll, selbst wenn ich keine Ahnung habe, worum es geht. Gespannt warte ich, ob die Schnattertölpel noch mehr zu sagen haben.

Beschaffen Sie mir einfach die Wolfsmutationen. Um den Rest kümmern wir uns. Bald.

Ich presse mir die Hand noch fester vor den Mund. Dr. Gaul darf niemals erfahren, was ich gehört habe.

Schlimmer kann es nicht kommen, denke ich, doch weitgefehlt. Hinter mir erklingt ein kehliges Knurren.

Wolfsmutation, echot es durch meinen Kopf. Der Geruch, der so stark an einen Berglöwen erinnert, kommt mir wieder in den Sinn.

Langsam drehe ich mich um. Bloß keine hektischen Bewegungen.

Hinter mir ragt ein weiterer Käfig mit massiven Gitterstäben auf. Dazwischen leuchten zwei blaue Augen aus der Dunkelheit. Gerade so erkenne ich die Konturen eines gewaltigen, zotteligen Tiers, das die Zähne gebleckt hat.

Der Wolf ist riesig, beinahe so groß wie ich. Auf mächtigen Pranken schleicht er näher an das Gitter heran, bis er seine Schnauze zwischen die Stäbe pressen kann. Mit seinen ungewöhnlich hell strahlenden Augen taxiert er mich. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Ich habe noch nie einen Wolf gesehen, aber ich bin mir sicher, dass sie kleiner sind und ... ich kann es nicht wirklich bestimmen, doch er wirkt gespenstisch menschlich. Wieder grollt er leise.

Abwehrend trete ich einen Schritt zurück und halte die leeren Hände offen in seine Richtung, in der Hoffnung, ihn zu beruhigen. Ich traue mich nicht, beschwichtigend zu ihm zu sprechen, aus Angst, dass die Schnattertölpel meine Stimme aufzeichnen könnten.

Das Monstrum legt seinen pelzigen Kopf schief und sieht mich unverwandt an. Wenn ich nicht wüsste, dass es eine grausame Züchtung des Kapitols ist, die nur aufs Töten aus ist, würde ich fast sagen, dass er nachdenklich aussieht.

Ich schnappe laut nach Luft. Auf einmal erscheint es glasklar, was an dem Tier nicht stimmt. Die Augen, aus denen er mich mustert, sind die eines Menschen. Und nicht von irgendwem. Ich habe sie schonmal gesehen, in einem sommersprossigen Gesicht voller Angst. Ich habe das Licht in ihnen erlöschen sehen.

Die Mutation hat Edys Augen.

Ohne das Monster noch einmal anzusehen, stürze ich aus dem Raum. Keuchend sinke ich an der Wand neben der Tür zu Boden und versuche, die aufsteigenden Gefühle zu unterdrücken. Ein trockener Schluchzer bebt unaufhaltsam durch mich. Was haben sie Edy angetan?

Das Phantom der Schmerzen, die Tia heraufbeschworen hat, jagt durch jede Faser und hämmert in meinem Kopf. Denken ist unmöglich. Bloß eins ist klar – ich muss hier raus.

Irgendwie schaffe ich es, aufzustehen. Nervös versichere ich mich, dass die Tür hinter mir fest verschlossen ist und gehe dann auf wackligen Beinen zurück zu dem Flur, in dem Dr. Gaul verschwunden ist.

Bleib stark, fordere ich von mir selber, während mein Herz eine wilde Schiffsfahrt auf stürmischer See unternimmt. Nur, dass es ein niemals endender Sturz ins Wellental zu sein scheint.

Als Dr. Gaul kurze Zeit später auftaucht, rast es immer noch so heftig, dass ich fürchte sie bemerkt es, doch sie lächelt nur fröhlich und schwenkt triumphierend einen runden Chip.

„Jetzt können wir los. Oh, und wir sollten uns beeilen, wir wollen dein Vorbereitungsteam ja nicht warten lassen!“ Sie hält den Schlüssel vor ein kleines Panel in der Wand und die Tür gleitet auf, um den Blick in einen Fahrstuhl freizugeben. „Nach dir!“

 

Das Vorbereitungsteam erwartet uns in einem überirdischen Raum, der einfach ausgestattet ist. Eine große Badewanne wartet in der Ecke, mitsamt rosa Schaumkronen.

Kaum, dass Dr. Gaul und ich eingetreten sind, umschwirren die Stylisten mich aufgeregt schnatternd, zupfen mit gerümpfter Nase an meinen ungewaschenen Haaren und kommentieren die dunklen Augenringe.

Ich bekomme nicht einmal mit, dass Dr. Gaul geht, aber als ich mich umdrehe, ist sie verschwunden. Mit einem dumpfen Gefühl im Magen betrachte ich die geschlossene Tür. Was da unten geschehen ist, begreife ich nicht. Eins ist allerdings sicher: Ihr ist nicht zu trauen.

Sobald ich fertig gebadet bin, ist meine Haut wieder rosig und weich. Einzig dort, wo die Metallplättchen befestigt waren, sind von der Folter dunkelrote Flecken zurückgeblieben.

Ich bin nicht sicher, ob das Team irgendeine Ahnung hat, was sie bedeuten. Vivette lässt bei dem Anblick der Stellen an Schläfen und Handgelenken jedenfalls ein leises Seufzen hören.

„Oh je, da brauchen wir aber all unser Können, um das zu verstecken“, murmelt sie zu sich selbst.

Eifrig machen sie sich daran, verschiedene Puder in Grün auf die Stellen aufzutragen. Stück für Stück verschwinden so die letzten Spuren, die Tia an meinem Körper hinterlassen hat.

Endlich darf ich in den Spiegel sehen. Die Frau, die mich ansieht, scheint eine Fremde zu sein. Ihre Haare fallen in weichen Locken über die Schultern und auf ihren Wangen liegt ein zarter rosiger Schimmer. Als wäre nie etwas geschehen. Das Publikum bei Caesar heute Abend wird nicht einmal ahnen, wie es mir wirklich geht.

Eilig stopfen sie mich in einen Wagen, der direkt zum Studio fährt. Vor den Türen wartet bereits Cece, ein breites Strahlen im Gesicht.

Sie begrüßt mich überschwänglich und tatsächlich bin auch ich froh, sie zu sehen. Nach den Tiefen der Kellerlabore erscheint Cece mir wirklich freundlich.

In einer kleinen Garderobe drückt sie mir einen Stapel bedruckter Karten in die Hand, die ich lesen und mir einprägen soll.

Es dreht sich alles um Cordelia. Warum sie ein toller Tribut ist, ein Aufruf an die Sponsoren sie weiterhin zu unterstützen und so weiter. Nur mit einem Nebensatz wird erwähnt, wie tapfer Edy war und wie plötzlich sein Tod kam.

Irgendwie schaffe ich das schon. Hauptsache, wir kehren anschließend ins Trainingscenter zurück. Selbst die Spritze, die Cece mit einer Präzision, die ihr gar nicht ähnlich sieht, in meinen Unterarm setzt, ertrage ich pflichtschuldig.

Es dauert nicht lange, bis die Wirkung sich einstellt. Ergeben lasse ich mich von der Gleichgültigkeit einlullen. Je weniger ich heute Abend ich selbst bin, desto besser.

Bis zur letzten Sekunde präge ich mir den Text ein, sodass wir laufen müssen, um es rechtzeitig zur Bühne zu schaffen. Die übrigen Showteilnehmer sitzen bereits auf ihren Plätzen, als ich atemlos zu meinem Sessel husche.

„Hast dir ja ganz schön Zeit gelassen, Cece“, sagt eine nur allzu bekannte Stimme zu mir, kaum, dass ich sitze.

Trotz des Medikaments, das mir durch die Adern kriecht, macht mein Herz einen Satz. Ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich mich überhaupt nicht gefragt habe, wer außer mir an der Sendung teilnehmen wird. Mit Finnick habe ich nicht gerechnet.

Caesar Flickerman begrüßt die Zuschauer überschwänglich und die Scheinwerfer hüllen uns in gleißendes Licht, aber ich habe nur Augen für Finnick – und er für mich. Bestürzt starrt er zu mir herüber. Meine Gefühle sind ein reines Chaos.

Um uns herum nimmt die Show ihren Lauf und ich erinnere mich an die Bedingung, unter der ich ins Trainingscenter zurückdarf: Ein anständiges Interview ohne Ausfälle.

So schwer es mir fällt, ich wende meinen Blick von Finnick ab. Nach der Sendung, verspreche ich mir.

Die Show beginnt mit einer Einlage von irgendeiner Mentorin aus Distrikt eins, die ihr neustes Lied vorstellt. Begeistert schwenken die Zuschauer aus dem Kapitol kleine Leuchtstäbchen, während die Siegerin schmalzige Lobgesänge auf die Hungerspiele zum Besten gibt.

Von da aus eröffnet Flickerman die Diskussion zu den Spielen, vor allem über die Tribute, die gleich zu Beginn „ausgeschieden“ sind. Ich schaffe es, Ceces vorgefertigte Worte zu Edys Tod vorzutragen, als wäre es nichts. Wie ein Roboter antworte ich dem Moderator auf seine Fragen und zwinge mich zu allem Überfluss zu einem höflichen Lächeln in die Kameras.

Abgesehen davon spricht Flickerman zum Glück nicht mit mir. Wenn, dann ist er interessiert an der Meinung von Finnick, den er immer wieder ins Rampenlicht holt, unter dem begeisterten Kreischen einiger Zuschauerinnen.

Innerlich leer sitze ich da und fixiere den Perückenturm einer Zuschauerin in der ersten Reihe und warte nur darauf, dass es endlich vorbei ist. Bei jeder Szene aus der Arena werden meine Hände heiß und schwitzen, aber ich starre nur umso intensiver auf die hellblonden Kringel, die mit silbrigem Glitzerpuder bestäubt sind.

Zum Schluss wartet allerdings eine Überraschung auf mich.

Seneca Crane, der oberste Spielmacher höchstpersönlich, wird von Caesar Flickerman auf die Bühne gerufen. Er ist ein schlanker Mann mit einem exzentrisch gestutzten Bart in einem feuerroten Anzug. Ich weiß nicht wieso, aber es überrascht mich, dass er so jung ist.

Mit einer eleganten Verbeugung nimmt er seinen Applaus entgegen. „Meine Damen und Herren, es ist mir eine große Ehre, heute Abend hier zu Gast sein zu dürfen. Sie sind ohne Frage ein reizendes Publikum und darum will ich Sie in ein kleines Geheimnis einweihen.“

Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, kaum, dass er den Mund aufmacht. Ich habe seine Stimme schon früher an diesem Tag gehört. Aus dem Schnabel eines Schnattertölpels.

Ich verknote meine Hände fest im Schoß, um sie vom Zittern abzuhalten. Er ist also verantwortlich für die Edy-Mutation. Abscheu wallt in mir auf.

„Die 74. Hungerspiele sind besonders, ohne Frage. Aber was sagen Sie, wenn ich Ihnen erzähle, dass wir uns noch eine Überraschung aufgehoben haben? Etwas nie Dagewesenes, das diese Spiele unvergesslich machen wird.“ Er legt eine kunstvolle Pause ein und scheint das angespannte Schweigen des Publikums zu genießen.

Ich fühle mich ohnmächtig, gefangen in diesem Körper und unfähig zu reagieren, während ich an das dunkle Kellerlabor denke. Der Spielmacher sieht harmlos aus, aber es ist definitiv seine Stimme, die angekündigt hat, das „Problem“ mit den Siegern zu bereinigen.

„Oh bitte“, fleht Flickerman im Namen aller Zuschauer, „spannen Sie uns nicht so auf die Folter!“

„Na gut, Caesar“, lacht der Spielmacher, „in diesem Jahr wird es erstmals eine Regländerung geben.“

„Eine Regeländerung?“, fragt der Moderator mit so ehrlicher Verwunderung, dass ich ihm glaube. Auf den Rängen wird leises Flüstern laut. Auch auf der Bühne werden fragende Blicke getauscht. „Welche Regel?“

„Das, meine Damen und Herren, liegt in Ihren Händen“, erklärt Seneca Crane. „Sie im Kapitol haben die Wahl. Was wollten Sie schon immer ändern? Wir werden in Kürze eine Liste mit Vorschlägen veröffentlichen, aus denen Sie für ihren Favoriten stimmen können.“

„Wie aufregend“, platzt aus Caesar Flickerman genau das heraus, was wir alle denken. In 74 Jahren Hungerspielen ist dies eine Premiere. So etwas gab es noch nie. Manch einem Zuschauer steht vor Überraschung sogar der Mund offen. Für den Moment ist mein Hass gegenüber dem Spielmacher vergessen.

„Natürlich sind wichtige Grundregeln davon ausgenommen“, ergänzt Crane. „Wir wollen ja schließlich nicht den Grundgedanken der Spiele missachten. Genauere Informationen entnehmen Sie bitte dem Infotext, den wir auf ihren Fernsehgeräten bereitstellen.“

„Und ... wann wird diese Änderung eingeführt?“, fragt Flickerman begierig.

„Das“, entgegnet Crane mit einem selbstzufriedenen Grinsen, „werden wir Spielmacher entscheiden. Und auch erst dann werden Sie erfahren, welche Regeländerung gewonnen hat.“

Ohrenbetäubender Applaus wird dem jungen Mann zuteil, so laut, dass Caesar Flickermans verzweifelte Abmoderation kaum zu hören ist. Wie betäubt sitze ich da, bis die Scheinwerfer erlöschen und eine Angestellte des Senders uns mit deutlichen Worten hinauskomplimentiert.

Finnick! Ich sehe mich in der Menge an Leuten nach ihm um. Er ist direkt vor mir. Eilig dränge ich in diese Richtung und will gerade seinen Arm ergreifen, da erkenne ich Titania Creed, die großzügige Sponsorin, die zielgerichtet auf ihn zukommt.

Ich lasse die Hand sinken und sehe stattdessen zu, wie sie gierig einen Arm um ihn legt. Kichernd flüstert sie etwas in sein Ohr. Er schickt sich an, mit ihr fortzugehen, dreht sich dann aber noch einmal um.

Unsere Augen treffen sich und falls ich Zweifel hatte, sind sie wie weggewischt.

Die Unglücklichkeit steht in seinem Gesicht geschrieben, doch Titania Creed lässt ihm keine andere Wahl. Mit einem letzten besorgten Blick in meine Richtung geht er langsam von dannen. Ich bin frei, aber Finnick nicht.

Wie gerne würde ich jetzt wieder weinen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Damit hat die Geschichte 100k Wörter erreicht! Wahnsinn, wie lange ich schon an der Geschichte schreibe (und dass es auch noch gelesen wird). Vielen Dank an alle, die Annies Geschichte bis hierhin verfolgt haben! Auf zu den nächsten 100k - oder so ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: irish_shamrock
2021-05-30T16:43:51+00:00 30.05.2021 18:43
Liebe Coronet,

meinen Glückwunsch zum Meilenstein der geknackt Wortmarke von 100k ♡.
Ich kann nur immer wieder betonen, wie toll es dir gelingt, die Vorgaben des Originals sowie des Prequels so mit deiner Geschichte zu verpflichten, dass es ein stimmiges Bild ergibt.
Dass ausgerechnet Annie in dem Labor mit ihren Ängsten, dem Gespräch der Schnattertölpel und Edys Mutation konfrontiert wird, ist hart und mindestens genauso schockierend wie Finnicks "Gefangenschaft" in den Krallen Titanias.
Ein sehr aufregendes Kapitel, vielen Dank dafür.
Auf die nächsten 100k \*.*/

Alles Liebe,
irish C:
Antwort von:  Coronet
10.06.2021 17:58
Dankeschön ♡
Das lese ich wirklich gerne, denn es ist immer auch mein Anspruch, dass alles möglichst detailgenau zu der Originalgeschichte passt :) Da freut mich so ein großartiges Lob ungemein!
Ich kann dafür auch nur zurückgeben - es freut mich sehr, dass du Kapitel für Kapitel dabei bist und so fleißig kommentierst! Vielen Dank dafür! Und ja - die nächsten 100k kommen bestimmt. Ich kann mich einfach nicht kurzfassen :'D
Liebe Grüße
Coro


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