Zum Inhalt der Seite

Zu den Strömen von Babylon

eine schier endlose Wandung
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Tage 49 bis ...

Tag 49

 

Ich schlafe schlecht, weil ich wirr träume. Ich erwache und sehe mich Jechonja gegenüber, der ein Öllämpchen in der Hand hält.

 

„Was ist?“, will er wissen und ich kann nur weinen.

 

Er streicht mir über die Wange, versucht mich zu beruhigen, nimmt mich schließlich in den Arm, beginnt mich zu streicheln. Ich schließe die Augen. Diesmal habe ich kein Herzrasen, denn es ist nicht die Zeit dafür. In den frühen Morgenstunden erwache ich neben ihm.

 

„Ich habe gesehen, wie sie zwei Menschen geköpft haben – ganz am Anfang. Einfach so“, sage ich.

 

Jechonja schweigt, sieht mich nur an.

 

„Ich habe gesehen, wie sie Jehonatan mitten auf dem Weg erschlugen, auch einfach so. Und Secharjahu … Und dann die Eltern von Hannah, nur, weil sie zu erschöpft waren, um weiterzugehen …“

 

Ich unterbreche mich und dann stelle ich die Frage, die ich eigentlich gar nicht mehr hatte stellen wollen.

 

„Wie kann der Ewige das zulassen?“

 

Jechonja schweigt und er bleibt auch stumm, als sich Simche in meinem Arm rührt und einen unartikulierten Laut von sich gibt.

 

„Vielleicht hast du dich schon einmal gefragt, warum ich allein bin …“, beginnt er da plötzlich ganz leise.

 

„Hmm“, mache ich nur, denn um ehrlich zu sein, hatte ich mir die Frage noch nie gestellt. Secharjahu ist allein, Jehonatan war es auch. Es gibt viele Männer in unserem Tross, die allein sind.

 

„Ich hatte eine Frau.“

 

„Oh“, erwidere und möchte nicht weiterdenken.

 

„Vor 11 Jahren waren die Kasdim schon einmal in der Stadt …“

 

„Ja.“

 

„Meine Frau war schwanger.“

 

Er unterbricht sich und ich betrachte ihn von der Seite, kann nichts sagen, weiß auch überhaupt nicht, was.

 

„Damals“, fuhr er fort, „stellte ich mir die gleichen Fragen wie du jetzt. Die gleichen. Wie kann es sein, dass Gott so etwas zulässt?“

 

„Und … und warum lässt er es zu?“

 

 

Wir befinden uns wieder auf dem Weg – jetzt entlang des Perat, dieses großen Flusses, dem wir ab jetzt bis nach Bawel folgen werden. Aber bis dahin, so sagen die Kasdim, wird noch viel Zeit vergehen. Weiterhin begleitet uns leicht hügeliges Land, das durch die Regenfälle mit einem grünen Teppich bedeckt ist. Ich versuche mich durch dessen Anblick von dem abzulenken, was mir Jechonja sagte. Da ich auf dem Wagen neben meiner Mutter und meinen Geschwistern sitze, traue ich mich nicht zu weinen. Es wäre verräterisch. So halte ich meine Tränen zurück, springe bei der nächsten Gelegenheit herab und gehe ein Stück des Wegs. Ich spüre, dass mir das gut tut. So gehe ich weiter und bleibe auch etwas hinter dem Wagen zurück. Ich brauche das jetzt!

 

 

Tag 50

 

Mich stört die Nähe und Enge. Nirgendwo bin ich allein. Immer ist da schon jemand!

 

 

Tag … (ich weiß nicht, der Wievielte es ist, da ich zu zählen aufgehört habe ...)

 

Ich habe schon so lange nichts mehr geschrieben. Und ich dachte zwischenzeitlich auch daran, mit dem Schreiben vollkommen aufzuhören, weil ich darin keinen Sinn mehr sah. Mir ging es mit dem Schreiben auch nicht anders als ohne. Es ist alles so einerlei, ob ich nun schreibe oder nicht, ob sich jemand einen Stein einläuft oder nicht …

 

Secharjahu ist gestorben. Er lag eines Morgens einfach vor seinem Zelt. Auch ich habe ihn dort liegen sehen und empfand nichts dabei.

 

Wir sind jetzt wieder bei einer Ruine. Niemand sagt uns den Namen und ich frage auch nicht. Wir befinden uns in einem von halbhohen Mauern umgebenen großen Hof. Er ist gepflastert. Hier sollen wir unser Nachtlager aufschlagen.

 

Es ist immer dasselbe. Morgens in der Früh aufstehen, dann wandern und abends das Lager aufbauen. Ein einziges Einerlei!

 

Vielleicht sollte ich nur noch schreiben, wenn etwas passiert, was es sich aufzuschreiben lohnt? Wie wäre es damit: Wir sind vorhin an einer Stelle vorbeigekommen, an der ein anderer Fluss, der Chabur, in den Perat fließt. Gehört das in ein Tagebuch?

 

Oder: Als ich vorhin, kurz bevor wir diese Ruine erreichten, in den Himmel sah, meinte ich, noch nie so große Wolken über mir gehabt zu haben. Wirklich, sie sind gigantisch! Und auch das Land wirkt hier so weit, da es flach ist. Man kann meilenweit schauen. Am liebsten wäre ich stehengeblieben …

 

Ich habe mit Jechonja noch nicht wieder sprechen können. Es hat sich bisher einfach nicht ergeben. Und fragen möchte ich ihn auch nicht, denn das gehört sich nicht! Wenn er nichts weiter erzählt, dann ist das eben so.

 

Ich sehe einige Mädchen aus unserem Tross am Perat stehen und überlege, ob ich hingehen sollte. Ich tue es. Die Mädchen stammen auch aus Jeruschalajim. Sie unterhalten sich und lachen ab und zu. Und dann sehen sie mich so an, als wäre ich ein Geist.

 

„Ihr lauft weiter vorn, nicht wahr?“, frage ich sie.

 

Sie nicken.

 

„Ich bin hinten im Tross.“

 

Wieder nicken sie.

 

„Und wie heißt ihr?“

 

„Dvorah und Riwka und Sarah.“

 

„Michal.“

 

Einen Moment lang stehen wir vier schweigend am Perat und sehen aufs Wasser, bis Riwka ganz unverhofft fragt: „Wie ist das eigentlich mit so einem Alten?“

 

Ich sehe auf und in drei fragende Gesichter.

 

„Wie?“

 

„Na, du bist doch mit dem verheiratet, oder etwa nicht?“

 

Ich stocke. „Nein.“

 

„Wie, du bist nicht mit dem verheiratet und schläfst trotzdem in einem Zelt mit ihm? Und was sagen deine Eltern dazu?“

 

Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. „Nichts“, erwidere ich.

 

„Also heiratet ihr bald?“

 

„Nein. Ja. Vielleicht“, bringe ich nur hervor und halte mir gleich darauf den Mund zu.

 

„Na, was denn nun?“

 

Da erinnere ich mich an Jechonjas Lüge und sage: „Ja!“

 

„Dann seid ihr also verlobt?“

 

Mir wird immer mulmiger. Warum fragen mich die Mädchen das?

 

„Ja!“

 

„Und da dürft ihr schon beieinander liegen?“, schaltet sich Dvorah ein.

 

„Und wie ist das, wenn er dich küsst?“

 

Ich spüre, dass mich die Mädchen ausfragen wollen und verfluche mich innerlich, dass ich es so weit habe kommen lassen.

 

„Das geht euch nichts an“, erwidere ich und mache auf dem Absatz kehrt. Ich höre ihr Lachen hinter mir her.

 

Ich fühle mich gerade nicht so gut und ich weiß nicht, wie ich diese schlechte Stimmung loswerden kann. Wenn ich meine alten Tagebucheinträge durchgehe, dann lese ich da, dass es mir schon eine Weile so geht. Ich fühle mich immer müde, abgeschlagen, mir ist im Grunde alles egal, so als befände ich mich in einem endlosen Schlaf, aus dem ich nur ganz selten zu erwachen scheine. Damals zum Beispiel, als ich Herzklopfen wegen Jechonja hatte. Das war so, als würde ich klare, frische Luft atmen.

 

Ich gehe einige Schritte entlang des Perat. Woran könnte es liegen, dass ich mich so fühle? An den Kasdim? An der Angst? Oder an dem, was ich miterlebt hatte? Ich weiß es einfach nicht. Ich habe mich noch nie so gefühlt, allem so gleichgültig gegenüber. Auch jetzt eben hätte ich den Mädchen etwas erzählen sollen. Ihnen sagen, dass sie dumme Hühner sind. Aber ich hatte nicht die Kraft dazu. Einfach nicht die Kraft! Und dabei wollte ich doch bloß ein wenig Gesellschaft, einmal andere Gesichter sehen.

 

Stattdessen hocke ich jetzt wieder bei meiner Familie und überlege mir, dass ich von dem heutigen Gespräch nichts erzählen sollte.

 

 

Tag …

 

Wir sind noch immer in dieser Ruine. Warum ziehen wir nicht weiter? Es regnet doch nich. Mir gefällt es hier nicht besonders. Ich will weiter und doch weiß ich nicht, wohin. Mir treten Tränen in die Augen.

 

 

Tag …

 

Schon seit Tagen laufen wir am Perat entlang. Es ist eintönig, abgesehen von den großen Wolken und dem weiten Himmel über uns und dem grünen Teppich beidseits des Flusses. Warum bin ich nur so traurig? Ich könnte doch froh sein, dass uns die Kasdim endlich in Ruhe lassen …

 

„Wir werden bald an Mari vorbeikommen“, lässt sich Jechonja unvermittelt vernehmen, als wir zur Mittagspause zusammen sitzen.

 

„Mari?“, erwidert mein Vater und sieht von seiner Speise auf.

 

„Mari“, wiederholt Jechonja und steckt sich ein Stück Brot in den Mund.

 

„Na und?“

 

Jechonja kaut, dann setzt er seine Wasserflasche an. Ich sehe, wie er schluckt. Einmal, zweimal. Dann wischt er sich den Mund ab.

 

„Ja, Mari, die uralte Ruine eines Palastes.“

 

„Nu?“, erwidert mein Vater, aber Jochanan sieht Jechonja wie gebannt an. „Erzähl!“

 

Und Jechonja lässt sich nicht lange bitten. Er strahlt in der ihm eigenen Weise, als er sich noch ein Stück Brot in den Mund steckt, kaut und dann ansetzt: „Ein uralter Palast mit riesigen Abmessungen direkt am Perat gelegen.“

 

„Wie groß?“, möchte Jochanan wissen. „Doch nicht etwa auch größer als die Davidsstadt?“

 

„Doch“, nickt Jechonja.

 

Jochanan schüttelt den Kopf.

 

„Alles ist größer als Jeruschalajim … Alles …“

 

„Ja, so etwas Großes haben wir alle, die wir hier sitzen, wohl noch nicht gesehen.“

 

„Und woher weißt du das dann?“

 

„Gelesen hab ich darüber“, erwidert Jechonja. „Gelesen. Vor tausenden von Jahren herrschte dort ein König, Zimrilim war sein Name. Der war mächtig und wohlhabend. Er baute sich diesen riesigen Palast, seine Stadt, sein Reich. Wenn du den Palast einmal durchqueren möchtest, brauchst du ganze zwei Tage!“

 

„So groß?“

 

Jechonja nickt und Jochanan macht große Augen. Auch Schimschon rückt näher heran. Und Simche hockt mir auf dem Schoß.

 

„Und er trotzte zahlreichen Angriffen. Die Aschschurim versuchten es, aber bissen sich ihre Zähne an ihm aus.“

 

Jechonja macht eine Pause und schnaubt leise, so als wolle er seine Verachtung für dieses Volk zum Ausdruck bringen.

 

„Schließlich aber gelang es doch jemandem, diesen riesigen Palast einzunehmen und zu verheeren. Könnt ihr euch denken, wer?“

 

Jechonja sieht in die Runde.

 

„König David?“, kräht Simche. Jechonja aber schüttelt lächelnd den Kopf. „Nein, der nicht.“

 

„Joschijahu?“, ruft Jochanan und hebt den Zeigefinger.

 

„Nein, auch der nicht.“

 

„Wer denn?“

 

Diese Frage kommt von meinem Vater und auch er grinst.

 

„Wohin gehen wir gerade?“

 

„Nach Bawel!“, ruft Jochanan.

 

„Richtig. Und dort gab es schon vor Urzeiten große und mächtige Könige. Kennt ihr einen beim Namen?“

 

„Newuchadrezzar.“

 

„Ja. Weiter?“

 

„Nawu-apla-uzur?“

 

„Auch richtig, war aber der Vater von Newuchadrezzar…“

 

„Newuchadrezzar“, rief Schimschon.

 

„Schon mal genannt.“

 

„Es gab einen ersten und einen zweiten. Von dem zweiten werden wir gerade weggeführt“, fährt Schimschon fort und zieht eine Augenbraue hoch.

 

„Kluger Kerl“, entgegnet Jechonja und lächelt.

 

„Assur-bani-apli?“, ruft Jochanan.

 

„Nein, das war einer der letzten Könige der Aschschurim.“

 

„Also wer denn nun?“

 

„Wer gilt als klügster Gesetzgeber weit und breit, abgesehen vom Ewigen?“, fragt Jechonja.

 

„Schelomoh, der Sohn von König David“, wirft Schimschon ein und Jechonja grinste dazu. „Ja, der gilt als besonders klug und weise, aber der berühmteste Gesetzesgeber, der lebte vor Urzeiten in der Stadt Bawel, die wir, so es der Ewige will, in einigen Wochen mit eigenen Augen sehen werden.“

 

„Und wer ist es nun?“, will mein Vater wissen.

 

„Hammurabi.“

 

„Natürlich der. Wie habe ich den vergessen können?“

 

„Und was hat der noch mal gemacht?“, will Jochanan wissen.

 

„Er gilt als größter Gesetzgeber aller Zeiten.“

 

„Ja, und davor?“

 

„Wie, davor?“

 

„Na, du hast doch etwas von Mari erzählt“, sagt Jochanan und um seinen Mund kräuselt es sich.

 

„Ach so, ja. Er hat den Palast eingenommen und verwüstet. Die Kasdim sehen sich in der Tradition dieses großen Mannes und ich würde mich wirklich sehr irren, wenn wir an diesem Ort nicht Halt machen würden.“

 

„Schöne Geschichte“, erwidert mein Vater.

 

„Danke.“

 

„… mit der du uns die Mittagspause zerquatscht hast.“

 

Doch Jechonja tut so, als hätte er die letzten Worte meines Vaters nicht gehört.

 

„Nur eine Frage noch: Kinder, wisst ihr wer Schomron und mit ihm Jisrael vernichtete?“

 

„Jetzt reichts aber“, schimpft mein Vater. „Wir sind doch hier nicht in der Schule!“

 

„Scharru-ukin“, ruft Jochanan.

 

„Und?“

 

„Sancheriw.“

 

„Korrekt!“

 

 

Am Abend nehme ich mir ein Herz und frage Jechonja: „Du, wie hast du den Tod deiner Frau überwunden?“

 

Er sieht mich lange an – das ganz ernst – und ich befürchte schon, dass er sich abwenden wird, ohne mir zu antworten. Doch dann sagt er ruhig: „Es war Mord.“ Und ich nicke. „Die Kasdim haben meine Frau und unser ungeborenes Kind ermordet.“ Wieder nicke ich und weiß nicht, was ich tun soll.

 

Seine Stimme ist sehr leise, als er hinzufügt: „Und das überwindet man nie. Niemals!“

 

„Ja …“, entgegne ich, doch er presst die Lippen fest aufeinander und schüttelt den Kopf.

 

Wieder entsteht eine Pause, in der wir beide uns nur ansehen, dann wendet er sich ab und beginnt in seinen Taschen nach etwas zu suchen und plötzlich hält er mir eine Dattel hin.

 

„Hier. Es ist die allerletzte, die ich noch aus Ḥalab habe.“

 

Er lächelt und unwillkürlich muss ich mich daran erinnern, wie wir hier vor Wochen im Zelt saßen und ich Herzklopfen bekam, als ich ihm sagte, wie gut die Datteln geschmeckt hätten. Doch jetzt ist nicht die Zeit für Herzklopfen – das spüre ich genau, als er mir zunickt, mir eine Gute Nacht wünscht und sich dann zur Zeltwand umdreht. Und doch klopft mein Herz ...

 

In der Nacht friere ich und ziehe mir die Decke bis unter die Nase. Doch das hilft nichts. Ich beginne zu zittern und finde keine Ruhe. Ich lausche zu Jechonja hinüber, aber von ihm kommt kein Laut. Es ist gerade so, als wäre er gar nicht da. Nur Simche, der in meinem Arm liegt, atmet tief und ich kuschle mich an ihn, um nicht zu weinen.

 

 

Tag …

 

Jechonja lächelt nicht. Auch ist er sehr schweigsam und geht etwas abseits, hinter unserem Wagen her. Nur hin und wieder traue ich mich, mich nach ihm umzudrehen, damit es meiner Mutter nicht auffällt. Jechonja hält den Kopf gesenkt, so als müsse er auf seine Schritte achten. Nur ab und an sieht er hoch. Einmal treffen sich unsere Blicke. Ich versuche zu lächeln, doch gelingt es mir nicht. Früher hätte er mir wenigstens zugenickt, doch jetzt schaut er einfach wieder weg. Am liebsten wäre ich vom Wagen gesprungen und hätte ihm gesagt, wie leid mir all das tut, doch das traue ich mich nicht. Er strahlt so etwas aus, das mir sagt, er wolle allein sein.

 

Wieder erhalten wir den Befehl, uns im Perat zu waschen. Ich beobachte Jechonja. Er steht bei den Männern und anstatt seine Hände über die Wasser gleiten zu lassen, wie er es so gerne tut, beginnt er sich sogleich zu waschen – wie alle anderen auch, taucht unter, kommt wieder hoch, fährt sich ein paar Mal über den Kopf und geht ans Land zurück, trocknet sich ab und zieht sich wieder an.

 

Seine Bewegungen wirken noch immer ruhig, fast gelassen, doch ich weiß, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Umso mehr möchte ich mit ihm reden, nur wie.

 

Am Abend sehe ich Jechonja allein am Perat stehen und wieder überkommt mich der Drang, einfach zu ihm zu gehen. Stattdessen bleibe ich am Zelt stehen und ertappe mich dabei, wie ich Jechonja neuerlich beobachte. Er ist ein großer Mann, größer als mein Vater und fast so groß wie die Kasdim. Aber er ist schlank, um nicht zu sagen, dünn. Reglos steht er da und scheint aufs Wasser zu blicken. Was mag in ihm vorgehen? Das frage ich mich und weiß es doch genau!

 

„Jechonja“, murmle ich und verkralle mich im Stoff des Zeltes.

 

In dieser Nacht ist es wieder so, als wäre er nicht da.

 

 

Tag …

 

In den letzten Tagen habe ich nichts geschrieben, weil ich es einfach nicht konnte. Jechonja ist noch immer sehr ernst und schweigsam. Und da meine Eltern nicht wissen, was mit ihm los ist, beginnen sie sich zu wundern. Natürlich fragen sie ihn nicht, denn das schickt sich nicht, aber mein Vater kommt auf mich zu.

 

„Sag mal, stimmt etwas nicht mit dem?“

 

Ich lüge und sage: „Ich weiß es nicht.“

 

Ich kann noch immer nicht mit ihm reden und weiß doch, dass ich es tun sollte. Aber was sollte ich ihm denn sagen?

 

Jechonja, es tut mir so leid, so unheimlich leid …

 

Nein, das hört sich zu trivial an, zu gewöhnlich, zu plump.

 

Und dann kommt auch meine Mutter auf mich zu und möchte mit mir in einer stillen Ecke sprechen. Sie wirkt beunruhig.

 

„Die Leute reden.“

 

So beginnt sie.

 

„Ja?“

 

„Über Jechonja und dich.“

 

„Und?“

 

„Michal, du kennst unsere Gesetze …“

 

Ich nicke. Mehr muss sie nicht sagen und ich tue so, als berühre mich all das nicht. Ein vergleichsweise kleines Problem gegen das, was Jechonja da mit sich herumträgt.

 

„… im selben Zelt …“, höre ich meine Mutter sagen und bin versucht, mich einfach abzuwenden, doch ich bleibe stehen, um ihr nicht das Gefühl zu geben, frech zu sein.

 

„Dein Vater ist auch dagegen“, sagt meine Mutter und ich werde hellhörig.

 

„Was? Aber …“

 

„Kind, es geht nicht, dass ihr weiterhin im gleichen Zelt schlaft, wenn ihr nicht verheiratet seid.“

 

„Aber … aber“, beginne ich zu stammeln und spüre, wie mir Tränen in die Augen treten.

 

„Michal, ich weiß doch, dass du ihn sehr magst.“

 

Ich schüttle den Kopf.

 

„Michal …“, flüstert sie und legt ihre Hand unter mein Kinn, sodass ich ihr in die Augen sehen muss.

 

„Aber …“, setze ich an, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen möchte und meine Mutter nimmt mich in den Arm.

 

„Sollte Jechonja um deine Hand anhalten, wird dein Vater nicht einwilligen.“

 

In dieser Nacht liege ich das erste Mal seit langer Zeit wieder im Zelt meiner Eltern, neben mir Simche. Ich versuche gar nicht erst zu schlafen, sondern starre nur in die Dunkelheit, um mich selbst zu beruhigen. Jechonja nahm es einfach so hin, als mein Vater über seinen Entschluss sprach. Er nickte kurz, aß sein Stück Fisch, erhob sich, wünschte uns allen eine gute Nacht und verschwand in sein Zelt.

 

 

Tag …

 

Seit heute morgen ist Jechonja nicht mehr bei uns. Als ich erwachte, sah ich meinen Vater und ihn zusammenstehen. Sie sprachen über etwas, dann sagte mein Vater ganz laut: „Verschwinde!“

 

Ich sehe, wie Jechonja sein Zelt abbaut, sein Säckchen schultert und ohne uns zu grüßen geht.

 

„Es ist besser so“, sagt meine Mutter.

 

Simche ist traurig. Er fragt mich die ganze Zeit, warum Konja weg sei und ob er wiederkäme. Ich presse die Lippen fest aufeinander, nehme meinen kleinen Bruder hoch und versuche ihn zu trösten.

 

Der Weg ist eintönig. Immer geht es am Perat entlang, der sich durch das flache Land schlängelt. Und ich, ich kann plötzlich an niemand anderes mehr denken als an Jechonja. Ich stelle mir vor, wie es mit ihm war, als er mit uns ging und sich unsere Blicke ab und an trafen, er mir dann lächelnd zunickte und mir eine Dattel reichte.

 

 

Tag …

 

Ich weiß nicht, wo Jechonja jetzt ist, mit welchen Leuten er geht. Natürlich halte ich noch immer nach ihm Ausschau, aber ich kann ihn nirgends sehen. Ja, es ist gerade so, als wäre er nur ein Traum, eine Phantasie gewesen, an die ich kurzzeitig gedacht hatte, um sie sogleich wieder zu verlieren. Jechonja, wer ist das? Würde Simche nicht nach ihm fragen, würde ich wirklich fast glauben, dass ich ihn mir nur eingebildet habe …

 

 

Tag …

 

Heute hatten wir wieder den Befehl bekommen, uns im Perat zu waschen und unwillkürlich musste ich mich fragen, ob Jechonja wieder den Geheimnissen des Wassers lauschte oder ob er dazu noch immer nicht fähig sei.

 

Bei diesem Gedanken wurde es mir schwer ums Herz und ich konnte meine Tränen nur mit Mühe verbergen.

 

Und in der Nacht spüre ich wieder seine Berührungen – wie er mir über die Wange strich, als er sagte: „Hab keine Angst! Denk daran, wie süß Datteln schmecken.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück