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Nacht im Wunderland

Gespräch mit einem Schatten
von

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Wir sind hier alle verrückt...

Es war einmal ein kleines Mädchen. Sie wuchs behütet in einer wohlhabenden Familie auf. Das Kind trug die schönsten Kleider und hatte die tollsten Spielsachen. Doch am liebsten spielte es im riesigen Garten des Anwesens in dem die Familie lebte.

Tag um Tag tollte es zwischen den Rosenbüschen umher und versuchte mit den Schmetterlingen um die Wette zu fliegen...

„John?“

Sichtlich irritiert hebt der Gast den Kopf. Verwirrt sieht er sich um und runzelt die Stirn.

Was war das eben? Er könnte schwören eine Stimme gehört zu haben. Eine Frauenstimme - weich und liebevoll. Sie klang merkwürdig vertraut.

Energisch reibt sich John über die Stirn. Er ist fürchterlich blass und schwitzt augenscheinlich.

„Trink deinen Tee.“ Jack legt den Kopf schief.

In den dunklen Augen ist etwas, was bisher noch nicht da gewesen ist - Verwirrung. Der Gastgeber ist offensichtlich verwirrt.

Zittrig greift John nach der Tasse. Er denkt gar nicht darüber nach, sein Gehirn ist mit anderen Dingen beschäftigt. Seine Kindheit hat er vor Jahren in die hinterste Ecke seines Verstandes verbannt - dorthin, wo es kein Licht gibt. Nun, wo das schummrige Kerzenlicht die Trümmer erleuchtet, macht sich unendliche Verzweiflung breit. So viel Elend und zerstörte Träume...

Die Zeit verging. Das kleine Mädchen war inzwischen schon fast eine Frau - stolze 17 Jahre alt und wunderschön. Alle jungen Männer sahen ihr nach und machten ihr den Hof. Doch die Fast-Frau war im Herzen noch ein Kind und konnte mit den Aufwartungen nichts anfangen.

Es war ein warmer Sommertag - im Anwesen wurde ein großes Fest gefeiert. Viele gut gekleidete Menschen drängten sich um kleine Tische. Es wurde höflich gelacht.

Die junge Frau ging umher und erfreute sich an den hübschen Kleidern und den Strahlen der Sonne. Sie war so in Gedanken, dass sie nicht darauf achtete wohin ihre Füße sie führten. Ungeschickt rempelte sie einen jungen Mann an. Er musterte sie und lächelte geheimnisvoll.

Sie plauschten eine Weile...

„Plauschten“, flüstert John heiser.

Er fühlt sich furchtbar. Kalter Schweiß bedeckt seine Haut und ihm ist schummrig. Obwohl er sitzt, hat er das Gefühl jeden Moment umzukippen.

„Hör auf damit.“ Unsicher sieht er den Gastgeber an, der zu seinen Füßen sitzt.

Jack zieht die Augenbraue hoch. „Das bin ich nicht. Das bist du selbst.“ Sichtlich unzufrieden verzieht er das Gesicht.

„Was?“

Sie ging mit dem jungen Mann durch den Garten, vorbei an den Gästen und Rosenbüschen. Verträumt lauschte sie seinen Worten. Ihr Herz klopfte laut und ihr Bauch kribbelte angenehm.

Plötzlich raschelte es in der Hecke zu ihrer Rechten. Neugierig ging die junge Frau in die Hocke und sah unter die Blätter. Erstaunt stellte sie fest, dass dort ein Kaninchen saß. Es war schneeweiß und mümmelte an Löwenzahn.

Der junge Mann sah ihr über die Schulter und betrachtet ebenfalls das kleine Tier...

John wird immer blasser. Seine Sicht beginnt zu verschwimmen. Das Tier, der pompöse Teppich und die heruntergefallene Tasse verlieren an Farbe und Kontur. Die Welt wird nicht dunkel - sie wird gleißend hell.

Ein schneeweißes Kaninchen ... mit Weste und Hut ... und einer Taschenuhr.

Nein! Ein normales Kaninchen!

Es huscht davon ... "Keine Zeit, bin spät dran!" ... Immerzu blickt es auf die Uhr.

Nein!

Eilig hastet es durch das grüne Gras ... verschwindet in einem Loch ... zwischen den Wurzeln eines Baumes.

Nein!

... grünes Gras wird rot ... dunkelrot ... schreiende Stille erfüllt den Irrgarten aus Rosen und Liguster ... „Keine Zeit, bin später dran!“ ... höfliches Gelächter in der Ferne ... weiß wird rot ... Ein dunkles Loch ... die junge Frau fällt und fällt ... ein geheimnisvolles Lächeln erfüllt die Dunkelheit ...

Die Helligkeit schwindet und eine drückende Holzdecke kommt zum Vorschein. Die Ränder der Wahrnehmung sind noch unscharf und wackelig.

„Was ... ist passiert?“, stammelt John und versucht seine Gedanken zu sortieren. Zwei schwarze Augen schieben sich in sein Sichtfeld und mustern ihn besorgt.

„Keine Ahnung. Bist umgekippt, ja, ja. Einfach so.“

Der Gast seufzt. Mühsam dreht er sich auf die Seite und setzt sich auf. Er schließt die Augen und atmet tief durch.

Was zum Teufel ist das gewesen? Diese Stimme! So vertraut ... die Geschichte ebenso. Woher nur?

„Das Kaninchen“, flüstert der Gast abwesend. Er dreht den Kopf und blickt das Tier fest an.

„Wie meinen?“

„Mutter hat mir eine Geschichte erzählt. Als ich klein war, hatte das weiße Kaninchen eine Weste, einen Hut und eine Taschenuhr. Es ging auf zwei Beinen und verschwand in einem Loch.“ John erhebt sich. Wieder bei voller Größe streckt er sich ausgiebig. Als wäre er sich nicht um klaren wo er ist, sieht er sich um.

„Und als du nicht mehr 'klein' warst?“ Neugierig ist das Tier auf den Tisch gesprungen und mustert John eingehend. Immer noch liegt Verwirrung in den schwarzen Augen und ein wenig Zorn.

„War es nur ein Kaninchen. Ein einfaches Kaninchen.“

Die Gesichtszüge von Jack entspannen sich. Er scheint zufrieden mit dem Gehörten. „Setz dich lieber, nicht das du wieder umkippst.“

Abwesend nickt der Besuch und lässt sich wieder auf dem Sessel nieder. Er legt den Kopf auf der Rückenlehne ab und schließt die Augen.

So viele Dinge, die er gewollt vergessen hat. Die Sturmflut die gerade beginnt über ihn herein zu brechen wird noch schlimmer werden, so viel steht wohl fest. Viele Einzelbilder und Emotionen rauschen durch seinen Kopf. Bilder von seiner Mutter, wie sie bewusstlos auf dem Boden lag. Bilder von ihm selbst, wie in der Küche stand und Essen kochte. Verzweiflung und Ohnmacht. Wut und Hass. Männer die in die Wohnung kamen und wieder gingen. Klassenkameraden die ihn verspotteten. Klassenkameraden die er auf dem Schulhof verprügelte. Rote Briefe, die er zu Hause in den Müll warf, weil seine Mutter sich eh nicht dafür interessierte. Niemand interessierte sich dafür, oder für ihn.

„Wie kannst du glauben, dass das erste Kaninchen echt gewesen sein könnte?“ Jack hat sich wieder zwischen den Schüsseln und Schalen niedergelassen.

Der Gast hebt ruckartig den Kopf. „Ich ... ähm ...“ John ist irritiert.

Eine sehr gute Frage. Wie konnte er angenommen haben, dass es Kaninchen mit Weste und Hut gegeben hatte? Diffus blitzt etwas auf, ganz hinten in weiter Ferne. Im tiefsten Dunkel seiner Erinnerungen ist noch etwas. Doch so sehr er auch versucht, dahin zu gelangen - es gelingt ihm nicht.

Wenn es Kaninchen mit Weste und Hut geben würde, würde es auch Hasen geben, die Tee trinken.

Warum? Warum suchen ihn diese wirren Gedanken heim?

Es ist still in dem überfüllten Raum. Kein Geräusch ist zu hören und die Zeit scheint träge. Besuch und Gastgeber ruhen wortlos und hängen ihren Gedanken nach.

Wieviel Zeit vergeht kann niemanden sagen. Es gibt keine Uhr und auch keine Aussicht ins Freie.

„Wo bist du hin?“, ergreift Jack als erster wieder das Wort.

Der Gast denkt nach und ordnet kurz seine Gedanken. „Ich ... weiß nicht so genau.“

„Du musst doch wissen ...“, beginnt der Gastgeber.

„Muss ich nicht!“, herrscht John ihn an.

Seine Gedächtnislücken sind etwas, an dass er sich schon lange gewöhnt hat. Nicht nur seine Kindheit liegt normalerweise in Dunkelheit - auch viele andere Dinge. Früher hat er sich manchmal gefragt 'warum' - manchmal 'was' da im Verborgenen liegt. Doch irgendwann hat er aufgehört und es einfach akzeptiert.

„Nun, dann erzähle ich etwas.“ Jack verschwindet wieder um im Regal gegenüber auf zu tauchen.

„Es war einmal ein Mann mit Hut, der lebte ziemlich gut.

Denn Verrückte haben es leicht, weil der Verstand nicht ständig kreischt.

Sie leben ohne Leid und Not, bis sie einst ereilt der Tod.

Doch dem Mann mit Hut wurde das Herz ganz schwer ...“

John dämmerte bereits wieder weg. „Ein Mann mit Hut.“ Immer wieder hallte es durch seinen Kopf. In der hintersten Ecke seines Verstandes blitzte es wieder. Länger und eindeutiger wie vorhin, aber nicht lang genug um etwas zu erkennen.

Diffus bildet sich ein Bild. Ein Mann mit wilden Haaren und einem Zylinder. Doch das Gesicht will sich einfach nicht aus dem Nebel erheben. Ein 'Geldgeber' seiner Mutter?

John erinnert sich, dass es einige Männer gab die er regelmäßig sah - Stammkunden. Der Mann mit dem Hut ... Er ist sich unsicher.

Der Gast starrt noch eine Weile vor sich hin.

„Johnny Boy“, säuselt der Gastgeber. „Was ist los?“

Erschöpft fährt sich der Besucher durch das Haar. „Ich weiß nicht. So viele merkwürdige Dinge.“

Heimtückisch lacht das Tier und verschwindet um eine Ecke. „Merkwürdig ... verrückt ... Ja, ja ... alles das Gleiche ... nich?“

„Verrückt“, wiederholt John nachdenklich.

Ist er verrückt? War seine Mutter verrückt? Was ist Erinnerung, was Einbildung?

„Wir sind hier alle verrückt. Ich bin verrückt, du bist verrückt ...“

Irritiert sieht sich der Gast um. „Woher willst du wissen das ist ich verrückt bin?“, flüstert John in den überfüllten Raum.

„Du bist hierher gekommen, oder?“

Freudlos lacht der Gast auf. „Ja. Stimmt.“

Verrückt ... Der Mann mit Hut ...

Johns Augen weiten sich. „Hatch.“

Plötzlich formt sich ein Gesicht. Wirre gelbe Augen, ein faltiges Gesicht, das wilde Haar grau und der Zylinder, alt und verschlissen.

Hatch. Der gute alte Hatch. Verrückt bis in den kleinen Zeh, aber der Retter in der Not.

„Johnny Boy“, säuselt Jack wieder aus den Schatten heraus. „Du bist dran.“

„Ich ... Ich war bei Hatch, aber ich weiß nicht mehr so richtig. Zwischen meiner Flucht und Hatch liegen noch ... Zwei Jahre ungefähr." Erschöpft fährt sich John über die Stirn. Er fühlt sich erschlagen und schlapp.

Der Gastgeber taucht wieder auf. Er steht nur wenige Schritte vor dem Sessel. Der peitschenartige Schwanz schwingt ruhig und gleichmäßig hin und her. Neugierig sehen die schwarzen Augen den Besucher an. „Erzähl mir von Hatch.“

John hat die Hand über den Augen liegen. Obwohl die Kerzen nur warmes, diffuses Licht liefern, brennt es in seinen Augen. Vorsichtig sieht er zwischen den Fingern hindurch.

Jack hat den Namen merkwürdig betont. Irgendwie, als würde er ihn kennen. Was hat das zu bedeuten?

Der Gast holt tief Luft. „Ich war auf der Straße - lebte dort. Es wurde Winter und ich wusste nicht wohin. Der erste Schnee fiel. Dicht und unbarmherzig. Ein weißer Vorhang.

Ich war noch nicht lange auf der Straße, ein paar Monate erst. Ich wusste nichts über das Leben dort, vor allem im Winter.

Es war kalt, meine Sachen waren nass. Ich hockte in einer Gasse und dachte, ich würde das nicht überleben.“ John fühlte die Kälte. Eisige, todbringende Kälte. Sie kroch aus seiner Erinnerung und hüllte ihn erneut ein.

„Plötzlich setzte sich Jemand neben mich. Ein alter Mann mit mehr Klamotten am Leib, wie ich je besessen hatte … und einem Zylinder auf dem Kopf. Er schaute mich an. Diese gelben Augen ... Er musterte mich und grinste merkwürdig grotesk.

Er packte mich am Oberarm und half mir auf. Freundschaftlich klopfte er mir auf die Schulter und sagte; ‚Komm mit, John, ich weiß ein trockenes Plätzchen.‘

Wir gingen. Straßen, Gassen, alles sah gleich aus – weiß und kalt. Immer mehr Schnee fiel vom Himmel. Es wirkte auch mich, als wolle er die Welt ersticken.

Irgendwann kamen wir an einer verlassenen kleinen Halle an. Hatch brachte mich nach drinnen. Er half mir aus den nassen Sachen, gab mir neue und deckte mich zu mit allem was er hatte.

Ich weiß nicht mehr genau, aber ich glaube die nächsten Tage verbrachte ich irgendwo zwischen Leben und Tod.“

Der Gast seufzt. Die Erinnerungen sind sehr gemischt. Hatch hat ihn gerettet, nicht nur in dieser Nacht. Dennoch umfängt John eine dunkle Melancholie, wenn er an den alten Mann zurück denkt.

Jack schleicht um die die Beine seines Gastes, schmiegt sich an sie und schnurrt leicht. Langsam, fast in Zeitlupe, verschwindet er unter dem Beistelltisch. „Woher wusste er?“

„Wusste er was?“

Der Gastgeber dreht sich um. Das Grinsen ist heimtückisch und bedrohlich. „Woher wusste er, wie du heißt?“

Die Kälte aus seinen Erinnerungen verstärkt sich. Die eisige Faust schlägt ihn in den Magen und drückt ihm die Luft aus den Lungen. Tränen rinnen aus seinen Augenwinkeln.

Wieso hat er sich nie darüber gewundert? Jahrelang hat er sich gefragt, warum sich Hatch seiner, ausgerechnet seiner, erbarmt hat. Scheinbar … Wahrscheinlich … Offensichtlich …

Johns Sicht verschwimmt, seine Augen drehen sich nach oben in die Höhlen bis nur noch das Weiß zusehen ist. Der Mann keucht und kippt nach vorn vom Sessel.

Das katzenartige Wesen sitzt vor dem ohnmächtigen Mann und verzieht genervt das Gesicht. Es rollt die Augen und schleicht davon. Stück für Stück verschwindet der Gastgeber in den Schatten der vielen Erinnerungen in diesem Raum.

„Menschen“, faucht Jack verächtlich.



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