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Hamamelis Albineana

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Hamamelis Albineana

Das Bedürfnis, sein Paradeschwert zwischen Sylvains Nieren zu rammen, wurde stärker.

Selbst unter dem dicken Wintermantel, den sein Mitschüler sich über die Schultern geworfen hatte, konnte Felix den Punkt erahnen, den er mit dem Schwert treffen musste. Knapp oberhalb der Taille, die sich durch den dicken, schwarzen Stoff nur schwach abzeichnete. Ungefähr auf Höhe der Ellbogen, zumindest wenn Sylvain nicht gerade die Arme hob, um sie hinter seinem Kopf zu verschränken und vorauszugockeln. Auf die Rippen würde er achten müssen, aber bei einem Angriff von hinten brauchte er nicht mit Gegenwehr zu rechnen. Nicht, wenn er traf. Und das würde -

In diesem Moment traf sein Fuß - auf Holz statt auf festen Waldboden. Ein unheilvolles Knacken begleitete ihn abwärts. Mit der Grazie eines Schwertkämpfers, der das Fallen noch vor dem Zuschlagen gelernt hatte, machte er einen weiteren Schritt nach vorn. Statt sich abzufangen, trat noch tiefer in die Schneewehe und wickelte sich um die nächstbeste Birke, die er nur knapp zu fassen bekam.

Einen Augenblick lang starrte er die Rinde finster nieder. Die schwarzen Flecken auf dem weißen Stamm starrten unbeeindruckt zurück. Auch ohne nach unten zu blicken wusste er, dass er mindestens bis zu den Knien im Schnee hing. Das Zeug sickerte langsam durch seine Hose und in seine Stiefel.

Verdammte Scheiße.

»Woah, Felix!«, rief Sylvain weiter vorn. Er konnte ihn sehen, wenn er an den schwarzen Flecken vorbei spähte. Am Rande der zugeschneiten Senke, in die er getreten war. Schneefrei. Und trocken. Immerhin ließ er die Arme sinken. »Alles okay bei dir?«

Felix hatte Schnee in den Stiefeln. Nichts war okay bei ihm.

Schnaufend löste er sich von der Birke und rappelte sich auf. Noch mehr Schnee traf ihn, dieses Mal von oben. Mit einer unwirschen Geste strich er sich den Mist aus den Haaren. Mit einem halben Dutzend Flüche auf den Lippen stapfte er durch den Schnee. Die Hand, die Sylvain ihm reichte, um ihm aus der Senke zu helfen, kommentierte er nicht einmal mit einem finsteren Blick.

Leise raschelte Stoff, als Sylvain die Hand sinken ließ. Es klang bedrückt.

»Sorry«, nuschelte er. »Ich dachte, die hättest du gesehen.«

Hatte Felix nicht.

»Warum nochmal noch mal begleite ich dich?«, fragte er, während er sich den Schnee von der Hose klopfte.

»Weil du mein Freund bist und Freunde nun einmal zusammen Ausflüge unternehmen?«

»Nein.«

»Ach komm schon. Es wird nicht lange dauern.«

»Es ist kalt, meine Kleider sind nass und ich verpasse mein Training. Es dauert schon lang genug.«

»Ja, ich weiß.« Behutsam legte Sylvain seine Hände auf seine Schultern. Felix spürte den leichten Druck; hörte das Klopfen, mit dem sein Mitschüler über seine Kapuze strich. Noch mehr Schnee. »Ich weiß. Aber das hier ist wichtig.«

Felix schnaubte. »Das hast du beim letzten Mal auch gesagt.«

»Ach komm schon. Bist du deswegen immer noch sauer?«

»Sauer? Meine Uniform riecht immer noch nach Pegasischeiße.«

»Ich sagte doch schon, es tut mir leid«, antwortete Sylvain, während er von seiner Kapuze abließ. Stattdessen spürte Felix, wie er auf der Suche nach noch mehr Schnee über seinen Haarknoten tastete. Dabei strich sein Handgelenk über Felix’ Ohr. Die Berührung jagte ein feines Kribbeln über seine Kopfhaut.

»Tsk.« Felix schob seine Hände beiseite. »Das sagst du immer.«

Sylvain ließ die Arme sinken. »Es tut mir ja auch leid -«

»Und dann hagelt es wieder Beschwerden. Über dich, über dein ungebührliches Verhalten. Es wundert mich, dass du immer noch Mädchen aufgetrieben bekommst, die auf deine Sprüche hereinfallen.«

»Das sind keine -« Sylvain atmete durch. »Keine Mädchen heute. Das habe ich dir versprochen, oder?«

»Ich glaube es, wenn ich es sehe.« Felix winkte ab. Mit einem Blick auf dem Boden vor sich setzte er sich wieder in Bewegung. »Also, wonach suchen wir hier, wenn nicht nach einem Rock?«

Sein Begleiter witterte Morgenluft. Felix hörte es im eiligen Schritt, mit dem Sylvain ihm folgte. Wild gestikulierend schloss er einen Moment später zu ihm auf.

»Die Zaubernuss.« In Sylvains Stimme schwang die Erwartung mit, dass Felix wusste, wovon er sprach.

Felix wusste nur, dass das Bedürfnis, nach seinem Schwert zu greifen, in seinen Fingerspitzen kribbelte. Er öffnete den Mund, doch bevor er seinen Unglauben verbalisieren konnte, hob Sylvain die Hand.

»Guck mich nicht so an«, sagte er. »Es ist ein Strauch. Hamamelis albineana. Man pflanzt sie schon seit über drei Jahrhunderten als Zierpflanze in Fódlan an. Vor allem in Gärten, aber mittlerweile wachsen sie auch wild. Also nein. Es ist keine mythischer Wunderbaum, der nur alle hundert Jahre erscheint, wenn man nackt unterm Vollmond tanzt. Ich schwöre.«

Felix schloss den Mund. Er zog die Augenbrauen zusammen, doch sein Gegenüber hielt seinem Blick stand. Einen Moment lang überlegte er, ob Sylvains neuentdecktes botanisches Interesse dem Magiekurs geschuldet war, den er neuerdings besuchte. Wenn ja, dann bekam er ihm nicht.

Nein.

Wenn sie das jetzt ausdiskutierten, würde es der Schnee noch bis in seine Socken schaffen. Das hieß - wenn er Sylvain nicht vorher in diese verdammte Schneewehe schaffte. Und das würde er Professor Byleth erklären müssen.

Und Ingrid.

Also nein.

Nein, besser nicht.

Felix wandte den Blick ab, starrte statt in die braunen Augen seines Gegenübers lieber zu den Büschen hinter selbigem. Die verdammte Birke erkannte er noch, machte der markante Stamm. Der Rest? Sah für ihn alles gleich aus. Das Grünzeug war aktuell ja nicht einmal grün.

»Na fein. Woran erkenne ich diese Zaubernuss? Sag jetzt bitte nicht, im Sommer hat sie grüne Blätter und im Herbst trägt sie Nüsse.«

Das »So in etwa« kroch Sylvain bis in die Mundwinkel, doch immerhin sprach er es nicht aus. Stattdessen sagte er: »Sie blüht.«

Es ist kein mythischer Wunderbaum, hatte er gesagt. Der erscheint nicht nur alle hundert Jahre, wenn man nackt unterm Vollmond tanzt, hatte er gesagt. Felix legte die Hand auf den Griff seines Paradeschwerts.

»Dir ist aufgefallen, dass wir Winter haben? Es liegt Schnee.«

Das Zeug war sogar in seinen Stiefeln, verdammt!

Sylvain jedoch nickte nur zustimmend. »Die ersten Blüten kommen im Monat der Sterne und dann blühen sie bis in den Spätwinter. Wenn es zu kalt wird, rollen sie sich ein, aber heute ist es ja recht mild. Jedenfalls denke ich, dass wir welche finden können.«

 
 

❄🌸❄🌸❄

 

 

Sie fanden einen Holunderstrauch mit halb verdorrten Beeren und zwei Fasanhennen. Ersteren ließen sie links liegen, Letztere wurden von Sylvain - der Magiekurs war doch für etwas nützlich - fachmännisch gegrillt.

Nur Sylvains Zaubernuss, die blieb der mystische Baum, der nur alle hundert Jahre erschien - und Felix würde dafür ganz sicher nicht nackt unterm Vollmond tanzen.

Der letzte Knorpel knackte zwischen seinen Zähnen und löste sich vom Knochen. Felix hätte es nicht zugegeben, doch die Mittagspause war erträglicher, als er erwartet hatte. Der Baumstamm, auf dem sie saßen, war weder besonders moosig, noch hatte er störende Äste. Das Feuer, das Sylvain entzündet hatte, war kräftig genug, um seine Hosenbeine zu trocknen, die er dafür aus den Stiefeln gezogen hatte, und seine Henne war gar. Dort, wo ihre Oberarme aneinanderstießen, drang die Wärme seines Begleiters durch den Stoff seines Wintermantels. Eigentlich - und auch das würde er nicht zugeben - war das sogar ganz angenehm.

Außerdem hielt selbst ein Sylvain Jose Gautier die Klappe, wenn er mit Kauen beschäftigt war.

Felix warf den Knochen zu den anderen ins Feuer. Ohne den Körperkontakt zu brechen, lehnte er sich zurück und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel über ihnen war grau, kündete aber nicht von weiterem Schnee.

»Das war gut.«

In seinem Augenwinkel sah er Sylvain nicken.

»War esch«, stimmte er ihm zwischen zwei Bissen zu. »Schelt nur n bischn Schalsch.«

Felix warf seinem Begleiter einen missbilligen Blick im Augenwinkel zu, sagte aber nichts. Er war schließlich nicht Ingrid. Als Antwort erntete er ein Lachen, das er durch ihre Mäntel spüren konnte, warm und angenehm. Vertraut. Er schloss die Augen und ließ Sylvain lachen.

 

»Hey Felix?«, sagte Sylvain nach einer Weile.

Träge öffnete er ein Auge. »Hm?«

»Ein paar von den Federn haben das Flambieren überlebt.«

Das »Und?« lag ihm auf den Lippen, doch Felix kannte Sylvain. Und er kannte auch den Unterton, der jetzt in seiner Stimme mitschwang. Er ließ sich nach hinten fallen.

Noch in der Bewegung spürte er, wie Sylvains Arm an ihm vorbei glitt. Dann war er bereits halb über den Baumstamm hinweg. Über den linken Arm würde er abrollen, mit dem rechten notfalls nach hinten schlagen -

Finger schlossen sich um seinen Unterarm. Was ein Hieb gegen Sylvains Kinn hätte werden sollen, riss ihm den Arm nach hinten. Seine andere Hand schlug auf den Boden, ohne seinen Schwung nutzen zu können, dann landete er zum zweiten Mal an diesem Tag im Schnee.

»Hiergeblieben!«

Felix spuckte Schnee.

»Lass mich los!«

Tat Sylvain nicht. Natürlich nicht. Seine Finger schlossen sich immer noch um sein Handgelenk und zogen ihm den Arm auf den Rücken. Nicht harsch genug, um Verletzungen zu verursachen, aber fest genug, um ihn am Boden zu halten. In seinem Augenwinkel sah er Federn.

»Komm schon Felix. Ich bin mir sicher, die stehen dir!«

Zu seinem Glück behinderte der Baumstamm Sylvain jetzt mindestens genauso sehr, wie Felix bei seinem Fluchtversuch zuvor. Irgendwie gelang es ihm, ein Bein zwischen Sylvains Knie zu bringen. Gegen seinen Körper würde er nicht treten können, aber vielleicht -

Er holte aus.

»Fick dich!«

Er traf irgendwas, dass halb Oberschenkel sein mochte und halb Hintern. Egal. Während Sylvain noch jammerte, brachte Felix seinen linken Arm unter sich und drehte sich nach hinten. Schmerz zuckte durch seine Schulter, dann ließ Sylvain ihn los. Felix war noch nicht fertig. Dieses Mal griff er zu, fasste Sylvain am Kragen und zog. Sein Kinn knallte gegen Felix’ Stirn. Ein genuscheltes »Ouw!« bestätigte ihm, dass das gesessen hatte. Der Schmerz, der dem Zusammenstoß folgte, war sehr befriedigend.

Ohne weitere Gegenwehr schob er Sylvain von sich und rappelte sich auf. Sein erster Griff galt seiner Schulter, sein zweiter seinem Haarknoten. Seine Finger schlossen sich um etwas, das eine Feder sein musste.

»Hey, schie schtet dir.«

Felix warf Sylvain nur einen knappen Blick zu. Ja, das hatte gesessen. Er konnte Blut sehen, das seinem Begleiter über die Lippen lief und wusste, dass es ihm leidtun sollte. Er ließ die Feder fallen.

»Ich gehe.«

»Feliksch!«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und stapfte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er hatte schon wieder überall Schnee, seine Schulter brannte und diese Federn waren albern.

»Es tut mir leid!«

Verdammt albern. Er drehte sich nicht um.

»Hey, komm schon. Ich hab’s nicht so gemeint.«

Knackendes Unterholz zeugte davon, dass Sylvain sich aufgerappelt hatte.

»Ich blute. Ist das nicht Strafe gen-?«

Der Satz brach unter einem besonders lauten Knacken ab, doch Felix warf nur einen knappen Blick nach hinten. Als er sich sicher war, dass Sylvain sich nicht in einer Schneewehe verloren hatte, stapfte er unbeirrt weiter.

»Es - Autsch - ist nur … Wir haben das früher ständig gemacht. Am Feuer - autsch - gesessen, meine ich. Und wenn uns langweilig wurde, haben wir uns erst mit irgendwas geworfen und dann haben wir uns deswegen geprügelt, bis Ingrid uns beiden eins übergezogen hat. Du erinnerst dich doch noch, oder?«

Ja. Natürlich erinnerte er sich noch. Er erinnerte sich auch noch daran, dass sie dann immer gelacht hatten, bis Ingrid frustriert aufgeben musste. Doch die Zeiten waren vorbei. Sie waren keine Kinder mehr. Und es wäre ein Fehler gewesen, Sylvain jetzt zu antworten, das wusste er auch.

»Kannst du nicht wenigstens etwas langsamer wütend davonstürmen?«

Felix schüttelte den Kopf, aber vielleicht - nur vielleicht - verringerte er sein Schritttempo ein wenig.
 

 
 

❄🌸❄🌸❄

 

 

Eine ganze Weile stapften sie wortlos durchs Unterholz, Felix, den Blick auf den Boden gerichtet, vorweg und Sylvain knackend und fluchend hinterher. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte das bis Garreg Mach so bleiben können.

Blieb es nicht.

»Hey Felix? Guck mal!«

Felix wollte nicht gucken, doch der Unterton in Sylvains Stimme brachte ihn trotzdem zum Stehen. Er drehte sich um, wenn auch nur, um seinem Begleiter einen missmutigen Blick zuzuwerfen - und sicherzustellen, dass er sich nicht gerade vor lauter Neugier umbrachte.

»Was ist?«

»Da, wir werden beobachtet.«

Skeptisch blickte er in die Richtung, in die Sylvain zeigte, sah zunächst aber nichts außer dreckige Erdhaufen, abgebrochene Ästen und halb zugeschneites, gelbes Gras. Erst als er näher trat, konnte er zwischen den Ästen struppiges Fell ausmachen. Das hieß, nein, kein Fell. Borsten.

Halb unter den Wurzeln eines umgestürzten Baums verborgen kauerten zwei Schweine, Frischlinge aus dem letzten Sommer. Die Tiere beäugten sie skeptisch.

Er verschränkte die Arme vor der Brust.

»Willst du die jetzt etwa grillen?«

»Was?«, fragte Sylvain, während Felix schon überlegte, ob sie auch nur eine der Sauen würden tragen können. »Nein! Die sind niedlich.«

»Niedlich.«

Eines der Schweine quiekte und klang dabei genauso entgeistert, wie er sich gerade fühlte.

»Ja, guck mal. Das links guckt genauso grimmig, wie du.«

Felix öffnete den Mund, schloss ihn dann doch wieder. Hatte er ihn gerade wirklich mit einem Schwein verglichen? Hatte er. Und er hatte es niedlich genannt. Niedlich.

Plötzlich wäre es ihm lieber gewesen, er hätte beiden Viecher auf einmal schleppen müssen.

»Sylvain? An deinen Komplimenten musst du noch arbeiten.«

»Aber ich dachte -«

Was auch immer Sylvain dachte - ob er überhaupt dachte - es ging in einem lauten Schnauben unter. Äste knackten. Der Erdhaufen bebte und wuchs. Unter dem Dreck sträubten sich Borsten, dann öffnete sich ein einzelnes goldbraunes Auge.

»Oh Scheiße.«

Über die andere Augenhöhle zog sich eine Wulst aus Narben und alten Wunden. Eine Lanze, die im Nacken stecken geblieben war, wackelte bei jeder Bewegung wie eine widerspenstige Strähne. Grunzend zog die Sau die Luft ein. Sie wuchs immer noch.

Seine Hand glitt zum Griff seines Schwertes, während er noch überschlug, wie viel Schwein sich da gerade aufrappelte. Normale Schweine hatten eine Höhe von vielleicht einem Meter. Keiler konnten größer werden. Einen Meter achtzig, wenn sie auf den Namen Dimitri hörten. Aber das da?

Scheiße.

Das Vieh schnaubte wieder. Der Boden bebte.

»Lauf!«

Felix erhob keine Einwände. Das war keine Schlacht, die er nur mit einem Paradeschwert und Sylvains schlechten Sinn für Humor bewaffnet schlagen wollte. Er wirbelte herum und rannte.

Zweige brachen unter seinen Sohlen. Er folgte Sylvain nach Gehör - einer akustischen Route aus berstendem Unterholz, Fluchen und sich überschlagendem Atmen, vorbei an niedrigen Büschen und vergammelten Holunderbeeren. Zu einer Seite fiel das Gelände ab, doch er hätte nicht sagen können, wie weit oder wohin. Hinter ihm brachen ganze Stämme unter den Klauen. Stehen zu bleiben wagte er nicht, nur in seinem Augenwinkel warf er einen Blick zurück. Der struppige Schatten kam näher. Wenn das so weiterging -

»Rechts!«

Sylvain folgte dem Befehl ohne Widersprüche, Felix hörte ihn nicht mehr fluchen, nur japsen. Ihm selbst brannte der Atem in den Lungen. Das Donnern hinter ihm verstummte nur kurz, unterbrochen nur von Grunzen, von Schnüffeln, Wittern, Schnauben, schwoll wieder an, bis er glaubte, dass der Boden unter seinen Schritten bebte -

dann war Sylvain nicht mehr vor ihm.

Halb über eine Wurzel stolpernd kam Felix zum Stehen. Er spürte die Magie, bevor er sie sah, ein leichtes Kribbeln in seinem Rücken. In seinem Augenwinkel flackerte ein gelbes Licht auf -

Felix rannte zurück.

»Was machst du-?«

Seine Finger schlossen sich um Sylvains Schulter, als der Feuerball dessen Handflächen verließ. Er kniff die Augen zusammen. Schmerzerfülltes Quieken antwortete ihnen.

»Das Vieh … ist schneller ... als … wir. Also … lauf!«

Ein neuer Schauer lief seinen Rücken hinab.

»Du Vollidiot!«

»Aber-!«

Der Protest ging in einem grollendem Grunzen unter. Felix schluckte jede Antwort hinunter und riss an dem Stoff unter seinen Fingern. Der Zauber brach ab; Sylvain stolperte hinterher und an ihm vorbei. Felix warf sich hinterher, schob halb, zerrte halb, ignorierte den Protest seines Freundes und den Protest in seiner Schulter, konnte irgendwann nicht mehr sagen, wer zog, wer schob, stolperte, fiel, rollte erst noch ab, rollte dann nur noch. Abwärts, aufwärts, er hätte es nicht sagen können. Irgendwas bohrte sich in seine Seite, doch er hatte keine Ahnung, ob es ein Ast oder Sylvains Ellbogen war.

Ihr Sturz endete abrupt, irgendwie weich, irgendwie nicht.

Einen langen Moment lang hörte er nichts, sah er nichts. Blut rauschte in seinen Augen. Seine Lungen brannten, aber alles andere brannte auch. Langsam wurde das Rauschen seines Pulses zu einem Rauschen außerhalb seines Körpers, zu einem beständigen Gurgeln, Blubbern, Plätschern. Schwarz wurde zu Weiß, wurde zu Schnee.

»Felix?«, hörte er eine Stimme unter sich. »Kann nich … atmn.«

Es war schwer zu sagen, wo er selbst aufhörte und Sylvain anfing. Mühsam löste er erst einen Arm aus seinem Griff um Sylvains Nacken, dann den anderen. Genauso mühsam wuchtete er sich zur Seite. Auf dem Rücken blieb er liegen.

Er atmete durch. Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Ein. Und Aus. Nur vage war er sich bewusst, dass Sylvains Schulter bei jedem Atemzug sacht gegen seine stieß.

»Sorry.«

»Outch.«

Felix nickte nur.

»Denkst …« Sylvain japste. »Denkst du … wir … hab’n’s abgehängt?«

»Keine ... Ahnung. Verdammte Scheiße.«

Der Himmel über ihm war noch genauso grau. Ein paar Zweige streckten sich über ihm den Wolken entgegen, braun und fleckig. Wenn er den Kopf leicht drehte, konnte er den Bachlauf sehen, in den sie glücklicherweise nicht gefallen waren. Abgesehen von dem leisen Gurgeln des Wassers und ihrem eigenen Atem war es still. Kein Schnauben, kein Grunzen. Wenn er sich anstrengte, konnte er das Knacken von Holz hören, doch es wurde zunehmend leiser. Vielleicht bildete er es sich auch nur ein.

Er hätte auch nicht weiter laufen können, wenn er gewollt hätte.

Träge schloss er die Augen, atmete durch. Der Geruch von Erde stieg ihm in die Nase. Langsam ließ das Brennen in seinen Lungen nach. Der Schmerz in seiner Seite blieb, wie eine dumpfe, träge Erinnerung an etwas, das er lieber vergessen wollte. Vorsichtig tastete er danach, doch nachdem an seinem Handschuh kein Blut kleben blieb, beschloss er, ihn noch ein wenig zu ignorieren.

Neben ihm raschelte Stoff. Ein Blick im Augenwinkel bestätigte ihm, dass Sylvain es ihm gleich tat. Bedächtig tastete er erst nach seiner Schulter, dann nach seiner Hüfte. Schließlich, nachdem er sich versichert hatte, dass er noch lebte, ließ er die Hand sinken. Sein Arm kam neben ihm zur Ruhe, nah genug, dass ihre Ellbogen und ihre Finger einander berührten.

»Das war ein Reinfall.«

Felix nickte und war froh, dass zumindest das nicht weh tat.

»Wenn du mir nochmal irgendwelche mystischen Bäume zeigen willst … die Antwort ist nein.«

Sylvain lachte, leise und immer noch ein wenig außer Atem. Beinahe war Felix, als kitzele das Geräusch selbst über seine Haut, doch vermutlich war es nur Sylvains Atem, der über sein Ohr strich.

»Ich erinner dich dran.«

Felix schnaubte.

»Wirst du nicht«, antwortete er und ertappte sich doch dabei, wie sich ein Lächeln in seine Mundwinkel schlich.

»Nein, werd ich nicht.«

»Tsk.«

Er schüttelte den Kopf und wandte den Blick wieder dem Himmel zu. Eine ganze Weile beobachtete Felix das Grau der Wolken erst von einem dunkleren, dann von einem helleren Fleck abgelöst würde. Vielleicht würde es doch noch Schnee geben, später am Abend. Noch interessierte ihn das genauso wenig, wie die Kälte, die langsam durch den Stoff seiner Kleidung kroch.

Solang er Sylvain neben sich spüren konnte, bescheuert vielleicht, aber warm und lebend und atmend, war ihm für den Moment warm genug.

»Felix?«

Stoff raschelte neben ihm, dann hörte er Sylvain ächzen. Der warme Arm neben dem seinen verschwand. Missmutig wandte er den Blick von einem besonders dunkelgrauen Fleck ab, der gerade zwischen den Zweigen über verschwand.

»Wenn du mir wieder Federn ins Haar stecken willst, ertränk ich dich.«

Sylvain lachte nur.

»Bedaure, die habe ich liegen lassen«, sagte er schließlich. »Schau mal, sie blühen.«

Jetzt setzte sich auch Felix auf.

»Was blüht?«

»Die Sträucher. Hier.«

Ein leises Knacken unterstrich Sylvains Worte. Einen Augenblick später hielt er Felix demonstrativ einen Zweig unter die Nase. Skeptisch griff er danach und tatsächlich: In dichten Büscheln drangen dunkelrote Kelche aus dem Holz, ein jeder umgeben von Kranz aus gelben, fadenartigen Blütenblättern. Der Duft nach Honig stieg von ihnen auf. Es war auch nicht nur ein Busch. In seinem Augenwinkel zogen sich den ganzen Bachlauf hinauf Sträucher in voller Blüte, teils halb unter Schnee verborgen, teils in leuchtendem Gelb, Orange und Rot.

»Siehst du? Du musst nicht nackt unterm Vollmond tanzen«, verkündete Sylvain, der sich bereits wieder dem Strauch neben ihm zugewendet hatte.

Schnaubend ließ Felix den Zweig sinken.

»Nein, ich musste mich nur von einem Schwein halb niedertrampeln lassen.«

»Ist das ein Argument für den nackten Tanz unterm Vollmond?«

Zur Antwort versetzte Felix ihm einen Hieb mit dem Zweig, doch Sylvain lachte nur. Vermutlich tat das den Blüten mehr weh als dem Trottel neben ihm. Der jedenfalls brach unbeirrt weitere Zweige ab.

Kopfschüttelnd rappelte Felix sich ebenfalls auf.

»Was willst du mit den Dingern überhaupt?«, fragte er, während er sich den Schnee vom Mantel klopfte. »Ist das irgendein komisches Ritual für deinen Kurs?«

In seinem Augenwinkel zuckte Sylvain mit den Achseln.

»So ähnlich«, sagte er, ohne den Blick von den Zweigen in seinen Händen zu nehmen, die er behutsam miteinander verflocht. »Es ist für keinen Kurs. Ich wüsste auch keinen, der irgendwelche Pflanzen bräuchte. Also außer der Dienst im Gewächshaus, natürlich. Aber eine Art Ritual ist es schon.«

Felix, der gerade seinen Haarknoten betastete, ließ die Hand sinken.

»Was für ein Ritual?«

Sylvain sah auf, nur für einen Moment, dann presste er die Lippen aufeinander. Eilig wandte er sich wieder seinem Flechtwerk zu.

»Nun«, sagte er, »Es heißt, auf Albinea ist es seit alters her Brauch, dass die jungen Männer im tiefsten Winter nach wilden Zaubernusssträuchern suchen, um daraus Kränze zu flechten.«

Felix senkte den Blick, erst auf die Blüten in seiner eigenen Hand, dann auf Sylvains Zweige. Mittlerweile konnte er den Ring erkennen, den sein Begleiter band, deutlich erkennen. Schlagartig war ihm klar, worauf das hier hinaus lief. Er biss die Zähne aufeinander.

»Am Abend der Tag- und Nachtgleiche kehren sie mit dem fertigen Kranz in ihre Gemeinschaft zurück und verschenken ihn-«

»An irgendein Mädchen.«

Über seinem Kranz schluckte Sylvain hörbar. »An ihre große Liebe, ja.«

Seufzend warf Felix einen Blick in den Himmel. Er schüttelte den Kopf.

»Okay, das reicht. Ich bin raus.«

»Felix! Hey, warte!«

Felix wartete nicht, er wandte sich ab. Wenn er dem Bachlauf folgte, brachte der in mit etwas Glück zu den Feldern vor Garreg Mach zurück. Wenn nicht, konnte er Sylvain immer noch ertränken. Hinter sich hörte er Schritte, doch er blieb nicht stehen.

»Felix!«

»Nein.«

»Hör mir doch wenigstens zu!«

Finger legten sich auf seine Schulter. Unwillig blieb er stehen, wenn auch nur, um sie fortzuschlagen.

»Du hast gesagt, dass es heute nicht um Mädchen geht. Einen Tag, hast du gesagt. Keine Weibergeschichten, hast du gesagt. Du hast es versprochen.« Er deutete auf den Kranz in Sylvains Händen. »Und was soll das jetzt?«

Sein Gegenüber presste die Lippen aufeinander. »Es geht nicht um Mädchen.«

Felix verschränkte die Arme vor der Brust. »Also muss ich nicht dabei sein, wenn du das Ding verschenkst, oder was? Wie großzügig von dir!«

»Nein! Das heißt -«

»Tsk.«

»Der Kranz ist nicht für ein Mädchen.«

Bereits halb dabei, sich abzuwenden, hielt Felix inne. Skeptisch zog er die Augenbrauen hoch.

»Als ich sagte keine Mädchen, meinte ich keine Mädchen. Ich dachte nur …«

Der Kranz hing hilflos zwischen ihnen. Einen Moment lang blickten sie beide auf die gelben Blüten.

»Ich dachte …« Sylvain ließ den Kranz sinken. »Weißt du was? Vergiss es einfach. Die Idee war dumm.«

»Sylvain?«

Sylvain schnaubte. Die Bewegung zitterte selbst in den fadenartigen Blütenblättern zwischen seinen Fingern.

»Dümmer als üblich, meine ich.« Seine Mundwinkel zuckten. Es war kein Lächeln. »Sorry.«

Felix fasste sich an den Kopf. Unter seinem Handballen hinweg fiel sein Blick erneut auf den gelb leuchtenden Kranz.

»Sylvain? Du bist ein verdammter Vollidiot.«

Sein Gegenüber nickte nur und wich seinem Blick aus. Als er schließlich doch den Mund öffnete, vermutlich, um sich noch mal zu entschuldigen, schüttelte Felix den Kopf. Er seufzte schwer.

»Gib das Ding schon her.«



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