Es ist keine Phase!
Er hatte sie auf einem Rave kennengelernt. Gut, was hieß kennen lernen, sie waren sich schon öfter über den Weg gelaufen, und er hatte schon damals großen Respekt vor ihren Blader-Fähigkeiten gehabt. Sie war sehr ehrgeizig und eine der stärksten und selbstbewusstesten Bladerinnen, die ihm je begegnet waren.
Auf dem besagten Rave – eigentlich war es ja eine Demonstration gegen nicht erwünschte Technostile wie Hardcore und Gabba und gegen die Verwertung der Technomusik zur nationalistischen Instrumentalisierung – war es sehr warm. Sergei war gerade dabei, sein Shirt in seinem Jutebeutel zu verstauen und kramte nach seiner Wasserflasche. Er hatte getanzt, er hatte gesungen und allgemein eine gute Zeit bisher gehabt. Jetzt hatte er Durst. Er setzte sich etwas abseits auf einen Mauervorsprung und beobachtete das wilde Treiben. Sein Kopf wippte im Takt der Musik. Der Beat durchströmte seinen Körper und trotz der Leichtigkeit in seinem Kopf spürte eine Art von Nervenkitzel: Er hatte zwar eine kurze Pause gebraucht, aber sein Körper schrie förmlich danach, wieder ins Getümmel zu stürzen und sich zu bewegen. Nach einem weiteren großen Schluck schraubte er seine Flasche wieder zu und bückte sich zu seinem Beutel.
In diesem Moment kamen zwei weitere Raver, auch etwas weiter abseits der tanzenden Meute, an ihm vorbei. Das Mädchen schrie ihren Begleiter an, weil man sich anders nicht unterhalten konnte, und gestikulierte wild mit beiden Händen. In einem unglücklichen Augenblick einer sehr enthusiastischen Äußerung und einer sich aufrichtenden Bewegung machte ihre Hand Bekanntschaft mit Sergeis Gesicht. Genauer gesagt, seiner Nase. Erschrocken blieb das Mädchen stehen und auch Sergei hielt perplex inne. Mit großen Augen starrte sie ihn an.
„… Thor?“
Die sanfte Ungläubigkeit in ihrer Stimme ließ ihn lachen. Er rieb sich über sein Gesicht und seinen Bart und schüttelte den Kopf.
„Nein, aber ich behaupte, fast so stark wie er.“
„Das traust du dir zu sagen?“
„Nun, du hast mir ins Gesicht geboxt und ich habe nicht einmal Nasenbluten. Ich denke, das sagt alles.“
„Ich habe dich nicht gebo- Oh mein Gott, es tut mir wirklich sehr leid!“, rief das Mädchen aus, das sich jetzt erinnerte, dass sie ihm vielleicht eine Entschuldigung schuldig war.
Sergei winkte ab und musterte sie.
„Wir kennen uns aber, oder?“, fragte er dann.
„Ich glaube auch. Ich bin Giulia Fernandez. Das ist mein Bruder Raul.“
Sie zog ihren Begleiter am Arm näher an sich heran. Dieser hob die Hand zum Gruß, sah sich aber dann wieder eher besorgt um. Es war offensichtlich, dass er sich nicht allzu wohl fühlte. Vielleicht war es auch einfach nicht seine Musik.
„Ah… Da klingelt etwas. … F-Dynasty?“
Er sah, wie sie leicht erröte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich mit den Kreiselkämpfen als erstes in Verbindung gebracht werde. Aber dann bist du sicher auch…“ Sie biss sich nachdenklich auf die Lippen und musterte ihn aufmerksam. Sein Grinsen wurde breiter.
„Das russische Team. Neoborg. Ich bin Sergei.“
„Nein!“, rief sie überrascht aus, „Du hast dich ja mega verändert! Deine Haare… alles an dir!“
Ungefragt fuhr sie über seine Wange und durch seinen Bart. Dann zog sie schnell ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.
„Tut mir leid! Das war ein Reflex! … Jetzt hab ich dir schon wieder ins Gesicht gelangt!“
Sergei schmunzelte über ihre Verlegenheit: „Was soll ich sagen… Heikle Situationen sind voll mein Ding.“
Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und ihm entging dabei nicht ihr prüfender Blick über seine breite Brust. Gekonnt warf er seinen Beutel über seine Schulter und nickte in Richtung der anderen Feiernden.
„Wollen wir zusammen tanzen gehen?“
„Gern. Und dann gebe ich dir ein Getränk aus“, erklärte Giulia inbrünstig und zurrte ihr langes Haar in einen flotten Pferdeschwanz.
„Bin dabei.“
Das nächste Mal wollten sie direkt zusammen hingehen. Der Tag mit Giulia hatte ihm mehr Spaß gemacht, als er sich hätte vorstellen können. Und sie löste etwas in ihm aus, das er weiter erforschen wollte. Gemeinsam mit ihr. Sie tauschten Nummern aus und verabredeten sich abseits von GoA und DnB. Giulia gefiel sein wildes Aussehen. Sie fühlte sich sicher in seiner Gegenwart. Und die Tatsache, dass er nicht nur stark aussah, sondern auch stark war, beflügelte sie dazu, ihn hin und wieder mit Ragnar Lothbrok zu vergleichen. Je länger sein Bart wurde, desto interessanter schien dieser Wuchs für sie zu werden. Manchmal flocht sie ihm kleine Zöpfe hinein (die seine Mitbewohner aber nie zu Gesicht bekamen). Ihm wurde warm im Bauch, wann immer sie es tat, denn es war als Kompliment gemeint. Außerdem milderte dieses Gefühl auch die Spitzen, die ihm Yuriy und Boris abwechselnd entgegenwarfen, wenn er mit Fahrrad und Jutebeuteln bewaffnet zur Uni fuhr.
„Hey, Thor!“, rief Boris eines Abends aus der Küche, in der er diesmal für das Abendessen des wöchentlichen WG-Abends Vorbereitungen traf. Er erntete nur den Mittelfinger eines vorbeirauschenden Riesen. Boris gackerte und rührte im Kartoffelsalat herum.
„Seryoscha, im Ernst! Du bist heute Thema!“
Sergei verdrehte die Augen. Vielleicht konnte er es einfach schweigend aussitzen. Das hatte die letzten Male auch funktioniert. Rasch sprang er vor dem gemeinsamen Essen unter die Dusche, um sich unter anderem eine Vermeidungsstrategie zu überlegen. Anschließend stutzte er seinen Bart etwas und pflegte ihn mit dem Bartöl, das Giulia ihm geschenkt hatte und angeblich nach Whiskey roch. Die blonden Barstoppel spülte er aus dem Becken und wischte mit einem Lappen nach. Er mochte es ordentlich – und man räumte in dieser WG hinter sich auf. Wenn man nicht gerade Boris hieß und daran hin und wieder erinnert werden musste…
Als Sergei sich schließlich in der Küche auf seinem Platz niederließ, überflog er im Vorbeigehen die Liste an ihrer Pinnwand. Heute war Ivan Schriftführer des WG-Protokolls, und es gab einige Punkte auf der Lob- und Tadelliste, die zu besprechen waren. Seinen Namen fand er – zu seiner Erleichterung – aber nicht. Ihre WG-Abende liefen in der Regel so ab, dass nach einer bestimmten Reihenfolge jeder mal mit Kochen, auf- und abräumen und Abwaschen dran war und sie nach dem Essen noch gemeinsam beisammen saßen, um wichtige Dinge zu besprechen. Entweder, wenn es innerhalb der WG Probleme gab, Änderungen im Putz- und Einkaufsplan anstanden oder sie sich einfach nur untereinander auf dem Laufenden halten wollen. Oftmals endeten ihre Gesprächsrunden nach Unterzeichnung des Protokolls dann mit dem einen oder anderen Wodka und manchmal versackten sie bis zum nächsten Morgen in der Küche.
Boris‘ Kartoffelsalat war seine Spezialität und deshalb blieb es während des Essens auch ziemlich ruhig, weil alle schmatzten und den Geschmack genossen. Als der Letzte Löffel allerdings verteilt war, zückte Ivan den Stift und einen Block.
„Gehen wir zur Lobliste über. Zunächst – Lob an den heutigen Küchenchef, es war sehr lecker.“
Boris verbeugte sich unter leisem und elegantem Applaus. Er öffnete vier Bierflaschen und verteilte sie. Ivan fuhr fort: „Lob an Sergei – wie immer eigentlich – für die vorbildhafte Verwendung aller Putzutensilien. Außerdem dafür, dass er mein Hinterrad geflickt hat. Danke, братан, echt. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen gewesen.“
„Ich weiß“, grinste Sergei und nahm einen großen Schluck Bier. So langsam entspannte er sich wieder. Boris wollte ihn sicher nur triezen.
„Tadel für Yuriy. Alter, wenn du noch einmal deine verschwitzte Wäsche so lange rumliegen lässt, rufe ich die chemische Kampfmittelbeseitigung an und lass dich die Rechnung bezahlen! Uncool, wirklich!“, verkündete Ivan so inbrünstig, dass ihnen allen klar war, er hatte diesen Punkt aufgeschrieben. Yuriy verdrehte die Augen. Er war in letzter Zeit häufig joggen gewesen.
„Tut mir leid, dass ich Wasser sparen wollte und erst einen Haufen an Wäsche ansammeln wollte“, versuchte er sich zu verteidigen.
„Nicht zu Lasten meiner Geruchsnerven!“
Boris lachte über das Gezänk der beiden und holte Pinnchen aus dem Schrank. Wenn die Tadelliste schon so hitzig begann, mussten sie den Abend mit ein wenig Entspannungsmitteln ausklingen lassen.
Nachdem der letzte Punkt abgehakt war und sie geklärt hatten, dass Ivan für Boris nächste Woche einkaufen ging, weil der nämlich einen drei Tage anhaltenden Trainingslehrgang hatte, konnte der gemütliche Teil beginnen. Sergei brummte zufrieden vor sich hin, als Yuriy ihm eingoss und wähnte sich in Sicherheit. Leider währte dieser Zustand nicht lange.
„Sooooooo….“
Sergei sah auf und direkt in Yuriys Haifischgrinsen. Seine anderen beiden Mitbewohner feixten nicht weniger breit.
„Es ist lange her, aber umso mehr freuen wir uns“, setzte der Wolf im Wolfspelz an.
„Traditionen sind etwas, was man bewahren muss…“, ergänzte Ivan.
„… sie sind quasi ein Kulturgut und Rituale sind so wichtig für das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gemeinschaft…“, erklärte Boris sachkundig. Sergei ließ ein kehliges, genervtes Stöhnen verlauten.
„… und deshalb stellen wir den Antrag auf ein neues WG-Tribunal. Wer dem Antrag zustimmt, hebe jetzt bitte die Hand!“, beendete Yuriy ihre Einführung und zählte sofort die drei Stimmen ab.
„Ist es eine Enthaltung, oder eine Gegenstimme, Sergei?“
„Wer sagt, dass ich-“, begann er, wurde aber von Yuriy gnadenlos unterbrochen.
„Du datest. Und zwar schon so lange, dass man es ernst nennen kann. Du benutzt Bartöl. Wenn das nicht ernst ist, dann weiß ich es auch nicht. Also wird es Zeit, dass du sie uns vorstellst.“
Es war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen, Giulia seinem Chaotenhaufen vorzustellen. Es war leichter gewesen, sich entweder in der Stadt zu treffen, oder eben bei ihr, wenn sie ungestört sein wollten. Denn bei ihm war immer irgendwer zuhause. Sergei überlegte. Wenn er sie wirklich noch nicht vorstellen wollte, dann würden sie ihn nicht dazu drängen. Aber vielleicht hatten sie Recht und es wurde langsam Zeit. Es war ja schließlich auch nicht so, dass er sie verstecken wollte. Außerdem wäre es sicherlich nicht schlecht, wenn er sich die ganzen Hipsterwitze nicht allein anhören musste. Sie würde ihn in der Hinsicht nicht hängen lassen und selbst Boris die Stirn bieten können.
„In Ordnung, ich stelle euch Giulia vor. Wer von euch übernimmt den Vorsitz?“
„Ich natürlich!“, rief Boris aufgeregt und in seinen Augen blitzte es unheilvoll auf.
„Das hatte ich befürchtet…“
Sergei zückte sein Handy, während die anderen drei sich jubilierend abklatschten.
„So, die Nachricht ist raus. Ich lass euch wissen, wann ich sie mitbringe.“
Yuriy nickte gönnerhaft: „Darauf jetzt n Guten!“
Er erhob sein Glas und alle stießen miteinander an.
„Давайте выпьем за успех нашего дела!“[1]