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Der Sieben-Federn-Fluch

von

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Akademisches Viertel

 

Es war exakt sechs Uhr. Die beiden Zeiger der Wanduhr, der große und der kleine, bildeten eine einzige Linie. Eine Viertelstunde blieb Severus noch. Eine war vergangen. Er stand genau in der Mitte. In der Mitte der Zeit und – in der Mitte des Korridors. Schritte hallten über den gefliesten Boden. Junge Hexen und Zauberer drängten sich durch die Flure der altehrwürdigen Akademie. Drängten sich links und rechts an Severus vorbei. Die einen gingen, die anderen kamen. Große Beachtung schenkte Severus niemand. Er fiel nicht auf, ging unter in der Menge. War einer der ihren. Genau in dem Alter, das man von jemanden hier erwartete. Älter als siebzehn, doch noch keine siebenundzwanzig. Hinter ihm loderte einer der drei Besucherkamine grün auf. Das Feuer reflektierte sich in den Schachbrettfliesen, glänzte bis hinauf unter das hohe Gewölbe. Merlin Akademie prangte der Schriftzug auf einem goldenen Schild über den Kaminen.
 

Merlin Akadamie - so lange war es noch nicht her, dass Severus hier ein- und aus gegangen war. Ein paar Jahre nur. Damals, nach Hogwarts, als er hier an der zauberchemischen Fakultät studierte und sein Zaubertrank-Examen machte. Und doch hatte die Zeit ausgereicht, um ihm diese Welt fremd werden zu lassen. Um sich in diesen weiten Fluren zu verirren. Um den Weg zu verlieren, der ihm damals noch so klar gewesen war. Severus blickte sich um, suchte die Richtung. Hörsaal 7 ½. Er war noch nie dort gewesen. Die Zaubertrank-Vorlesungen fanden in den Hörsälen 9 ¼ - 11 ½ statt. 7 ½ teilten sich die Fakultät für Verwandlung und - die Muggel-Ethnologie. Ein Fachbereich, den Severus damals halb belächelt und halb verachtet hatte. Eine lachhafte Kuriosität im Kabinett der Studiengänge und ein Parasit im Fell der Wissenschaften. Zauberer sollten stolz sein auf ihr Blut und die Gelder der Akademie nicht für unwürdige Muggel verschwenden. So hatte Severus damals gedacht. Und heute? Er horchte in sich hinein. Stille, nichts als Stille. Alles in ihm schwieg. Seiner alten Weltsicht hatte es an einem frühen Novembermorgen für immer die Sprache verschlagen. Und keine andere Moral hatte es seitdem gewagt, seine Stimme in ihm zu erheben. Würde er jemals wieder etwas hören?
 

Severus überquerte die Aula, nahm den Flur zum linken Flügel. Er hatte inzwischen den Wegweiser zu Hörsaal 7 ½ gefunden, war auf direktem Weg dorthin. Andere schlossen sich an. Severus schlug sich die Kapuze seines Reiseumhangs über den Kopf, zog sie tief in sein Gesicht. Er wollte nicht erkannt werden. Nicht von den anderen Studenten und Besuchern, doch vor allem nicht von dem Mann, der heute Abend den Gastvortrag hielt. Severus wollte nicht, dass ER erkannte, dass er ihm gefolgt war. Wollte nicht, dass ER vielleicht merken würde, dass ihn das Thema gar nicht interessierte. Wollte nicht, dass ER durchschauen würde, dass Severus nur wegen seinetwegen gekommen war. Gekommen war, um seinen Worten zu lauschen. Um aus ihnen vielleicht heraus zu hören, wie er dachte. Um ihn endlich begreifen zu können, zu verstehen, wer er war. Der Gastdozent für diesen Abend hieß - Albus Dumbledore.  
 

Der Hörsaal war schon voll, als Severus eintrat. Als er sich einen Platz suchte. Ganz hinten in einer dunklen Ecke. Weg, weit weg vom Rednerpult. Es war nicht das erste Mal, dass Severus ihm heimlich gefolgt war, seinem Arbeitgeber, seinem Vorgesetzten, seinem Retter. Lange Zeit war Lily alles gewesen, das ihn umtrieb. Lily war die Luft, die er atmete. Lily war jeder Gedanke, den er dachte. Jede der ungezählten Tränen, die er vergoss. Und Albus Dumbledore war nicht mehr gewesen als eine verschwommene Silhouette irgendwo hinter dem Schleier seiner Tränen. Ein Leuchtturm am fernen Rand dieses Meeres aus Trauer, Schmerz und Verzweiflung. Eine Hand, die sich Severus entgegenstreckte, die er ergriffen hatte, um sich ans Ufer ziehen zu lassen, doch ohne den Blick zu heben und in das Gesicht des Menschen zu sehen, dem sie gehörte.
 

So war es ein Jahr lang gegangen, vielleicht auch zwei. Severus wusste es nicht mehr. Doch an einem Abend, wahrscheinlich an dem ersten, am der nicht weinend ins Bett gefallen war, war etwas in ihm aufgebrochen. Noch immer war die Luft von Lilienduft erfüllt. Noch immer trug jede Träne ihren Namen. Doch der Schleier Tränen lichtete sich ein kleines Stück und die verschwommene Silhouette klärte sich zum Gesicht eines altes Mannes. Und Severus sah, dass er nicht alleine war. Dass unbemerkt jemand in sein Leben getreten war, mit dem er niemals gerechnet hätte. Sah, dass an der Hand, die ihm aus dem Meer seiner Verzweiflung gezogen hatte ja ein ganzer Mensch hing.  
 

Von dem Moment dieser Erkenntnis an, waren das Rätseln und das Grübeln zu Severus‘ treuesten Weggefährten geworden. Er hatte begonnen, sich zu fragen, wer sein Retter war. Was bewog einen Mann wie Albus Dumbledore dazu, gerade ihm, Severus Snape, einem Todesser, eine zweite Chance im Leben zu geben? Was – was war es, das Albus Dumbledore dazu gebracht hatte, sich für ihn vor dem Zaubergammot zu verbürgen, als Karakroff Severus verraten hatte?
 

Einmal hatte Severus sich eingebildet, zu wissen, wer dieser Mann war. Schon drei Namen hatte er gehabt, seitdem Severus ihm zum ersten Mal gesehen hatte. Damals am ersten September als der Hut auf seinem Kopf ,Slytherin!‘ gerufen hatte. Der erste Name war ‚Professor Dumbledore, der Schulleiter‘ gewesen, der zweite ‚Der Erzfeind, der gestürzt werden muss‘, der dritte schließlich ‚Der Einzige, den Er je fürchtete und die letzte Hoffnung‘. Einst hatte Severus geglaubt, dass diese drei Namen zu wissen ausreichte, um Albus Dumbledore zu kennen. Aber er hatte sich geirrt. Der Schulleiter; der Erzfeind; der Einzige, den ER je fürchtete: Sie waren nichts als Schall und Rauch. Wer oder was Albus Dumbledore wirklich war, ließ sich nicht an einem Namen bemessen. Severus erschien er wie ein einziges Rätsel. Er konnte nicht begreifen, warum ihm Gnade gewährt worden war. Warum dieser alte Mann ihn, den Feind, nicht vom Schloss gejagt hatte, als er in dessen Büro zusammengebrochen war. Immer hatte Severus geglaubt, dass es im Leben nur eine Richtung gäbe. Einen Weg, den man einschlug und keinen Rückweg. Und der Dunkle Lord hatte von jedem, der seinen Weg verließ die Maut eines Menschlebens eingefordert. Doch Albus Dumbledore war – anders. Er hatte ihn nach Hogwarts geholt, obwohl Severus Todesser gewesen war. Obwohl er so tief gefallen war, zu Lilys Mörder zu werden. Albus Dumbledore hatte eine Brücke zurück geschlagen. Und das war es, das Severus nicht fassen konnte. Etwas, das er nie zuvor erfahren hatte: Gnade.
 

„Lumos“ schallte es durch den Hörsaal. Vorne über dem Rednerpult gingen die Lampen an. Und Albus Dumbledore trat vor die Hörer. Tausend Augen waren auf ihn gerichtet, die Erscheinung mit dem langen Silberbart und der nebelblauen Robe. Er trug eine Aktentasche aus Drachenleder, wie Severus sehen konnte. Wie passend zum Thema seines Vortrags! Der Blick aus bohrenden, blauen Augen glitt über das Publikum. Er schien Severus nicht zu bemerken. Schnell fuhren seine langen, schlanken Finger durch die Pergamente. Doch wohl nur pro Forma, Albus Dumbledore erweckte nicht den Eindruck, sie wirklich zu brauchen.

„Sonorus“ sagte er, den Zauberstab an der Kehle. Dann er blickte auf, lächelte, begrüßte das Publikum.

„Die zwölf Anwendungen von Drachenblut…“, begann er zu referieren.

Dabei streife das Licht der Gaslampen sein Gesicht, tauchte es in warmen Glanz.
 

Und Severus musste an ein anderes Mal zurückdenken, als er das Gesicht des alten Mannes so gesehen hatte.
 

Es war in den Gerichtssälen des Zaubergammots gewesen. Ein öffentlicher Prozess gegen eine Sympathisantin des Dunklen Lords, die mehrere Schlammblüter ermordet hatte. Als Großmeister des Zaubergammots hatte Albus Dumbledore vor den Zuhörern eine flammende Rede gehalten. Eine Rede über den blinden Wahn der Zauberer, über falschen Stolz auf das reine Blut und dem Rassismus, der wie ein Tropfen in einem Sauerteig sei, der alles vergiften würde. Severus war ertrunken in einem Meer aus Scham vor sich selbst. Ihm war zumute gewesen, als ob Lily neben Albus Dumbledore auf und ab ginge und jedes „die Zauberer“ durch ein „Du“, jedes „Mugglegeborene“ durch ein „ich“ ersetzte. Er war schuldig, so schuldig geworden, dass er hier eigentlich angeklagt sein müsse. Und wieder war es Albus Dumbledore gewesen, der Severus aus diesem Meer gezogen hatte. Herausgezogen hatte, als er im gleichem Atemzug davon sprach, dass jeder Mensch, so tief er auch gefallen war, noch bereuen und umkehren könne und er daher an den Zaubergammot appeliere, von der Todesstrafe durch den Kuss des Dementors abzusehen und der Beschuldigten nach der Beweislage die mildere, aber noch immer harte Strafe einer Askabanhaft aufzuerlegen. Der Zaubergammot hatte nicht auf sein Wort gehört und die Angeklagte zum Kuss des Dementors verurteilt. Doch in Severus war etwas aufgebrochen. Etwas, das ihm seinen Namen noch nicht verraten hatte. Etwas, von dem Severus hoffte, heute und hier eine Antwort zu finden.
 

Die Zeit floss dahin. Eine Stunde verstrich und viele Minuten. Sie kamen und gingen wieder, während Albus Dumbledores Stimme gleichmäßig über den Köpfen der Lauschenden schwebte. Severus hatte irgendwann aufgehört, zuzuhören. In keinem von Dumbledores Worten hatte er eine Antwort gefunden auf die Fragen, wie ihn quälten. Und war immer tiefer und tiefer in dem Wirbel seiner eigenen Gedanken gesunken. Hinab in eine Unterwasserwelt, in der er sich die Antworten selbst wie Sandburgen aus Kies und Muscheln bauen konnte. Ein paar Mal streiften ihn die hellblauen Augen, ließen Severus erschauern. Denn er glaubte, für Bruchteile von Sekunden den Glanz des Wiedererkennens darin aufblitzen zu sehen. Wie eigenartig! Genau in diesen Sekunden musste Severus an die wenigen Besprechungen im Büro des Schulleiters denken. Daran, dass er, so nüchtern der Inhalt des Gesprächs auch war, er sich doch wohlgefühlt hatte in diesem Raum. In diesem Refugium seines alternden Vorgesetzten, der ihm stets zuckrige Brausedrops anbot. Fast ein bisschen wie Geborgenheit, fast ein bisschen wie Wärme und Nähe.  
 

Die Zeit floss dahin und Severus bemerkte nicht, dass der Hörsaal auf die Tische klopfte, bemerkte nicht, dass Albus Dumbledore seine Pergamente wegpackte, bemerkte nicht, dass die Studenten und Gasthörer ihre Sachen packten und gingen. Bis Severus alleine war. Allein in seiner dunklen Ecke, allein im Hörsaal 7 ½. Das hieß, fast allein.
 

Albus Dumbledore war noch da. Wie ein letztes Sturmlicht, wie der Mond leuchtete seine nebelblaue Robe in der Dunkelheit, als die Lampen über dem Rednerpult erloschen. Er packte seine Drachenledertasche, kam die Treppe herauf und - hielt inne. Eine unangenehme Vorahnung packte Severus, als er die Hörsaalbänke heraufschaute. Direkt zu ihm, zu der dunklen Ecke, in der er saß. Wie ertappt fühlte Severus sich, hoffte, dass es nur ein Zufall war. Dass sich Albus Dumbledore nur wunderte, warum nach der Vorlesung noch ein Zuhörer im Raum geblieben war. Doch dann geschah etwas, das Severus die Nackenhaare aufrichtete. Albus Dumbledore schaute ihn an. Blickte ihm mitten ins Gesicht unter der Kapuze.
 

„Guten Abend, Severus!“, sagte er warm, „Da Sie noch hier sind: Wie wäre es, wenn wir unseren Rückweg nach Hogwarts gemeinsam antreten? Es interessiert mich sehr zu erfahren, wie mein Vortrag bei den Zuhörern angekommen ist. Das letzte Mal hatten wir ja keine Gelegenheit mehr dazu.“ Und ein Lächeln huschte über seine Lippen. Ein Lächeln des Erkennens und Verstehens.
 

Severus wandte sich ruckartig um, zur Wanduhr in seinem Rücken. Es war exakt acht Uhr. Die beiden Zeiger auf dem Ziffernblatt, der große und der kleine, bildeten eine einzige Linie. Eine Viertelstunde blieb ihm noch. Eine war bereits vergangen. Albus Dumbledore stand vor ihm, in der Mitte des Raumes – und in der Mitte der Zeit. Sollte er sein Angebot annehmen? Der kleine Zeiger hielt für einen Augenblick inne. Severus überlegte. Dann stand fällte er seine Entscheidung.
 

Ein Nicken nur, nicht mehr. Und schon stand Severus auf, folgte Albus Dumbledore zu den Kaminen. Der Zeiger der Uhr aber rückte weiter als wäre nichts geschehen.



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