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Alternate Reality

von

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Level 4

„Hey, warum gehen wir nicht heute Abend mal wieder eine Runde zusammen leveln?“

„Das geht nicht.“

 

Leicht empört, dass seine Bitte so einfach abgeschmettert wurde, blies Honey seine Wangen auf und starrte seinen besten Freund über den Tisch hinweg vorwurfsvoll an: „Und warum nicht? Erzähl mir bloß nicht, zu willst gleich weiterlernen, wenn wir wieder zuhause sind?“ Aus einer der hinteren Ecken der Unibibliothek drang ein zischendes Psst, was Honey jedoch wissentlich ignorierte und seine Aufmerksamkeit weiterhin auf Kazuki lenkte, der seinen Blick auf das Buch in seinen Händen gerichtet hatte.

 

„Nein. Aber ich habe bereits Kyrios zugesagt, mit ihm leveln zu gehen“, erwiderte der Japaner in leisem und betont beiläufigem Tonfall, und Honey konnte nicht anders, als ein kurzes, abfälliges Schnauben von sich zu geben. Kyrios war der Nickname eines Mitspielers aus ihrer Gilde, ein Nekromant, der Kazuki aus irgendwelchen, wie auch immer gearteten Beweggründen unter seine Fittiche genommen hatte. Und Kazuki, sein soziophobischer, menschenhassender Freund Kazuki, der sich ansonsten nicht weniger um irgendwelche zwischenmenschlichen Belange scheren konnte, schien sich aus irgendwelchen, wie auch immer gearteten Gründen mit dieser Person zu verstehen.  Eine Tatsache, die Honey absolut nicht nachvollziehen konnte, denn in seinen Augen war dieser Kyrios ein verdammter Creep, dessen Schmierigkeit aus jedem seiner getippten oder gesprochenen intellektuell gehobenen Worte triefte. Ausnahmsweise hielt er sich jedoch für den Moment mit seiner sehr starken Meinung über den Nekromanten zurück und erwiderte nur etwas trotzig:

 

„Na gut. Ich könnte doch mitkommen?“ Zu seinem steigenden, kindischen Ärger begann Kazuki daraufhin, ausweichend an dem schlecht verklebten Einband seines Buches herum zu zupfen, als ob er die Antwort auf Honeys Frage am liebsten wie eine unliebsame Pflicht gemieden hätte, und rang sich schließlich am Ende nur eine knappe, unbestimmte Erwiderung ab: „…keine gute Idee.“

 

Mit einem unterdrückten, frustrierten Grollen ließ sich Honey in seinem Stuhl zurücksinken. Großartig, sogar sein eigener bester Freund fiel ihm in den Rücken. „Schon klar“, murrte er Kazuki ungnädig entgegen und zog mit aggressiven Bewegungen seinen Vorlesungsordner an sich. Obwohl er sich so intensiv und demonstrativ wie möglich in seinen Unterlagen vergrub, konnte er dennoch noch Minuten später Kazukis Blick auf sich spüren. Überraschenderweise ergriff dieser einen Moment später noch einmal das Wort:

 

„Solltest du dich nicht langsam mal mit ihm versöhnen?“

„Mit wem?“

„Du weißt, mit wem.“
 

„Nein, weiß ich nicht“, fauchte Honey starrköpfig zurück. Diesmal kam von Kazuki keine weitere Erwiderung mehr zurück.

Die Wahrheit war, dass Honey sich eigentlich schon ganz gerne wieder mit Void vertragen hätte. Seit dem Vorfall beim Gildenraid waren beinahe zwei Wochen vergangen, und je mehr Tage ins Land zogen, umso kindischer kam ihm die ganze Sache vor und umso schäbiger fühlte er selbst sich. Nachdem er beschlossen hatte, den Gunslinger bewusst zu ignorieren, war er nicht wieder in den Voicechat zurückgekehrt und demonstrativ mit wechselnden Mitspielern aus der Gilde losgezogen. Anfangs war das Ganze nicht mehr als eine Trotzreaktion auf Voids schroffes Verhalten gewesen, doch je länger er ihn bewusst mied, umso schwieriger schien es zu werden, eine Gelegenheit zu finden, um doch wieder anknüpfen zu können.

Auf eine irrationale, dämliche Art und Weise fehlte ihm die kurze Zeit, in der sie zu zweit losgezogen waren und Void ihn regelmäßig mit seinen bissigen Kommentaren und seinem tiefschwarzen Humor gleichzeitig auf die Barrikaden gebracht und erheitert hatte. Doch hinter alledem und hinter der Spielfigur mit dem albernen Cowboyhut hatte Honey festgestellt, dass Void absolut keine schlechte Person war. Umso größer war sein schlechtes Gewissen gewesen, als Deva vor einigen Tagen im Chat an ihn herangetreten war und ihm ausrichtete, dass der Gunslinger nach ihm fragen ließ.

 

Wenn zuvor noch ein Fünkchen Zorn in ihm gesteckt hätte – spätestens danach war alles davon verpufft. Aber es war dennoch alles nicht so einfach.

 

***

 

Selbstmitleid war etwas, das Honey noch nie besonders gut zu Gesicht gestanden hatte, doch nachdem er sich am Abend durch sämtliche hirnlosen TV-Sendungen gezappt, genervt seine Bücher beiseite gestoßen und Kazuki eine Million Male dafür verflucht hatte, ihm spieltechnisch fremdzugehen, kam er zu der Ansicht, dass es durchaus angebracht war, sich selbst zu bedauern.

 

Mit einem tiefen Seufzer, der ganz nach dem abgrundtiefen Weltschmerz klang, den er gerade zu empfinden glaubte, rollte Honey sich in seinem ohnehin schon zerwühlten Bett herum und linste zu seinem ausgeschalteten PC herüber. Seitdem er einer gewissen Person aus dem Weg zu gehen versuchte, hatte er Jibrile Online zunehmend seltener aufgerufen, was zwar seinem dringend notwendigen Lernpensum zugute gekommen war, aber wenn er ehrlich war, vermisste er das Spielen.

„Vielleicht ein halbes Stündchen…“, murmelte er zu sich selbst und schlurfte von seinem Bett zum Schreibtisch, wo er den Computer hochfahren ließ. Eine halbe Stunde ging bestimmt in Ordnung. Er konnte auch gleich im Gildenchat vorbeisehen, mal wieder etwas Anwesenheit zeigen und die Auktionen checken. Es war schließlich nicht so, als ob Void ihm wie der sprichwörtliche schwarze Mann irgendwo auflauern würde.

 

Tatsächlich war außer ihm selbst, zwei Mitgliedern der Gilde und natürlich Kazuki samt seines schmierigen Schattens niemand online, sodass Honey die leichte Paranoia schnell abschütteln und sich ins Spielgeschehen stürzen konnte. Nach einer halben Stunde hatte er Void und seine eigenen, irrationalen Neurosen bereits vergessen und plauderte über den Voicechat lebhaft mit den beiden Jungs, mit denen er in den vergangenen zwei Wochen das eine oder andere Mal gemeinsam im Spiel losgezogen war. Phoenix und Zephyr waren ein lustiges Freundesgespann, Studenten wie er selbst und genau die Art Mensch, mit der Honey sich im realen Leben gerne zum Kaffeetrinken und Rumhängen getroffen hätte. Echte Kumpeltypen eben. Leider standen bei beiden in der kommenden Woche mündliche Prüfungen an, sodass sie sich nach einer Weile bedauernd verabschiedeten, nicht ohne ihn vorher noch zu überreden, demnächst wieder einmal gemeinsam Monster verprügeln zu gehen.

 

Nachdem sich Phoenix und Zephyr verabschiedet hatten, ging Honey noch einer Weile seinen üblichen Ingame-Tätigkeiten nach, verglich die Preise in den unterschiedlichen Auktionshäusern des Servers und beachtete seinen noch immer geöffneten Teamspeak-Client nicht weiter, auch nicht, als ein leises Pingen das Einloggen eines weiteren Spielers ankündigte.

Entsprechend heftig fuhr ihm der Schreck ins Mark, als ihm auf einmal unvermittelt eine tiefe, raue Stimme über das Headset ins Ohr grollte:

 

„Du bist ja doch noch nicht tot, Flohbeutel.“

Gottverdammte Scheiße----!!“
 

Mit einem ohrenbetäubenden Scheppern fegte Honey, der vor Überraschung gefühlte zwei Meter in seinem Stuhl hochgesprungen war, sein Colaglas vom Schreibtisch und setzte noch einen weiteren, blumigen Fluch hinterher, als sich ein kleiner See aus klebriger Flüssigkeit auf seinem Teppich ausbreitete.

 

„…Hallo?“

„Du blödes Arschloch!“, entfuhr es Honey fauchend, während er, das Headset noch auf dem Kopf, eine Packung Taschentücher auf rupfte und sein Bestes gab, die Katastrophe einzudämmen, „Wegen dir hat mein Teppich jetzt Flecken!“ „Inkontinenz?“, erblödete sich Void tatsächlich trocken zu fragen, doch Honey entkam nur ein abgewürgter, frustrierter Laut. Die Situation überforderte ihn auf eine Art und Weise, die er nicht allein mit der Wut über seinen versauten Teppichboden erklären konnte, und das nicht zuletzt, weil er sich sein erstes Gespräch mit Void unter vier Augen nach fast zwei Wochen ein wenig anders vorgestellt hatte.

 

„Du hast mich erschreckt“, beschwerte er sich schließlich ein wenig lahm, nachdem die Taschentücher mit Cola getränkt und seine Finger klebrig waren.

„Du warst laut Status online und gesprächsbereit.“

„Ja, aber…“

„Nach zwei Wochen mal wieder. Ein Wunder ist geschehen.“
 

Autsch. Das klang ein wenig bissig, und wenn Honey ehrlich war, hatte Void auch allen Grund dazu, ihm sein kindisches Verhalten unter die Nase zu reiben. Dennoch zerrte neben seinem schlechten Gewissen auch ein wenig der Stolz an ihm, weswegen er schließlich leise und ein wenig trotzig erwiderte: „Ich dachte, du wärst sauer auf mich.“

Daraufhin herrschte zunächst einmal Stille auf der anderen Seite der Internetleitung. Honey fiel auf, dass er noch immer wie der letzte Idiot neben diesem scheußlichen braunen Colafleck auf dem Boden saß, und machte Anstalten, sich wieder auf seinen Stuhl zu hieven. Als Void dann allerdings wieder das Wort ergriff, wäre er beinahe rückwärts wieder heruntergestürzt.

„Ich bin nicht sauer.“

 

Honey öffnete den Mund, um irgendetwas zu erwidern, aber diese schlichte Aussage nahm ihm auf verwirrend angenehme Art und Weise den Wind aus den Segeln. Gleichzeitig fachte sie allerdings neben einem Gefühl der Erleichterung auch sein schlechtes Gewissen von neuem an. Void schien sein Zögern zu bemerken, denn er setzte hinterher:

„Warum zum Teufel sollte ich sauer auf dich sein?“

 

„Wegen… dem Raid neulich?“, riet Honey vorsichtig, doch diese Antwort schien den Anderen, wenn überhaupt, zu belustigen, denn er stieß ein kurzes Schnauben aus, von dem man meinen konnte, es sei ein Lachen.

„Zugegeben, ich hätte dir am liebsten den Hintern versohlt, als du das Ganze fast versaut hast. Wegen diesem bescheuerten Raid hab ich immerhin den Großteil des Fußballspiels verpasst.“

„Ähm…“

 

Honey konnte sich knapp davon abhalten, sich in den Arm zu kneifen, um festzustellen, ob er noch wach war oder mittlerweile irgendeiner Art von koffein-induzierter Wahnvorstellung erlegen war. Erst nach und nach dämmerte ihm, dass Voids schroffes und wortkarges Verhalten vor zwei Wochen nicht etwa darauf zurückzuführen war, dass seine Erwartungen enttäuscht worden waren. Er war nur schlecht gelaunt gewesen, weil er seine Sportsendung verpasst hatte, nachdem der Raid länger gedauert hatte, als vorher kalkuliert.

 

„Hättest du das nicht gleich sagen können, du Penner?“, wollte Honey noch immer etwas ungläubig wissen, „Hast du eine Ahnung, was ich mir für einen Kopf gemacht habe, weil ich dachte, du hasst mich jetzt auf ewig?!“ Die letzten Worte stieß er mit einem kleinen, erleichterten Lachen vermischt aus, das er jetzt, wo er wusste, dass alle seine Sorgen vollkommen unbegründet gewesen waren, nicht mehr zurückhalten konnte.

Void gab erneut dieses schnaubende Geräusch von sich und der Klang ließ Honeys Magen einen kleinen Sprung machen.  „Du bist echt eine verdammte Dramaqueen. Glaub mir, wenn ich ernsthaft wütend auf dich wäre, würdest du das schon merken.“  „Ich weiß, ich werde das irgendwann bereuen, aber… könntest du mir bitte einfach Bescheid sagen, wenn du das nächste Mal tatsächlich sauer auf mich sein solltest?“

„Deal.“

„Deal“, wiederholte Honey versonnen und hatte mit einem Mal endlich wieder das Gefühl, dass die Sache mit dem Weltschmerz vielleicht doch nicht so ganz sein Ding war.

 



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