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Force of Nature

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nun mit etwas mehr Verspätung als sonst. SORRY! Mir kamen Arbeit, Urlaub, noch mehr Urlaub dazwischen, aber ich habe ihn jetzt fertig. 20 Wordseiten, allerdings mit Triggerwarnung: es kommt Evermore zur Sprache, damit Gewalt, Folter, Trauma und alles, was damit zusammenhängt.

Trotzdem, viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen

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Am Vorabend der Schlacht

Gierig trank Jean seine Flasche Wasser leer und versuchte, sein wild klopfendes Herz wieder zu beruhigen. Er starrte unerfreut auf das Spielfeld, auf dem die L.A. Lions soeben den Boden mit ihnen gewischt hatten und kam zu dem Schluss, dass das Trainingsspiel, welches ihrer beider Trainer untereinander ausgemacht hatten, keine gute Idee gewesen war.
 

So gar nicht. Zumindest für ihn nicht.
 

Jeans sowieso schon dünnes Nervenkostüm franste angesichts der vernichtenden Niederlage, die den Trojans in den letzten, anderthalb Stunden zugefügt worden war, nur noch mehr aus- Seine Vermutung, dass sie niemals gegen Evermore gewinnen würden und dass sie nicht genug trainiert hatten, wurde größer und größer.

Er wusste, dass es irrational und unbegründet war, doch er hatte das Gefühl, dass sie gewinnen mussten, da er sonst gezwungen war, dort zu bleiben. Der Gedanke war abstrus und unbegründet, vollkommen, dennoch…
 

Einer der Spieler ihrer gegnerischen Mannschaft erhob sich von der Bank seiner Mannschaft und steuerte auf sie zu, den Blick fest auf ihn gerichtet. Jean schluckte. Er hatte heute, wie die letzten Tage auch, festgestellt, dass ältere Spieler ihn nervös machten, oftmals sogar mehr als das. Er hatte keine Angst vor ihnen, nicht so, wie es in Evermore gewesen war, aber seine Nackenhaare standen bei dem Gedanken daran, alleine mit ihnen zu sein oder ihnen den Rücken zuzudrehen. Umso froher war er gewesen, dass sie in den letzten Tagen wenig Kontakt gehabt hatten.
 

Umso misstrauischer war er nun, als der Mann direkt zu ihm kam und ihn mit eben jenem Blick fixierte, den Jean auch schon während des Spiels gesehen hatte.

Verstohlen sah er sich nach seinem Team um und fand die beruhigenden Präsenzen Ajeets und Vals in seiner unmittelbaren Nähe.
 

Ihm konnte nichts passieren, wiederholte Jean stumm. Er wusste das. Er hatte es gelernt. Alleine schon, um sich abzulenken, versuchte er sich den Namen des Mannes einzuprägen, der mit großen, zielstrebigen Schritten auf ihn zukam. Mikhail Sorokin hieß er, ein Backliner, der Jeremy am langen Arm hatte verhungern lassen während ihres Spiels. Ihn und Fahima, die sich die Zähne ausgebissen hatten.
 

Sorokin war kleiner als er, aber muskulös und hatte den Gang eines Jägers, der seine Beute bereits im siegessicheren Blick hatte. Als er vor Jean zum Stehen kam, starrte er ihn herausfordernd an und musterte ihn von oben bis unten.
 

„Moreau.“

Jean ließ sich Zeit mit seiner Antwort und umklammerte seine leere Wasserflasche, die viel war, aber keine Stütze. „Sorokin“, erwiderte er schließlich bemüht ausdruckslos, konnte aber die ablehnende Vorsicht nicht ganz aus seiner Stimme heraushalten.

Kühl wurde er gemustert und dann schnaubte Lion-Backliner amüsiert.

„Du hast keine Ahnung, wer ich bin, oder?“, fragte er und Jean runzelte die Stirn. Was sollte das?

„Ich kenne deinen Namen und deine Spielstatistik bei den Lions.“
 

Sorokin hob vielsagend die Augenbraue. „Wir haben beide für denselben Kult gespielt, Nummer drei“, sagte er und Jean Her setzte für einen Schlag aus. Ein Raven? Was? Hier? Wer? Er…er konnte ihn nicht…er kannte ihn nicht…was? Die rationale Seite, mit der er männliche, ältere Spieler betrachtete, wich einer langsam aber stetig aufkommenden Angst. Jean trat instinktiv einen Schritt zurück, was Sorokin nicht verborgen blieb.

„Schwarz gefärbte Haare, halblang, bisschen schmächtig. Ich war im gleichen Jahrgang wie Muldani und habe die Ravens nach einem Jahr verlassen.“
 

Trotz seiner Angst erkannte Jean die Selbstzufriedenheit, die mit dem letzten Satz mitschwang und Verwirrung dämpfte seine Angst. Er erinnerte sich nicht an alle älteren Spieler, damals viel zu gefangen in dem Schock der Gefangenschaft und der Gewalt. Sie waren, bis auf Muldani und die Spieler, die Riko in sein Bett geschickt hatte, gesichtslos gewesen. Potenzielle Bedrohungen, denen er aus dem Weg gehen musste.
 

Vorsichtig zuckte er mit den Schultern und musterte Sorokin, der im Gegensatz zu damals breitschultrig, braungebrannt und blond war.

„Ich hab’s damals nicht ausgehalten, die ganze Gewalt und alles. Die Drills und die sektenähnliche Struktur. Ich hab’s gehasst, bis auf den Grund meines Herzens. Und dieser widerliche alte Knacker, der sich Herr nennen lässt, den habe ich gleich noch mehr gehasst.“

Angewidert würgte Sorokin und Jeans Angst trat zugunsten hochgradiger Verwirrung in den Hintergrund. Erstaunt hing er an seinen Lippen und blinzelte.
 

„Ich kenn dich noch, da warst du klein. Also kleiner als jetzt“, fuhr er fort, als würde Jean ihn nicht die ganze Zeit schweigend anstarren. „Moriyamas engster Kreis.“

Was, wenn nicht das, gab Jean seine Stimme zurück? „Ich war nicht…“, begehrte er auf und stockte. Er wollte Rikos Namen nicht in Anwesenheit eines anderen Ex-Raven nennen. Doch es war auch nicht notwendig. Sorokin nickte.

„Das war auch keine positive Umschreibung, Moreau. Ich habe mitbekommen, wie das Arschloch dich und Day behandelt hat. Das war widerlich. Ich wollte etwas sagen, doch als ich gegangen bin, haben Sie mich gezwungen, eine Verschwiegenheitserklärung zu unterschreiben.“
 

Jean schluckte. Das war… unerwartet. Er hatte bisher alle Ravens verteufelt, in der Annahme, dass es sich um immer den gleichen, schlechten Menschentyp handelte. Theoretisch war Muldani eine Ausnahme, aber auch nur theoretisch. Das Gefühl war dagewesen. Und jetzt?

Jemand, der gegangen war, weil es ihm zuviel Gewalt gewesen war? Jemand, der gesehen hatte, was Riko getan hatte und bereit gewesen wäre, etwas zu sagen?
 

„Was ich damit sagen will, Kleiner, ist Folgendes. Zeig’s ihnen und ich weiß, dass du es kannst. Dass ihr das könnt. Ihr seid Evermore meilenweit überlegen und werdet sie in Grund und Boden spielen. Ich weiß, dass du’s kannst und dass du’s willst. Du musst die Angst nur loslassen, die du vor ihnen hast und die selbst ich erkennen kann.“
 

Jean blinzelte.
 

Kleiner? Er war größer als Sorokin. Indigniert rümpfte er die Nase und schürzte die Lippen, während der Sinn der restlichen Worte so langsam Einzug in sein Denken fand. Ja, er hatte Angst vor den Ravens. Mit jeder Faser seines Seins hatte er sie. Sah man das? Hielt es ihn tatsächlich zurück? Das Lob des Mannes ließ seine Wangen noch wärmer werden als sie es ohnehin schon waren und er räusperte sich verlegen.
 

„Ich weiß nicht, wie ich die Angst loslassen soll“, gestand er schließlich ein und Sorokin brummte.

„Mir hat Wut geholfen“, erwiderte er. „Denn mit meiner Wut war ich stärker als sie und ihre Gewalt.“

Wut war für Jean kein gutes Thema. Seine Wut hatte Knox verletzt, mehrfach. Anscheinend stand das allzu deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, denn Sorokin nickte verständnisvoll.

„Meine Wut kannte nur eine Richtung und zwar die gegnerische Mannschaft. Ich war personifizierte Wut, mein Schläger war es, und das hat mich präzise und gnadenlos werden lassen. Es war wie ein Schild, durch den sie nicht dringen konnten.“
 

„Ich weiß nicht, ob mir das möglich sein wird“, gestand er ein.

„Ich glaub‘ an dich, Kleiner“, grinste Sorokin und drehte sich um, bevor Jean auch nur grollen konnte.

„Ich bin größer als du!“, rief er trotzdem hinterher und Sorokin winkte ihm ohne zurück zu sehen. Jean drehte sich um und begegnete der vollen Aufmerksamkeit seines Teams, die er leichtsinnigerweise für das Gespräch komplett ausgeblendet hatte.
 

Val war ihm am nächsten und ihre Lippen formten stumm das Wort, was er mitnichten hören wollte.
 

„Sag’s nicht“, drohte Jean und ihr Gesicht war eine Maske der Unschuld, während in ihren Augen alles Ungesagte stand, was auf ihren Lippen lag.

„Was?“, fragte sie scheinheilig nach.

„Wag dich.“

„Was denn?“

Jean grollte.

„Na komm, wir wollen in die Umkleide und uns fertig machen…“

Damit konnte Jean besser leben und nickte.
 

„…Kleiner.“
 

Wäre Jean so wie die Trojans, würde er Val nun unter seinem Arm einklemmen und ihr, wie Ajeet es manchmal tat, solange durch die Haare wuscheln, bis sie spielerisch um Gnade flehte. Er war nicht so, noch nicht, also traute er sich das nicht.
 

„Miststück“, erwiderte er aber aus vollem Herzen.
 

~~**~~
 

Alvarez hatte schon schlechte Laune, als sie die Nummer wählte. Das wurde auch nicht besser, je länger sie klingeln lassen musste, damit sie ihn an die Leitung bekam. Das Prinzchen schlechthin, der allseits beliebte Sohn von, der Exy-Prototyp, den sie alle verehrten. Alvarez konnte kotzen, denn das Jedermannliebchen war nichts mehr als ein arroganter Bock, der mit seiner Attitüde beinahe Jean das Leben gekostet hatte.
 

Dass Alvarez ihn dafür weder respektieren noch lieben würde, war klar. Dass es ihr zuwider war, Kontakt zu ihm aufzunehmen, ebenso.
 

Nach dem gefühlten hundertsten Klingeln nahm er ab und blökte sein unfreundliches „Ja?“ in den Hörer. Sie schnaubte.

„Du schuldest mir einen Gefallen, Day und wage es ja nicht, mir den zu versagen“, sagte sie anstelle einer Begrüßung und für einen Moment herrschte Stille in der Leitung.

„Alvarez?“, fragte er dann, als wäre es nicht offensichtlich und sie brummte.

„Ja.“

„Gib mir einen Grund, nicht aufzulegen, weil du meine Zeit verschwendest.“
 

Oh ja, da war er, das große Arschloch, das seine Raven-Attitüden nie abgelegt hatte. Kein Wunder, dass Jean ihn verachtete. Kein Wunder, dass Jean so wütend auf ihn war. Und wenn ihr adoptiertes Rabenkind wütend war, dann war Alvarez als Adoptivmutter gleich mit wütend.
 

„Den habe ich dir bereits benannt. Du bist mir einen Gefallen schuldig.“

„Ach?“

Alvarez brummte bejahend. „Wegen dir wäre Jean fast gestorben, weil du deine Scheißzähne nicht auseinander bekommen hast, was den Countdown angeht. Wir haben Jean in der Wüste eingeholt und ihn daran gehindert, sich von Minyard umbringen zu lassen. Du hast nichts getan, im Gegenteil. Und deswegen schuldest du mir jetzt einen verdammten Gefallen, wenn es um Jean geht. Verstanden, Arschloch?“ Und wie wütend Alvarez war.
 

Die Stille am anderen Ende der Leitung dehnte sich mit jeder verstreichenden Sekunde aus und wurde drückender, je weiter sie fortschritt. Stur schwieg auch sie und wartete auf eine Antwort, die schlussendlich nicht weniger als eine ewige, halbe Minute benötigte.
 

„Was willst du für einen Gefallen?“, fragte Day schließlich und Alvarez lächelte grimmig.

„Am Besten holst du gleich schonmal Josten und Minyard dazu“, sagte sie bedeutungsschwanger.
 

~~**~~
 

Konzentriert starrte Jean auf die Aufgabe vor sich und runzelte die Stirn. Seine Finger zuckten in Erwartung der vor ihm liegenden Herausforderung. Der Geruch von schwarzem, intensiven Tee schlängelte sich in seine Nase und beruhigte ihn ebenso unterbewusst, wie es die Jazzmusik im Hintergrund tat.

Obwohl es wenig unterbewusst war, wenn Jean sich dessen ja durchaus bewusst war, was hier geschah und diese Entspannung extra aufsuchte.
 

Wobei er ja nicht nur die Entspannung suchte. Fahima hatte ihn gefragt, ob er zum Hölzklötzchenspielen vorbeikommen wollte, bei Tee und guter Musik. Jean war hochgradig irritiert gewesen über diesen Vorschlag, allerdings war Fahima nicht jemand, die seine Späße mit ihm trieb. Außerdem schätzte er Fahimas Ruhe und die Zeit, die sie miteinander verbrachten.
 

So gerne er auch Zeit mit Jeremy verbrachte und sich durch seine Gegenwart sicher und gemocht fühlte, war es doch mit Fahima etwas ganz Anderes. Während Jeremy Leben, Zuneigung und Freude bedeutete, war Fahima die Ruhe und die Gelassenheit und genau das brauchte er jetzt, nicht mehr ganz eine Woche vor ihrem Spiel gegen seine alte Mannschaft.
 

Dass Holzklötzchen spielen bedeutete, dass sie eckige kleine Holzstäbe aus einem Turm zogen, diese dann wieder oben drauflegten und das Ganze weniger entspannend, denn eher konzentriert war, wusste er erst jetzt.

Das Spiel war mit seinen Fingern, die er manchmal nicht richtig bewegen konnte, nicht einfach, aber wenn er alles um sich herum gehen ließ und sich auf nichts mehr konzentrierte als das, was gerade vor ihm war, ging es.
 

Vorsichtig zog Jean einen der Stäbe heraus und legte ihn oben auf. Der Turm wackelte und Jean verharrte bewegungslos, als könne er so verhindern, dass er umfiel. Doch er hatte Glück und er fiel nicht in sich zusammen, sondern stabilisierte sich.

Mit einem tiefen Ausatmen lehnte Jean sich zurück und griff behutsam nach seinem Tee. Schwarz, mit Minze und viel Zucker, hatte zumindest Fahima gesagt und ihm das kleine Glas gereicht, das in seinen Händen beinahe winzig wirkte.
 

„Du bist gut darin“, sagte sie mit einem Nicken zum Turm und Jean hob die Augenbrauen.

„Dein Lob ist noch unangebracht“, winkte er ab und sie lächelte.

„Im Gegenteil.“
 

Sie war an der Reihe und musterte den Turm von allen Seiten aufmerksam. Anscheinend identifizierte sie einen der Klötze und löste ihn mit einem vorsichtigen Ruckeln aus seiner Verankerung. Jean hielt den Atem an und sah ihr fasziniert zu, wie sie ihre Beute oben auf legte.
 

Fahima nahm ebenfalls einen Schluck und musterte ihn dann.

„Wie geht’s dir?“, fragte sie und Jean zuckte innerlich zusammen über die Falle, in die er getappt war. Natürlich würde sie ein solches Gespräch führen wollen, da er anscheinend das Sorgenkind Nummer eins der Mannschaft war. Und der gemeinschaftliche, adoptierte Sohn, wie Laila es ihm zu verstehen gegeben hatte. Nicht, dass er sich danach fühlte. Nicht, dass er es akzeptierte, plötzlich 27 zusätzliche Väter und Mütter zu haben.
 

„Ich schlafe nachts meistens“, sagte er nichtssagend und sie nickte anerkennend. Tatsächlich war es besser geworden mit dem Stundenansatz, auch wenn die Intensität der Alpträume wieder zugenommen hatte. Es verging keine Nacht, in der er nicht davon wach wurde, was Riko ihm antat oder antun ließ. Es verging kein Tag, an dem er in kleinen Gesten seiner Umgebung, in nichtigen, harmlosen Dingen, Spiegel zu Evermore entdeckte. Es war so regelmäßig schlimm geworden, dass der Terror zur Regel geworden war.
 

Heute Nacht hatte er erneut durchlebt, was Riko ihm an seinen letzten Tag in Evermore angetan hatte. Wieder und wieder hatte Riko ihn aufgeschnitten, geschlagen und ihn mit Worten und Speichel bespuckt, sobald Jean die Augen geschlossen hatte.

Den frühen Morgen war er wach gewesen und hatte vom Boden vor Jeremys Bett aus dem anderen Jungen beim Schlafen zugesehen und sich von dessen mittlerweile wohlvertrauten Riten des Herumdrehens und Redens beruhigen lassen.
 

„Wir stehen zwischen dir und ihnen“, sagte sie so selbstverständlich, als würden sie über das Wetter sprechen. „Du bist ein Trojan.“

Jean griff zu dem Glas Tee und nahm einen schweigenden Schluck.

„Das weiß ich.“

„Aber du hast Angst.“

Jean zögerte. „Ja“, gestand er dann ein und Fahima nickte.

„Sie werden dir nicht mehr wehtun und dich verletzen.“

„Doch, das werden sie mit Sicherheit“, widersprach er. Sie würden einen Weg finden.

„Dann müssen sie an uns vorbei und soweit kommen sie nicht.“
 

Die Entschlossenheit und eisige Ruhe in Fahimas Worten erstaunte Jean und er wusste nicht, was er daraus machen sollte. Da griff er lieber einen der Holzquader und zog vorsichtig dran.
 

„Hmm…der wird fallen“, mutmaßte sie und er verzog unwirsch den Mund.

„Nein, wird er nicht.“ Eine starke Behauptung ersetzte jeden schwachen Beweis und Jean zog sacht an ihm. Kaum hatte er ihn zur Hälfte aus dem Turm gelöst, geriet dieser ins Schwanken und mit Erschrecken sah er, wie alle Teile in sich zusammenfielen und vom Tisch auf den Teppich kullerten, den Fahima über das Linoleum gelegt hatte.
 

Jean grollte und starrte vorwurfsvoll auf Fahima, die ihn mit ruhigem Blick und vielsagendem Lächeln musterte.
 

„Ich habe immer Recht“, sagte sie und der Unterton sagte Jean, dass sie nicht nur den Turm meinte.
 

Er rollte mit den Augen und wurde nicht dafür bestraft. Im Gegenteil. Fahima lachte und versetzte ihm einen spielerischen Schubs und das war okay.
 

Er hatte gelernt, dass es hier okay war und so machte es ihm auch nichts aus, ihre Hand auf seinem Oberarm zu spüren.
 

~~**~~
 

Jean lauschte Renees widerwilligen Erzählungen über das letzte Spiel der Foxes, die er fast aus ihr hatte herauspressen müssen. Er sah in ihren Augen, was ihre Worte noch nicht sagten. Er sah in ihrer Mimik, dass er ihren Fragen nicht entkommen konnte, ebenso wenig ihrer Sorge um ihn.
 

So hörte sich Jean zu Ende an, was er bereits wusste, nämlich, dass sie gut und erfolgreich gegen die UT Longhorns gewonnen hatten. Er hatte das Spiel gesehen, auf seinem Laptop, und sich die Spielzüge der Foxes eingeprägt, damit er auf sie in den Play-Offs vorbereitet war.
 

„…aber das ist nicht der eigentliche Grund unseres Anrufes, nicht wahr?“, schloss sie sanft, aber unnachgiebig und Jean seufzte. Wenige Tage nur noch. Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich…“, begann er und wusste eigentlich nicht wirklich, womit von all dem er beginnen sollte, was ihm auf dem Herzen lag. Doch es war Renee. Ihr genügte anscheinend wie immer ein zielsicherer Blick in seine Augen um in das Innerste seiner Seele blicken zu können.
 

„Evermore.“ Ein Wort, das so viel barg, sanft ausgesprochen und doch voller Schmerz.

„Ich habe Angst“, gestand Jean ihr flüsternd ein. „Davor, nicht zurück zu kehren. Und davor, all das wiedersehen zu müssen.“

Bedächtig nickte sie.

„Ich habe Angst, dass ich wie gelähmt bin, wenn ich dieses Spielfeld betrete und vor meinem geistigen Auge das sehe, was er mir angetan hat.“

„Das wirst du ganz sicher“, erwiderte Renee und Jean schloss gepeinigt die Augen. „Die Erinnerungen werden da sein, Großer. Dafür sind sie zu frisch und niemand wird von dir erwarten, dass du alles, was dir zugestoßen ist, bereits verarbeitet hast. Sie werden da sein, wenn du das Spielfeld betrittst, aber du hast liebe Menschen um dich herum, die vorher nicht da waren um dich zu schützen. Du hast dein Team, deine Freunde. Sie sind da und unterstützen dich. Du bist nicht alleine da.
 

Jean schluckte. „Das reicht nicht aus. Glaube ich.“

„Sicher?“

Er zuckte mit den Schultern. „Nein.“

„Du wirst am Besten wissen, was du mit ihnen erlebt hast, Großer. All die Erinnerungen an schöne Dinge, die dich auch jetzt noch begleiten. Was, wenn du diese als Gegenpol nimmst, auch vor Ort? Für jedes schreckliche Etwas denkst du an etwas Schönes und überlebst so die paar Stunden, in denen du da bist? Und es sind nur ein paar Stunden, denn mehr werden sie dich nicht dabehalten können. Eure Ankunft, das Aufwärmen, euer Spiel, die Presse danach, das war es.“
 

Aber was wenn, wollte Jean fragen, behielt es jedoch für sich. Sie würden ihn nicht dabehalten können, warum sollten sie auch? Die Worte der leitenden Firmenanwältin waren deutlich gewesen.
 

„Wirst du zuschauen?“, fragte er und sie lächelte erneut. Er konnte die Zufriedenheit darin nicht ganz deuten, doch Renee nickte.

„Auf jeden Fall werde ich zuschauen.“

„Wirst du kommen, falls es Probleme geben sollte? Wenn sie mich dabehalten sollten?“, fragte er beinahe schon mit kindlicher Sorge und sie nickte ernst.

„Jederzeit, Jean, das weißt du.“
 

Nervös strich er über Eva, die außerhalb des Sichtfeldes auf seinem Schoß saß.
 

„Du bist mein Schutzengel“, gestand er ein und sah Röte auf ihren Wangen. Warum auch immer, schließlich war es doch eine Tatsache.

„Und du bist ein wundervoller und starker Mensch, Jean.“
 

Er schnaufte und sah verlegen zur Seite. „Kein Grund zu übertreiben.“

Renee grollte spielerisch. „Nenn mich Lügnerin und ich komme mit Nicky vorbei und lasse euch beiden alleine.“
 

Das war Jean bei allem Stress und bei aller Nervosität vor dem Kommenden doch tatsächlich einen Mittelfinger wert.
 

~~**~~
 

Mit ruhiger, bedächtiger Hand befüllte Jeremy die Kaffeemaschine in ihrer Küche und ließ die Filterabdeckung zugleiten. Ebenso langsam und geräuscharm füllte er Wasser in den Tank und schaltete die Maschine an. Aufmerksam beobachtete er Jeans Zusammenzucken, als sie lautstark ihren Dienst aufnahm und bewegte sich gut sichtbar und ruhig in Richtung des anderen Jungen, seine Hände immer da, wo Jean sie sehen konnte.
 

Es war Freitag und morgen spielten sie gegen Evermore. Heute Mittag um 12 Uhr flogen sie los, siebeneinhalb Stunden Anreise mit Zwischenstopp in Charlotte. Anderthalb Stunden Aufenthaltszeit, bevor es weiterging nach Huntington, wo sie für eine Nacht ein Hotel gebucht hatten, bevor es am nächsten Tag weiterging nach Evermore.
 

Normalerweise wären sie wie letzte Saison auch in die bedrückenden Gästequartiere der Ravens gezogen, doch das hatte ihr Coach kategorisch abgelehnt. Er hatte Jean noch nicht einmal den Vorschlag gemacht, dort zu übernachten, sondern aus eigener Tasche die Zimmer reserviert und bezahlt. Für zwei Nächte, da die Flugverbindung zurück so fürchterlich war.

Jeremy war Coach Rhemann äußerst dankbar dafür, denn Jean ging es auch so schon schlecht genug.
 

Kein Wort brachte er über seine Lippen, dafür war er umso schreckhafter und ängstlicher, was Bewegungen und Geräusche anging, in den Augen namenloser Schrecken vergangener Jahre. Jeremy hatte sich darauf eingestimmt und auf seine Kapitänspersönlichkeit gewechselt, aus der heraus er ruhig und verbindlich gesprochen und gehandelt hatte um Jean etwas Ruhe und Sicherheit zu geben.

Es hatte zwar Panikattacken, aber keine Alpträume verhindern können. Jeremys Herz blutete immer noch, wenn er an die Schreie in der Nacht dachte, die panischen und verzweifelten Worte, die ihn und schlussendlich auch Jean aus dem Schlaf gerissen hatten.
 

Weder seine Decke noch seine Worte hatten Jean beruhigen können, umso erstaunter war Jeremy darüber gewesen, dass Jean es zugelassen hatte, dass er sich zu ihm auf die Couch setzte und sogar seine Hand gegriffen hatte, als Jeremy sie ihm angeboten hatte.
 

Jean hatte ihn nicht angeschaut, verloren in seinen eigenen Erinnerungen, dennoch hatte ihn Jeremys Präsenz beruhigt. So hatte er den ganzen Morgen damit verbracht, dem anderen Jungen mit ruhigen Gesten und Worten beiseite zu stehen.
 

Als die Kaffeemaschine fertig war, nahm Jeremy zwei Tassen aus dem Schrank und befüllte sie, brachte sie beide zur Wohnzimmercouch. Jean saß auf einem der abgewetzten Polster und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Nur langsam kehrte er in ihre Realität zurück und sein Kopf drehte sich noch viel unbeholfener in Richtung der Tasse. Verspätet schien er zu begreifen, was dort stand und wo er war.
 

Kurz huschten seine grauen Augen zu Jeremy und dieser lächelte.
 

„Für dich, Gewitterwolke“, sagte er ruhig und die Augen weiteten sich. Knapp nickte Jean und griff zur Tasse. Er nahm sie hoch und stellte sie auf seine Oberschenkel.

„Jeremy?“, presste er schließlich hervor und nun war Jeremy es, der zusammenzuckte.

„Ja?“
 

Die Worte, die Jeans Lippen verließen, waren in seiner Muttersprache und dieses Mal konnte Jeremy noch nicht einmal ein Wort davon ausmachen oder sich herleiten, dafür waren sie zu schnell und ineinander verwoben. Er wusste nur, dass es anscheinend eine Frage gewesen war, auf die Jean eine Antwort erwartete. Noch bevor er nachfragen konnte, stellte Jean die Tasse hin und sah auf, seine Augen voller Emotionen, die er anscheinend nicht aussprechen konnte.
 

„Was auch immer es ist, das ich für dich machen soll, Jean, so lautet die Antwort ja“, erwiderte er mit der Verbindlichkeit seines Kapitänsranges, ohne diesen gegenüber Jean geltend zu machen.

Der andere Junge musterte ihn stumm und begriff schließlich, dass Jeremy ihn nicht verstanden hatte. Er schnaufte und erhob sich.

„Umarme mich“, sagte er schließlich in einer seltsamen Mischung aus Frage und Befehl. Wer war Jeremy, dass er dem nicht Folge leistete, egal, was es gewesen war.
 

Langsam trat er einen Schritt auf Jean zu, dann noch einen. Noch viel bedächtiger hob er die Arme und legte sie schließlich um Jean. Leicht zunächst, beinahe unmerklich, damit dieser sich an die körperliche Nähe gewöhnen konnte. Erst, als der angespannte Körper und die stahlharten Muskeln etwas von ihrem Schrecken verloren, intensivierte er die Umarmung und zog Jean eng an sich heran, spürte ihn sowohl körperlich als auch emotional.
 

Es dauerte, doch irgendwann erwiderte Jean die Umarmung und schlang die Arme ebenfalls um Jeremy. Jean legte den Kopf auf seine Schulter und atmete bewusst ein und aus.
 

Jeremy wollte ihm sagen, dass alles gut werden würde. Dass sie in zwei Tagen wieder hier sein und ihren Sieg feiern würden. Er wollte ihm sagen, dass niemand es zulassen würde, dass die Ravens noch ein einziges Mal so Hand an ihn legen würden wie sie es in den vergangenen Jahren getan hatten.
 

Nichts davon sagte er, weil er es auf die eine oder andere Weise bereits gesagt hatte. Jetzt ließ er seinen Körper und ihre Verbundenheit für sich sprechen und hoffte, dass es ausreichte, um Jean die Ruhe zu vermitteln, die dieser wirklich brauchte.
 

~~**~~
 

Jean saß auf seinem Hotelbett und starrte blind auf den anscheinend unzerstörbaren Teppichboden in leuchtendem Türkis, der augenscheinlich keinen einzigen Kratzer aufwies. Er wusste, dass sie nur wegen ihm hier und nicht in Evermore waren. Er wusste, dass der Coach das aus eigener Tasche bezahlt hatte, da der Verband sicherlich nicht für solcherlei Extrawünsche aufkam. Es machte ihm ein schlechtes Gewissen, unter anderem auch deswegen, weil er so dankbar dafür war, dass sie eben nicht in Evermore schliefen und Rikos Geist ihm in den Nacken atmete.
 

Nicht mehr als jetzt schon.
 

Selbst diese Entfernung reichte bereits, dass er den Zug seines Gefängnisses mit jeder Faser seines Körpers spürte, der sich mehr und mehr verweigerte. Jean war konstant übel und das war das Kleinste seiner Probleme. Sein Kopf dröhnte und er brachte kaum ein Wort über die Lippen. Er war so schweigsam, dass Jeremy noch nicht einmal nach ihrem Safeword fragen musste um zu wissen, was in Jean tobte. Neuerdings waren Sehstörungen hinzugekommen, die gut und gerne auch körperlichen Ursprungs sein konnten, wären sie nicht just in dem Moment aufgetaucht, als sie hier in Huntington gelandet waren.
 

Da hatte es auch nichts geholfen, dass Jeremy die ganze Zeit des Fluges über seine Hand gehalten hatte und Jean sie erst nach der Landung mit einem schlechten Gewissen losgelassen hatte, weil er Jeremys Finger so sehr zerdrückt hatte, dass sie rot und eingedellt waren.

Sein Kapitän hatte abgewunken und nur Fahima, die mit ihnen in einer Reihe gesessen hatte, war Zeugin dieser Geste gewesen.
 

Das Zimmer teilte Jean sich erneut mit Jeremy, nur dass sie dieses Mal zwei große Betten anstelle von einem hatten und Jean wusste nicht, ob er wirklich erleichtert darüber sein sollte. Knox‘ Nähe vermittelte ihm Ruhe, er sehnte sich schier danach, auch wenn er keines der Gefühle in seinem Inneren vokalisieren konnte.
 

Es klopfte und Jean sah erst irritiert auf die Zimmertür, dann auf das angeschlossene Bad, in dem Jeremy sich gerade fertig machte und nun den Kopf aus der Tür steckte.

„Magst du dir Tür öffnen? Das ist vermutlich Al, sie wollte nochmal vorbeikommen“, sagte er und Jean wusste, dass er nur den Kopf zu schütteln brauchte, wenn er sich außerstande sah, das zu tun. Doch er wollte. Er wollte stärker sein, als er es jetzt war und so musste er sich auch zusammenreißen.
 

Schweigend nickte er und Jeremy verschwand nach einem zuversichtlichen Lächeln wieder im Bad. Jean erhob sich schwerfällig und ging zur Tür. Er öffnete sie und sah auf den Menschen hinunter, der vor ihm stand, ohne wirklich Notiz davon zu nehmen, wer es war.
 

So brauchte es auch seine Zeit, bis er begriff, dass es nicht Alvarez war, wie Jeremy es vermutetet hatte. Jean blinzelte, die Tür fest in seiner Hand und krächzte fragend, als seine Augen, sein Hirn und seine Erinnerungen endlich zusammenkamen und ihm einen Namen gaben.
 

Andrew.
 

Blond, klein, scheinbar gelangweilt, komplett in schwarz gekleidet, als gäbe es keine anderen Farben auf der Welt.
 

Vielleicht war er eingeschlafen, mutmaßte Jean, und er träumte jetzt abstruse Dinge, wie zum Beispiel das Auftauchen des Torhüters.

„Bist du fertig mit Starren?“, fragte der blonde Junge ungnädig und Jean sah zurück in den Raum, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Jeremy war aus dem Bad gekommen und erstarrte ebenso wie Jean auch, hochgradige Verwirrung auf seinem Gesicht.
 

„Minyard?“, fragte er und Jeans hilfreiche Erinnerungen teilten ihm mit, dass Jeremy den Jungen nur beim Nachnamen nannte, weil er Angst hatte, ihn mit seinem Zwilling zu verwechseln. Nicht, dass Jean das nachvollziehen konnte, war der Andere – Aaron hieß er – doch weniger stoisch, denn eher abweisend-unfreundlich.

Aber es war gut zu wissen, dass sein Kapitän ebenso ratlos war, wie er selbst auch, wenngleich auch schneller in seiner Auffassungsgabe, als er sich verlegen räusperte.
 

„Ähm…möchtest du reinkommen?“, fragte er und Andrew rollte mit den Augen.

„Wenn dein Backliner nicht weiter für morgen probt und niemanden durchlässt, dann ja.“

Jean sah Amüsement aber auch Verständnis auf dem Gesicht seines Kapitäns und trat automatisch einen Schritt zur Seite. Andrew nutzte den freien Eingang und trat in ihr Zimmer, doch damit war es noch nicht gut.
 

Sein hauseigenes, suizidales Großmaul folgte ihm, der Jean angrinste, als wäre sein Anblick ein Anlass der Freude; so nah an Evermore sicherlich kein valider Grund dafür. Natürlich, das hätte sich Jean denken können, denn wo Andrew war, war auch Neil, auch wenn dessen Vorname immer noch fürchterlich verboten auf Jeans Zunge klang.
 

Dass der Dritte im Bunde ebenfalls nicht fehlte, überraschte Jean dann doch und er starrte Day mit großen Augen an, als er nun schüchtern das Zimmer betrat.

„Hallo Jean“, grüßte er leise und Jean fand nicht die Kraft, ihm wie üblich ablehnend gegenüber zu treten. Dafür starrte er ihn lieber in Grund und Boden.

„Hallo Großer“, holte ihn dabei ruckartig eine ihm wohlbekannte, weibliche Stimme aus seinen Gedanken. Jean fuhr herum und sah sich Renee gegenüber, deren Anblick nicht schöner und nicht schrecklicher zugleich sein konnte, war er doch Versicherung und Erinnerung in Einem.
 

Dass nach ihr Alvarez das Zimmer betrat und den durchaus großen Raum mit den Anderen zu etwas Kleinem und Beengten machte, war Jean schon fast wie eine Labsal, hieß es doch, dass es mit den Überraschungen erst einmal vorbei war.
 

Oder?
 

Fragend und scheu sah Jean in die Runde und blieb an Jeremy hängen, dessen Verwirrung soviel leichter zu äußern war.
 

Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und strahlte in die Runde. „Ähm...hi zusammen. Ihr…seid hier“, sagte er auch nicht wirklich eloquent, aber immer noch eloquenter, als es Jean in diesem Moment jemals sein konnte.

„Al hat uns gefragt, ob wir kommen wollen. Also eigentlich hat sie Kevin gefragt und er hat uns dazu geholt“, antwortete Neil und Jean hing an seinen Lippen wie ein Ertrinkender nach Informationen. Wie ferngesteuert sah er zu Alvarez, die ihm anscheinend stolz auf sich zuwinkte.

„Als Support für unser Backlinersorgenkind“, bekräftigte sie.
 

„Aber ihr müsst trainieren. Ihr habt doch ein Spiel nächstes Wochenende“, war das Erste, was seit Stunden Jeans Lippen verließ, krächzend und rau, sich an dem festhaltend, was sein Verstand am Besten greifen konnte gerade. Die Frage, ob Alvarez den Verstand verloren hatte, schloss sich als Nächstes an, doch die wollte nicht so recht über seine Lippen kommen.
 

Dass das bei allen außer bei Day für Belustigung sorgte, überraschte ihn nur im ersten Moment. Im Zweiten ahnte er, dass diese unvernünftigen Idioten ihr wertvolles Training tatsächlich für ihr Hiersein geopfert hatten. Für ihn.

„Ich…“, begann Jean, wusste aber nicht so recht, wie er weitermachen sollte und wen er anstarren sollte. Sicherheitshalber ruhte sein Blick auf Renee, die ihn mit solch einer Zuneigung in ihren Augen anlächelte, dass es die Blockade in Jean einreißen ließ, die ihn daran hinderte, normal zu denken und zu handeln.
 

„Wir sind heute Abend und morgen zum Spiel da“, erläuterte Neil und in seiner Stimme schwang etwas mit, dass Jean mühelos als Herausforderung, aber auch als Stolz erkannte. Er wusste warum. Weder Josten noch Day würden freiwillig nach Evermore zurückkehren, wenn sie es nicht mussten. Und nun taten sie es, um ihn zu unterstützen. Renee tat es, um ihn zu unterstützen. Andrew ebenfalls.
 

Jean wurde bei dem schlichten Gedanken daran schummrig.
 

„Ich glaube, ich muss mich setzen“, murmelte er und ließ sich auf einen der braunen Polstersessel fallen.
 

~~**~~
 

„Du starrst.“

Jean brachte tatsächlich so etwas wie ein Schnauben zustande und überraschte damit nicht nur sich selbst. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Jeremy ihn erstaunt musterte.

„Mit Recht“, schnarrte er Andrew entgegen, der ihm gegenübersaß. Er konnte immer noch nicht wirklich begreifen, dass die unvernünftigen Foxes hier waren und morgen als Zuschauer am Spiel teilnehmen würden – wegen ihm. Weil Alvarez sich an Day gewandt und ihm nach ihrer eigenen Aussage die Hölle heiß gemacht hatte, dass er und Andrew, Neil und Renee bloß kommen sollten. Weil ihr adoptierter Backliner ihnen Sorgen bereitete und er die größtmögliche Unterstützung erhalten sollte, die möglich war.
 

Jean grollte innerlich bei dem Gedanken daran. Er war kein Kind, das behütet werden musste. Die Seite in ihm, die froh darum war, dass die Foxes hier waren, ignorierte er dabei. Zumindest versuchte er es – mit leidlichem Erfolg.
 

Er spießte mit seiner Gabel das letzte Salatblatt auf und schob es sich in den Mund, kaute nachdenklich darauf herum, den Blick nicht von Andrew lassend. Zu Beginn des Abends hatte er den ihm mitgebrachten Salat und die Wasserflasche nicht angerührt und stumm dem Lärm seines Teams und der Foxes gelauscht. Andrew hatte sich das keine Viertelstunde mitangesehen, bevor er mit bedeutungsschwangerem Blick beides geöffnet und Jean mit nachdrücklicher Geste hingeschoben hatte. Es wäre nicht nötig gewesen, das wusste Jean, aber das Gefühl der trügerischen Sicherheit war Balsam für seine blank liegenden Nerven.
 

„Man sollte meinen, Josten und du wäret Zwillinge in eurem geistlosen Starren.“ Der jetzige Andrew machte sich über seinen Brownie mit Vanilleeis und Sahne her, der vor ungesunden Inhaltsstoffen nur so strotzte. Jean beobachtete das mit missfallendem Stirnrunzeln und hörte erst damit auf, als Andrew ihn darauf hinwies, wie sehr sein Blick doch dem von Day glich.
 

Jean hob die Augenbraue. „Jostens Starren hat sicherlich einen anderen Grund.“

„Welchen?“

„Dein einnehmendes und charmantes Wesen.“
 

Sie saßen auf der Terrasse ihres Hotels auf runden Korbsesseln und unter Lichterketten mit großen Glühbirnen. Jean hatte sich mit dem Rücken zur Mauer unter einem der beiden Bäume niedergelassen, die dem gepflasterten Innenhof etwas Leben verleihen sollten und setzte zum mittlerweile dritten Mal vorsichtig eine Spinne oder einen Käfer ab, die ihn als Klettermöglichkeit benutzten. Val und Logan hatten für alle Essen geholt und wie selbstverständlich auch die Foxes dazu eingeladen, sich mit ihnen, am Vorabend ihres Spiels, hierhin zu setzen.
 

Jean atmete aus und dieses Mal ging es ihm leichter von der Hand als vorher. Die Überraschung des Auftauchens hatte ihn aus seiner Gedankenspirale gelöst und seinem Geist anderes Futter gegeben, mit dem er sich beschäftigen konnte. Das an sich war nicht weniger problematisch, insbesondere, was Josten und Day anging. Allerdings war Renees Präsenz etwas, das Jean mehr als alles Andere beruhigte, vermittelte sie ihm doch das Gefühl der Sicherheit.
 

Sie aßen gemeinsam und Jean ließ sich von den um ihn herum tosenden Gesprächen einfangen und einlullen. Hin und wieder sah er zu Jeremy, der glücklich lächelte und dessen Hand unter dem Tisch Jeans fand und sie versichernd drückte. Jean erwiderte die Geste und verschränkte seine steifen Finger mit Jeremys schmalen, warmen. Als er hochsah, musterte Renee sie beide mit ruhigem, wissenden Blick.
 

„Trottel“, murmelte Andrew dagegen in seinen Milchshake hinein und Jean grollte.

„Habe mir ein Beispiel an dir genommen“, gab er zurück und hob bedeutungsvoll die Augenbrauen in Richtung Josten, der mit Alvarez über morgige Spielzüge fachsimpelte.
 

~~**~~
 

Jean ließ sich beim Verlassen des Innenhofs zurückfallen und bedeutete Val, dass sie schon vorgehen sollte. Hinter ihm war nur noch Josten und über den Abend hinweg hatte Jean allen Mut zusammengekratzt, den er aufbringen konnte, um mit dem Striker zu sprechen und die Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge lagen.
 

Tief einatmend drehte er sich um und schluckte.
 

„Josten.“

Fragend hielt der andere Junge inne und nickte Andrew zu, der mit einem neutralen Blick auf Jean hinter Val das Hotel betrat.

„Jean.“
 

Sie standen sich gegenüber und plötzlich war Jeans Kehle wie ausgedörrt, seine Worte wie ausgestorben. Er schluckte den allzu großen Kloß hinunter und atmete tief durch.

„Warum bist du hier?“, fragte er schließlich in seiner Muttersprache und Josten legte den Kopf schief. Er verstand und ein kurzes, unerfreutes Lächeln huschte über seine Lippen, als er sah, wie Jeans Blick sich auf dem Brandmal in seinem Gesicht verfing.

„Ist das deine eigentliche Frage?“, stellte Josten die Gegenfrage ebenfalls auf Französisch und Jean verneinte, bevor er sich davon abhalten konnte.

„Ja…nein…schon“, wich er aus und der andere Junge schnaubte. Er trat einen Schritt näher heran und deutete auf den nun nur noch äußerst schwach sichtbaren Schatten auf der Wange.

„Du hast dir die Drei entfernen lassen.“

„Ja. Ich wollte sie nicht mehr. Kann man etwas gegen das Brandmal tun?“

Josten zuckte mit den Schultern. „Vielleicht.“

„Willst du es nicht?“

„Nicht wirklich.“
 

Jean hielt inne und schwieg. Er sah zur Seite, weil er den Anblick nicht ertrug. Er sah zur Seite, weil seine Schuld hier umso schwerer wog.

„Warum bist du hier, obwohl ich dir soviel angetan habe?“, fragte er schließlich und Jostens sehniger, muskulöser Körper entspannte sich sichtbar.

„Hattest du eine Wahl?“, fragte er schließlich und Jean schnaufte.

„Das hat dein blondes Gift auch schon gefragt, aber darum geht es nicht. Ich habe es getan, egal, ob er es mir befohlen hat. Ich habe dich niedergehalten, während er dich aufgeschnitten hat. Ich habe ihm das Messer gereicht, mit dem er dich aufgeschlitzt hat. Ich habe es ebenfalls getan, wenn er es von mir verlangt hat. Ich habe dir den Mund zugehalten, wenn ihm deine Schreie zu laut wurden.“
 

Josten musterte ihn und in den stechend blauen Augen lag eine Dunkelheit und Mordlust, die Jeans Nackenhaare stehen ließen. So hilflos Josten auch manchmal schien, was Zwischenmenschlichkeiten anbetraf, so erfahren war er in allem, was Leid und Gewalt anging. So ruchlos und gnadenlos war er.
 

„Und du hast mich aus der Hölle gezogen, hast mir jedes Mal, wenn Riko mit mir fertig war, gesagt, dass ich nicht unterschreiben soll. Du hast mir den Zeitraum immer wieder vor Augen gehalten und mir gesagt, wieviele Stunden schon verstrichen waren. Obwohl er dich jahrelang gefoltert hat, hast du ihm Widerstand geleistet und dafür gesorgt, dass ich noch die Kraft habe, Evermore zu verlassen. Du hast nicht die günstige Gelegenheit genutzt, mich als seinen neuen Prügelknaben vorzuschieben.“

Jean grollte. „Das wäre zu einfach und zu kurzlebig gewesen.“

„Du unterschätzt mich.“ Josten lachte dunkel.

„Deine unbedachten Worte unterschätze ich in keinem Fall.“
 

Der Striker zuckte mit den Schultern und schob die Hände in die Taschen, gab Jean damit Zeit, über die Vergebung nachzudenken, die in Jostens Worten mitgeschwungen war. Eine unmögliche Vergebung, wenn man Jean fragte.

„Du hast eine Panikattacke bekommen, als du zum ersten Mal wieder gegen die Ravens gespielt hast, nachdem Riko mit dir fertig war. Wieso kehrst du nun freiwillig dorthin zurück?“

„Wegen dir, Jean.“
 

Das war die Antwort, die er heute Abend mehrfach erhalten hatte, die er aber zumindest bezogen auf Josten nicht verstand. „Womit habe ich dein Vertrauen und deine Wohltätigkeit verdient, Neil?“, fragte Jean frustriert nach und betonte zynisch den Vornamen des anderen Jungen, versuchte, dabei nicht allzu sehr auf die Gänsehaut zu achten, die sich seine Arme hochzog.
 

Er hatte das Gefühl, kein Anrecht auf den Namen zu haben. Nathaniel war da einfacher gewesen, weil es verächtlicher gewesen war. Neil war…der Junge, der schreiend und weinend unter seinen Händen gelegen hatte, während Riko ihn aufgeschnitten hatte. Neil war der verzweifelte Junge gewesen, der sich in einer Nacht an ihn gepresst und nicht mehr losgelassen hatte, egal, was Jean gesagt hatte. Neil war der Junge, der nun erleuchtet von warmen Glühbirnenlicht vor ihm stand und zu ihm hochsah.
 

„Du bist du, Jean. Ein Freund. Ich mag dich“, sagte Neil so ehrlich, dass Jean es wie ein Messer in den Bauch traf. Gepeinigt schloss er die Augen, nur um sie eine Sekunde später wieder aufzureißen.

„Du bist ein Dummkopf.“ Das war er wirklich. Wie konnte er ihn mögen, wenn er ihm doch wehgetan hatte?

Neil schnalzte und winkte ihn mit seinem Zeigefinger heran. Misstrauisch starrte Jean auf die Geste und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Was wird das?“, fragte er ungnädig und Neil grinste sein bisher abgrundtief bösestes Lächeln.

„Vertrau mir.“

Jean verzog das Gesicht und rollte mit den Augen. „Toller Grabsteinspruch.“

„Würde ich dich abstechen?“

„Wenn ich Hand an deine Foxes legen würde, dann ja.“

„Klar. Aber das tust du nicht. Dafür magst du sie zu sehr.“

„Das redest du dir ein.“
 

Neil hob vielsagend die Augenbraue und wiederholte seine Geste. Jean schnaufte und trat einen Schritt näher, dann noch einen, bevor er sich hinunterbeugte. Die Hände, die in die Nähe seine Gesichtes kamen, waren langsam und verfolgbar und so machten sie Jean wenig Angst. Sacht legte der andere Junge seine Hände halb um seinen Hinterkopf und zog ihrer beider Köpfe aneinander, Stirn an Stirn.
 

Jean musste die Augen schließen um nicht zu schielen und spürte der Härte von Jostens Stirn nach. „Wird das ein merkwürdiges Paarungsritual?“, grimmte er, verharrte jedoch in dem Griff.

„Nein. Es soll dir zeigen, wie hart dein Schädel ist, mit dem du morgen Raven-Arschloch-Köpfe einschlagen wirst.“ Neils Atem huschte über sein Gesicht und er roch dessen Fruchtsalat, den er sich bestellt hatte.

Jean schnaufte. „Wortwörtlich? Das könnte Probleme geben.“

„Wegen mir. Ein paar tote Sadisten weniger.“

„Pass auf, dass man deinen Stammbaum nicht zu sehr merkt, Stuart-Wesninski.“

„…sagt der Syndikatssohn mit der Mördermutter.“
 

Für ein paar Sekunden schwiegen sie und trotz des ungewohnten Körperkontaktes entspannte Jean sich.
 

„Du packst das morgen. Sie können dir nichts. Du bist ihnen über und machst sie fertig.“ So zuversichtlich, wie Neil die Worte aussprach, fühlte Jean sich nicht, ganz und gar nicht. Aber der Funke des Glaubens war da und er nährte sich von dem gar nicht mal so subtilen Versprechen des Strikers.
 

~~**~~
 

Gemeinsam gingen sie nach oben, weil keiner von ihnen die Treppe laufen wollte und Jean blieb wie angewurzelt stehen, als er Day am Kopf der Treppe sah, der augenscheinlich auf sie gewartet hatte.

Neil hob seine Augenbrauen und nickte in Richtung des anderen Jungen.

„Ich lass euch dann mal alleine. Gute Nacht und bis morgen!“ Stumm sah Jean ihm hinterher, als er ohne eine Antwort abzuwarten die Treppe hoch- und an seinem Teammitglied vorbeisprintete, sie beide damit alleine ließ.
 

Was Jean am Liebsten verhindert hätte.

Langsamer als vorher erklomm er die letzten Stufen und blieb unweit von Day stehen, der ihn intensiv musterte. Schließlich nickte er knapp in Richtung eines der Tagungsräume des Hotels und Jean war wirklich versucht, ihm nicht dorthin zu folgen und einfach weiterzugehen.

Doch was es auch war, das ihn mitzog, er war nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren oder einfach darüber hinwegzusehen.
 

Misstrauisch folgte er Day in den leeren Raum und schloss die Tür hinter sich, blieb in der Nähe stehen. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf die über dem Ohio River untergehende Sonne, die sie beide in ein warmes, rotes Licht tauchte. Day lehnte sich an einen der Tische und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Eine Geste, von der sich Jean nach näherem Nachdenken mit Gewalt abhalten musste. Grob schob er seine Hände in die Taschen seiner Jogginghose mit großem Trojanslogo.
 

„Was willst du?“, fragte er, als der andere Junge keine Anstalten machte, irgendeinen Ton zu sagen und Day straffte die Schultern.

„Ich möchte mit dir über morgen sprechen.“

Jean runzelte die Stirn. „Was gibt es da zu reden?“

„Darüber, wie es für dich sein wird, zurück zu kehren.“

Ein verächtlicher Laut verließ seine Lippen. „Sag du es mir, wie war für dich das erste Mal Evermore, nachdem Riko dir die Hand zertrümmert und beschlossen hat, mit den Ravens den Distrikt zu wechseln um euch die Hölle auf Erden zu bereiten?“
 

Gepeinigt schloss Day die Augen und löste seine Arme aus ihrer eisernen Verschränkung. Als er Jean erneut fixierte, stand in seinen grünen Augen eine Vielzahl von Emotionen, die Jean nicht alle entziffern konnte.

„Ich habe mich schrecklich gefühlt, hatte Angst und Panik vor dem kommenden Spiel. Ich habe gedacht, dass ich sterben würde“, erwiderte er ehrlich und Jean konnte es nur zu gut nachvollziehen. So fühlte er sich auch. Hatte sich so gefühlt in den letzten Tagen.

„Als wir angekommen sind, habe ich gedacht, dass mich die Mauern verschlucken und nicht wieder herauslassen werden und das Einzige, was mir geholfen hat, war das Spiel gewesen. Die Konzentration darauf.“
 

Natürlich. Wie konnte es auch anders sein? Doch war Jean denn so viel anders? Er hoffte auch, sein Seelenheil in dem Spiel zu finden, das alles, auch ihre Umgebung, ausblenden würde.

Unwohl löste er sich von der Tür und fand einen vermeintlich interessanten Punkt auf dem Fluss. Langsam ging er zur Fensterfront und beobachtete die beleuchteten Ausflugsschiffe dabei, wie sie behäbig ihre Kreise zogen.
 

Er erinnerte sich noch gut daran, wie es war, auf Day zu treffen. Auf seine neue Mannschaft und seine neue Freiheit. Jean hatte ihn gehasst, so sehr gehasst wie er Riko noch niemals in seinem Leben gehasst hatte. Zuerst in Palmetto, dann in Evermore selbst. Beide Spiele hatte er es gehasst, jede einzelne Sekunde. Riko hatte es ebenso sehr gehasst und es Jean spüren lassen.

Er ballte die Hände zu Fäusten und schob den Gedanken in die hinterletzte Ecke seiner Erinnerungen.
 

„Ich könnte kotzen beim Gedanken daran, morgen dorthin zurück zu kehren“, gab Jean zu und Day brummte zustimmend.

„Es wird die Hölle werden, bis du dich aufs Spiel konzentrierst.“

„Na danke für die Beruhigung, Motivation konntest du schon immer“, sagte Jean ironisch und hörte mehr als dass er sah, wie Day sich erhob und zu ihm kam. Langsam wandte er ihm seinen Kopf zu und starrte seinem vormals besten Freund in die Augen.

„Sie werden dich nicht dabehalten. Du bist frei von ihnen.“
 

Jean schnaubte verächtlich. „Glückskeksspruch vom glücklichen Kenner?“, fragte er spöttisch und ließ seine Augen vielsagend auf der vormals zertrümmerten Hand ruhen.
 

Seine Worte erzeugten zunächst etwas, das Jean Verzweiflung nennen würde, dann wurde aus dieser Wut. Reine, blanke Wut, die Jean unwillkürlich zurückschrecken ließ, hatte er sie doch noch nie auf dem Gesicht des anderen Jungen gesehen.
 

„Glaubst du, dass mich all das, was geschehen ist, unversehrt zurückgelassen hat? Ich bin geflohen, nachdem ich bei ihnen aufgewachsen bin. Nachdem der Herr mich gnädig aufgenommen hat. Was glaubst du, in welcher Angst ich jede Nacht gelebt habe? Dass er mich wieder holen kommt und mir auch die andere Hand bricht? Glaubst du etwa, dass du der einzige Traumatisierte bist? Ich habe konstante Gewalt erlebt, Jean. Nicht so wie du, aber auf eine eigene, zerstörerische Art und Weise. Wie du weißt. Sie haben mich auch psychisch und physisch misshandelt und es macht mich immer noch fertig. Und ja, ich kann dir sagen, was meine Ängste waren, als ich nach Evermore gefahren bin, weil es meine Ängste waren und weil sie berechtigt waren. Deine Ironie kannst du dir sparen. Bei allem, was zwischen uns vorgefallen ist und bei allem Unrecht, das ich dir angetan habe, ich lasse mir von niemandem, auch von dir nicht, einreden, dass das, was ich durchlebt habe, nicht schlimm war“, grollte Day und starrte ihn mit einem solch dunklen Zorn an, dass es Jean schauderte.
 

Noch nie war Day so wütend ihm gegenüber gewesen. Noch nie hatte er in dieser deutlichen Art über das gesprochen, was ihn belastete. Noch nie hatte er diesbezüglich derart berechtigte Kritik an Jeans Worten geäußert und Jean würde lügen, wenn er behauptete, dass er diesbezüglich kein schlechtes Gewissen hatte. Denn Day hatte nie ihn nie verspottet, niemals sich ihm gegenüber lustig gemacht und er selbst hatte nichts Besseres zu tun, als sich über das, was Day durchlitten hatte, lustig zu machen. Wie Riko.
 

Das schlechte Gewissen, das in Jean hochkroch, war jäh, unwillkommen und unerwünscht. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte er Day in die Augen und atmete tief durch. Einmal, zweimal, insgesamt siebenmal, bevor er über seinen eigenen Schatten springen konnte.
 

„Es ist nicht in meiner Absicht, das, was du durchlitten hast, klein zu reden oder es zu verspotten“, sagte er und die Worte kamen wie Scherben über seine Lippen, so schmerzhaft waren sie. „Ich erinnere mich an das, was Riko und der Herr dir angetan haben. Ich weiß, dass du…gelitten hast. Das hätte nicht passieren dürfen.“ Jean musste pausieren, sonst würde das, was in ihm schwelte, ihn von innen heraus auffressen.
 

Stumm musterten sie sich, sekunden- und minutenlang, eine ganze Vergangenheit zwischen ihnen.
 

Jean klammerte sich währenddessen an diese grünen Augen, die ihm in Evermore so viel bedeutet hatten und die ihn nun so wütend machten. Immer wieder, wenn er Day sah. Und doch hatte er sich gegen eine Veröffentlichung von Days Post entschieden. Oder folgte ihm in leere Räume. Unterhielt sich gegen besseren Wissens mit ihm.

Er klammerte sich an sie, weil sie trotz allem etwas Vertrautes waren und er für einen Augenblick den Hauch ihrer guten, gemeinsamen Vergangenheit, ihrer Verbundenheit, spürte.
 

Zu vertraut war er, als dass Jean sich jetzt nicht abwenden musste. Weit kam er nicht, denn Day hielt ihn mit einer Hand auf dem Arm zurück.
 

„Jean.“ Es lagen soviel Emotionen in seinem Namen, dass Jean sie kaum auseinanderdividieren konnte. Instinktiv reagierte er darauf und machte den Fehler, sich Day zuzudrehen.
 

„Du bist stark genug um mit ihnen fertig zu werden. Du stehst das morgen durch. Wenn ich das kann, dann kannst du es auch, denn du warst schon immer stärker als ich.“
 

Noch bevor Jean etwas darauf erwidern konnte, hatte Day sich von ihm gelöst und war einen Schritt zurückgetreten. Er drehte sich um und ging in Richtung Tür, weg von ihm, weg von einer Antwort, die Jean so schnell nicht geben konnte.
 

„Kevin“, presste er hervor, bevor er sich davon abhalten konnte und der andere Junge blieb abrupt stehen. Langsam drehte er sich um.

„Wir werden sie fertigmachen und mit euch in den Play-Offs den Boden wischen.“

Day lachte überrascht und schnaubte. „Kommt und versucht es. Wir werden vorbereitet sein.“
 

~~**~~
 

Als Jean Jeremys und sein Hotelzimmer betrat, saßen sein Kapitän und Renee auf einem der beiden Betten und unterhielten sich bei einer Flasche Bier. Überrascht und in Knox‘ Fall auch missbilligend – schließlich hatten sie morgen ein Spiel – musterte er die Beiden, die ihn unisono mit Wärme und Zuneigung anstrahlten und somit ein unaufhaltsames, teuflisches Duo bildeten, das Jean nicht nur auf eine Art und Weise gefährlich werden konnte.

Trotz der offen sichtbaren Ähnlichkeiten, erkannte er auch Unterschiede und Jean benötigte einen Moment, um seine Gefühle für die Beiden, die in ihm hochkamen, zu verarbeiten, weil sie diametral zu allem standen, was er in den letzten Tagen gefühlt hatte. Und weil der ganze Abend seine dunkle Gefühlswelt in Aufruhr gebracht hatte.
 

Renee streckte ihm auffordernd eine Hand entgegen. „Komm zu uns, Großer.“

Jean blinzelte. Zu ihnen Beiden? In ihr Gespräch? „Muss ich?“, fragte er in einem Anflug seines in den letzten Tagen verloren gegangenen, bissigen Humors und Jeremy hob spielerisch schockiert die Augenbrauen.

„Mein Herz!“, behauptete er leidend und fasste sich an die Brust, das Spiel mitspielend. Die vorsichtige Herumalberei tat gut nach den letzten Tagen und Jean musterte die Beiden kritisch, bevor er Renees Fingerzeig folgte und sich vorsichtig, wie man sich einem Raubtier nähern würde, zu ihnen begab.
 

Langsam ergriff er Renees Hand und ließ sich auf dem Bett nieder, zwischen demjenigen, dem er körperlich nah war und derjenigen, der er seine Seele verschrieben hatte.

„Störe ich nicht nur eure Sonnenschein- und Regenbogengespräche?“, fragte er mit einem Quantum an Unsicherheit in seinen Worten und begegnete einem doppelten Kopfschütteln.

„Wir haben über die Farm gesprochen“, erwiderte Jeremy und Renee nickte.

„Jeremy hat mir von den Tieren erzählt und seiner Familie und wie ihr Weihnachten gefeiert habt.“

Jean nickte zögernd. „Es war schön.“

Sacht strich Renee ihm über seine Hand. „Das glaube ich. Und euer Roadtrip wird sicherlich ganz großartig werden.“

Jeremy räusperte sich verlegen und Jean spürte, wie Belustigung seine Lippen nach oben ziehen wollte. Er gab dem Verlangen nach und seufzte um es zu überdecken.
 

„Ich werde Bilder und Andenken schicken.“

„Na das hoffe ich doch.“
 

Sie tauschte einen vielsagenden Blick mit Jeremy, dessen Hand über die Matratze kroch und sich wie als Einladung mit der Handfläche nach oben hinlegte. Jean nahm die Einladung an und war nun für einen kurzen Moment mit ihnen Beiden verbunden, bevor Renee ihre Hand von seiner löste und sich leicht auf die Schenkel klopfte.

„Ich lasse euch Beiden jetzt mal alleine und…“

„Nein!“
 

Jean überraschte sie alle damit. Sich selbst, Jeremy und Renee. Beinahe schon panisch hatte er Renees Hand gegriffen und hielt sie nun fest. Was genau er mit seinem Nein meinte, wurde ihm erst jetzt bewusst und Röte schoss in seine Wangen.

Sie war hier und der Abend war wunderschön gewesen. Und wenn er es ertrug, mit Jeremy in einem Bett zu schlafen, dann fand er auch Ruhe. Aber mit Renee fand er Sicherheit.
 

Es hatte sich tief in ihm hineingebrannt, dass sie sein Schutzengel war und dass ihm bei ihr nichts passieren würde. In Abbys Haus hatte er in ihren Armen schlafen können – richtig schlafen können, ohne Alpträume und ohne die darunterliegende Angst, dass jemand kommen und ihn holen würde.
 

„Ich…ääh…“, begann er und wusste, dass sein unwahrscheinlicher Wunsch, sein unmöglicher Instinkt, was er wollte, nicht auf Gegenliebe stoßen würde. Wie auch, schließlich hatte er selbst nie darüber nachgedacht und nur jetzt, wo Renee gehen wollte, war der Wunsch in ihm hochgekocht. Der irrsinnige Gedanke, dass das überhaupt möglich sein könnte.

„Was möchtest du, Jean?“, fragte Jeremy sanft und Renee brummte zustimmend, was Jean nur noch mehr Röte aufs Gesicht trieb. Stur starrte er auf die Bettdecke und erkannte mit Horror, dass diese beiden Sonnenkinder ihn solange nicht aus ihren liebevollen, aber unerbittlichen Fängen lassen würden, bis er etwas gesagt hatte, was Sinn ergab.
 

Oder eben auch keinen.
 

Ein Laut, nicht ganz Jaulen, nicht ganz Grollen, verließ seine Kehle und Jean schnaufte.
 

„Ichmöchtemiteuchschlafen“, presste er hervor, zu schnell, als dass es wirklich verständlich war, hoffte er. Vergebens, wenn er sich die überraschten Bewegungen und Laute anhörte. Gleichwohl wurde ihm die Doppeldeutigkeit seines Satzes bewusst, was es nur noch schlimmer machte und Jeans Puls rasen ließ.

„Also nicht…sexuell, sondern zusammen. Einfach so. Ohne. Ich…“ Verzweifelt verstummte er und erhob sich ruckartig. Wieso hatte er solch peinliche Gedankengänge? Das war fürchterlich. Jean machte Anstalten, sich von dem Bett zu entfernen, wurde jedoch von einer eisern sanften Hand festgehalten.
 

„Bitte lass mich los, Renee“, flehte er.

„Nur wenn du mich ansiehst und bleibst“, erwiderte sie mit ihrer unerschütterlichen, unnachgiebigen Freundlichkeit, die Jean zögernd gehorchen ließ. Langsam drehte er sich wieder um, musterte sie. Er sah keine Verwirrung auf ihrem Gesicht, keine Ablehnung, nur Zustimmung. Langsam ließ sie ihn los.

„Nicht weglaufen, Großer. Komm, blieb hier und lass uns darüber reden.“
 

Was gab es denn da zu reden? Es war ein dummer Wunsch, unnütz und unwahrscheinlich.
 

„Es ist eine schöne Idee“, fiel auch Jeremy ein und überrascht wandte Jean sich ihm zu. Wieso hatte sein Kapitän nichts dagegen? Schließlich waren sie doch…eine Gemeinschaft. Wieso teilte er ihn? Wieso war das kein Problem?
 

„Weil du nicht mein Eigentum bist“, erwiderte Jeremy und mit innerem Horror erkannte Jean, dass er seine verzweifelten Fragen laut ausgesprochen hatte.

„Tut es dir gut, mit uns in einem Bett zu liegen?“

Es dauerte etwas, dann nickte Jean elendig auf die viel zu sanfte Frage seines Kapitäns, der nun mit den Schultern zuckte.

„Ich bin es gewohnt, in einem Knubbel an Leuten zu schlafen. Renee?“

„Ebenso.“
 

Beide sahen ihn erwartungsvoll an und Jean schrumpfte ob der doppelten Zuneigung in sich zusammen.
 

„Es ist okay“, murmelte Renee. „Wenn du es willst, dann ist es okay. Du musst dich dafür nicht schämen.“
 

Jean starrte auf seine Hände und haderte mit sich, kämpfte mit sich und dem drängenden Wunsch nach Sicherheit, unsicher, ob er ihm nachgeben sollte.
 

~~**~~
 

„Okay so?“

„Hm.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Liegst du bequem?“

„Das sollte ich dich fragen, Knox.“

„Nicht ablenken, Mr. Gewitterwolke.“
 

Jean seufzte und presste seine Vorderseite noch enger an Jeremys Rückseite. Mit einem Arm hatte er dessen Körpermitte umfasst, mit dem anderen Arm hielt er Renees Hand, die sie ihm über Jeremys Kopf entgegengestreckt hatte.
 

Sie hatten die Betten zusammengeschoben und Renee hatte ihre Sachen aus dem Viererzimmer der Foxes geholt. Sowohl Jeremy als auch Renee hatten Jean die Position aussuchen lassen, in der er sich am Wohlsten fühlte und so lagen sie nun hier, Jeremy in der Mitte, mit dem Rücken zu Jean, Renee mit dem Gesicht zu Jeremy und Jean, verbunden mit ihm.

Es war das, mit dem Jean sich am Wohlsten fühlte, denn der Gedanke, in der Mitte der Beiden zu liegen, war zwar schön, aber noch unerreichbar.
 

„Passt es, Großer?“

Jean nickte. „Für dich?“

„Immer.“
 

Er schnaufte und Renee langte nach dem Lichtschalter über ihnen, tauchte den Raum in partielle, nur durch das von draußen einfallende Licht unterbrochene Dunkelheit.
 

„Gute Nacht“, sagte Jeremy und dieses Mal war es tatsächlich genau das für Jean. Eine gute Nacht voller Sicherheit.
 

~~~~~~~~~
 

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielleicht habe ich mich ein wenig von meinem Tumblr-Beitrag inspirieren lassen...vielleicht. :))) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Niua-chan
2021-07-25T20:42:14+00:00 25.07.2021 22:42
Ich weiß leider immer noch nicht was genau ich schreiben soll. Das Kapitel ist mit seiner Intensität wirklich gut und macht es für mich sehr schwer zu kommentieren. Die einzelnen Scene sind mit ihren unterschiedlichen Eindrücken und dennoch gemeinsamen Ziel toll zu lesen und super gut konzipiert.
Sorokin kam überraschend, Fahimas Selbstverständlichkeit war wichtig und Alvarez initiative ist super.
Das Jean seine Magst eingestehen kann und wie sein Team damit umgeht ist schön und vor allem der Satz der 27 zusätzlichen Mütter und Väter hat mich dann doch zum schmunzeln gebracht. Auch was Jean davon hält..
Das die Trojans nach Evermore kommen ist wunderbar und die Gespräche mit all den Emotionen sind wirklich eine Wucht. Da sind so viele wichtige Dinge ausgesprochen worden was mich noch immer sprachlos zurück lässt. Das Ende des Kapitels ist genial und ich freue nich das Jean dadurch eine Nacht Ruhe hat. Jetzt kann er das Spiel hinter sich bringen... Mal sehen was da noch alles kommt. Es steht ja noch aus was Alvares mit den Fans geplant hat...
Antwort von:  Cocos
07.08.2021 19:27
Vielen lieben Dank für dein Lob. :3 Ich freue mich, dass ich dich sprachlos machen konnte. Also in der Annahme, dass es eine gute Sprachlosigkeit war (hoffentlich!).

Mir war es in diesem Kapitel sehr wichtig, Jean möglichst viel Support angedeihen zu lassen, weil das kommende (jetzt gerade veröffentlichte) Kapitel so schwer für ihn wird und er jede Hilfe braucht, die er bekommen kann.

Meine Lieblingsszene des Kapitels war tatsächlich die letzte Szene. Jean bekommt das, was er möchte, auch wenn er sich erst nicht traut, danach zu fragen. Aber die volle Wucht an Zuneigung und Schutz macht da schon was mit ihm!


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