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Force of Nature

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Der Teil ist ein wenig ruhiger als der vorherige, aber nicht weniger emotionsgeladen. Weiterhin viel Spaß beim Lesen und gute Gesundheit euch! Komplett anzeigen

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Badgeflüster

„Ich habe mich an der Toilettentür gestoßen.“
 

Ungläubig starrte auf die Spuren von getrocknetem Blut in Kevins Mundwinkel.

Die Haut über seinem Wangenknochen verfärbte sich bereits rot-bläulich aufgrund des kommenden Hämatoms und der Striker sah aus, als hätte er einen Geist gesehen, die Augen starr und leicht geweitet, gleichzeitig aber unfokussiert und unruhig, die Gesichtsfarbe ein wenig vornehmes Weiß.
 

„An der Toilettentür“ echote er leise und Kevin nickte abgehackt. Jeremys Augen richteten sich auf Jean, der wie eine Statue neben ihm saß und seit seinem Besuch auf der Toilette kein einziges Wort mehr gesagt hatte, beide Hände sorgsam unter dem Tisch verborgen. Jeremy war zwar gutgläubig, aber nicht dumm.

Er konnte eins und eins zusammenzählen und würde nicht auf drei kommen.
 

Jeremy runzelte die Stirn. „Könnten wir für den Rest des Abends Toilettentüren umgehen?“, fragte er in die Runde ohne jemanden anzusehen und sah aus dem Augenwinkel heraus, wie Jean minimal nickte.
 

Dass das Verhalten der Ravens und das, was sie ihm angetan hatten, bevor Renee und Andrew eingegriffen hatten, nicht spurlos an ihm vorbeigegangen war, war Jeremy klar. Das Wissen darum machte seine eigene Hilflosigkeit nur noch viel schlimmer. Er hatte Angst, das Falsche zu tun, nachdem Jean so panisch vor ihm zurückgewichen war, als wäre er derjenige gewesen, der ihn verletzt hatte. Dass es nicht das Einzige war, was den Jungen an seiner Seite beschäftigte, sah Jeremy deutlich, doch er wollte nicht drängen und hoffte, dass Jean sich ihm schlussendlich freiwillig öffnete und ihm sagte, was genau den gewalttätigen Konflikt mit Kevin ausgelöst hatte.
 

Dass er das nicht hier und auch nicht heute tun würde, war Jeremy durchaus bewusst und so ließ er die Anspannung an seinen Nerven zerren und ziehen. Ob es eine gute Idee war, in diesem Zustand noch in eine Bar oder eine Disco zu gehen, insbesondere, wenn Jean ganz klar den Eindruck machte, dass er sich am Liebsten fern von anderen Menschen aufhalten würde, bezweifelte er stark.

Noch hatte er den Backliner aber nicht gefragt, was er davon hielt, in ihr Apartment zurück zu kehren und Jeremy hatte die starke Befürchtung, dass er keine ehrliche Antwort erhalten würde.
 

„Cap… nehmen wir die Foxes mit zum Feiern?“, holte Alvarez ihn aus seinen Gedanken und warf seine gedankliche Frage noch einmal ganz offen auf. Jeremy sah fragend zu Dan, die die Frage schulterzuckend zu ihrem Team weiterleitete. Es überraschte ihn nicht, dass es Nicky war, der dem als Erster begeistert zustimmte. Matt folgte, ebenso wie Neil, Allison und Renee. Nur die Zwillinge und Kevin enthielten sich. Ganz im Gegensatz zu den Trojans, die zum größten Teil dem Vorschlag begeistert zustimmten.

„Gut, dann ist es entschieden“, grinste sein Vizekapitän und Jeremy lächelte etwas gezwungen. Mit über dreißig Personen feiern zu gehen, machte die Sache momentan nicht besser. „Wohin soll’s denn gehen?“
 

Mit der Personenanzahl würden sie die klassischen Bars mit Leichtigkeit sprengen. Bliebe eine Disco zum Feiern. Wenn sich Jeremy Jeans Reaktion auf das kurze Gespräch ins Gedächtnis rief, so würde dieser vermutlich lieber in der Hölle schmoren als das Nachtleben von Los Angeles zu genießen.

„Wir könnten zu euch ins Stadion“, schlug Neil vor und Jeremy hob überrascht die Augenbrauen.

„Wir feiern nicht bei uns im Stadion“, erwiderte er und wurde mit einem energischen Kopfschütteln belohnt.

„Nicht zum Feiern. Wir könnten unsere Leute durchmischen und spielen.“
 

Jeremy starrte den rothaarigen Striker der Foxes ungläubig an. Jetzt? Mitten in der Nacht wollte der Junge Exy spielen?

„Da wäre ich dabei, das wäre so cool!“, fiel Ajeet in diese vollkommene Schnapsidee mit ein und Alvarez neben ihm jubelte erfreut auf.

„Wenn, dann will ich aber mit unserem Wunderkind hier antreten“, deutete sie auf Neil und Jeremy hob ungläubig seine Hände.

„Was. Zur. Hölle…?“, versuchte er das Unvermeidliche noch abzuwenden, doch er scheiterte. Laila und Fahima fielen ihm genauso enthusiastisch in den Rücken, wie sie auch schon einem gemeinsamen Weggehen zugestimmt hatten, und wenn er sich am Tisch umsah, auch der verdammte Rest seines 28-köpfigen Teams. Der Einzige, der das nicht tat, war Jean, dessen Augen mörderisch auf Neil lagen.
 

„Junkie“, sagte Andrew in den Aufruhr hinein zu Josten und rollte mit den Augen. Jeremy pflichtete ihm aus vollem Herzen bei.
 

„Das ist echt keine gute Idee“, versuchte er es noch einmal mit Vernunft. „Außerdem habt ihr keine Schutzausrüstung und Schläger dabei.“

„Wir können für die, die mitspielen wollen, unsere doppelte Ausrüstung nehmen und jeder von uns hat mehr als einen Satz Trainingsklamotten“, hielt Alvarez dagegen und Jeremy überlegte sich, ob Mord seiner Exykarriere in der Nationalmannschaft schaden würde.
 

Er war zwar kein Strafrechtler, aber er glaubte schon.
 

„Coole Sache! Dabei!“
 

Kevins Mimik teilte ihm mit, dass auch er ein gemeinsames Training für keine gute Idee hielt, aber, wie Jeremy nun erkannte, aus einem völlig anderen Grund. Kurz ruhte seine Aufmerksamkeit auf Jean, um dann wieder zu Jeremy zurück zu kehren.

Trotzdem lag schlussendlich ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen. „Wir beide gegen Alvarez und Neil?“, fragte er noch unsicher, aber durchaus mit Interesse und Jeremy seufzte. Er sah schon, warum Neil und Kevin sich letzten Endes so gut verstanden.
 

Ernst wandte er sich an Jean. „Ist das auch okay für dich?“

„Selbstverständlich.“ Alleine die viel zu schnelle, zu neutrale Antwort und die zu Fäusten geballten Hände machten deutlich, dass es das eben nicht war und Jeremy hob vielsagend seine Augenbraue. Jean schien zu begreifen, dass seine allzu offensichtliche Lüge nicht unkommentiert bleiben würde und er schnaubte. Dennoch brauchte es seine Zeit, bis er die richtigen Worte fand.

„Ich finde das Stadion besser als eine Disco“, gab er schließlich zu.

„Auch nach heute Abend?“, hakte Jeremy vorsichtig nach.

„Gerade danach“, gab Jean nach einem Moment des Überlegens zu und dieses Mal war sich Jeremy sicher, dass er ihn nicht anlog.

„Wenn nicht, kann ich dich immer noch zum Apartment bringen.“

Jean hob die Augenbraue. „Um mir die Gelegenheit entgehen lassen, Jostens Selbstvertrauen in seine Strikerfähigkeiten zu zerstören?“
 

Es schnaubte von der anderen Seite des Tisches. „Als wenn, Moreau.“

Das, was Jeremy nicht gelungen war, Jean zu entspannen, war anscheinend für Josten kein Problem. Zumindest interpretierte Jeremy das minimale Lächeln auf den schmalen Lippen seines Backliners so.

„Wir sehen uns auf dem Spielfeld.“
 

Junkies“, mischte sich Minyard ein und betonte jede einzelne Silbe, als hätte er Zahnschmerzen.
 

~~**~~
 

So besorgt Jeremy darum war, dass nichts passierte… kaum, dass er sich zögernd umgezogen hatte, erfasste ihn eine Aufregung, die ihn unruhig von einem Bein auf das andere treten ließ. Die Foxes in ihrer Kleidung zu sehen, machte ihn stolz und ließ ihn von einem bis zum anderen Ohr grinsen.

Er war versucht, Fotos zu machen, doch sie hatten sich darauf geeinigt, diesen Abend unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit mit nichts festzuhalten, was ihnen allen Ärger einbringen könnte, nachdem sie ihre beiden Trainer mit dem Versprechen auf eine ruhige Nacht losgeworden waren.
 

Kevin hieß nun Anand, Josten Alvarez, Allison Dermott, Renee Moreau. Das würde auf dem Spielfeld das reinste Chaos werden und Jeremy liebte es jetzt schon. Übermütig winkte er zu den Zuschauerrängen, auf denen die Foxes und Trojans saßen und tranken, die nicht mitspielten. Andrew und Aaron saßen etwas weiter von ihnen, auf die Entfernung ein doppeltes Lottchen, ein Glitch in der Realität.
 

Es war Nicky, der zum Aufwärmen ein Ballspiel vorschlug, das sie alle quer durch über das Spielfeld jagte und die beiden Mannschaften an den Rand der lachenden Erschöpfung brachte. Mit einem kurzen Blick auf Kevin und auf Jean erkannte Jeremy, dass die Beiden fast identische Gesichtsausdrücke von schweigender Missbilligung für diesen Spaß zeigten.
 

Es mochte die fortgeschrittene Uhrzeit sein oder aber die freigesetzte Energie nach dem Bankett, aber irgendwann endeten sie alle in einem riesigen Haufen aus Beinen, Armen und Gelächter, deren Zentrum Dan, Renee und er waren.
 

Jeremy grinste keuchend und quietschte, als der Kapitän der Foxes ihm ihre Finger in die Seite trieb, damit er den Ball losließ und sie somit das Spiel für ihre Mannschaft entscheiden konnte. Er warf ihn hoch und versuchte, zu Jean zu passen, der abseits des ganzen Knäuels stand, allerdings war Fahima schneller und jagte triumphierend mit dem Football davon, wirbelte ihn durch die Luft und jubelte zum Leidwesen und kollektiven Aufstöhnen seines Teams.
 

„Nimm das, Captain Fehlpass!“, schrie sie und warf sich in Siegerpose.
 

„Ich werde mich auf dem Spielfeld rächen, du Hexe!“, gab Jeremy lachend zurück und befreite sich ächzend nach und nach aus dem Knäuel an Gliedmaßen und daran angeschlossenen Menschen.

Jean beobachtete ihn dabei, als hätte er den Verstand verloren, ganz im Gegensatz zu Kevin, der ihn mit einem warmen Lächeln maß, das Jeremy ohne Umschweife erwiderte.
 

„Also, wollen wir?“, fragte er und deutete auf ihre Schläger, die noch unangetastet an der Plexiglasscheibe des Stadions lehnten.
 

Sie teilten sich in gemischte Teams auf. Jeremys Team konnte sich über Allison, Ajeet, Matt, Nicky und Kevin freuen, während ihnen mit Dan, Renee, Alvarez, Jean, Fahima und Neil eine äußerst hart zu knackende Nuss gegenüberstand.

„Okay, Leute. Die haben keine Chance gegen uns, wir machen sie alle und gewinnen zehn zu null“, schwor er seine Mannschaft ein und konnte sich doch sein Lachen nicht verkneifen. Auf der anderen Seite erzählte Dan vor Pathos triefend etwas von einer schon bereits gewonnenen Meisterschaft und dass sie sich im Endspurt befanden, ebenfalls zum hochgradigen Amüsement ihres zusammengewürfelten Teams.
 

Dass sie sich nichts schenkten, davon war Jeremy ausgegangen und genau das ließ seinen Puls nun höher schlagen, während sie im Chaos um falsch lautende Trikots, gleichen Farben und ungewohnten Teammitgliedern versuchten, irgendwie Tore zu machen, die Anderen davon abzuhalten, es ihnen gleich zu tun und generell in einem Durcheinander an Professionalität und Humor gefangen war, die das eine oder andere Mal dafür sorgte, dass sie in einem Knäuel am Boden landeten und lachend liegen blieben, weil sie falsch gepasst hatten oder dem Gegner den Ball zugespielt hatten.
 

Darüber hinaus liebte Jeremy es, mit Kevin zusammen zu spielen. Sie harmonierten perfekt zusammen, hatten die gleiche Geschwindigkeit und verstanden sich beinahe ohne Worte. Er liebte es, Ajeets Tor durch Matt und Nicky geschützt zu wissen. Allisons Pässe waren wundervoll, auch wenn Jeremy immer wieder den Verdacht hatte, dass sie beiden Mannschaften zupasste.
 

Dass sein Team fantastisch war, war unbestritten, Jeremy hatte jedoch sehr viel Liebe dafür, dass im gegnerischen Team Jean und Neil sich sowohl Bälle als auch Beleidigungen hin und herspielten, Renee ihr Möglichstes gab, das Tor zu verteidigen und Alvarez, Dan und Fahima eine Phalanx der Vernunft bildeten, die abwechselnd Späße auf Kosten der Jungs und ernstgemeinte Spielzüge tätigten. Alvarez ließ es sich nicht nehmen, bei jeder Gelegenheit Jostens Können in den Himmel zu loben und ihm anzubieten, doch zur USC zu wechseln, was Jeremy mit einem Aufstöhnen und einem Augenrollen zur Kenntnis nahm.
 

Die Einzigen, die in aller Ernsthaftigkeit aufeinandertrafen, wenn sie sich gegenüber standen, waren Kevin und Jean. Die Checks, die die Beiden miteinander austauschten, waren das, was Jeremy schon teilweise als illegal und gewalttägig über die Grenzen ihres Sportes bezeichnen würde. Für die ersten paar Male hatte er das Gefühl, dass lediglich Jean Kevin so hart anging und er ahnte aus den spärlichen Erzählungen Jeans über ihre Beziehung zueinander auch warum.
 

Dass Kevin sich schließlich zu Wehr setzte und Jean ebenso hart checkte, ließ Jeremy mühevoll schlucken. Fünf Mal sah er sich den Krieg zwischen den beiden Jungen an, bevor er dazwischen gehen wollte. Wenn das hier zu einer Prügelei ausartete, war niemandem gedient, wirklich nicht. Doch es war ausgerechnet Neil, der ihn zurückhielt und den Kopf schüttelte.

„Das sind Raven Drills, Knox. Lass sie. Und lass sie ein wenig Dampf ablassen, den sie bei unseren Spielen gegeneinander nicht ablassen können.“

Jeremy runzelte die Stirn. „Aber sie verletzen sich.“

„Nicht mehr als sonst und beide kennen ihre Grenzen.“

„Das sieht mir eher nach dem Beginn einer Prügelei aus.“

„So wird es nicht.“

„Aber sie mögen sich offensichtlich nicht.“

„Jean mag Kevin nicht und Kevin ist ein Feigling, der nicht bereit ist, Jeans Wut zu ertragen. Das ist nichts Neues und wird sich so schnell nicht mehr ändern. Lass sie ihren Dampf ablassen.“
 

Jeremy hob die Augenbraue. Dafür, dass Neil Josten sehr oft sehr hilflos schien, was zwischenmenschliche Beziehungen anbetraf, so waren seine Worte jedoch merkwürdig zutreffend.

Unwirsch schürzte Jeremy die Lippen. Nach weiteren drei Zweikämpfen und einem vierten Mal, bei dem er von Jean grob, aber im Rahmen der Regeln gegen die Plexiglaswand des Stadions gedrückt wurde, beschloss Jeremy, seine Gedanken zu dem Thema fallen zu lassen und sich darauf zu konzentrieren, das Spiel zu gewinnen.
 

Vergebens.
 

Die Kombination aus Neil und seiner verfluchten Schnelligkeit, Fahima in ihrer Durchtriebenheit, Alvarez und Jean in der gemeinschaftlichen Mauerbildung mit Dan als Dealer und Renee, die das Tor verdammt nochmal genauso dicht machte wie Minyard auch, verloren sie. Klar und deutlich.
 

Außer Atem und glücklich grinsend klatschte Jeremy schließlich alle Spieler ab und verließ dann vor Erschöpfung wankend das Spielfeld. Er öffnete die Tür zu den Zuschauerrängen und ließ sich dort auf eine der Bänke fallen, grinste die blonden Zwillinge an, die unisono auf ihn hinuntersahen, als hätte er den Verstand verloren. Hinter ihm kamen auch die restlichen Spieler und ließen sich bei ihnen nieder. Alkohol und ungesundes Knabberzeug kreiste und Jeremy nahm Letzteres dankbar an.
 

„Das hat Spaß gemacht!“, rief er in die Runde und erhielt von Andrew lediglich eine hoch erhobene Augenbraue.

Schuldig zuckte Jeremy mit den Schultern und klopfte Kevin, der unweit von ihm saß, freundlich auf die Schulter.
 

Minyard richtete den Blick zum Dach der Tribüne, als könne ihm die Decke Antwort auf die Frage geben, warum er mit solchen Menschen wie Jeremy gestraft war. Wenn Jeremy sich nicht vollkommen täuschte, las er so etwas wie Resignation in dem ausdruckslosen Gesicht. Vielleicht war das aber auch eine Täuschung.
 

„Und nun? Duschen und dann Eis essen gehen?“, fragte er in die Runde und fand definitiv Resignation.
 

Nicht auf Andrews Gesicht, oh nein, sondern auf Jeans. Andrew hingegen war mit einem Mal sehr interessiert an dem, was er zu sagen hatte. Ausnahmsweise. Sein striktes, keinen Widerspruch zulassendes „Ja.“ erstickte auch Jeans übliche Antwort im Keim.
 

~~**~~
 

Jean starrte in sein müdes Konterfei, das ihm mit Augenringen und eingefallenen Wangen kein schönes Spiegelbild präsentierte.

Drei Tage war das Bankett nun her, drei Tage, seitdem Williams ihn angefasst und viele der kleinen Fortschritte, die er gemacht hatte, wieder zunichte gemacht hatte. Jean hatte gekämpft, dass er nach Rikos letzten Gewalttaten wieder dazu in der Lage sein konnte, sich die Haare zu waschen, ohne dass ihm übel würde.
 

Nun konnte er mit viel Überwindung die Beanie über seinen Kopf ziehen und brauchte Minuten, bis sich sein wild schlagendes Herz wieder beruhigte. Er träumte schlecht und hatte Knox jede Nacht durch seine Alpträume aufgeweckt, in denen Riko ihn oder – und das war neu – auch Josten oder Knox vergewaltigen oder foltern ließ, während er neben sich oder den beiden anderen Jungen stand, unfähig, etwas zu tun oder sich zu rühren.
 

Knox sagte nichts dazu, dass er keine Nacht hatte durchschlafen können. Er sagte auch nichts dazu, dass Jean sich beharrlich dazu ausschwieg, was wirklich passiert war. Er saß lediglich im Schein seiner Nachttischlampe auf seinem Bett, die Beine über die Kante geschwungen und bot Jean jedes Mal seine Decke an.

Jean hatte sie jede einzelne Nacht angenommen und sich unter dem Sonne versprechenden Geruch seines Kapitäns vergraben, die Tage auch ohne Countdown zählend, die ihm noch blieben.
 

Vielleicht war es auch besser so, so zu gehen als mit noch mehr Bedauern als sowieso schon.
 

Das chaotische Spiel am Abend des Banketts hatte ihm gut getan um etwas von der Wut auf Day ablassen zu können, auch wenn er das mit teilweise fürchterlichen Magenschmerzen von Williams Schlägen bezahlt hatte. Renees und Jostens Fragen in den darauffolgenden Tagen, wie es ihm ging, hatte er mit einsilbigen Antworten abgetan und Jean wusste, dass sie ihn zunächst damit in Ruhe lassen würden. Dass weder sie noch er ihm glaubten, war Jean nur zu bewusst und er fürchtete den Moment, in dem er ein letztes Mal mit Renee telefonieren würde.
 

Vorgestern hatte Jean in Coach Rhemanns Beisein mit dem Komitee gesprochen und ihnen geschildert, was passiert war. Er hatte von den Schlägen erzählt, weil sein Trainer um diesen Umstand bereits seit seinem Besuch bei der Teamärztin wusste. Von Minyards und Renees Eingreifen auch, jedoch ließ er die Gewalt und das Messer weg, schließlich wollte er Renee nicht in Schwierigkeiten bringen.

Die Frauen und der Mann des Komitees hatten sich schweigend seine Fassung angehört und einzelne Nachfragen gestellt. Sie hatten versprochen, den Sachverhalt zu prüfen und die anderen Zeugen zu befragen. Nichts davon konnte Jean gleichgültiger sein, auch wenn sie schließlich die Ravens, die ihn angegriffen hatten, für drei Spiele gesperrt und unter besondere Beobachtung gesetzt hatten. So hatte es Coach Rhemann ihm gesagt.
 

Jean kehrte zurück zu seiner jetzigen Realität, in der Knox Frühstück machte, das er mit Mühe und Not herunterzwingen würde. Er kehrte zurück zu seinen Haaren, die dringend gewaschen werden mussten. Seine Hände zitterten alleine schon bei dem Gedanken daran und er musste mehrfach schlucken, um die Übelkeit nicht siegen zu lassen, die Auswuchs seiner Angst war.
 

In Abbys Haus war es Renee gewesen, die diese Aufgabe für ihn erledigt hatte, bis er in der Lage gewesen war, seine Haare und seinen Kopf zu berühren. Renee war aber nicht mehr hier, sie war mit den anderen Foxes vor drei Tagen abgereist.

Jean versuchte, seine Hände zu heben und scheiterte. Wütend presste er sie auf den Rand des Waschbeckens, ebenso wütend grollte er und fluchte hilflos.
 

Es dauerte keine halbe Minute, bis es vorsichtig an der Tür um Badezimmer klopfte. „Jean, ist alles in Ordnung?“, fragte Knox und er zuckte so gewaltig zusammen, dass er seinen Zahnputzbecher umwarf, der scheppernd zu Boden fiel. Hastig bückte sich Jean danach und zischte schmerzerfüllt, als sich die Hämatome in seinem Bauch bemerkbar machten.

„Jean?“

Das war seine zweite Warnung, wusste er, bevor sein Kapitän schlussendlich versuchen würde, die Tür zu öffnen, aus Sorge, dass er sich etwas getan hatte.

„Es ist okay“, krächzte er die Lüge heraus, die er in den vergangenen vier Tagen den Trojans gegenüber mehr als ein dutzendmal hervorgebracht hatte.
 

Ging es ihm gut? Es war okay. Hatte er das Bankett überstanden? Es war okay. Er sah schlecht aus, hatte er geschlafen? Es war okay. Das, was im Nest so überlebenswichtig gewesen war, sich selbst nicht vor anderen zu entblößen, kam ihm hier wie ein Verrat vor und das machte es absolut nicht besser. Jean war jeden Tag mehr versucht, ihnen entgegen zu schreien, wie wenig okay alles war und dass er, wenn er es sich ehrlich eingestand, Hilfe brauchte.
 

Er konnte das nicht alleine.
 

Schon damals, als Riko ihn mit Waterboarding gefoltert hatte, hatte er die einfachsten, normalen und natürlichen Dinge nicht mehr alleine tun können. Duschen. Das Gesicht waschen. Wasser trinken. Day hatte ihm damals geholfen, mit kleinen Schritten und sicheren Händen, die keine Gewalt beherbergten und Jean fragte sich, ob es möglich wäre, dass Knox ihn ebenso unterstützte. Er hatte doch seine Narben gesehen. Er gab ihm seine Decke.

Verlangte Jean da nicht zuviel, wenn er ihn um etwas Weiteres bat? Wurde er in den letzten Tagen nicht zur Belastung, wenn er es tat?
 

Vielleicht hätte Jean sich die Frage eindringlicher mit ja beantwortet, wenn es den Countdown nicht gegeben hätte.
 

Zittrig stellte er seinen Becher auf die Anrichte und machte die Antwort auf die Frage davon abhängig, ob Knox noch vor der Tür stand, wenn er sie öffnete. Er öffnete das Schloss und drückte die Klinke herunter, vergaß für einen Moment zu atmen, als Knox näher davor stand als erwartet, Unsicherheit quer über sein Gesicht geschrieben. Natürlich glaubte sein Kapitän ihm seine Lügen nicht und anders als Riko wartete er, bis Jean die Wahrheit von alleine sagte.
 

„Ich brauche Hilfe“, presste er hervor, bevor er es sich anders überlegen konnte.

Knox brauchte keine drei Sekunden, um sich zu fangen und sein Gesicht von Besorgnis auf Problemlösung zu schulen. „Natürlich, Jean. Wobei?“, fragte er sanft und hob abwartend die Augenbrauen.
 

Jean schwieg. Um Hilfe zu bitten, war das Eine. Zu definieren, was ihm unmöglich war, das Andere. Im Gegensatz zu Knox war Day dabei gewesen oder hatte es gewusst, als ihm Gewalt angetan worden war. Ihm hatte er nichts erklären müssen. Renee und Abby auch nicht. Doch nun stand er vor der Frage, wie er dem anderen Jungen deutlich machte, dass er noch nicht einmal in der Lage war, für seinen Körper zu sorgen, weil er so traumatisiert und schwach war.

Aber… er war nicht schwach… er hatte doch beinahe ein Jahrzehnt in einer feindlichen Umgebung überlebt. Das erreichte man nicht durch Schwäche.
 

Jean schluckte. Knox quietschte wegen Käfern, die in seinen Haaren krabbelten und Jean würde den Teufel tun und seinen Kapitän aus einem solchen Grund als schwach zu bezeichnen. Warum also sollte er dann schwach sein?

„Ich kann meine Haare nicht waschen“, presste er hervor, impulsiv, wieder, bevor er es sich anders überlegen konnte und es war, als hätte das einen Damm gebrochen. „Beim Bankett hat Williams daran gezogen und es hat Erinnerungen an Riko geweckt. Seitdem kann ich sie nicht anfassen…“

Jean erläuterte nicht, was er meinte, doch das musste er auch nicht. Knox begriff auch so und beinahe unmerklich lächelte er.
 

„Wie kann dich dir dabei helfen?“, fragte Knox sanft.

„Ich weiß es nicht.“ Jean zuckte ratlos mit den Schultern. Vielleicht war es durch einen Befehl möglich. Vielleicht durch eine ruhige, schlüssige Argumentation, dass ihm nichts passieren würde. Vielleicht, wenn sein Kapitän seinen Kopf unter das Wasser zwang.

Stirnrunzelnd sah der blonde Junge an ihm vorbei zur Dusche, zum Waschbecken, dann drehte er sich mit einem Laut des Nachdenkens zur Küche.

„Wäre es in Ordnung, wenn ich deine Haare berühre?“, fragte er schließlich und Jean zuckte hilflos mit den Schultern.

„Ich weiß nicht.“

„Okay…“ Anscheinend hatte Knox einen Geistesblitz, so wie sich sein Gesicht erhellte. Abrupt drehte er sich um. „Warte, ich komme gleich wieder.“
 

Stumm sah Jean seinem Kapitän hinterher und hörte ihn im Küchenschrank rumoren. Nervös nestelte Jean an dem T-Shirt, das er in ihrem Apartment trug, jetzt, da Knox seine Narben gesehen hatte. Wenigstens hier war es damit luftig.

Mit einem unterdrückten, triumphierenden Laut endete das Scheppern und Knox tauchte wieder in seinem Blickfeld auf, in seinen Händen einen ein-Liter-Messbecher, den er für gewöhnlich zum Kochen gebrauchte.

Jean sah mit großen Augen zu, wie er ihn auf den Rand des Waschbeckens stellte und dann zu seinem Schreibtisch ging. Er holte seinen Hocker, den er in das Badezimmer vor die Dusche hievte, das mit ihnen beiden darin schon eng war.
 

Kritisch die Lippen schürzend betrachtete Knox das Ensemble und wandte sich dann wieder ihm zu, ruhig und gefasst. Jean schluckte. Wie selbstverständlich Knox die Initiative ergriff, erstaunte ihn über alle Maßen. Er stellte keine Fragen, er kritisierte nicht, er runzelte noch nicht einmal mit der Stirn.

„Sag mir, was du davon hältst“, deutete Knox auf den Hocker. „Du setzt dich hierhin und ich knie mich neben dich. Ich mache nicht die Dusche an, sondern nehme den Messbecher und habe meine Arme immer da, wo du sie sehen kannst, während ich dir deine Haare wasche. Nebenbei singe ich schief, damit du etwas hast, was dich mehr irritiert, als meine Finger in deinen Haaren?“
 

Jean blinzelte.
 

Was?
 

Knox wollte was? Für seine Unzulänglichkeit aufkommen, indem er seine Aufgabe übernahm. Jean hatte wirklich vieles erwartet, aber das nicht. Ihm helfen, indem er ihm die Haare wusch? Er schluckte.
 

„Nur, wenn du möchtest“, schob Knox nach, wartend, selbst unsicher, wie Jean nun an den Händen sah, die nicht stillstehen wollten.

Anstelle einer Antwort setzte sich Jean langsam auf den Hocker und sah zu Knox hoch. Wie groß der Unterschied auch hier zu Riko war, wurde ihm bewusst, als ihm vollständig die Angst vor dem Jungen fehlte, der nun bedeutend größer als er war.
 

Er wusste, dass Knox ihm nichts tun würde. Er wusste das.
 

„Okay.“ Knox füllte den Messbecher bis zur Hälfte mit warmen Wasser und hielt zeigte es ihm, damit Jean schauen konnte. Unmerklich nickte er, um irgendwie ein Gegengewicht zu seinem rasend schnell schlagenden Herz zu haben, das ihm deutlich zeigte, wie groß seine unlogische Angst vor Fingern in seinen Haaren und der Möglichkeit, dass sie an seinen Strähnen zogen und ihm ganze Haarbüschel ausrissen, war.
 

Wie er angekündigt hatte, kniete sich Knox neben ihm auf den Boden.

„Kannst du den Kopf ein wenig in den Nacken legen?“, fragte er leise und Jean folgte angespannt seiner Bitte. „Ich beginne jetzt mit dem Wasser. Wie geht es dir damit, Jean?“

Er schluckte. „Nicht gut.“

„Soll ich aufhören?“

Nein.“

„Ich werde dich das jetzt öfter fragen und ich möchte, dass du mir darauf eine ehrliche Antwort gibst.“
 

Jean nickte mit einem Blick in die ernsten, blauen Augen. Brachial zuckte er zusammen, als das erste Wasser auf seine Haut traf, ein schweres Gewicht auf seinen Haaren. Er ballte die Hände zu Fäusten, hielt sich jedoch mit Gewalt davon ab, aufzuspringen und aus dem Badezimmer zu fliehen. Anstelle dessen klammerte er sich an die Erinnerungen an Renee. Sie hatte es ähnlich getan. Ähnlich vorsichtig. Sie hatte ebenso gesummt, wie Knox es nun tat und gewartet.
 

Die Hälfte des Wassers befand sich in seinen Haaren oder in der Dusche und Knox nahm vorsichtig den Messbecher nach vorne um ihm den Fortschritt zu zeigen.

„Du machst das sehr gut, Jean“, lobte Knox ihn. „Soll ich fortfahren?“

Nicken war leichter als Kopfschütteln, stellte Jean fest und so arbeitete sein Kapitän den restlichen Viertelliter in seine Haare, lehnte sich schließlich langsam zurück und holte sich aus der knienden Position heraus neues Wasser. Mehr dieses Mal, 250 Milliliter mehr. 750 Milliliter befanden sich in den Messbecher, den Knox zur Seite stellte.
 

„Wolltest du nicht schief singen?“, fragte Jean zittrig, während er hörte, dass Knox sein Shampoo zur Hand nahm. Trocken schluckte er.

„Gleich…gleich“, murmelte der andere Junge und gab sich anscheinend Shampoo in die Handfläche. Er streckte die Hand aus und hielt sie ihm hin.

„Ist das okay für dich?“

Jean nickte.

„Ist es auch okay für dich, wenn ich meine Hand nun auf deine Haare lege und die Menge darauf verteile?“

„Ich weiß es nicht.“ Unsicher suchten Jeans Augen die seines Kapitäns.
 

„Hmm. Also, ich würde es folgendermaßen machen: zuerst würde ich vorne auf deinem Kopf anfangen, nahe der Stirn und mich dann langsam nach hinten arbeiten, von dort aus zu den Seiten. Das Ganze aufschäumen und dann mit Wasser wieder abspülen. Natürlich würde ich zu keinem Zeitpunkt an deinen Haaren ziehen, das ist selbstverständlich.“

Jean lauschte der Erklärung und nickte. Das machte seine Angst vor den einzelnen Abschnitten nicht besser, aber es half. Das Wissen um das, was kam, half. Das Wissen um die Schritte half.
 

„Und du möchtest wirklich, dass ich singe?“

Zittrig schnaubte Jean. „Ich kann dich doch sonst auch nicht davon abhalten, wenn du unter der Dusche stehst.“

Empört grollte Knox und platzierte seine Hand so sacht auf seinen Haaren, dass Jean es beinahe nicht gespürt hätte. Sein Körper war da schneller als er und zuckte zusammen.

„Noch okay?“

„Ja.“
 

Knox strich langsam und sacht über seine Haare und sang leise und schief dabei. Schritt für Schritt ging er das ab, was er vorher angekündigt hatte und Jean hielt dem mit Mühe stand. Wieder und wieder hielt er sich vor Augen, dass Williams nicht hier war. Riko auch nicht. Sie würden ihn nie wieder anfassen. Knox würde es ihnen nicht gleich tun.
 

„Warum weint man denn in einem Club?“, fragte Jean rau, als er dem Text zuhörte, den Knox in den engen Raum zwischen sie krächzte und sein Kapitän lachte.

„Weil man verlassen wird und nun Angst hat, für immer alleine zu sein, aber im Club gibt es das nicht, da werden die Tränen hinter dir gelassen und die Musik trägt dich davon, während du im Feuer der Musik verbrennst.“

Jean verzog das Gesicht. „Das ist kitschig.“

„Das ist der neueste Scheiß. Du solltest mal Laila, Alvarez und mich dazu tanzen sehen.“

Tanzen? Jean schluckte und sah mit großen Augen zu, wie Knox seine schaumbedeckten Hände nach vorne nahm.

„Fertig mit Einseifen. Soll ich sie nun ausspülen?“, fragte er der blonde Junge und Jean nickte.
 

Ebenso vorsichtig und wachsam wohnte Jean dem bei und hörte einem neuen Text zu, der sich ihm wieder nicht wirklich erschloss.

„Wieso ist es wichtig, dass sie einen Engländer kennenlernt?“, fragte er wieder und Knox brummte nichtssagend.

„Na weil sie ein Galway Girl ist, deswegen!“, erwiderte er, während das Wasser über seinen Kopf floss, ein schweres, aber nicht verletzendes Gewicht. Kühle, da wo die Hitze von Williams Zerren und Ziehen an seinen Haaren nichts als brennende Erinnerungen zurückgelassen hatte.

„Das ist keine Begründung.“

„Für Ed Sheeran schon.“

„Wer?“

„Der Sänger, sieht so ein bisschen aus wie Neil Josten.“
 

Jean versuchte sich vorzustellen, wie Josten sang und scheiterte. Vielleicht war das auch gut so. Jeder hat sein Schicksal und das des rothaarigen Jungen war es, Exy zu spielen. Wenn es etwas gab, worin er exzellent war, dann darin. Und darin, Gebrauch von seiner großen Klappe zu machen und sich in Schwierigkeiten zu bringen. Jean war sich nicht sicher, welches Talent größer war.
 

„So, fertig mit waschen.“
 

Worte, die soviel Erleichterung brachten, dass beinahe Jeans Augen brannten. Er neigte seinen Kopf wieder nach vorne und sah Knox in das erwartungsvolle Gesicht, während dieser ihm vorsichtig das Handtuch auf den Kopf legte und die Feuchtigkeit in seinem Nacken auffing.

„Wie geht es dir?“, fragte er schließlich und Jean brachte es nicht über sich, ihn mit einem „Okay.“ oder einer Lüge abzuspeisen.

„Immer noch nicht gut, aber besser“, erwiderte er und Knox nickte.

„Fortschritt ist Fortschritt, Jean. Egal, wie klein, egal, wie groß. Wir sind hier und helfen dir. Ich helfe dir gerne und ich werde nicht zulassen, dass Williams noch ein einziges Mal Hand an dich legt.“

„Das kann er auch nicht, er und die anderen fünf Raven sind schließlich für die ersten drei Spiele gesperrt“, gab Jean mit zittrigem Selbstbewusstsein wieder, was Coach Rhemann ihm gesagt hatte.

Knox legte seine Hand auf Jeans angespannte Faust und Jean sah auf ihrer beider Hände herab. „Richtig so“, nickte sein Kapitän und ungebeten kamen Jean Kevins Worte ins Gedächtnis.
 

In seiner Wut hatte er Day gesagt, dass die Trojans zuviel von ihm verlangten, doch dem war nicht so. Sie verlangten gar nichts, sie gaben ihm Möglichkeiten, die er ergreifen konnte oder eben auch nicht. Sie waren gut, doch all das Gute in seinem Leben verriet Jean irgendwann und so wäre es doch nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn auch verrieten. Oder?

Die Statistik gab ihm recht, auch wenn ein kleiner, kindlicher Teil in ihm hoffte, dass es vielleicht irgendwo jemanden gab, der bei ihm bleiben würde. Ein dummer, kindlicher Teil an Hoffnung.
 

Vielleicht sollte er ihn Neil nennen, so stur, unbelehrbar und untötbar wie der Teil war.
 

Trotz oder gerade wegen seiner Angst fand Jean diesen Gedanken durchaus amüsant.
 

„Wir haben noch eine Sache vergessen“, löste sein Kapitän ihn zuverlässig aus seinen Gedanken und fischte nach etwas, das Jean nach ein paar Sekunden als Bürste identifizierte. Mühevoll schluckte er. Waschen war das Eine, aber durch die Haare zu kämmen, etwas vollkommen Anderes. Es würde sicherlich schmerzen, wenn Knox ihm die Strähnen kämmen würde.
 

„Das hier, Jean Moreau, ist ein Wunderwerk“, präsentierte er die Bürste und Jean hob die Augenbrauen. Sie hatte Borsten, mehr als andere Bürsten. Was war daran ein Wunderwerk?

„Diese Bürste wurde für Kids konzipiert, vielmehr für deren empfindliche Kopfhaut. Das Ding hält, was es verspricht: kein Ziepen. Kann ich dir sagen, ich nutze sie seit Jahren.“
 

Das sah Jean bei näherer Betrachtung auch. Sie war abgegriffen und strotzte nur so vor blonden, langen Haaren. Er streckte die Hand nach der Bürste aus und Knox reichte sie ihm.

Vorsichtig strich Jean mit seinen Fingern über die Borsten und stellte fest, dass sie viel weicher als die in seiner Bürste waren, die vergessen auf der Anrichte lag.
 

Jean blinzelte unter dem Handtuch zu Knox empor und reichte sie ihm mit einem Nicken zurück.

„Ich glaube schon“, murmelte er und wartete, dass der andere Junge ihm das Stück Frottee sacht vom Kopf hob.

„Du kannst jederzeit Stopp sagen, Jean und ich höre sofort auf.“

Er nickte und Knox sah ihn erwartungsvoll an. Erst nach ein paar Sekunden begriff Jean, dass sein Kapitän darauf wartete, dass er aufstand. Jean räusperte und erhob sich ruckartig.
 

„Möchtest du mir dabei im Spiegel zusehen?“, fragte Knox und Jean nickte, positionierte sich so, dass er den anderen Jungen und sich im Blickfeld hatte.

„Ich würde hinten in deinem Nacken anfangen und ganz langsam nach oben bürsten.“

„Okay.“
 

Während Jean seine Fingernägel in die Handinnenflächen bohrte, begann Knox und verursachte gleich mit den ersten, vorsichtigen Strichen eine Gänsehaut, die selbst noch auf Jeans Unterarmen zu sehen war. Anscheinend konnten seine Rezeptoren sich nicht entscheiden, ob sie entsetzt oder erleichtert über den Kontakt der Borsten mit seiner Haut sein sollten und so war Jean gefangen in einem Wechselspiel aus Angst, Vorsicht und kribbelnder Unbekanntheit, die er nicht definieren konnte.
 

Knox hatte Recht, die Borsten fühlten sich ganz anders an, während sie Knox sanft mit vor Konzentration gerunzelter Stirn durch seine Haare strich. Strähne um Strähne löste sich von ihrem Wirrwarr und Jean ließ sich Zeit, seinen Kapitän dabei zu beobachten. Wenn er sich konzentrierte, dann grub er seine oberen Schneidezähne in seine Unterlippe. Im rechten Mundwinkel hatte er eine kleine, schmale Narbe, die Jean gerade zum ersten Mal auffiel. Seine Nase war für ihre brutale Sportart geradezu unverschämt gerade und er hatte tatsächlich Sommersprossen. Ein paar wenige, aber sie waren da, selbst durch die Bräune hin gut sichtbar. Jean bemerkte, dass die hellblauen Augen von einem dunkelblauen Ring umschlossen waren, was ihnen mehr Tiefe verlieh. Eben jene huschten von Zeit zu Zeit zum Spiegel und Knox hielt fragend inne. Jedes Mal nickte Jean und schlussendlich waren seine Strähnen entwirrt und gelockert. Stolz trat der andere Junge zurück und strahlte ihn über die Spiegel hinweg an. Jean schluckte.
 

„Knox?“

„Ja?“

„Danke. Dafür. Und für alles.“ Es fiel Jean nicht leicht, diese Worte freiwillig auszusprechen, ohne, dass sie mit Gewalt aus ihm herausgepresst wurden. Dennoch waren sie seltsam befreiend, weil es seine eigene Wahl gewesen war, sie zu äußern.

Das Lächeln, das ihm geschenkt wurde, war so sanft, wie es sonnig war.

„Gerne, Jean. Und ich mache es auch gerne so lange, bis du dich wohl genug fühlst, es selbst zu tun.“
 

Jean wollte etwas sagen, als sein Handy pingte und Knox herumfuhr. „Ich habe es gerade gesehen, warte, wo ist es denn?“, sagte er zu sich selbst und war aus dem Bad verschwunden, bevor Jean ihn davon abhalten konnte. Er blinzelte und sah seinem Kapitän zweifelnd hinterher.

„Da ist es!“, ertönte es aus dem Schlafzimmer und Knox‘ Schopf tauchte ruckartig wieder im Türrahmen auf. Grinsend hielt er ihm das Handy hin und Jean musste nicht den Bildschirm erhellen um zu wissen, was es für eine Nachricht war.
 

„Sorry, als ich es geholt habe, war der Bildschirm noch an. Ich habe gesehen, dass Monster I dir geschrieben hat, aber nicht, was. Tut mir leid!“, entschuldigte sich der blonde Junge, der ihm seine Haare gewaschen hatte, bei ihm, als wäre es etwas Schlimmes.

„Das ist okay“, murmelte Jean, während sich seine Hände um den Countdown krampften.
 

Wieder verfielen sie in Schweigen und Jean fragte sich, ob nun ein guter Zeitpunkt dafür wäre, eine der Sachen anzusprechen, die er seit Williams hasserfüllter Worte geradestellen wollte. Er hatte keine Ahnung, wie Knox sie auffassen würde, ob Jean ihn womöglich dadurch beleidigen würde.
 

„Knox?“ Anscheinend hatte sein spontanes Denken die Antwort für ihn übernommen und Jean schluckte, als er sich erneut im vollständigen Fokus seines Kapitäns sah.

„Ja, Jean?“

Unsicher sah er zur Seite und ballte die Hände zu Fäusten. Wie sagte man das? Gab es einen guten Weg? Und warum war es ihm denn wichtig, mit was für einem Eindruck er Knox im Gedächtnis blieb?

Jean konnte keine der Fragen beantworten.
 

„Ich bin so nicht“, erwiderte er dementsprechend neutral. Zu neutral, denn Knox konnte nichts mit seinen Worten anfangen.

„Wie bist du nicht?“ Jean seufzte innerlich.

„So wie Williams es gesagt hat“, spezifizierte er und wagte es nicht, seine Augen von Knox zu nehmen, in der Befürchtung, dass dieser wütend wurde.

Knox lächelte sanft. „Schwul meinst du?“, fragte er sacht nach und Jean schüttelte den Kopf.

„Ich habe Riko nie…“ Etwas hilflos deutete er auf seine eigene Körpermitte und zuckte mit den Schultern. „Und ich würde mich auch nie filmen dabei.“

Knox seufzte. „Jean. Ich meinte das, was ich gesagt habe. Dein Körper gehört dir. Was du damit machst und was dich glücklich macht, ist ganz alleine deine Sache. Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen, ich habe kein Recht, über dich zu urteilen. Zumal Williams‘ einziges Ziel war, dir damit eins mitzugeben und uns beide zu beleidigen. Alles gut, Jean, mach dir keinen Kopf darum. Was auch immer dich glücklich macht, soll mir nur recht und billig sein.“
 

Noch vor Wochen hätte Jean all seine Kraft dazu aufbringen müssen, Knox zu fragen, ob das auch bedeutete, dass er sich ihm weder aufzwingen noch Sex von ihm erwarten würde. Nun wusste er, dass dem nicht so war und er konnte lächeln, weil ihm die Worte seines Kapitäns gut taten.
 

„Okay“, sagte er und das war es auch.
 

Okay.
 

~~**~~
 

Verstohlen warf Jeremy einen Blick aus der Küche in ihr Schlafzimmer. Er gab sich große Mühe, wirklich leise zu sein und seinen Mitbewohner nicht auf sich aufmerksam zu machen. Jeremy vermutete, dass es auch ohne seine Vorsicht von Erfolg gekrönt gewesen wäre, da sich Jean für gewöhnlich wie ein Besessener auf seine Bücher stürzte, als würde er morgen Klausuren schreiben. Es wäre nicht das erste Mal in diesen Tagen, dass Jean ihn einfach ignorieren oder nicht hören würde, nur um dann zusammenzuzucken, als hätte Jeremy ihn verbrannt.
 

In zwei Tagen hatten sie ihr erstes Spiel der Saison und Jeremy war fürchterlich aufgeregt, ob das Training, die harten Stunden an Arbeit, die sie im Stadion verbrachten und durch ihren Coach, ihn selbst oder Drills, altbekannt oder neu hinzugekommen, sich auszahlen würden.

Auch wenn Jean kein Anzeichen dafür gab, so hatte er das Gefühl, dass es ihrem neuen Backliner nicht anders ging und dass er sich deswegen derart in die Bücher vertiefte.
 

Deswegen war es umso besser, dass seine Bestellung heute angekommen war, die er gerade hinter seinem Rücken versteckte. Jetzt wäre doch ein guter Zeitpunkt, um es Jean zu geben, oder?
 

Hmmm.
 

Jeremy räusperte sich vernehmlich, erhielt jedoch keinerlei Reaktion darauf. Jean war wieder tief in seinen Büchern versunken. Verdammt.

„Jean?“, fragte er ruhig, um den anderen Jungen nicht zu verschrecken und erhielt daraufhin ein „Hmmh.“ als Antwort, von dem er mittlerweile wusste, dass es nicht wirklich ein Zeichen von Aufmerksamkeit war. Also schon, aber nur nicht von bewusster Aufmerksamkeit.
 

Jeremy kam langsam zu Jean und begab sich in die Hocke, als er in Reichweite des Anderen war. Jean saß mit gebeugtem Rücken über seinem Schreibtisch, die Stirn selbst aus Jeremys eingeschränktem Blickwinkel nachdenklich gerunzelt.

Langsam zog er das Geschenk hinter seinem Rücken hervor und schraubte es durch Jeans auf dem Tisch abgestützte Arme nach oben in Richtung Tischplatte.
 

Auch das wurde zunächst missachtet, bis Jean wie so oft in den letzten beiden Wochen mit einem Mal zu sich kam und zurückzuckte. Jeremy war darauf vorbereitet und hielt sein Geschenk eisern fest, während er sein strahlendstes Grinsen aufsetzte.

Mit vor Schreck geweiteten Augen sah Jean ihn an, bevor sein Blick zu dem Gegenstand in Jeremys Händen huschte. Verwirrt maß er diesen um dann wieder zu Jeremy zurück zu kehren, der ihm das runde Stück Filmgeschichte feierlich überreichte.
 

„Für dich“, sagte er schlicht, während er nicht mehr aufhören konnte zu grinsen und sich über die geweiteten, grauen Augen zu freuen, die vollkommen verwirrt nichts daraus zu machen wussten. Jean blinzelte.

„Für mich“, echote er und machte keine Anstalten, das Plüschtier anzunehmen.

Jeremy nickte. „Ein Geschenk.“

Ein Geschenk, wiederholte Jean dieses Mal stumm, als könne er nicht glauben, was gerade geschah und schluckte dann.

„Für mich?“, fragt er erneut zögernd und Jeremy hob die Augenbraue.

„Ja!“

„Warum?“

„Einfach so.“

Stürmisch runzelte Jean seine Stirn. „Niemand schenkt einfach so.“

„Ich schon.“

Oh wie eindringlich konnten diese grauen Augen doch werden. Wie streng der Zug um die Mundwinkel. Unwirsch knirschte Jean mit seinem Kiefer und verlegen zuckte Jeremy mit den Schultern.
 

„Na gut. Okaaay. Nicht einfach so“, gab er schließlich zu. „Als ich vor ein paar Wochen den Film beim Puzzeln habe laufen lassen, habe ich mitbekommen, dass du auch zugesehen hast.“ Er wackelte mit den Augenbrauen, als Jeans Ohrläppchen sich rot färbten. „Und da dachte ich, weil du interessiert warst, dass ich dir ein Plüschtier zu diesem Film schenke. Du hast ja noch keins, also hat sich das ja angeboten. Jeder braucht ein Kuscheltier und einen Glücksbringer. Und da habe ich mir überlegt, ob es Wall-E oder Eva sein soll, weil du die Szenen der Beiden schon sehr genossen hast. Eva schien mir da dann passender zu sein, außerdem schaut sie hier genauso wie du.“
 

Jeremy grinste sein bestes, charmantestes Schwiegermutterlächeln und streckte Jean die streng bis missbilligende schauende Eva entgegen. Sie als Schutzschild gegen den vernichtenden Blick zu missbrauchen, war zwar ein feiger Zug, aber einer, den Jeremy dringend nötig hatte.
 

Nichtsdestotrotz nahm Jean das Kuscheltier an und barg es vorsichtig in seinen Händen.
 

„Eva“, sagte er und strich über den weißen Plüschstoff, Verwunderung und Unverständnis in seinen Augen. „Eva.“

Jeremy konnte nicht anders. „Wall-E!“, imitierte er ihre empört-genervte Stimme aus dem Film und erhielt einen durchdringenden Blick dafür.

„Du kannst sie überraschend gut imitieren“, sagte Jean.

„Jahrelange Übung!“

„Und sie ist wie ich?“

Jeremy nickte. „Hochklassig, zerstörerisch, kritisch und zum Fürchten, aber gleichzeitig sorgend um andere und bereit, die todbringenden Fähigkeiten zurück zu stellen, wenn es um ernstgemeinte Freundschaft und Zuneigung geht. Oder sie für die richtige Seite einzusetzen.“
 

Er machte Jean mit seinen Worten sprachlos, das sah Jeremy an den Lippen, die sich nutzlos öffneten und schlossen. Das sah er an den Augen, die wieder und wieder zwischen Eva und ihm hin- und herhuschten.

Erneut strich Jean zart über das handballgroße Kuscheltier und ein Ausdruck, den Jeremy nicht anders als Sehnsucht und Bedauern interpretieren konnte, huschte über sein Gesicht.
 

„Dankeschön“, sagte Jean erstickt und Jeremy nickte überglücklich.
 

Eine Sekunde später war er derjenige, der vor Erstaunen und Unglauben verstummte, als er durch starke Arme an einen muskulösen Körper gepresst wurde. Es war alles andere als bequem mit Eva zwischen ihnen und seiner an Jeans Brust gequetschten Nase, doch Jeremy würde den Teufel tun und sich darüber zu beschweren, als er seine erste, durch Jean initiierte Umarmung erhielt.
 

~~~~~~
 

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, Jeremy summt zuerst „Crying in the Club“ von Camilla Cabello in einer sehr freien Übersetzung des Textes. :D Komplett anzeigen

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