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Eien ni

Bis in alle Ewigkeit
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Teil: 01 / 24

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Teil: 06 / 24

Warnings: Suizidversuch

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Teil: 09 / 24

Warnings: Suizidversuch

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Teil: 10 / 24

Warnings: Missbrauch

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Teil: 11 / 24

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Teil: 17 / 24

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Teil: 18 / 24

Warnings: sexueller Missbrauch / Vergewaltigung

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Teil: 19 / 24

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Teil: 20 / 24

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Teil: 21 / 24

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Teil: 22 / 24

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Teil: 23 / 24

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Teil: 24 / 24

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Kommentar: Ho, Ho, Ho... Merry Christmas :3 Ich danke euch allen dafür, dass ihr mich und meinen kleinen Adventskalender durch die Vorweihnachtszeit begleidet habt und hoffe, dass ihr schöne und besinnliche Feiertage haben werdet :3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Teil: Bonus

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Kommentar: Nun aber wirklich: Viel Spaß beim allerletzten Kapitel dieses Adventskalenders :3 Komplett anzeigen

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Ein neues Jahr

Jonouchi Katsuya war nichts Besonderes. Nun ja, das stimmte nicht ganz: Jonouchis Haar war von Natur aus blond, was ihn zu einem Außenseiter machte. Alles was in Japan nicht der Norm entsprach war schlecht. Und er stach mit seinem blonden Haar aus jeder Menge sofort heraus. Aber ansonsten war er nichts Besonderes.

Er war siebzehn Jahre alt und ging in den zweiten Jahrgang der Domino Oberschule. Seine schulischen Leistungen waren mittelmäßig bis schlecht und er machte sich keine großen Hoffnungen jemals eine Uni von innen zu sehen, es sei denn als Putzkraft. Für ihn war es schon ein Wunder, dass er überhaupt von der Oberschule angenommen worden war. Schon im letzten Schuljahr hatte er tierisch im Schulstoff zurück gehangen und war froh gewesen, dass es in Japan kein Sitzenbleiben gab, wie in anderen Ländern.

Der Kirschbaum, unter dem er saß, stand in voller Blüte, wie es für Domino City im April üblich war. Er beobachtete den unablässigen Strom an Schüler, wie er sich durch das Tor des Schulgeländes presste. Die meisten waren in Gesellschaft eines oder mehrerer Freunde unterwegs und Jonouchi beneidete sie. Den letzten Freund, den er gehabt hatte und dem er sein Leben anvertraut hatte, war nach der Mittelschule weggezogen. Der Vater dieses Freundes war versetzt worden und hatte die Familie mitgenommen. Eine Weile hatten sie noch Kontakt gehalten, doch dann wurden die Chats immer seltener, bis sie schließlich ganz versiegten. Wie es Honda wohl ging?

Eine seltsame Traurigkeit befiel den Blonden. Sicherlich ging es Honda prächtig. Wahrscheinlich hatte er direkt Anschluss in der neuen Schule gefunden und durch die neuen Freunde keine Zeit mehr gefunden ihm zu schreiben. Melancholisch blickte er auf sein Handy, in der stummen Hoffnung, dass zufällig jetzt eine Nachricht von seinem ehemals besten Freund kommen würde. Doch wie so oft in seinem Leben blieb auch diese Hoffnung unerfüllt.

"Oh Gaijin...", hörte er auf einmal hinter sich und zuckte schreckhaft zusammen. Er kannte die Stimme, die ihn da so beleidigend anrief. Sie gehörte Ushio Tetsu, einem recht stämmigen Schüler aus dem dritten Jahrgang, dem er Respekt schuldete. Warum? Weil er eben im Jahrgang über ihm war. "Gaijin... du bist ja auch wieder da."

Hastig begann Jonouchi vom Boden aufzustehen und sich die Erde von der abgetragenen Schuluniformhose zu klopfen. Doch das hätte er sich auch sparen können, denn als Ushio ihn erreichte stieß er 'aus Versehen' an ihn, so dass Jonouchi wieder auf dem Boden landete.

"Hast du das gesehen, Sakai, wie der aus der zweiten Stufe mich, einen Drittklässler, einfach so angerempelt hat?", fragte er gespielt theatralisch seinen Kumpel, der ihm mit einem Schritt Abstand gefolgt war. Tokuda, der zweite in diesem üblen Dreiergespann, lachte amüsiert auf.

"Hab ich, Ushio-sama.", pflichtete Sakai dem bulligen Ushio bei.

"Eine Unverschämtheit.", fügte Tokuda empört hinzu.

Wie gerne hätte Jonouchi erst Ushio und dann den anderen beiden mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Aber das hätte unweigerlich dazu geführt, dass er im hohen Bogen von der Schule geflogen wäre. Also schluckte er seine Wut und den Hass runter, während er den Blickkontakt zu den drei mied, da er wusste, dass sie das nur als Vorwand nutzen würden ihn noch mehr zu drangsalieren.

"Tut mir leid, Ushio...", kam es mit belegter Stimme von dem Blonden.

"Haste gehört, wie er mich angesprochen hat?", kam es wieder echauffiert von Ushio.

"Kein Respekt mehr.", stimmte Sakai erneut zu.

"Was ist Gaijin, kommste aus dem Urwald, oder was? War deine Mutter zu sehr damit beschäftigt Soldaten zu bedienen, dass sie nicht dazu kam, dir unsere Sitten und Gebräuche oder zumindest ein paar Manieren einzuprügeln?", kam es bedrohlich von Ushio.

Jonouchi biss sich auf die Unterlippe und seine Hände ballten sich zu Fäusten, während er immer noch auf dem Boden saß.

"Tut mir leid, Ushio-Senpai.", wiederholte er gepresst.

"Aaah... geht doch...", lachte Ushio triumphierend. "Ich würd dir raten mir aus dem Weg zu gehen, Gaijin."

"Ja, Ushio-Senpai.", kam es wieder gepresst von dem Blonden.

"Wir wollen doch nicht, dass du nach der Schule zufällig in meine Faust läufst, oder?", kam es bedrohlich und ernst von Ushio, der sich förmlich über Jonouchi aufbaute. Es wäre nicht das erste Mal, dass Jonouchi nach der Schule diesen drei über den Weg lief und sie die Gunst der Stunde nutzte, ihm 'Manieren' oder 'Anstand' einzuprügeln. Seit dem ersten Tag auf dieser Schule hatten die drei ihn auf dem Kieker, weil er ihnen durch das blonde Haar aufgefallen war.

Noch ehe Jonouchi etwas hätte erwidern können stapften die drei davon und gliederten sich in den Strom der Schüler ein. Jonouchi schnaufte entmutigt. Scheinbar würde dieses Jahr genauso weitergehen, wie das letzte vor zwei Wochen aufgehört hatte. Aber hier war es immer noch besser, als zu Hause, bei dem Säufer von Vater, bei dem er lebte und der ihn immer wieder mit einem Punchingball verwechselte.

Wie sehr er sich in diesen Momenten nach seiner Mutter und seiner Schwester sehnte und Honda vermisste. Mit Honda an seiner Seite hätte er sich das nicht gefallen lassen. Mit jemand, der ihm Rückendeckung gab und auf den er sich verlassen konnte, hätte er es diesen Typen gezeigt. Doch alleine... alleine hatte er keine Chance.

Nur sehr schwerfällig stand Jonouchi auf, klopfte sich erneut Dreck und Staub von der Hose, bevor er nach seiner Tasche griff. Der Strom der Schüler war bereits ausgedünnt und nur noch wenige Nachzügler trudelten ein. Zeit für ihn zu schauen, in welcher Klasse er dieses Jahr sein würde und sich in dem Klassenraum einzufinden.

Doch kaum hatte er das Schulgelände betreten hörte er die Trillerpfeife des Lehrers, der an diesem Morgen die Aufsicht über den Hof hatte. Automatisch blieb Jonouchi stehen, denn er konnte sich schon denken, was nun kommen würde. Das gleiche, wie jede Jahr: Der übereifrige Lehrer würde ihn bezichtigen, dass er mit blondiertem Haar in die Schule gekommen wäre und auch jede Antwort, dass das seine natürliche Haarfarbe wäre, würde nichts daran ändern, dass er den ersten Verweis kassieren würde.

Daraufhin müsste er sich in der ersten Pause beim Direktor einfinden müssen, nur um mit diesem zu klären, dass die Haarfarbe nicht künstlich war und er auch gar kein Geld hatte sich alle paar Wochen ein Haarfärbemittel zu kaufen, um sich das Haar schwarz zu färben.

Es war immer der gleiche, demütigende Spießrutenlauf, der auf ihn wartete und er fragte sich immer noch, warum er so sehr darum gekämpft hatte, auf die Oberschule gehen zu dürfen. Weil Honda Recht hatte, hörte er sich selbst tadeln. Nur mit einem Mittelschulabschluss würde er niemals eine Chance haben etwas Besseres als eine Aushilfe zu werden. Mit einem Oberschulabschluss hatte er wenigstens die Möglichkeit eine Ausbildung in einem mittelmäßigen Job zu finden, mit dem er über die Runde kam und sich hin und wieder - nach etwas sparen - etwas leisten konnte.

Also nahm er ohne Gegenwort den Verweis hin und setzte seinen Weg fort. Nach einem Blick auf die Klassenzuteilung am Schwarzen Brett wusste er wohin er musste und kam wenig später in dem ausgewiesenen Klassenraum an. Scheinbar war er der letzte Schüler der Klasse, der herein kam und der neugierig von alle gemustert wurde. Eine Hand voll der Schüler kannte er bereits aus dem vorherigen Jahr. Andere aus den Parallelklassen. Andere waren ihm gänzlich unbekannt.

Es gab nur noch zwei freie Plätze im Raum, die beide am Fenster lagen. Eigentlich hätte er sich nur zu gern auf den hinteren der Plätze gesetzt, doch das wäre nur eine weitere Provokation für seine Mitschüler gewesen. Also setzte er sich auf den freien Platz davor.

In Gedanken klammerte er sich an die Tatsache, dass es nur noch dieses und das nächste Jahr wäre. Dann wäre er mit der Schule fertig und könnte sich eine Ausbildung suchen, mit der er sich hoffentlich ein Leben aufbauen konnte. Diese eine Hoffnung wollte Jonouchi einfach nicht aufgeben, denn sonst wäre das alles völlig hoffnungslos.
 

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Der Neue

Jonouchi saß auf seinem Platz in der Klasse und hatte den Kopf auf seinen verschränkten Armen gebettet. Gedankenverloren blickte er aus dem Fenster: Draußen schien die Sonne und sie hatten jetzt schon angenehme Temperaturen, obwohl es erst Anfang Mai war. In einem Baum, dessen Krone sich direkt vor den Fenstern des Klassenraums entfaltete, beobachtete er, wie ein kleiner Vogel ein Nest baute. Wenn Jonouchi nicht irrte, war das ein Spatz.

Dann bemerkte er, wie sich ein Schatten über ihn legte und er blickte verschlafen nach oben. Vor seinem Pult stand der Klassensprecher. Jonouchi musste erst in seinem Gedächtnis kramen, bevor er auf dessen Name kam: Tanaka.

"Kann ich dich mal kurz vor dem Klassenraum sprechen?", fragte er streng und klang dabei wie ein Chef, der seinen Angestellten maßregeln wollte. Jonouchi erwiderte nichts und stand langsam auf. Es war nicht so, dass er seiner Bewegung eine gewisse Theatralik verleihen wollte, sondern es ging einfach nicht schneller. Ihm tat der Rücken unglaublich weh, was wohl von dem großflächigen Bluterguss herrührte, der diesen überzog und dank der Schuluniform nicht zu sehen war.

Anders wie sein lädiertes Gesicht: Sein rechtes Auge war fast zugeschwollen und die Lippe auf der gleichen Seite aufgesprungen und frisch verkrustet. Er folgte dem Klassensprecher nach draußen vor die Tür und konnte die Blicke der anderen Klassenkameraden in seinem Rücken spüren.

"Hör mal, Jonouchi. Wir wollen eine ordentliche und vorbildliche Klasse sein und du fällst irgendwie völlig aus dem Rahmen. Dein blondes Haar, die unordentliche Schuluniform und wie du immer wieder aussiehst. Das wirft alles kein gutes Licht auf uns. Daher möchte ich dich stellvertretend für die Klasse bitten, dich in Zukunft aus Handgreiflichkeiten rauszuhalten und dir vielleicht die Haare dunkel zu färben... und deine Schuluniform... nun ja... vielleicht wäre es das Beste, wenn du dir mal eine neue zulegen würdest.", kam es von dem Gleichaltrigen und Jonouchi stöhnte innerlich auf.

Es war nicht so, dass er nach der Schule loszog und den Ärger suchte. Der Ärger suchte ihn. Wenn es nicht Ushio mit seinen Kumpels war, der ihm auflauerte bezog er von seinem Vater Prügel, der sich meist an der bloßen Existenz seines Sohnes störte.

Zugegeben, seine Schuluniform hatte schon bessere Tage gehabt, aber Jonouchi gab sich alle Mühe sie in Schuss zu halten. Aber wenn man nur eine besaß war das schwierig, vor allem wenn man immer wieder zusammengeschlagen wurde. Der Stoff war an vielen Stellen schon ziemlich dünn und die Angst, dass sie irgendwo riss war der ständige Begleiter des Blonden.

Und sein Haar... er war es leid. So leid, immer wieder darauf angesprochen zu werden. Wenn er es gekonnt hätte, dann hätte er sich einen anderen Vater ausgesucht. Einen, der nicht aus Amerika stammte und ursprünglich als Soldat hier stationiert worden war. Der sich in eine Einheimische verliebte, sie geheiratet und ihren Namen angenommen hatte. Der kein verdammter Säufer war.

Doch wie hätte Jonouchi das alles dem Klassensprecher verständlich machen sollen, der sich für diese Details nicht interessierte?

"Sorry, kann dir nicht behilflich sein.", meinte er schlicht, wandte sich ab und wollte zurück in die Klasse, als er unerwartet an der Schulter gepackt wurde. Ein rasender Schmerz durchzog ihn und er zog zischend die Luft ein. "Alter, lass mir meine Ruhe.", fauchte er ungehalten. Dann kehrte er zurück z u seinem Platz, die Augen aller Mitschüler auf sich gerichtet.

Wie er es hasste...
 

Der Klassenlehrer, Herr Miyatake, kam in das Zimmer und alle standen auf, wie es zur ersten Stunde eben üblich war. Der Lehrer begrüßte sie und sie grüßten im Chor zurück. Doch heute Morgen war er nicht alleine herein gekommen. Ein Schüler in ihrer Schuluniform war ihm gefolgt und stand neben ihm vor der Tafel.

Der fremde Schüler hatte schwarzes Haar, war relativ blass und dürr, trug Eye Shadow auf den Unterlider und ein Nietenhalsband, dass man unter seinem Hemd deutlich sehen konnte, dass nicht bis oben zugeknöpft war. Krawatten mussten sie ja ohnehin nicht tragen.

"Schüler, begrüßt bitte euren neuen Mitschüler: Kaiba Seto.", sagte der Lehrer monoton. "Möchtest du etwas über dich erzählen?"

Der Neue schien sich vor der Klasse sichtlich unwohl zu fühlen und schüttelte nur stumm den Kopf.

"Dann nicht... hinter Jonouchi ist noch ein Platz frei.", meinte der Lehrer, der in die Richtung des Blonden zeigte und dann stockte, als er das lädierte Gesicht seines Schülers sah. "Schon wieder, Jonouchi?"

Auf die Wangen des Blonden legte sich ein Rotschimmer der Verlegenheit und aus dem Augenwinkel konnte er Tanaka sehen, der ihn streng und tadelnd musterte. Der Lehrer seufzte nur ergeben.

"Hinter dem Blonden, Kaiba.", meinte Herr Miyatake schließlich. Ohne ein Wort oder den Blick mit einem der Schüler zu wechseln eilte der Neue auf seinen Platz. Als er an Jonouchi vorbei kam fiel diesem die Fingernägel des anderen auf: Sie waren größtenteils bis zum Anschlag runter gefressen und der schwarze Nagellack, der mal aufgetragen worden war, war zu großen Teilen längst abgeblättert.

Dann gab der Lehrer ihnen ein Zeichen, dass sie sich wieder hinsetzen durften. Jonouchi musste sich ziemlich am Riemen reißen, um sich nicht zu dem Neuen umzudrehen und ihn gründlich zu mustern. Wenn der Klassensprecher sich schon wegen ihm echauffierte, wie würde er wohl auf jemanden, wie dieser Kaiba, reagieren?

Allein das er Make up trug dürfte dem Neuen ein Verweis einbringen. Dazu waren seine Haare zu lang. Nicht so lang, wie bei den Mädels, aber doch länger, als die Lehrer es bei den Jungs gerne sah, denn sein Haar fiel ihm über das halbe Gesicht. Dann das Nietenhalsband, welches so deutlich unter dem weißen Hemd zu sehen war, und zur Krönung noch der Nagellack.

Der Blonde konnte den anderen hinter sich an den Fingernägel kauen hören. Scheinbar ein reines Nervenbündel, ging es ihm durch den Kopf. Egal, das war nicht sein Bier und würde es auch nicht werden. Er verschränkte wieder die Arme vor sich auf dem Tisch und bettete seinen Kopf darauf, während er seine Gedanken wieder aus dem Fenster fliehen ließ und den Unterricht Unterricht sein ließ.

Erst als es zur Pause läutete kehrte Jonouchi mit seinen Gedanken zurück. Er stand langsam auf und wollte die Klasse verlassen, sah aber dann Ushio mit seinen beiden Speichellecker vorbei laufen. Reflexartig drehte der Blonde auf dem Absatz um und wollte zu seinem Tisch zurück. Dabei sah er, wie der Neue eine sorgfältig gemachte Bentō Box aus seiner Tasche holte, sie auf den Tisch stellte und öffnete.

Innerlich fluchte Jonouchi. Sein einziges Mittagessen bestand in der Schule darin zum Wasserspender zu schlendern und dort ein paar Schlucke abzugreifen. Und das hatte sich für heute erledigt, nachdem er den Drittklässler auf dem Stockwerk gesehen hatte. In seiner Verfassung hätte er keine Chance gegen Ushio gehabt... also noch viel weniger, als ohnehin schon, berichtigte sich der Blonde gedanklich selbst. Also ließ er sich wieder auf seinen Platz fallen, um dort weiter zu machen, wo er aufgehört hatte: Beim Blick nach draußen und dem Schweifen seiner Gedanken.
 

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Zuhause

Der Heimweg hatte ewig gedauert. Nicht nur, dass er humpelte und ihm das Laufen Schwierigkeiten bereitete, nein. Er wäre zwei Mal beinahe Ushio und seinen Deppen in die Arme gelaufen. Es war ihm ein Rätsel was er heute verbockt hatte, dass er die Aufmerksamkeit der Drittklässler wieder auf sich gezogen hatte. Aber schlussendlich spielte es auch keine Rolle, denn meist war es ohnehin nur seine bloße Existenz, die sie in Rage versetzte. Sie riefen ihn immerhin nicht umsonst 'Gaijin', auch wenn er ein geborener Japaner war, blieb seine Herkunft doch eine gemischte.

Vor der Haustür des zwölfstöckigen Wohnhauses mit den unzähligen Wohnungen kam er schließlich zum Stehen und begann in seinen Hosentaschen zu kramen. Der Schlüssel konnte ja nicht weit sein, dachte er sich, als er ein Loch in seiner Hosentasche ertastete. Entmutigt seufzte er und hoffte, dass er Glück im Unglück hatte. Er begann sein Bein, auf dessen Seite das Loch in der Tasche entstanden war, zu schütteln und hörte dann - zu seiner Erleichterung - das Klimpern eines Schlüssels, der schließlich laut auf den Boden vor ihm fiel.

Mit viel Mühe bückte er sich und hob den Schlüssel auf. Dann schloss er die Haustür auf und betrat den Eingangsbereich, in dem auch die Briefkästen an einer ganzen Wand angebracht worden waren. Vor den Briefkästen sah er jemand, der die gleiche Schuluniform trug, wie er und erkannte ihn sofort wieder: Es war dieser Neue... dieser Kaiba. Dieser klebte gerade ein Namensschildchen an einem der Briefkästen fest und prüfte, ob der Briefkastenschlüssel auch wirklich in das Fach passte.

Jonouchi humpelte an ihm vorbei und zum Aufzug. Er betete, dass dieser heute mal funktionierte, denn die sechs Stockwerke würde er sonst nicht schaffen. Also drückte er auf den Rufknopf und wartete gespannt. Im ersten Moment dachte er schon, er hätte auch in diesem Punkt Pech, doch dann hörte er, wie der Aufzug sich im Schacht bewegte.

Kaiba hatte wohl seine Aufgabe am Briefkasten erfüllt und kam auch zum Aufzug. Er bedachte ihn nur kurz mit einem Blick, bevor er einen Arm anwinkelte und wieder an einem Fingernagel knabberte. Der Aufzug kam und der Blonde stieg ein und drückte auf die Sechs. Kaiba war nach einem kurzen Zögern gefolgt und drückte auf die Fünf.

Kritisch beäugte Jonouchi den anderen und fragte sich, seit wann der hier wohl wohnte. Wenn er eben erst die Namensschilder angebracht hatte, dann war er wohl mit seinen Eltern erst frisch eingezogen. Der Aufzug bekam einen Schluckauf, blieb kurz stecken, bevor er quietschend weiterfuhr. Kaiba hatte erschrocken seine Hände gegen die Wände der schmalen Kabine gedrückt, als glaubte er, dass er einen Absturz damit verhindern könnte. Jonouchi musste kurz lächeln. Doch dann kam der Aufzug doch noch im fünften Stock an und Kaiba stieg eilig aus ohne sich noch einmal umzudrehen.

Jonouchi fuhr ein Stockwerk weiter und fluchte innerlich ein wenig, dass das doofe Ding nicht doch noch mal richtig steckengeblieben war. Dann hätte er wenigstens nicht nach Hause gemusst.
 

Zur Abwechslung fand er die Wohnung leer vor. Er ging in die Küchennische und an den Kühlschrank, nur um festzustellen, dass er gähnend leer war. Entmutigt lehnte er sich mit der Stirn gegen den Eisschrank, bevor er ihn wieder schloss und zu einem alten Mehltopf ging. Er öffnete den Deckel und griff hinein. Tatsächlich befanden sich einige Scheine in ihm. Diese steckte er ein und verließ wieder die Wohnung.

Weiter vorne an der Straßenecke befand sich ein Conbini. Dort kaufte er einige Lebensmittel ein, die jeder eigentlich immer zuhause haben sollte. Das Geld reichte gerade so aus. Auf dem Heimweg blieb er an einem Schaufenster eines Comicladens stehen und betrachtete die Auslage, bestehend aus mehreren Decks eines Trading Card Games. Er seufzte. Wie gerne wäre er einfach in den Laden gegangen und hätte sich so ein Starterdeck gekauft. Die Regeln konnten ja nicht so schwer sein, immerhin spielten selbst Grundschüler dieses Spiel, von dem es sogar Turniere gab.

Für einen Moment träumte der Blonde davon, wie er mit einem Starterdeck bei so einem Stadtturnier antrat und gewann. Der Underdog, den keiner auf dem Schirm gehabt hatte. Vorrunde, Achtel-, Viertel- und Halbfinale, direkt ins Finale und den amtierenden Meister in den Staub stampfen. Ein fettes Preisgeld einheimsen und endlich sein eigenes Leben führen können. Doch dann kehrte er in die Realität zurück, schüttelte den Kopf und kehrte zurück in das Haus, in dem er wohnte.

Als er nach einer abenteuerlichen Aufzugfahrt endlich auf seinem Stockwerk ankam und die Wohnung betrat, musste er zu seinem Bedauern feststellen, dass sein Vater nach Hause gekommen war. Die halbe Küche war mit Mehl eingestäubt und sein Alter wirbelte wütend herum, als der Blonde herein kam.

"Du dreckiger Nichtsnutz von einem Dieb.", brüllte der Alte ihn sofort an, bevor er ihn am Kragen packte, in die Wohnung zerrte und die Tür laut ins Schloss warf. Dabei fiel Jonouchi die Papiertüte zu Boden. Eilig zog der Ältere, dessen Alkoholfahne deutlich zu riechen war, ihn in die Küche und stieß ihn wie einen Hund, der sein Geschäft auf dem Teppich verrichtet hatte, auf den Mehltopf.

"Wo ist es, hä?", schrie der Vater ihn erneut aufgebracht an.

"War einkaufen.", stammelte der Blonde nur.

"Schmeißt mein sauer verdientes Geld zum Fenster raus?", brüllte der Ältere ihn an.

"Wir hatten nichts mehr zu essen, da bin ich einkaufen gegangen.", erklärte Jonouchi eilig, was ihn nicht davor bewahrte eine Backpfeife zu kassieren. Der Schlag war heftig und er fiel gegen die Anrichte, an der er sich festklammerte. Dann legte er seine Hand auf die heiße Wange und hoffte, dadurch den Schmerz zu lindern.

"Du Sohn einer dreckigen Hure... beklaust mich und hast dann die Dreistigkeit so zu tun, als ob du mir einen Gefallen getan hättest?", schrie sein Vater ihn an, als er ihn von der Anrichte zog und ihm auf der anderen Gesichtshälfte eine runter schlug, so dass Jonouchi nun gegen die Theke fiel. Wieder versuchte er sich festzuhalten, doch es gelang ihm nicht und so fiel er auf die Knie. Doch schon spürte er erneut den Zug an seinem Kragen, der ihn auf die Beine hievte. Direkt darauf spürte er bereits die Faust seines Vaters in seiner Magengrube und irgendwo war er froh heute noch nichts gegessen zu haben, denn so musste er nur husten und nichts erbrechen. Erneut sackte er auf die Knie und rang um Atem.

"Hör auf deine Scheißzeit mit Schule zu verschwenden und such dir endlich einen Job.", brüllte der Vater ihn an, während er mit seinen Stahlkappenschuhen gegen das Bein seines Sohnes trat. Der Schmerz raste durch Jonouchis Schenkel und beinahe hätte er aufgewimmert. Doch zum Glück war er geübt darin das Wimmern zu unterdrücken, denn das brachte den Alten erst Recht in Rage.

"Ich geh jetzt in die Stube. Wenn ich wiederkomme ist hier aufgeräumt und alles sauber und besser so, dass ich mich drin spiegeln kann, haste gehört?", schrie sein Vater wütend, als er zur Wohnungstür stapfte und dabei auf die Papiertüte trat. Dann riss er die Tür auf, verließ die Wohnung und knallte sie mit Schwung ins Schloss.

Jonouchi wartete noch einen Moment, bevor er sich erlaubte, sich nach vorne zu krümmen und endlich zu weinen. Sein Bauch tat ihm furchtbar weh und das Bein pochte. Wie so viele Male zuvor fragte er sich, was er wohl in seinem früheren Leben verbrochen hatte, dass er so ein Leben verdient hatte.

Nach ein paar Minuten drängte er seine Verzweiflung und den Schmerz zurück, bevor er sich aufraffte und begann die Wohnung aufzuräumen. Er wollte seinem Vater, der wohl erst spät in der Nacht kommen würde, keinen erneuten Anlass geben wütend auf ihn zu werden.
 

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Nachbarn

Seto kam gerade vom Conbini an der Ecke zurück und trug zwei Papiertüten auf dem Arm. An der Tür balancierte er die Tüten geschickt so, dass er eine Hand freibekam und die Tür aufschließen konnte. Durch die Glastür konnte er einen Mann Mitte zwanzig sehen, der ihm dabei zusah und auf jemand zu warten schien. Ihm beim Öffnen der Tür zu helfen schien dem anderen nicht in den Sinn zu kommen und war nur ein Beispiel für die Mentalität der Bewohner dieses Hauses.

Er wohnte mit seinem Adoptivvater Gozaburo gerade mal etwas mehr als eine Woche in diesem Haus und konnte jetzt schon sagen, dass er es hasste. Neben der fehlenden Hilfsbereitschaft gab es auch keine Höflichkeitsfloskeln. Nicht mal ein einfaches Grüßen, wenn man sich zufällig auf dem Flur, im Aufzug oder an den Briefkästen begegnete. Aber was ihn am Meisten an diesem Haus störte war die Tatsache, dass einer aus seiner Klasse auch hier wohnte.

Über Jonouchi hatte er mit einem Ohr schon einiges in der Schule gehört. Ein Schläger, ein Taugenichts, ein Versager auf ganzer Linie. Sowas und schlimmeres hatte man über den Blonden gesagt. Dazu kamen Bezeichnungen wie 'Gaijin'. Dass dieses Wort heutzutage noch gebräuchlich war, wunderte Seto ehrlich. Aber er mischte sich da nicht ein. Er war ehrlich froh, dass die anderen Schüler ihm keine Beachtung schenkten.

Als er endlich die Tür offen hatte schob er sie mit dem Fuß auf und griff wieder fester nach den Tüten, bevor er das Haus betrat. Dann ging er zu den Briefkästen, stellte eine Tüte auf eine erhöhte Nische und schaute nach, ob sie Post bekommen hatten. Doch der Briefkasten war leer. Also nahm der die Tüten wieder auf und ging zum Aufzug.

Er hasste diesen Aufzug. Nicht unbedingt, weil es ein Aufzug war. Eher lag es daran, dass die Kabine nur einen knappen Meter auf einen Meter fünfzig groß war. Darin drohte er regelrecht klaustrophobische Anfällen zu bekommen. Bevor er die Aufzugstür erreichte eilte der Typ, der die ganze Zeit vorne bei den Briefkästen gestanden hatte, plötzlich an ihm vorbei, riss die Tür auf und stieg in den Aufzug. Seto seufzte innerlich. Dann stieg er hinzu und warf über die volle Papiertüte einen Blick auf die Bedientafel auf der die Sechs aufleuchtete. Doch er war so in Gedanken, dass er sich an dem Fremden vorbei schob ohne sein Stockwerk zu wählen und stellte sich an die hintere Wand.

Der Aufzug setzte sich stockend und ruckelnd in Bewegung und alles in ihm verkrampfte sich. Die Fahrt kam ihm vor, als würde sie ewig dauern. Doch dann hielt die Kabine und der Fremde stieg aus. Er hielt ihm nicht die Tür auf und Seto strauchelte ein wenig, bis er auch die Kabine verlassen hatte. Dann trug er die Tüten den Flur entlang, bevor er sie vor der Tür abstellte und den Schlüssel in die Haustür stecken wollte. Doch zu seiner Verwunderung passte der Schlüssel nicht. Er zog seine Stirn kraus und sah den Schlüssel verwirrt an. Plötzlich hörte er ein Rumsen aus dem Inneren der Wohnung und sah entgeistert die geschlossen Tür an, die plötzlich aufgerissen wurde.

"Was sollen das, Bürschchen?", wurde er von einem hochgewachsenen Mittvierziger mit deutlichem amerikanischen Akzent und Alkoholfahne angeschrien. Seto wich einen Schritt zurück und überlegte krampfhaft, was er erwidern sollte. Da trat der Mann auch schon einen Schritt zurück, eröffnete kurz einen Blick auf Setos Klassenkamerad, der sich gerade versuchte an der Theke, die auch hier Küche und Wohnzimmer trennte, hochzuziehen. Jonouchi trug sogar noch seine Schuluniform.

"Verschwinde.", brüllte der Ältere und schlug die Wohnungstür wieder ins Schloss. In der Wohnung hörte er den Mann wieder schreien und erkannte, dass er ein Stock zu hoch war.

Seit sie hier wohnten hatte er immer wieder am Nachmittag oder in der Nacht die Schreie und Beleidigungen aus der Wohnung über ihnen gehört. Hatte sich immer gefragt, wer sich so etwas gefallen lassen würde. Jetzt wusste er es. Aber wenn Jonouchi dieser berüchtigte Schläger war, wie es in der Schule erzählt wurde, wieso wehrte er sich nicht? Kurz hielt Seto inne und tadelte sich selbst mental ein wenig. Das war nicht seine Angelegenheit und hatte ihn nicht zu interessieren. Also nahm er die Tüten wieder auf den Arm und ging zum Aufzug zurück. Doch ehe er noch einmal in dem Ding fuhr nahm er lieber die Treppe, um ein Stockwerk hinunter zu kommen.
 

Es waren fast zwei Wochen vergangen, seit Seto sich in der Wohnung geirrt hatte und in der Zeit hatte er immer häufiger bemerkt, dass er Jonouchi in der Schule beobachtete und sich nachmittags so seinen Kopf über den anderen zerbrach. Er wusste selbst nicht warum. Aber irgendetwas bewegte der Blonde in ihm.

Jonouchi hatte absolut nichts von einem Schläger in seinem Wesen. Da waren keine Aggressivität, Arroganz oder Gewaltausbrüche. Doch wann immer er mit neuen blauen Flecken in die Klasse kam tuschelten die anderen Schüler und Schülerinnen. Dabei versuchte er diese so gut es ging zu verstecken, doch die im Gesicht konnte er nicht verbergen. Wie auch? Dazu hätte er eine Maske tragen müssen.

Ansonsten schien Jonouchi nicht der ambitionierteste Schüler zu sein, denn überwiegend lag er über seinen Tisch gebeugt da und schaute aus dem Fenster, während die Lehrer vorne ihren Unterricht abhielten. Die schien es gar nicht zu stören, dass der Blonde sich am Unterricht nicht beteiligte.

In den Pausen suchte Jonouchi üblicherweise den Wasserspender auf und nahm ein paar Schlucke. Mehr schien er nicht zu Mittag zu sich zu nehmen und auch nur, wenn diese eine Fluraufsicht sich nicht vor dem Klassenraum herum trieb. Den Namen des Typs kannte Seto nicht. Aber er schien immer wieder nach Jonouchi zu schauen. Aus welchem Grund... das war für Seto nicht ersichtlich.
 

Auf dem Heimweg hatte Seto Jonouchi die ganze Zeit einige Meter vor sich. Der andere schien es nicht sehr eilig zu haben nach Hause zu kommen. Verdenken konnte der Dunkelhaarigen es dem anderen nicht. Auf einmal spürte Seto, wie sein Handy vibrierte. Er zog es aus der Hosentasche und blickte darauf. Eine Nachricht von seinem Adoptivvater, dass er einige Sachen aus dem Conbini mitbringen sollte.

Als Seto von seinem Handy wieder aufsah war Jonouchi verschwunden. Wie das möglich war, war dem Goth ein Rätsel, denn sie hatten keine Straßen passiert. Doch sich weiter Gedanken über den anderen zu machen konnte sich Seto nicht mehr leisten. Sein eigener Alltag hatte ihn wieder eingeholt und so setzte er seinen Weg fort, der ihn unweigerlich am Conbini vorbei führen würde. Dort kaufte er die Sachen, die ihm aufgetragen worden waren, und war überrascht, dass es doch eine ganze Papiertüte füllte.

Er nahm sie und setzte seinen Heimweg fort. Als er dann zu dem Hochhaus kam presste er die Papiertüte zwischen sich und die Tür, um eine Hand frei zu bekommen und den Schlüssel aus seiner Hosentasche zu kramen und aufzuschließen. Die Tür gab plötzlich leichter als sonst nach Innen nach und die Tüte begann zu fallen. Wenn sie auf den Boden aufkommen würde, würde das Glas Gurken in ihr zerbrechen und die Flüssigkeit würde das Papier der Tüte durchweichen und sie unbrauchbar machen.

Doch zu seiner Überraschung fing jemand die Tüte auf, bevor sie auf den Boden aufkam. Verwundert blickte Seto auf und sah in die haselnussbraunen Augen von Jonouchi. Dieser reichte ihm die Tüte wieder und Seto konnte den Bluterguss sehen, der sich um dessen Handgelenk abzeichnete. Dann schob sich Jonouchi an ihm vorbei ins Haus. Schweigend folgte Seto ihm zum Aufzug und als dieser endlich im Erdgeschoss ankam stiegen sie gemeinsam ein.

Als Seto im fünften Stock ausstieg blieb er noch einmal stehen und wandte sich zu dem Blonden, der ihn verwirrt musterte.

"Danke.", meinte er kaum hörbar zu ihm und verschwand dann in dem Flur Richtung der Wohnung, in der Gozaburo und er wohnten.
 

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Unerwartete Hilfe

Jonouchi saß auf der Bank in der Turnhalle und fragte sich, warum er heute überhaupt in die Schule gekommen war.
 

Ushio und seine Kumpels hatten ihn bereits auf halben Weg zur Schule abgepasst und seine tägliche Portion Gift verspritzt. Hatten ihn spüren lassen, dass er nur ein 'Gaijin' in ihren Augen war, ihm wiederholt gesagt, dass er nichts wert und ein Totalversager war. Nichts was neu für Jonouchi gewesen war und was er nicht ohnehin schon gewusst hatte. Er hatte nichts erwidert. Jede Erwiderung seinerseits hätte die Rage der drei nur noch verstärkt. Kurz vor der Schule hatten sie dann begonnen ihn zu schubsen und zu stoßen.

Dabei war er sogar vor ein Auto gefallen, dessen Fahrer erschrocken auf die Bremse gestiegen war und gerade noch rechtzeitig hatte anhalten können. Doch nicht ohne seinem Ärger Luft zu machen und Jonouchi zu fragen, ob er doof sei. Wenigstens waren Ushio und seine zwei Lakaien durch die plötzliche Ernsthaftigkeit der Situation erschrocken und hatten sich direkt verzogen.

Nur mühevoll hatte er sich vom Asphalt der Straße hochgestemmt und hatte gesehen, dass ein großer Ölfleck an seinem Knie in den Stoff eingesickert war. Als er endlich stand und das Auto weitergefahren war fiel ihm der neue auf, der am Bordstein stand. Dessen Blick hatte etwas irritiertes, doch das war Jonouchi egal. Er wandte sich Richtung Schule und absolvierte den Rest der Strecke mit hängenden Schultern.

Kaum war er auf dem Schulgelände angekommen wurde er von der Hofaufsicht gestoppt, die ihn auf Grund des unordentlichen Zustands seiner Kleidung und des deutlichen Ölflecks auf der Hose rügte. Doch immerhin hatte sie ihm keinen Verweis erteilt.

Als Jonouchi an seinem Spind ankam musste er feststellen, dass seine Hausschuhe für die Schule verschwunden waren. Fahrig ging er sich durch sein Haar. Als er sich umschaute, sah er einen Schuh aus dem Mülleimer ragen. Also ging er hin und fischte sie heraus. Zum Glück waren diese Schuhe so konzipiert worden, dass man sie einfach abwaschen konnte.

Doch es ging weiter, denn kaum in der Klasse angekommen fand er seinen Tisch mit dem Wort 'GAIJIN' verschmiert vor. Doch ehe er es abwaschen konnte kam auch schon der Lehrer, also verteilte er seine Schulsachen so, dass man das Wort nicht mehr sah. Einen Verweis wegen Beschädigung von Schuleigentum war das letzte, was er jetzt brauchte.

Zur Krönung der ersten Unterrichtsstunde teilte der Lehrer die korrigierten Arbeiten der vergangenen Woche aus. Es überraschte den Blonden gar nicht, dass auf seiner Arbeit ein fettes 'Ungenügend' prangerte. Alles andere wäre ein Wunder gewesen. So stopfte er die Arbeit nur wieder in seine Tasche.

Dann schien irgendeine kosmische Kraft doch Erbarmen mit ihm zu haben und er konnte die restlichen Schulstunden unbehelligt vor sich hin existieren, aus dem Fenster schauen und seine Gedanken schweifen lassen. Bis ihm einfiel, dass sie in den letzten beiden Schulstunden Sport hatten. Das verpasste ihm einen ziemlichen Dämpfer, denn er hasste es sowohl sich umziehen zu müssen, als auch seine eingeschränkte Mobilität, die die Sportstunde zu einem Spießrutenlauf werden lassen würde.

Auf dem Weg zur Turnhalle hatte er dann das Pech, das er mit Genzo, einem aus dem Baseball-Club, zusammen stieß. Der andere fiel nach vorne und mitten in eine Schlammpfütze, was ihm das Gelächter und Grinsen seiner Clubmitglieder und der zwei Cheerleaders einhandelte. Bitterböse hatte er Jonouchi angefunkelt als dieser nervös einen Schritt zurück wich. Dann hielt er dem anderen aber seine Hand hin, um ihn aufzuhelfen. Doch Genzo, der Starspieler des Baseball-Clubs, der vor ihm im Schlamm kniete, schlug die Hand ungehalten weg.

Als der Blonde die Sporthalle erreichte stellte er fest, dass sein Sportspind leer war. Keine Sportsachen, keine Turnschuhe. Der Spind war einfach leer. Dazu war er auch noch zu spät. Er hatte nur fest die Lippen aufeinander gepresst und kurz abgewogen: Eine Möglichkeit wäre gewesen, die Umkleiden wieder zu verlassen, doch er sah einige Mitglieder des Baseball-Clubs vor der Tür warten. Ob sie auf ihn warteten wollte der Blonde nicht rausfinden.

Also entschied er sich für die zweite Möglichkeit: Er war zu seinem Sportlehrer gegangen und hatte ihm gestanden, dass er seine Sachen vergessen hatte. Dieser war wenig begeistert und trug ihm ebenfalls ein 'Ungenügend' in die Notenliste ein, bevor er ihn auf die Bank verwies. Zu Jonouchis Überraschung saß bereits jemand auf der Bank: Kaiba. Er saß da, als wäre es das Normalste der Welt und lass im Biologiebuch. Kurz hatte sich der Blonde gefragt, ob Kaiba auch seine Sachen vergessen hatte, entschied aber dann, dass ihn das nichts anging.
 

Na ja, im Grunde war Jonouchi froh nicht am Sportunterricht teilnehmen zu müssen. Das was der Sportlehrer heute von den anderen verlangte hätte er mit seinen Schmerzen im Rücken und dem Bauch nicht mal ansatzweise hinbekommen. Es wäre also so oder so auf ein 'ungenügend' hinaus gelaufen. UNGENÜGEND, hallte es immer wieder durch Jonouchis Kopf, während er durch die hohen Scheiben nach draußen in den Himmel schaute. Dieses Wort beschrieb ihn ganz gut.

Erst das Klingelzeichen riss ihn aus seinen Gedanken und er stellte fest, dass die Turnhalle sich längst geleert hatte und er wohl der letzte war. Also stand er langsam auf und machte sich auf den Weg zu den Umkleiden. Als er feststellte, dass sie bereits von allen verlassen worden war, war er erleichtert. Langsam näherte er sich seinem Spind und stellte beruhigt fest, dass seine Sachen noch da waren. Also nahm er seine Tasche und ging ohne große Eile in die große Eingangshalle, in der die Spinde mit den Straßenschuhen standen. Er wechselte das Schuhwerk und verließ dann endlich die Schule.

Er trat durch die verglaste Tür und wurde angerempelt. Ärger wallte für einen Sekundenbruchteil in ihm auf. Dann wurde er erneut angerempelt und noch einmal und noch einmal. Dann schlug ihm jemand die Tasche aus der Hand, so dass sie auf den harten Steinboden fiel, dass Schloss zersprang, woraufhin sich die Bücher auf dem staubigen Untergrund verteilten.

Als Jonouchi über seine Schulter den zehn Jungs hinterher sah schnallte er es endlich: Das war die A-Mannschaft des Baseballclubs gewesen. Super, dachte er bei sich. Noch ein paar auf der Liste der Leute, die einen Groll gegen mich hegen.

Mühsam ging er in die Knie und musste scharf einatmen. Seine Hand war an seine Seite geschnellt und presste gegen den aufkeimenden Schmerz, der von einem Tritt seines Vaters herrührte, den er vor ein paar Tagen kassiert hatte. Dann griff er nach den nächsten Büchern und steckte sie in seine Tasche. Für die restlichen drei Bücher hätte er aufstehen, einen Schritt weiter gehen und sich wieder bücken müssen.

Innerlich fluchte er bei dieser Erkenntnis, doch was blieb ihm schon groß übrig? Da griff jemand nach seinen Büchern und reichte sie ihm. Verwundert blickte er auf die blassen, schmalen Hände, die ihm die Bücher hinhielt. Verwirrt folgte er über die Hände den Armen zu den Schultern und dem dazwischen liegenden Gesicht.

Zu seiner Überraschung hatte sich Kaiba hingehockt und seine Bücher aufgesammelt und hielt sie ihm stumm entgegen, während er den Blickkontakt mied. Nach einem langen Zögern nahm er seine Bücher entgegen, verstaute sie in seiner Tasche und versuchte dann die Klappe so zu fixieren, dass sich die Tasche nicht gleich erneut ausleeren würde. Als er aufstehen wollte reichte Kaiba ihm eine helfende Hand. Misstrauisch besah der Blonde sie. Sicherlich würde der andere die Hand wegziehen, wenn er nach ihr griff oder ihm die halbe Strecke aufhelfen und dann loslassen, so dass er wieder hinfiel. Vermutlich wollte der andere sich so endlich profilieren und in die Klassengemeinschaft eingliedern. Also warum sollte er ihm diesen Dienst nicht erweisen. Wissend was da kommen würde griff er nach der Hand und ... fand sich plötzlich im Stand wieder, bevor sich Kaibas Hand von ihm löste. Verwirrt blickte sich Jonouchi um, bevor ihm klar wurde, dass sie ganz alleine waren.

"D ... Danke.", meinte er leise zu dem Goth, der ihm nur zunickte. Dann wandte er sich zum Schultor und Kaiba schien ihm in einem Schritt Abstand zu folgen. Als sie die Straße erreichte, an der Jonouchi am Morgen fast überfahren worden wäre, hörte er die Stimme des anderen, die er zuvor nur einmal vernommen hatte, nämlich als er ihm mit seinem Einkauf geholfen hatte.

"Warum wehrst du dich nie?", fragte Kaiba leise, als hätte er vor seiner eigenen Stimme Angst.

"Bin halt friedliebend.", meinte Jonouchi grinsend, doch tatsächlich brauchte er nur noch einen Verweis um einen Schulverweis einzuheimsen. Und so bestritten sie den Rest des Weges schweigend nebeneinander.
 

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Aussicht

"Was soll'n das jetzt?", kam eine schrille, unangenehme Stimme, als die Wohnungstür geöffnet wurde. "Hey, von 'nem zweiten Typ war nie die Rede."

Überrascht wandte sich Jonouchi um, der in der Küche gestanden hatte und gerade das Abendessen für seinen Vater und sich zubereitete. Die Frau, die ihm nicht bekannt war und in ihrer Wohnungstür stand, war bestimmt schon an ihrer vierzig vorbei geschrammt. Dennoch trug sie einen Rock, der kaum über den Schritt reichte und knallig gemustert war, grobmaschige Netzstrümpfe, die von schwarzen Strapsen gehalten wurden, Hochhakige, sowie ein Top, dass mehr erahnen ließ, als es verbarg. Darüber trug sie eine Kunstfelljacke mit Leopardenmuster und war auffällig aggressiv geschminkt. Sie verzog angewidert die Mundwinkel, in der eine Zigarette gerade noch so Halt fand. In diesem Moment trat sein Vater zu der Frau und blickte verwirrt in die Wohnung.

"Ach, das ist nur der Nichtsnutz von Sohn, den ich durchfüttere.", meinte er lallend und lachte, als hätte er einen besonders guten Witz gemacht. Doch die Frau war gar nicht amüsiert.

"Neee ... ich geb keine Lehrstunden.", meinte sie zickig. "Dachte, du wolltest so richtig loslegen."

"Ist kein Problem.", meinte der Alte, löste sich von der Frau und ging zu seinem Sohn. Unsanft packte er ihn am Kragen seines Shirts, was den Blonden kurz schreckhaft zusammenzucken ließ, zerrte ihn mit sich zur Wohnungstür und schob ihn unsanft aus der Wohnung. "Gönn deinem Alten mal 'ne Nacht um Druck abzubauen.", meinte sein Vater lallend zu ihm und schlug ihm dann die Wohnungstür vor der Nase zu.

Während Jonouchi noch perplex vor der Tür stand konnte er aus dem Inneren der Wohnung das amüsierte Kichern der Frau hören, die wohl diese Nacht mit seinem Vater verbringen würde.

"Oh ... das riecht aber gut...", hörte er durch die Tür, bevor er das Klappern der bereit gestellten Schalen hören konnte. Das Essen hatte gerade so für zwei Portionen gereicht und er bezweifelte, dass die beiden ihm etwas raus reichen würde. Frustriert presste der Blonde die Lippen fest aufeinander und ballte seine Hände zu Fäusten. Doch dann atmete er tief durch und lief den Gang Richtung Aufzug.
 

Nur in Jeans und Shirt, ohne Schuhe oder Jacke saß der Blonde auf dem Dach, den Kopf in den Nacken gelegt und an die Wand des Dachzugangs gelehnt. Er schaute in die Sterne, die um diese Zeit, nachdem das Licht der Stadt gedimmt worden war, gut sehen konnte.

Es war nicht das erste Mal, dass er eine Nacht hier oben verbrachte oder vor seinem Vater und dessen gewalttätige Natur sich hier hoch geflüchtet hatte. Eigentlich hatte er hier eine Kiste deponiert, in der er eine Decke und ein paar Müsliriegel gebunkert hatte. Doch als er heute hier hochgekommen war, war die Kiste verschwunden gewesen.

Obwohl es schon fast Ende Mai war waren die Nächte immer noch ziemlich kühl, um nicht zu sagen kalt. Daher hatte er sich hinter das kleine Aufgangshäuschen, in dem die Treppe nach unten führte, gesetzt. Hier gab es einige Lüftungsschlitze, durch die warme Luft zu ihm kam.

Während er weiter in die Sterne blickte und die Arme eng um sich schlang, wurden seine Augenlider immer schwerer und drohten zuzufallen. Doch wenn das geschah, dann würde er morgen früh verschlafen und zu spät zur Schule kommen. Das konnte er sich nicht leisten. Ein Tag unentschuldigtes Fehlen und die Schule hätte ihn in der Hand. Dann hätte er wieder vor dem Direktor zu Kreuze kriechen müssen. Darauf konnte er echt verzichten.

Plötzlich wurde die Tür zum Dach so heftig aufgestoßen, dass sie gegen die Wand des Aufstieges prallte. Schlagartig war Jonouchi wieder wach, während das Adrenalin durch seinen Körper schoss. Er hatte ihn gefunden, war das erste, was ihm durch den Kopf ging. Doch dann hörte er hastige, rennende Schritte. Vorsichtig lugte er um die Ecke und sah Kaiba quer über das großflächige Dach zu einer Seite rennen.

Was war denn mit dem los? Aber die viel wichtigere Frage war, was hatte sein Klassenkamerad vor? Als Kaiba an die Brüstung des Daches kam umfasste er sie fest mit seinen Händen und setzte zum Sprung darüber an.

Als der Blonde erkannte, dass Kaiba im Begriff war über die Brüstung und damit vom Haus zu springen. und er zu weit weg war, um den anderen erreichen zu können, nutzte er das, was er hatte. Seine Stimme.

"Also ich find die Aussicht von hier drüben ja besser, als die dort.", rief Jonouchi über das Dach. Erschrocken wirbelte der Goth atemlos zu ihm rum und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Wow, dachte Jonouchi plötzlich, als er zum ersten Mal die strahlend blauen Augen richtig erkennen konnte.

"W ... was?", kam es mit brüchiger Stimme von Kaiba.

"Die ... Aussicht ist hier drüben wesentlich beeindruckender, als auf der Seite, auf der du da gerade stehst.", meinte Jonouchi noch einmal. Kaibas Brustkorb hob und senkte sich in einem raschen Takt, als wäre er die ganzen Treppen aus dem fünften Stock hier hoch gerannt. "Es müsste jeden Augenblick los gehen mit dem Meteorschauer."

Verwirrt blickte Kaiba ihn an, dann löste er seine Hände von der Brüstung und kam langsam zu ihm rüber. Jonouchi war erleichtert. Er wusste nichts von seinem Klassenkamerad, außer, dass dieser auch hier im Haus im fünften Stock wohnte. Aber nichts davon erklärte, warum er eben vom Dach springen wollte.

"B ... Bist du deswegen hier oben?", fragte Kaiba ihn kaum hörbar. Jonouchi grinste ihn verschmitzt an und verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf, bevor er nickte.

"Jap ... genau ... ich schau mir das jedes Jahr an.", log er und hoffte, dass der andere ihm glaubte.

"Und ... da bei dir hat man eine bessere Aussicht darauf?", hakte Kaiba langsam nach. Jonouchi nickte und deutete auf die Rückwand des Treppenaufgangs.

"Dort kann man bequem sitzen und kriegt ein bisschen warme Luft vom Haus ab.", erklärte er, denn obwohl Kaiba einen Rollkragenpullover mit langen Ärmel und eine normale Hose trug schien er zu frieren. Also zeigte er auf die Lüftungsschlitze und ließ dem anderen den Vortritt. Dieser musterte die Stelle kurz kritisch, bevor er sich dann doch langsam und sehr bedächtig auf den Boden an die Lüftung setzte.

Jonouchi hatte Kaiba in den letzten Tagen gelegentlich in der Schule beobachtet. Der Goth mied den Blickkontakt und war immer darauf bedacht zu anderen Schülern und den Lehrern eine gewisse körperliche Distanz zu wahren. Ein oder zwei Mal hatte er Kaiba zusammenzucken gesehen, als der Klassensprecher ihn angesprochen hatte. In der Schule redete der Dunkelhaarige eigentlich nie. Tatsächlich, wenn er darüber sinnierte, war es jetzt erst das dritte Mal, dass er die Stimme des anderen gehört hatte.

"Hier ist genug Platz für uns beide.", meinte Kaiba auf einmal zu ihm und rückte etwas von den Lüftungsschlitzen weg, so dass eine Hälfte frei wurde. Jonouchi setzte sich überrascht neben ihn und war dankbar für das bisschen Wärme, dass er empfangen durfte.

Natürlich brannte die Frage unter seinen Fingernägeln, warum Seto so hastig auf das Dach gestürmt war und vom Dach springen wollte. Doch andererseits ... hatte er kein Recht zu fragen. Wenn der andere es ihm erzählen wollte, dann würde er ihm zuhören, doch solange würde er sich gedulden.
 

Es dämmerte schon als Kaiba sich zu bewegen begann. Fragend blickte Jonouchi ihn an.

"Hm ... der Meteorschauer hat es sich wohl anders überlegt.", meinte der Goth leise und mit einem angedeuteten, sanftem Lächeln, während er langsam aufstand.

"Ja, scheint so. Vermutlich hab ich mich im Tag geirrt und es ist erst morgen soweit.", meinte Jonouchi kess.

"Also wirst du morgen wieder hier oben sein?", hakte Kaiba vorsichtig nach. Jonouchi blickte zu ihm auf. Da morgen - oder eher heute - der Tag nach dem Stelldichein seines Vaters war, was bedeutete, dass er mega-üble Laune haben würde, wäre es nur ratsam für ihn nach der Schule hier hoch zu kommen und zu warten, bis sein Vater in die Stube zum Zocken oder seine Stammkneipe zum Saufen ging. Also nickte er.

"Jap ... ich bin gleich nach der Schule hier.", meinte er und lächelte kurz.

"Okay ...", meinte Kaiba bevor er um den Aufgang zur Tür ging. "Bis später in der Schule."

Überrascht blickte Jonouchi dem Dunkelhaarigen nach.

"Ja, bis später.", gab der Blonde verblüfft zurück.
 

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Freundschaft?

Als die Sonne aufgegangen war hatte Jonouchi das Dach verlassen und war leise die Treppe hinunter in den sechsten Stock gestiegen. Vor der Wohnung war er stehen geblieben und stellte fest, dass er gar nicht in die Wohnung reinkam. Sein Vater hatte ihn so prompt vor die Tür gesetzt, dass der Blonde gar keine Gelegenheit mehr gehabt hatte nach seinem Schlüssel zu greifen. Also musste er warten, bis entweder der Alte oder die Tussi die Wohnung verlassen würden. Er seufzte ergeben.

Doch so lange musste er gar nicht warten. Es war kurz nach sechs Uhr, als die Tür eilig aufging und die Frau eilig auf ihren Hochhakigen das Weite suchte. Entsetzt sah sie den Blonden an, der vom Flurboden aufstand. Scheinbar machte es auf sie den Eindruck, er habe die ganze Nacht hier gesessen. Aber das war ihm nur Recht. Sollte sie doch vor Scham im Erdboden versinken. Gerade als er an ihr in die Wohnung wollte, ohne sie eines Wortes oder eines weiteren Blickes zu würdigen stapfte der Alte in einer dreckigen, Feinrippunterhose aus dem zweiten Schlafzimmer.

"Hey, Schnalle, wohin so eilig?", fragte er und der Alkohol in seinem Atem erfüllte den Raum.

"Dein Junior scheint zur Schule zu müssen.", meinte sie nur, bevor sie hinter sich die Tür zu zog und man hörte, wie sie eiligst das Weite suchte. Jonouchi schaute ihr ungläubig hinterher und konnte nicht glauben, dass sie für ihren Abgang ihm die Schuld zugeschoben hatte. Er presste die Zähne fest aufeinander und spürte, wie sein Vater sich hinter ihm aufbaute. Jonouchi wusste, was jetzt kommen würde.
 

Er war spät dran. Nachdem der Alte endlich fertig war und zum Frühstücken die Wohnung verlassen hatte, war Jonouchi noch schnell duschen gegangen und war dann in seine frisch gewaschene Schuluniform geschlüpft. Es hatte etwas gedauert sein Haar richtig zu frisieren und dann hatte er entsetzt festgestellt, dass er spät dran war. Der Kühlschrank war ohnehin leer und bot kein Frühstück und vom Abendessen war nichts übrig geblieben.

Als er das Haus verließ blieb er verwundert stehen, als er Kaiba wartend auf dem Bürgersteig stehen sah. Sicherlich wartete der andere auf jemand anderes, tadelte er sich und verließ das Grundstück des Wohnhauses. Doch als er zu Kaiba aufschloss straffte dieser sich und musterte ihn fragend.

"D... Dachte, wir könnten gemeinsam zur Schule gehen.", meinte der Goth schüchtern. Jonouchi hatte ihn verdutzt angeblickt und genickt, wodurch sich sein Haar etwas bewegte. Kaiba streckte seine Hand aus und der Blonde brauchte seine gesamte Selbstbeherrschung, nicht einfach zurück zu schrecken. Doch statt das Haar wegzustreichen und das Veilchen offen zu legen richtete der Goth es wieder, so dass es den Bluterguss verbarg.

Jonouchi war einfach nur verwirrt und sie bestritten gemeinsam den Schulweg. Auf halben Weg sah Jonouchi weiter vorne Ushio und dessen Kumpel stehen. Er stockte kurz und suchte nach einer Ausrede für Kaiba, warum er mal eben die Straßenseite wechseln wollte.

"Schau mal da drüben.", meinte Kaiba auf einmal und deutete auf die Fensterscheibe des Spielladens auf der anderen Straßenseite. Er wechselte direkt die Straßenseite und Jonouchi folgte ihm. "Kennst du das?"

Jonouchi blickte auf die Auslagen der verschiedenen Kartendecks des Trading Card Games, von dem er neulich phantasiert hatte.

"Nur vom Hören.", meinte er schließlich. "Hab gehört, es sei sehr strategisch."

"Kann es sein.", meinte Kaiba und warf einen Blick über seine Schulter. Ushio und die anderen beiden hatten sie offensichtlich nicht gesehen und stapften Richtung Schule davon. Auch sie setzten ihren Weg weiter fort.
 

Die Schulklingel läutete zur Mittagspause und die meisten aus ihrer Klasse strebten hinaus, um in der Schulkantine essen zu gehen. Jonouchi streckte sich, hatte er überwiegend auf seinem Pult gelegen und hatte etwas gedöst. Gerade als er den Raum verlassen wollte, sah er Ushio den Flur hochstapfen. Der Drittklässler sah alles andere als gut gelaunt an, also wich der Blonde in seinen Klassenraum zurück und presste sich mit dem Rücken an die Wand. Mit ein bisschen Glück würde Ushio ihn bei einem flüchtigen Blick in den Raum nicht sehen.

Er sah, wie Kaiba aufstand und zu ihm kam. Jonouchi fluchte innerlich. Er wollte den anderen nicht vor den Kopf stoßen, doch wenn er jetzt zu ihm kam und ein Gespräch begann, würde Ushio ihn mit Sicherheit sehen. Doch Kaiba stellte sich mit dem Rücken zu ihm neben ihn und dann schien Ushio in den Raum zu schauen.

"Suchst du wen?", fragte Kaiba und etwas Kaltes lag in seiner Stimme.

"Jonouchi?", blaffte Ushio. Unbewusst hatte Jonouchi den Kopf immer mehr eingezogen und war sogar an der Wand immer mehr nach unten gerutscht.

"Ist nicht da.", erwiderte Kaiba kalt. "Soll ich ihm was ausrichten?"

Eine kurze Pause entstand, doch dann stapfte der andere fort. Kaiba blieb noch einen Augenblick so stehen und sah dem Drittklässler hinterher.

"Dummer Bulle.", meinte Kaiba leise und seine Stimme verlor an Kälte und wurde wieder weicher, so wie Jonouchi sie kennen gelernt hatte. "Er ist weg."

Überrascht blickte Jonouchi vom Boden, auf dem er angekommen war, zu Kaiba hoch, der ihn kurz anlächelte.

"Danke.", hauchte er und versuchte das Adrenalin abzustellen, welches ihn geflutet hatte.

"Ach was.", meinte Kaiba nur, bevor ein lautes Magenknurren den Raum durchzog. Überrascht blickte der Goth auf den Blonden, dessen Wangen sich vor Verlegenheit etwas röteten.

"Sorry.", murmelte der Blonde nur.

Kaiba ging zu seinem Tisch zurück und kramte in seiner Tasche. Als er zurück kam hielt er Jonouchi, der immer noch am Boden saß, eine Bentō Box hin. Verwirrt sah der Blonde auf das edel wirkende, schwarze Holzgefäß, dass man ihm darbot.

"Was ...?", kam es irritiert von ihm. "Ich ess dir doch das Esse nicht weg."

"Tust du nicht.", meinte der Goth und trat einen Schritt beiseite, so dass Jonouchi zu dessen Tisch schauen konnte, auf der eine weiße Bentō Box stand. Das verwirrte den Blonden noch mehr.

"Warum ... hast du zwei Boxen dabei?", fragte er nicht-verstehend.

"Mir... ist aufgefallen, dass du nie etwas zu essen dabei hast und ... ähm ... also ...", begann Kaiba zu stammeln. Langsam stand Jonouchi auf und nahm die Bentō Box dankbar entgegen.

"Danke.", meinte er erneut. Kaiba sah ihn erneut direkt an. Nur kurz, bevor er fast sofort den Kontakt wieder brach. Dann kehrte der Goth zu seinem Platz zurück und Jonouchi folgte ihm langsam. Er wandte seinen Stuhl zu Kaibas Tisch um und stellte die Box hin, bevor er sich setzte. Kaiba hatte ihn kurz fragend gemustert, verstand aber dann, was der Blonde bezweckte. Schweigend aßen sie ihr Mittagessen und Jonouchi musste eingestehen, dass der Inhalt der Bentō wirklich vorzüglich schmeckte.
 

Seit zwei Wochen gingen Jonouchi und Kaiba morgens zusammen zur Schule, wichen Ushio und dessen Schläger aus und aßen in der Schule gemeinsam zu Mittag. Nachmittags liefen sie gemeinsam nach Hause, gingen sich schnell umziehen und trafen sich danach auf dem Dach. Oft saßen sie nur da und schauten in die Ferne. Das Schweigen, welches dabei herrschte, war nicht unangenehm. Im Gegenteil ... Jonouchi hätte nie gedacht, dass ein gemeinsames Schweigen so angenehm sein konnte.

Aber es gab Fragen, die ihn beschäftigten. Warum stellte Kaiba nie Fragen, wenn Jonouchi nach dem kurzen Moment, in dem sie sich trennten, um sich umzuziehen, mit neuen blauen Flecken auf dem Dach ankam? Er nahm es einfach hin, half ihm morgens vor der Schule sicher zu stellen, dass man sie nicht so ohne weiteres sehen konnte und ansonsten behandelte er ihn so, als wären die Blutergüsse gar nicht da.

Doch da gab es auch noch andere Fragen: Warum verschwand Kaiba jeden Nachmittag zur selben Zeit im Haus? Wieso mied der andere den Blickkontakt - bis auf seltene Ausnahmen - oder generell Berührungen, seien sie noch so zufällig? Doch nach wie vor befand Jonouchi, dass er kein Recht hatte irgendwelche Fragen zu stellen, solange der andere ihm das gleiche Recht zugestand.

Zum ersten Mal seit zwei Jahren hatte Jonouchi das Gefühl einen Freund gefunden zu haben. Jemand, dem es nichts ausmachte, dass er blondes Haar hatte.
 

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Nachhilfe

Jonouchi saß auf seinem Platz in der Klasse, hatte den linken Arm unter dem Pult auf seinem Schoss liegen und stützte mit der anderen Hand seinen Kopf, während er aus dem Fenster sah. Der Schmerz in seinem linken Handgelenk war so einnehmend, dass er erst nach einem langen Augenblick registrierte, dass der Lehrer vor seinem Tisch zum stehen gekommen war. Scheinbar wartete der Mann darauf, dass er Jonouchis Aufmerksamkeit bekam.

Verwirrt blickte der Blonde auf in das strenge Gesicht seines Lehrers, der vor sich ein Stapel Papiere hielt. Innerlich stöhnte Jonouchi auf. Der Lehrer schien tatsächlich kein Leben außerhalb der Schule zu haben, wie sonst konnte man erklären, dass er nach nur einem Wochenende eine Arbeit von 30 Schülern korrigiert ausgab.

"Ich frage mich wirklich immer wieder, was du hier eigentlich tust.", sprach ihn der Lehrer an und Jonouchi senkte den Blick. Er kannte das schon. Im Augenwinkel sah er, wie der Klassensprecher ihm wieder böse Blicke zuwarf.

"Du kommst nur her, um aus dem Fenster zu schauen und Ärger zu machen. Ein Interesse an der Schule scheinst du jedenfalls nicht zu haben.", klagte der Lehrer ihn an. "Oder findest du es einfach nur witzig den Klassendurchschnitt so runter zu ziehen und mich völlig unfähig dastehen zu lassen?", wurde der Lehrer für einen Moment lauter.

Jonouchis Wangen waren gerötet vor Scham. Sein Klassenlehrer musste heute einen wirklich schlechten Tag haben, wenn er es nötig hatte ihn mal wieder vor versammelter Klasse runter zu machen.

Der Lehrer schnaubte verächtlich, warf dem Blonden die Arbeit - auf der ein fettes, rotes 'Ungenügend' prangerte - auf das Pult und teilte die restlichen Arbeiten aus. Ohne sich seine Arbeit wirklich anzuschauen nahm Jonouchi sie von seinem Tisch und schob sie einhändig in seine Tasche, die er vor einer Weile notdürftig geflickt hatte. Etwas in ihm zitterte und am liebsten hätte er die Klasse verlassen und hätte sich einen Ort gesucht, an dem ungestört heulen konnte. Doch auf der anderen Seite wollte er weder dem Lehrer, noch seinen Klassenkameraden diese Genugtuung zu Teil werden lassen.
 

An diesem Tag hatte Jonouchi Putzdienst. Das war nichts Ungewöhnliches. Der Dienst rotierte durch die Klasse und jeder war einmal dran. Aber ausgerechnet heute, wo sein Handgelenk nur so pochte vor Schmerz, hatte er mit Tanaka - dem Klassensprecher - Putzdienst.

"Man, wie wär's wenn du mal eine zweite Hand dazu nehmen würdest?", schnaufte der Klassensprecher genervt.

"Geht auch so.", erwiderte Jonouchi.

"Ja, im Schneckentempo. Aber anders wie du, hab ich heute noch was vor.", blaffte Tanaka wütend.

"Dann ... geh einfach... ich mach das schon fertig.", meinte der Blonde.

"Sicher und ich krieg morgen einen Anschiss, weil ich dir glaube und es dann noch viel schlimmer aussieht.", keifte der andere.

Jonouchi wusste nicht weiter, also packte er den Schrubber auch mit seiner verletzten Hand und ein rasender Schmerz durchzog ihn. Doch er biss die Zähne zusammen und versuchte sich ranzuhalten.

"Du kannst doch nicht erwarten, dass jeder Rücksicht auf dich nimmt, nur weil du dich nicht beherrschen und keiner Schlägerei aus dem Weg gehen kannst.", tadelte ihn Tanaka weiter. "Wenn du so gedankenverloren rumstänkerst musst du mit den Konsequenzen leben, aber du solltest dann deine Aufgaben und Pflichten nicht auf andere abwälzen."

Der Schmerz wurde mit jedem Augenblick heftiger und Jonouchi spürte, wie er die Tränen kaum noch zurück halten konnte.

"Weißt du, Herr Miyatake hat schon Recht... man erkennt bereits jetzt, in der zweiten Klasse, recht deutlich, wer es mal zu etwas bringt, und wer später bei Burger World fettige Pommes servieren wird.", stichelte Tanaka weiter, als jemand neben ihn trat. Überrascht sah der Klassensprecher auf.

"Du hast noch was vor? Lass mich deinen Dienst übernehmen.", bat Kaiba und der überraschte Blick des Klassensprechers wurde irritiert.

"Mit dem da wird das noch Stunden dauern.", meinte Tanaka und deutete auf den Blonden.

"Interessiert dich das?", fragte Kaiba und hatte wieder etwas Kaltes in der Stimme. Tanaka begann kurz zu frösteln, reichte dem Goth dann den Schrubber, nahm seine Tasche und verließ den Raum.

"Viel Spaß ...", bellte er noch mit einer vor Sarkasmus triefenden Stimme, bevor er verschwand. Kaiba wartete einen Moment, bis er sicher war, dass der andere fort war. Dann schloss er die Tür, stellte den Schrubber an die Wand und ging zu Jonouchi, der sich weiter abmühte, während ihm dickte Tränen über das Gesicht rollten. Kaiba stellte sich dem Blonden in den Weg und griff nach dessen Schrubber.

"Ist okay, das hast du gut gemacht, Jonouchi.", meinte Kaiba und die Kälte war aus der Stimme wieder verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Jonouchi ließ nur zögerlich seinen Schrubber los, den Kaiba an einen Tisch anlehnte. Dann geschah etwas, was Jonouchi noch nie erlebt hatte: Kaiba legte eine Hand auf seine Schulter und brachte ihn nach vorne, wo er ihn auf den Stuhl des Lehrers schob.

Als Jonouchi saß kniete sich Kaiba vor ihm und griff vorsichtig nach der verletzten Hand. Jonouchi wollte sie instinktiv wegziehen, doch Kaiba hatte eine Hand an seinen Ellenbogen gelegt und hielt ihn auf. Dann schob er den Ärmel ihrer Uniformsjacke und des Hemdes ein Stück nach oben. Darunter kam ein dunkelviolettes Handgelenk zum Vorschein. Dann ließ Kaiba den Ärmel wieder nach unten gleiten, stand auf und wischte geübt und in Rekordzeit den Raum. Danach wischte er noch fix die Tische und die Tafel ab, bevor er das Wasser und die Schrubber wegbrachte.

Jonouchi hatte ihm schweigend zugesehen. Es war ihm so peinlich, dass seine Aufgabe Kaiba übernommen hatte und ihn heulen gesehen hatte. Doch der Schmerz war etwas zurück gegangen, auch wenn er immer noch in seinem Handgelenk wütete.

Als Kaiba zurück kam nahm er seine Tasche und hängte sie sich um, bevor er nach Jonouchis Tasche griff und sich diese unter den Arm klemmte.

"Komm, wir gehen heim.", meinte Kaiba zu ihm und verließ den Klassenraum. Davor wartete er auf Jonouchi, dem es vorkam, als würde er sich wie in Zeitlupe bewegen.
 

Der Weg nach Hause hatte gefühlt eine Ewigkeit gedauert. Die Angst, dass Ushio ihnen irgendwo auflauern könnte, war Jonouchis ständiger Begleiter. Doch schließlich erreichten sie das Wohnhaus und Kaiba schloss die Tür auf. Als sie in den Aufzug stiegen drückte der Goth auf die fünf, aber nicht auf die sechs. Stattdessen betätigte er die oberste Taste.

"Du gehst auf das Dach. Ich komme gleich nach, okay.", meinte Kaiba ruhig zu ihm.

"Warum?", fragte Jonouchi verwirrt.

"Weil ich dir das sage.", kam es bestimmend von Kaiba, dessen sonstige Schüchternheit völlig verpufft schien. Dann stieg er im fünften Stock aus und ließ Jonouchi weiter fahren. Gehorsam fuhr er nach ganz oben und bestieg dann die Treppe zum Dach. Dort setzte er sich auf ihren Stammplatz und wartete, während er sein verletztes Handgelenk eng an sich presste.

Als Kaiba nach einer dreiviertel Stunde immer noch nicht wieder zurück war fragte sich Jonouchi, ob dieser ihn verarscht hatte. Er wollte das nicht glauben, aber ein kleines Stimmchen in ihm flüsterte ihm trotzdem den Zweifel ins Ohr. Gerade als er sich wieder auf die Beine kämpfen wollte hörte er die Tür zum Dach und verharrte. Dann kam Kaiba um die Ecke zu ihm und hatte einen gefüllten Korb bei sich.

Dann half er Jonouchi aus der Jacke und schlug den Ärmel des Hemdes ein wenig hoch. Der Bluterguss um Jonouchis Handgelenk sah übel aus und die Fingerabdrücke waren deutlich erkennbar. Er nahm eine Wasserflasche aus dem Korb und kippte sie über das Handgelenk, bevor er es behutsam wieder mit einem Handtuch trocknete. Dann trug er eine Salbe auf und verband gekonnt das Handgelenk.

"Du ... kannst das ziemlich gut.", stellte Jonouchi trocken fest.

Kaiba kramte in seiner Hosentasche und holte ein kleines Tütchen mit einigen weißen Tabletten hervor.

"Eine alle acht Stunden. Nicht mehr, verstanden?", kam es von Kaiba, der kurz in die honigbraunen Augen von Jonouchi blickte, bevor er den Kontakt sofort wieder brach.

"Woher hast du die?", fragte Jonouchi.

"Spielt keine Rolle. Du musst dein Handgelenk schonen.", meinte der Dunkelhaarige und klang dabei fast sanft.

"Okay ... ich versuche es.", meinte Jonouchi leise.

Kaiba griff nach etwas, was scheinbar tief unten im Korb war. Er zog eine Wasserflasche und eine Bentō Box aus dem Korb. Er schraubte die Wasserflasche auf, nahm das Tütchen mit den Tabletten und holte eine raus. Diese und das Wasser hielt er dem Blonden hin. Für einen Moment zögerte Jonouchi, dann nahm er beides und schluckte die Tablette. Dann gab Kaiba ihm die Box.

"Danke ... und sag nicht, dass dieser nicht notwendig wäre.", kam es von Jonouchi. Kaiba lächelte nur kurz. Dann begann Jonouchi dankbar zu essen und spürte, wie der Schmerz endlich nachließ. Das Essen war echt vorzüglich und irgendwann musste er sich bei Kaibas Mutter echt dafür bedanken. Kaiba ließ ihn eine Weile in Ruhe essen, bevor er die Stille brach.

"Warum?", fragte er leise. Jonouchi sah ihn fragend an, während Kaiba nur seitlich weg schaute.

"Waf warum?", nuschelte Jonouchi mit vollem Mund.

"Warum sind deine Noten so scheiße?", fragte Kaiba vorsichtig. Jonouchi zuckte nur nichtssagend mit seinen Schultern. Was hätt er auch drauf erwidern sollen? "Wenn wir ohnehin immer hier oben zusammen sitzen, dann kann ich dir auch Nachhilfe geben."

Überrascht blickte Jonouchi den anderen an.

"Du?", fragte er, nachdem er das Essen runterschluckt hatte. Nun war es an Kaiba mit den Schultern zu zucken.

"Warum nicht?", konterte der Goth.

"B... bist du denn so gut in der Schule?", hakte der Blonde verwundert nach. Tatsächlich hatte er nie mitbekommen, welche Noten sein Hintermann schrieb.

"Besser als deine... aber das kriegen wir in den Griff.", sprach Kaiba ihm Mut zu.

"Oder wir finden heraus, dass ich wirklich so blöd bin, wie alle immer sagen.", versuchte Jonouchi über sich selbst zu scherzen, was ihm aber nur einen Blick des anderen einhandelt, der ungewöhnlich lange Bestand hatte.

"Du bist nicht blöd. Lass dir das nicht einreden.", widersprach der Goth ernst. Dann kramte Kaiba in Jonouchis Tasche, die er mit hochgebracht hatte, nach der Arbeit. Als er sie fand strich er sie glatt und schaute sich Jonouchis Antworten an. Dabei hatte er etwas Probleme die Handschrift zu lesen.

"Wir werden bei den Kanji ansetzen.", meinte Kaiba ernst. "Deine Strichführung ist katastrophal."
 

.

Sommerferien

Jonouchi saß auf dem Dach und versuchte die Übungsaufgaben, die ihm Kaiba am Vortag gegeben hatte, zu lösen. In den letzten Wochen hatte Kaiba ihm geholfen sein Schreibbild zu verbessern, so dass man nun auch erkennen und lesen konnte, was der Blonde schrieb. Danach hatte Kaiba ihm geholfen in Englisch wieder Fuß zu fassen und mit ihm an seiner Aussprache gearbeitet. Nachdem das soweit saß, dass Jonouchi sogar am Unterricht - zur Überraschung des Englischlehrers und des Klassensprechers - teilnehmen konnte, hatten sie zur Mathematik gewechselt. Mathe war etwas, was Jonouchi immer ein Rätsel gewesen war. Doch so wie Kaiba es ihm erklärt hatte machte alles auf einmal Sinn. Warum konnte Herr Miyatake das nicht so erklären?

Aber der Dunkelhaarige steckte ohnehin voller Überraschungen. Er schien in allen Fächern, außer Sport, richtig gut zu sein. Dabei konnte er alles so erklären, dass Jonouchi keine Schwierigkeiten hatte es zu verstehen und dann auch umzusetzen. Bei Fehlern tadelte ihn Kaiba nicht. Er schaute sich die Übung an und erklärte dann geduldig, wo der Fehler lag und wie man ihn vermeiden konnte. So, dachte Jonouchi, müsste ein guter Lehrer sein.

Wenn Kaiba mit jemand sprechen musste, war seine Stimme kalt und abweisend. Nicht, wenn er mit ihm auf dem Dach war und sie beide lernten oder gemeinsam auf dem Schulweg waren. Selbst beim Mittagessen, welches Kaiba ihm immer mitbrachte, unterhielten sie sich gelegentlich. Es war ein wenig so, als hätte Jonouchi irgendwie einen Fuß bei Kaiba in die Tür bekommen und diese begann sich langsam zu dem ansonsten verschlossenen und introvertierten jungen Mann zu öffnen.

So hatte Jonouchi erfahren, dass der Dunkelhaarige mit seinem Vater in der Wohnung im fünften Stock alleine lebte. Was mit Kaibas Mutter war, wusste der Blonde nicht und irgendwie hatte er nicht das Gefühl, dass sie noch nicht soweit waren, dass er danach hätte fragen dürfen. Dafür hatte er erfahren, dass Kaiba den Haushalt schmiss. Er kochte, putzte, räumte auf und ging einkaufen. Daher musste der Dunkelhaarige auch immer zur gleichen Zeit am frühen Abend runter, um das Abendessen zuzubereiten.

Ab und an kam Kaiba und war noch mehr in sich gekehrt als für gewöhnlich. Dann wahrte er etwas mehr Abstand, sowohl körperlich, als auch gesprächstechnisch. An solchen Tagen mehr als ein Wort als Antwort zu erhalten war fast gänzlich unmöglich. Während er in der Schule immer sein Nietenhalsband und den Eye Shadow trug, schien er nach dem Heimkommen sich abzuschminken und einen Rollkragenpulli anzuziehen. Dabei war Jonouchi aufgefallen, dass er Eye Shadow die Augenringe kaschieren sollten. Scheinbar bekam sein ... Freund (?) nicht genügend Schlaf.

Nur selten kam Kaiba noch einmal auf das Dach, wenn er zum Abendessen machen gegangen war. Wenn aber doch, dann war es oft schon dunkel. Er kam mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und einer tiefen Traurigkeit in den Augen. Langsam - wie in Zeitlupe - setzte er sich dann neben den Blonden und schaute dann schweigend in die Ferne. Oft roch er dann frisch geduscht, wie Jonouchi einmal aufgefallen war.

Oft grübelte Jonouchi darüber, warum das bei dem anderen so war, doch danach zu fragen traute er sich dann doch nicht. Immerhin fragte Kaiba auch ihn nie nach den blauen Flecken und dafür war der Blonde ihm dankbar.

Langsam lehnte er sich gegen die Wand, an der er wie immer saß, und musste sich eingestehen, dass er diese Aufgaben nicht alleine lösen konnte. Er sah auf sein Handy und stellte fest, dass es schon kurz nach neun war. Merkwürdig. Seit die Sommerferien vor anderthalb Wochen begonnen hatten, hatten sie sich immer um halb Neun hier getroffen. Kaiba kam nie zu spät. Nie. Also wo blieb er heute?

Jonouchi stand auf und ging zu einer Seite des Daches, an der erst vor einigen Wochen die Feuerleiter angebracht worden war. Sie führte an der Seite hinunter, an der ihre Wohnungen lagen und führte an ihren Zimmerfenstern vorbei. Vielleicht hatte Kaiba verschlafen ... wie der andere wohl schlafend aussehen würde? Vorsichtig kletterte er die schmalen und steilen Treppensprossen hinunter. Kam schließlich an seinem Zimmerfenster vorbei und stieg leise weiter nach unten. Doch als sein Blick durch das Zimmerfenster des anderen fiel erstarrte er geschockt. Es dauerte einen langen Moment, bevor er sich umdrehte und wieder nach oben huschte.
 

Als Seto endlich auf das Dach kam war es fast schon halb elf. Er legte seine Hand an den Knauf der Tür, die ihn auf das Dach lassen würde. Sie zitterte. Und dieser elendige Geruch haftete trotz der zwei Duschen immer noch an ihm.

Die Sonne blendete ihn, als er endlich die Schwelle überwand und aufs Dach trat. Er umrundete den Aufgang und fand Jonouchi, wie erwartet, dahinter sitzen. Doch irgendwas stimmte mit dem anderen nicht: Sein Gesicht war kalkweiß und in seinem Blick spiegelte sich blankes Entsetzen. Dabei wagte der Blonde es kaum ihn anzuschauen. Dabei war sein Blick doch sonst immer so fordernd und neugierig. Ob er sauer auf ihn war, weil er zu spät dran war?

"Entschuldige bitte meine Verspätung.", begann Seto und versuchte so normal wie möglich zu klingen und sich nicht anhören zu lassen, dass er am Morgen viel zu viel geschrien hatte.

Jonouchi stand langsam auf und hob dann seinen Blick. Auf einmal wurde Seto bewusst, was anders war. Er verstand nicht wie oder wann oder warum. Aber er sah, das Jonouchi es wusste. Für einen Moment blieb Setos Herz stehen und er spürte, wie heiße Tränen versuchten sich hoch zu drängen. Jonouchi war sein erster Freund überhaupt gewesen. Jemand, der verstand, dass man über manche Dinge nicht sprach und das akzeptierte. Noch nie hatte Seto gewagt jemand so nah an sich ran zu lassen und jetzt war er drauf und dran all das zu verlieren... schlimmer noch: Was wenn Jonouchi es jemanden erzählen würde.

Er spürte diesen Stich in seiner Brust, als er seinen Blick beschämt abwandte. Dabei fiel er auf die Brüstung, die das Dach umlief und auf einmal war die Antwort da... einfach so. Seto nahm Anlauf und wollte tun, was er schon vor Wochen hatte tun wollte, als Jonouchi ihn aufgehalten hatte. Er wollte den Verlust seines einzigen Freundes einfach nicht ertragen. Lieber würde er sich vom Dach werfen, dann würden auch der andere Schmerz und die Scham endlich von ihm lassen.

Gerade als er die Brüstung erreicht hatte und nach ihr greifen wollte, spürte er, wie er am Handgelenk gepackt und zu Boden gerissen wurde. Sie rollten ein paar Meter über das Dach und dann blieb Seto rücklings liegen, während Jonouchi über ihm kniete und ihn verwirrt anstarrte. Dicke Tränen drangen sich längst aus Setos Augen und verschleierten seinen Blick.

Auf einmal spürte er, wie er in eine sitzende Position gezogen und ... fest umarmt wurde. Geschockt hielt er inne und selbst die Tränen stoppten abrupt. Er war verwirrt.

"Es wird alles gut.", flüsterte Jonouchi in sein Ohr. Seto wollte dem Blonden so gern glauben und schließlich tat er etwas, was er noch nie gemacht hatte, seit er bei Gozaburo lebte: Er umschlang einen anderen Menschen, presste sich an diesen und weinte bitterlich.
 

.

Kaiba Seto

Das Gefühl entblößt zu sein ließ Seto nicht los und in gewisser Weise war er das vor Jonouchi jetzt auch. Wieder spürte er, wie ihn Panik, Scham und Ekel zu überwältigen drohte und ihn erneut zum Heulen bringen würden. Das durfte er nicht zulassen, so wie vor einer halben Stunde, als er auf das Dach gekommen war und erkannt hatte, dass der Blonde etwas gesehen hatte, was er nicht hätte sehen dürfen.

Der ganze Morgen war einfach eine einzige Katastrophe und der Dunkelhaarige wünschte sich mehr als alles andere in diesem Moment, dass er die Zeit einfach zurück drehen dürfte. Dann würde alles anders laufen. Er würde sich über die neue Feuertreppe aus der Wohnung schleichen und auf das Dach hinauf steigen. Dann wäre alles andere nicht geschehen.
 

Schon als Seto sein Zimmer verließ wusste er, dass dieser Tag kein guter werden würde. Gozaburo, sein Adoptivvater, saß am Esstisch, eine Zeitung in den Händen und das vorbereitete Frühstück halb aufgegessen vor sich. Er hatte seine Zeitung etwas eingeknickt und ihn angegrinst. Das war nie ein gutes Zeichen. Der Mann hatte seine Zeitung sorgfältig zusammen gelegt, war aufgestanden und zu Seto getreten. Dieser hatte sich kaum rühren können.

"Du hast dich in letzter Zeit ziemlich rar gemacht, Seto.", hatte er ihm ins Ohr gewispert und der Dunkelhaarige hatte das Zittern nicht unterdrücken können.

"Ich... wurde gebeten einem Mitschüler Nachhilfe zu geben.", antwortete Seto mit dünner, verängstigter Stimme.

"Du tust dich also wieder als besonders guter Schüler hervor, ja?", kam es mit einem missbilligenden Tonfall von dem Älteren.

"Ich bin weit davon entfernt Klassenbester zu sein.", versicherte der Dunkelhaarige hastig.

"Will ich dir auch raten, denn in nächster Zeit ist Umziehen nicht drin.", zischte der Ältere ihn an. "Also halte dich bedeckt."

Seto hatte nur genickt. Die Drohung, die in der Stimme des Älteren mitgeschwungen war, war für ihn deutlich heraus zu hören. Dann hatte er sie gespürt: Die Hand des anderen auf seiner Schulter. Er schloss seine Augen und presste seine Lippen aufeinander. Er wusste, was als nächstes geschehen würde. Was immer geschah. Gozaburo führte ihn zurück in sein Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen.

"M... mein Nachhilfepartner wartet schon, ich hab heute nämlich verschlafen.", stammelte Seto verzweifelt und konnte nur mit Mühe die Tränen zurück halten.

"Pech für deinen Nachhilfepartner.", konterte Gozaburo kalt.

"B...bitte...", hauchte Seto verzweifelt, wofür er einen Schlag mit der Rückhand kassierte und gegen seinen Schreibtisch fiel. Dann hatte Gozaburo seine Hand in das braune Haar gekrallt, ihn wieder auf die Füße gezerrt und dann vornüber über den Schreibtisch geworfen. Sich zu wehren hatte dieser Mann ihm vor langer Zeit abgewöhnt. Und so ließ Seto diesen Gewaltakt, der gegen ihn gerichtet war, über sich ergehen. Krallte seine Finger um die Tischplatte und spürte, wie die heißen Tränen über sein Gesicht lief, als Gozaburo ihm die Pyjamahose herunter zog und dann...

Erst nach mehr als einer dreiviertel Stunde war der Ältere mit ihm fertig, richtete seine eigene Kleidung und ließ Seto auf den Boden fallen, wo dieser sich zusammenkauerte.

"Dass du immer noch wie eine Jungfrau heulst nervt schon ein bisschen.", raunte Gozaburo. "Andererseits könnte es mich auch noch einmal anturnen."

Sofort setzte Seto alles daran, seine Tränen aufzuhalten und runterzuschlucken. Er wollte nicht, dass sein Adoptivvater sich noch einmal aufgefordert fühlte. Dieser schnaubte abfällig.

"Gib deine Nachhilfe solange du willst, sofern du deine Aufgaben hier nicht vernachlässigst.", grollte Gozaburo gleichgültig. "Ich werde, wenn überhaupt, erst spät heim kommen, also brauchst du für mich nicht mitkochen."

Dann verließ der stämmige Mann das Zimmer des Dunkelhaarigen und wenige Augenblicke später hörte Seto, wie die Wohnungstür sich öffnete und wieder schloss. Er war dankbar, dass der Mann ihn alleine gelassen hatte, denn so konnte er seiner Verzweiflung gestatten sich mit Tränen zu äußern und er schluchzte laut auf.

Danach hatte er zwei Mal geduscht, aber das Gefühl immer noch beschmutzt zu sein ließ - wie immer - nicht nach. Doch dann hatte er sich darauf besonnen, dass Jonouchi auf dem Dach auf ihn wartete. Also hatte er sich zusammengerissen. Er hatte das Badezimmer verlassen, sich angezogen und hatte Frühstück und Mittagessen für sie gemacht.
 

"Dein Vater ...", hörte er Jonouchis Stimme und sie klang zunächst wie aus großer Ferne, bevor Seto wieder in das Hier und Jetzt wechselte.

"Er ist nicht mein Vater.", presste Seto hervor.

"Nicht?", kam es verwirrt von dem Blonden.

"Er hat mich adoptiert, als ich sieben war.", erklärte Seto und mied weiterhin den Blickkontakt zu dem anderen.

"Also bist du in einem Heim aufgewachsen?", hakte Jonouchi behutsam nach. Seto schüttelte seinen Kopf.

"Nein ... er hat mich adoptiert, nachdem meine Eltern und mein kleiner Bruder gestorben sind. Er ist ein entfernter Onkel oder sowas und hat die Verantwortung für mich übernommen.", erzählte Seto traurig und mit brüchiger Stimme, als er den Verlust seiner Familie so deutlich wie damals im ersten Augenblick spürte. Er presste seine Lippen aufeinander.

"Das tut mir leid ... dass deine Familie... wie ist es passiert?", versuchte der Blonde das Gespräch am Laufen zu halten.

"Sie sind mit dem Auto von einer Brücke gestürzt und ins Meer gefallen. Sie sind dann wohl von der Strömung aus dem Wagen gespült worden.", erzählte er leise und langsam, bevor eine weitere Träne aus seinem Auge drang. Hastig wischte er sie weg.

"Schrecklich. Das tut mir wirklich sehr leid.", meinte Jonouchi leise.

"Kann man halt nicht ändern.", drängte Seto langsam seine Trauer wieder zurück. "Er ist mit mir dann direkt von Nara hier her gezogen. Hat mir verboten meine Eltern oder meinen Bruder jemals wieder zu erwähnen und gesagt, ich würde ab sofort Kaiba heißen ... wie sehr ich diesen Namen hasse."

"Dann werde ich dich in Zukunft Seto nennen.", meinte Jonouchi mit einem sanften Lächeln, das Seto erst sah, als er seinen Blick überrascht hob.

"I... Ist dir das nicht zu privat?", fragte Seto verlegen.

"Dir?", fragte Jonouchi.

"Mir ist es egal, wie ich genannt werde.", wiegelte Seto ab und blickte wieder seitlich weg. Er hörte, wie Jonouchi aufstand, bevor er sah, wie dieser sich direkt neben ihn setze. Obwohl Seto den Blickkontakt nicht wollte, konnte er den anderen nicht so zurückweisen.

"Nein, ist es nicht und ich möchte dich nicht bei einem Namen rufen, den du hasst. Also werde ich dich fortan mit Seto ansprechen.", kam es fest entschlossen von dem Blonden. Seto lächelte kurz für einen Moment.

"Warum?", fragte der Dunkelhaarige schließlich leise.

"Na, weil du sonst keinen Namen hast, mit dem ich dich rufen könnte.", antwortete Jonouchi prompt und Seto musste kurz schmunzeln.

"Nein, ich meine... warum suchst du nicht sofort das Weite?", wiederholte Seto seine Frage.

"Warum sollte ich das tun?", hakte Jonouchi verwirrt nach.

"Findest ... du mich nicht... ekelhaft oder pervers oder so?", stellte Seto in den Raum und blickte wieder zu Boden.

"Für mich sah es nicht so aus, als wolltest du das alles.", erwiderte Jonouchi sanft und Seto spürte, wie die Tränen in ihm versuchten aufzuwallen.

"Nein... ich wollte das nie.", bestätigte er.

"Seit wann macht er das?", hakte Jonouchi vorsichtig nach.

"Seit ich ihn kenne.", flüsterte Seto kaum hörbar. Jonouchis Augen weiteten sich erneut.

"Du... du meinst er hat es schon getan, als du erst sieben warst?", kam es ungläubig von Jonouchi und man konnte die Hoffnung in seiner Stimme hören, dass er sich irrte. Doch Seto nickte nur. Wieder kullerte eine große Träne über seine Wange. Vorsichtig strich Jonouchi sie ihm weg.

"Ich werde dich jetzt noch einmal in den Arm nehmen.", kündigte der Blonde behutsam an und legte dann langsam seine Arme um den Dunkelhaarigen. Seto wusste nicht, warum er die Umarmung zu ließ oder er sich in sie fallen ließ und wieder leise weinte. Normalerweise ertrug er die Nähe anderer Menschen nicht. Doch Jonouchi war okay.

Gelegenheit

Eigentlich wollte sich Jonouchi etwas zu essen machen, doch seine Gedanken schweiften immer wieder von dem Kessel ab, in dem er sich Wasser für Instantnudeln aufkochte. Er bekam Seto einfach nicht mehr aus dem Kopf. Auf einmal ergab das alles einen schrecklichen Sinn:

Er hatte nie irgendein Wort über sich verloren. Würden bei den Anwesenheitskontrollen nicht ständig alle Namen vorgelesen, dann würden die anderen in der Klasse nicht mal seinen Namen wissen. Geschweige denn, dass sie sonst etwas über ihn wussten.

Wenn er sprach lag immer eine gewisse Kälte in seiner Stimme. Damit wollte er einfach jeden, der es wagte ihn unaufgefordert anzusprechen, auf Abstand halten. Nicht das die anderen es noch wagen würden ihn nach persönlichen Dinge zu fragen.

Wann immer ihm jemand auch nur zu nahe kam versuchte er auszuweichen. Wurde er unerwartet berührt zuckte er zusammen, als hätte er sich verbrannt. Dazu kam, dass er den Blickkontakt zu anderen mied. Wenn ein Kontakt zustande kam unterbrach er ihn direkt wieder.

Das Nietenhalsband und der Rollkragenpullover sollten gelegentliche Würgemale verbergen. Da er unter der Schuluniform den Rolli nicht tragen konnte, trug er eben das Halsband. Und weil es zu auffällig gewesen wäre, wenn er es mal trug und dann wieder nicht hatte der Dunkelhaarige eben beschlossen es immer zu tragen.

Auf einmal schienen all diese Einzelheiten so offensichtlich zu sein. Warum hatte er nicht schon früher gecheckt, dass der andere durch die Hölle ging?
 

Seto hatte ihm viel erzählt. Jonouchi konnte sich nicht erinnern, wann der andere jemals so viel am Stück gesprochen hatte. Nicht einmal bei der Nachhilfe. So hatte Jonouchi erfahren, dass Seto nicht am Sportunterricht teilnehmen musste, da sein 'Vater' bei der Anmeldung ein Artest vorgelegt hatte. Nach diesem Artest durfte Seto aus gesundheitlichen Gründen keinen Sport machen. Das Artest war natürlich gefälscht, wie der Dunkelhaarige ihm anvertraut hatte.

Das alles diente nur dazu, dass Seto sich nicht in der Schule umziehen musste. In der Mittelschule war er durch die Blutergüsse an seinem Körper, vor allem an seinen Beinen, aufgefallen. Das hatte zur Folge gehabt, dass seine damalige Klassenlehrerin zu ihnen nach Hause gekommen war, um mit Gozaburo darüber zu sprechen. Er hatte die Blutergüsse darauf geschoben, dass Seto viel unterwegs war und sich dabei eben Schrammen und blaue Flecken zuzog. Kaum war die Lehrerin aus der Wohnung hatte Gozaburo begonnen zu packen und sie waren umgezogen.

Umgezogen waren sie oft, wie Seto erzählte. Wann immer Gozaburo auch nur befürchtete, dass man etwas von dem, was in seinen vier Wänden vor sich ging, ahnen könnte hatte er praktisch die Flucht ergriffen. Von der Grundschule bis jetzt hatte das bedeutet, dass Seto auf ganzen 13 Schulen gewesen war. 13 Schulen in zehn Jahren... das waren eine Menge.

Als dem Blonden das so durch den Kopf ging wurde er unglaublich traurig. Seto lebte seit seinem siebten Lebensjahr bei Gozaburo, der darauf bestand, dass Seto ihn 'Vater' nannte, obwohl er nur irgendwie so ein entfernter Onkel war. Und von Anfang an hatte Gozaburo seine Hände nicht von Seto lassen können. Doch die Traurigkeit wurde schließlich von der Wut abgelöst. Die Wut auf diesen Mann, der einen trauernden Jungen nicht einmal das zugestanden hatte und ihm stattdessen noch mehr Leid und Schmerz zugefügt hatte.
 

Ein Rumsen riss Jonouchi aus seinen Gedanken. Verwirrt schaute er sich in der Wohnung um, doch er war alleine. Vielleicht waren es die Nachbarn über ihnen. Soweit er wusste waren da letzte Woche neue Leute eingezogen. Doch als das Rumsen erneut zu hören war realisierte er, dass es von unter ihm kam. Aus der Wohnung in der Seto mit diesem Perversen lebte.

Der Blonde schob geistesgegenwärtig den Kessel vom Herd, den er ausschaltete und dann zur Tür hechtete. An dieser blieb er kurz stehen. Er brauchte einen Plan. Verdammt, er musste Seto helfen, schoss es ihm durch den Kopf als sein Blick auf die vorbereitete Tasche mit den Büchern und den Lernunterlagen fiel. Das war es. Er schnappte sich die Tasche und verließ die Wohnung. Statt des Fahrstuhls nahm er die Treppe, weil es schneller ging und die Gefahr stecken zu bleiben schlicht nicht gegeben war. Dann lief er eilig den gleichen Flur entlang, der ihn ein Stock höher zu der Wohnung seines Vaters geführt hätte und erreichte endlich die Wohnungstür der Kaibas. Er klopfte entschlossen an und hörte, wie es leise in der Wohnung wurde. Dann klopfte er noch einmal an. Schließlich hörte er Schritte.

Als die Tür geöffnet wurde stand vor ihm ein schmieriger Anzugträger, dessen Haar mit Pomade nach hinten gekämmt worden war. Der Schnurrbart war akkurat geschnitten und wirkte gepflegt. Der Anzug war von der Stange und hatte nicht besonders viel gekostet, was man daran erkannte, dass er nicht gut saß. Fragend musterte der Mann ihn.

"Wir kaufen nichts.", meinte er und wollte die Tür schon schließen.

"Mein Name ist Jonouchi, ich bin wegen der Nachhilfe da.", meinte der Blonde firm und verbeugte sich etwas vor dem Mann, den er über alles verabscheute. Gozaburo blickte über seine Schulter und da er sich ein wenig drehte gab er einen schmalen Blickkorridor zu Setos Zimmer frei. Halb versteckt hinterm Türrahmen stand Seto und blickte geschockt zu den beiden.

Sein Gesicht hatte keine Farbe mehr und seine Augen waren gerötet.

"Aaah ja, Seto erzählte mir davon, dass er Nachhilfe gibt.", meinte Gozaburo plötzlich mit einem Lächeln, als er sich wieder zu Jonouchi wandte. "Aber ich fürchte heute wird die Nachhilfe ausfallen müssen."

"Das geht nicht.", platzte es plötzlich aus dem Blonden und der Anzugträger blickte ihn erstaunt an, während der Blonde nach einer plausiblen Begründung suchte. Schließlich blickte er zu Seto. "Ich meine... ich weiß, ich hab mich bei der letzten Nachhilfestunde dämlich dran gestellt, aber... Se... Kaiba bitte: Gib mir noch eine Chance. Ich werde mich mehr anstrengen."

Dabei hatte Jonouchi einen flehenden Unterton. Seto blickte kurz zu Gozaburo, der seinen Sohn scharf musterte. Dann nickte Seto.

"Okay, aber du gibst dir wirklich mehr Mühe.", kam es mit rauer und brüchiger Stimme von dem Dunkelhaarigen. Jonouchi bekam ein Lächeln und verbeugte sich vor Seto, bevor er sich an Gozaburo vorbei in die Wohnung drückte.

"Danke... vielen, vielen Dank, Kaiba.", meinte der Blonde, während er zu seinem Freund ging und somit sicherstellte, dass der Widerling dem Dunkelhaarigen nicht mehr zu nahe kommen würde. Dieser musterte die beiden, dann lächelte er wieder und nickte.

"Okay... ich werde mich dann mal auf den Weg zur Arbeit machen... Lernt fleißig.", meinte er und irgendetwas in seiner Stimme gefiel Jonouchi ganz und gar nicht. Doch das war im Moment egal, denn der andere nahm seine Tasche vom Küchentresen, zog sich Mantel und Schuhe an und verließ die Wohnung. Es verging noch ein langer Moment, bevor einer der beiden sich wagte zu bewegen.

Joey wandte sich zu Seto, der seitlich wegschaute und musterte ihn.

"Ist alles in Ordnung? Hat er dich... angefasst?", fragte er besorgt. Seto schüttelte nach einem Augenblick den Kopf.

"N... Nein, soweit kam er nicht.", kam es leise von Seto. Ganz langsam zog Jonouchi Seto in seine Arme und drückte ihn einen Moment an sich. Er spürte Setos Zittern und Unentschlossenheit. Einerseits wollte er scheinbar die Geste erwidern, doch irgendetwas hielt ihn ab. Langsam löste sich Jonouchi von dem Dunkelhaarigen.

"Gelegenheit macht Diebe, also nehmen wir ihm die Gelegenheit.", meinte Jonouchi schließlich und lächelte Seto an. Dieser sah ihn unsicher an und wusste zunächst nicht, was er erwidern sollte, doch dann nickte er.
 

.

Grenzen austesten

Es war kurz vor sieben Uhr am Abend, als Gozaburo seinen Schlüssel in die Wohnungstür steckte und diese aufschloss. Seto sprang von dem Kotatsu im Wohnzimmer auf und eilte zur Tür. Jonouchi wusste mittlerweile, dass Gozaburo darauf bestand von seinem 'Sohn' jeden Tag zu Hause willkommen geheißen zu werden. Er wusste aber auch, wie sehr Seto dieses Ritual hasste. Dennoch tat er es.

Als er Gozaburo mit einer respektvollen Verbeugung begrüßt hatte fiel dessen Blick auf den Kotatsu und Jonouchi, der noch daran kniete. Auf dem niedrigen Tisch, mit dem man im Winter schön warm hatte, lagen verschiedene Schulsachen.

"Jonouchi... hast du kein Zuhause?", fragte Gozaburo mit etwas Witz in der Stimme, aber sein Blick machte recht deutlich, dass er sich störte, dass Jonouchi erneut da war. Genauso wie gestern, vorgestern, dem Tag davor und überhaupt jeden Tag seit zwei Wochen. Jonouchi grinste einstudiert und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

"Hallo Herr Kaiba... tut mir leid, dass ich nur so langsam mit dem ganzen Stoff voran komme, aber wenn ich nach den Sommerferien nicht up-to-date bin kann ich die Uni vergessen.", meinte er lächelnd. Das war noch nicht mal gelogen, denn tatsächlich gab Seto ihm täglich Nachhilfe. Nur jetzt hier in der Wohnung, statt oben auf dem Dach.

"Es ist ja löblich, dass du dich da so reinhängst, aber vermissen dich deine Eltern nicht?", fragte der alte Kaiba, der hinter sich die Tür schloss, sein Jackett auszog und die Tasche abstellte. Seto blieb an seiner Seite stehen, so wie er es gelernt hatte.

"Die Arbeiten ziemlich viel und wissen, dass ich bei der Nachhilfe bin.", lächelte Jonouchi gewinnend.

"Verstehe... aber nächste Woche werdet ihr pausieren müssen.", meinte der Alte und begann zu grinsen. Setos Augen weiteten sich, als wüsste er bereits, was sich da ankündigte. Jonouchi sah die Angst seines Freundes und blickte verwirrt zu dem alten Kaiba.

"So?", fragte er nicht verstehend.

"Seto und ich fahren jedes Jahr zu Freunden, die eine Hütte am See haben.", erklärte er und Jonouchi konnte sehen, wie Seto begann zu zittern.

"Oh... das klingt... 'schön'.", erwiderte Jonouchi. "Dann sollten wir unsere Bemühungen intensivieren und ein paar Sonderschichten einlegen, oder was meinst du, Kaiba."

Als Jonouchi ihn ansprach holte ihn das zurück und er nickte.

"Hm... sonst werden wir den Stoff nicht schaffen.", meinte Seto und löste sich von der Seite des Mannes, den er so sehr hasste. Doch er wusste auch, dass Gozaburo vor Jonouchi nichts sagen würde.

"Hm... ihr lernt doch jetzt schon bis spät in die Nacht und du stehst jeden Morgen früh vor der Tür... mein Sohn sieht dich mittlerweile öfters als mich.", meinte Gozaburo und sein Frust schwang in der Stimme mit. Seit Jonouchi geklopft und sich vorgestellt hatte, hatte er seinen 'Sohn' nicht mehr zu greifen bekommen.

"Stört es Sie? Dann können wir auch zu mir lernen gehen.", schlug Jonouchi gespielt zuvorkommend vor.

"Nein... gar nicht...", meinte Gozaburo und blickte dann in die Küche.

"Was gibt es denn heute zu essen?", fragte er. Seto, der gerade noch zu Jonouchi zurück gekehrt war stand wieder auf und ging in die Küche, in der auf dem Herd das Essen bereits fertig stand.

"Ich hab für heute Tonkatsu gemacht, weil du das doch so gerne isst.", meinte Seto und hoffte, dass das Essen seinen 'Vater' beschwichtigen würde. Dieser lächelte dünn und kam zu Seto in die Küchennische. Er blickte noch einmal über seine Schulter zu Jonouchi und legte dann einen Arm um Setos Schultern.

"Sehr schön... gut gemacht, Seto.", lobte er ihn, bevor er seine Stimme bedrohlich senkte. "Von mir aus kann der Bengel von morgens früh bis spät abends hier sein, aber die Woche am See ist unausweichlich."

Wieder versteifte sich Seto, bevor er gehorsam nickte. Dann richtete er eilig einen Teller für den Büroangestellten, der diesen nahm.

"Geht in dein Zimmer, damit ich ein bisschen Fernsehen kann.", bat Gozaburo mit einem Unterton, der klar machte, dass er mehr als genervt war.

Jonouchi kannte diese Prozedur bereits und hatte die Unterlagen zusammen geräumt. Dann zogen sie in Setos Zimmer um, wobei sie sich auf dem Boden ausbreiteten, anstatt den Tisch zu nutzen. Seto konnte das Möbelstück kaum anschauen und schon gar nicht daran sitzen. Nachdem der Dunkelhaarige die Tür geschlossen hatte versuchte er immer noch die Fassung zu wahren. Jonouchi ging zu ihm und zog ihn langsam in seine Arme. Er wusste, dass es ein Risiko war, aber er konnte den anderen nicht einfach so da stehen lassen.

"Diese Woche am See...", setzte der Blonde an, doch sofort schüttelte Seto seinen Kopf.

"Nicht... bitte.", flehte Seto förmlich leise in sein Ohr.

"Okay...", gab Jonouchi der Bitte des Dunkelhaarigen nach. Hielt ihn noch einen langen Moment im Arm, bevor sie sich wieder lösten. Dann setzten sie sich auf den Boden und lernten weiter.

Irgendwann am Abend war Gozaburo noch einmal reingekommen und hatte sie prüfend gemustert.

"Dann gute Nacht.", meinte er, bevor er sich wieder aus dem Zimmer zurück zog und schlafen ging. Es war, als hätten sie einen Etappensieg errungen. Sofort fiel die Anspannung von den beiden und atmeten erleichtert auf.
 

Es war kurz nach zwei Uhr in der früh, als sich Setos Zimmertür erneut öffnete. Gozaburo trat leise in das Zimmer seines 'Sohnes' und wollte dem unbändigen Drang in sich endlich nachgeben, bevor dieser blonde Bengel ihm wieder in die Quere kommen würde. Doch auf dem Weg zum Bett stolperte er plötzlich über etwas, was am Boden lag und erst als Jonouchi sich aufsetzte, erkannte der Mann, dass sie nicht alleine waren. Ungläubig musterte Gozaburo den Blonden.

"Wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist.", flüsterte er, bevor er sich wieder zurück zog. Jonouchi wartete, bis der Alte aus dem Zimmer war und die Tür geschlossen hatte, bevor er triumphierend grinste. Sein Instinkt hatte ihn vorhin nicht getäuscht, als sie das Lernen für den heutigen Tag beendet hatten. Er hatte sich schon sowas gedacht, dass Gozaburo auf eine andere Tageszeit ausweichen würde, wenn sie ihm den Morgen und den Abend als Gelegenheit rauben würden.

Doch das Erfolgsgefühl hielt nur kurz, bevor sein Blick auf den schlafenden Seto fiel, der immer wieder zuckte und seinen Kopf von einer Seite zur anderen warf. Vorsichtig rutschte er an das Bett des anderen und strich ihm eine wirre Strähne aus dem Gesicht. Von dieser leichten Berührung schreckte Seto stumm hoch und starrte mit großen Augen den Blonden an. Der lächelte nur beruhigend.

"Alles gut, nur ich hier.", flüsterte der Blonde. Seto brauchte einen Moment, bis die Anspannung nachließ. Er zog seine Beine an seine Brust und umschlang sie erneut mit den Armen.

"Angst, wieder böse zu träumen?", fragte Jonouchi und Seto nickte. Vorsichtig stemmte sich Jonouchi vom Boden auf die Bettkannte und klopfte neben sich auf die Liegefläche. Seto kam nur zögerlich zu ihm gerutscht. Der Blonde legte vorsichtig einen Arm um den Dunkelhaarigen und legte sich dann hin. Dabei zog er Seto mit sich, bevor er die Decke über dem Dunkelhaarigen richtete.

"Ich pass auf dich auf und wenn du böse träumen solltest, dann wecke ich dich sofort auf.", versprach der Blonde. Kritisch sah Seto den anderen an, doch dann nickte er, bevor er sich müde in den Arm kuschelte und kurz darauf wieder eingeschlafen war. Sanft strich Jonouchi dem anderen noch einmal über das Haar, bevor auch er wieder einschlief.
 

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Wendepunkt

Es war kaum sechs Uhr, als Jonouchi ins Bad schlappte. Er war noch so schlaftrunken, dass er nicht realisierte, dass er gar nicht in der Wohnung seines Vaters war. Das war teils wohl auch der Tatsache geschuldet, dass die Wohnungen völlig gleich geschnitten waren.

Nachdem er seiner Blase Erleichterung verschafft hatte zog er sich gedankenverloren aus und stieg in die Wanne, bevor er die Duschwand zuzog. Dann schaltete er das heiße Wasser an, dass überraschenderweise wirklich heiß war, und begann sich zu duschen. Er griff nach einer Flasche auf dem Badewannenrand und begann sich damit einzuschäumen, bevor er bemerkte, dass es ein Shampoo war. Kurz hielt er inne, dann zuckte er mit den Schultern und beschloss, dass ein Shampoo genauso gut wie ein Duschgel war. Nachdem er das Shampoo auch für die Haare benutzt hatte und allen Schaum vom Körper gespült hatte drehte er das Wasser ab und schob die Duschwand wieder zurück, bevor er zu Tode erschrak:

An der Toilette stand Gozaburo. Nackt. Pinkelnd. Vor Schreck weiteten sich Jonouchis Augen, bevor er nach einem Handtuch aus einem Regal angelte und es sich hastig um die Hüfte band.

"Ah, guten Morgen, Jonouchi-kun.", grüßte der Alte, als wären sie gerade nicht beide nackt in einem Badezimmer. "Findest du es nicht auch befreiend am Morgen als erstes Pinkeln zu gehen?"

Jonouchi war von der Situation schlichtweg überfordert. Wie sollte er sich nun verhalten?

"Möglich.", kam nur lapidar, als er an dem Mann vorbei wollte, um das Badezimmer zu verlassen.

"Sag mal, was genau läuft denn da zwischen meinem Sohn und dir?", fragte Gozaburo plötzlich im ernsten Tonfall. Jonouchi erreichte die Badezimmertür und musste feststellen, dass sie abgeschlossen war und der Schlüssel fehlte. Abschließen. Das wäre natürlich echt intelligent gewesen, ging es dem Blonden tadelnd durch den Kopf.

"Ähm, wie meinen Sie das, Herr Kaiba?", antwortete er, während sein Blick den Boden absuchte, ob der Schlüssel vielleicht herunter gefallen war.

"Du weißt, wie ich das meine. Das geht doch weit über Nachhilfe hinaus.", kam es kalt von dem Älteren, der endlich fertig war mit pinkeln und abschüttelte, bevor er den Abzug betätigte.

"Nur Nachhilfe, Herr Kaiba.", erwiderte Jonouchi, der weiterhin mit dem Rücken zu dem Älteren stand.

"Aber du stehst auf meinen Sohn, nicht wahr?", hakte Gozaburo nach, während er sich die Hände wusch.

"Auf ihn stehen? Er... ist doch kein Mädchen.", konterte der Blonde.

"Also stehst du auf Mädels, hm?", kam es sofort von dem nackten Kaiba hinter ihm. "Schon mal eine Freundin gehabt?"

"Nein.", meinte Jonouchi und wusste selbst nicht, warum er ehrlich antwortete. Er war diesem Mann nichts schuldig. Nicht einmal die Wahrheit.

"Wie kommt's, dass so ein gutaussehendes Bürschchen wie du, noch keine Freundin hatte?", wollte Gozaburo weiter wissen. Langsam dämmerte es Jonouchi, dass dies alles ein Spiel war. Okay, dann wollte er mal spielen. Er wandte sich wieder zu dem nackten Mann um und grinste verschmitzt.

"Weil ich nun mal nicht auf gehirnamputierte Schminkpuppen stehe, die nichts im Köpfchen habe. Wenn ich mich verliebe, dann in ein Mädel, dass richtig smart ist und weiß was es will. Das trotz dem Scheiß, den sie möglicherweise erlebt hat, charakterstark ist und weiß, worauf es im Leben ankommt. Das über mein blondes Haar und meine gemischte Herkunft hinwegsieht und erkennt, dass ich trotz meiner Fehler und Tollpatschigkeit auch meine Qualitäten habe. Und sie wird über meinen schrägen Humor lachen, weil sie ihn amüsant findet.", kam es mit schnellem Sprechtempo von dem Blonden. "Was ist mit Ihnen? Warum sind Sie Single?"

Gozaburo blickte den Blonden über den Spiegel ernst an, bevor er grinste.

"Schon mal Sex gehabt?", fragte er statt zu antworten.

"Und Sie?", erwiderte Jonouchi kampflustig.

Gozaburo wandte sich zu ihm und musterte ihn erneut. Jonouchi musste sich echt zusammenreisen, damit ihm kein Schauer über den Rücken lief. Dann kam der Ältere näher und Jonouchi konnte - ob er wollte oder nicht - sehen, wie der andere langsam eine Erektion bekam.

"Noch gar keine Erfahrungen, Junge?", fragte er, als er kurz vor Jonouchi stehen blieb. Der Blonde musste echt alle Willenskraft zusammen nehmen, um dem Drang diesem widerlichen Typen nicht eine reinzuhauen nicht nachzugeben.

"Warum fragen Sie? Bin ich etwa ihr Typ?", zischte Jonouchi ernst.

Gozaburos legte seine Hand auf das Handtuch über Jonouchis Schritt. Das war genug. Er stieß den Mann mit aller Kraft von sich.

"Finger weg.", warf Jonouchi laut verbal hinterher.

Scheinbar machte Gozaburo das richtig an, denn sein Glied stand wie eine Eins.

"Oh... ein Wildfang... Komm schon, ich kann dir zeigen, wie es geht.", kam es lüstern von dem Älteren.

"Boa, bitte... bevor ich Sie ran lassen würde, ... Nein, Moment: Ich würde Sie niemals ranlassen und sollten sie mir noch mal an meinen Schwanz packen werden Sie ihre Hand lange Zeit nicht mehr benutzen können.", zischte Jonouchi. "Und jetzt her mit dem Scheißschlüssel."

Gozaburo reichte ihm den Schlüssel und Jonouchi griff danach. In dem Moment packte Gozaburo den Blonden am Oberarm und zog ihn dicht vor sich.

"Hände weg von meinem Sohn, sonst reis ich dir den Arsch auf, das du Blutest wie eine Schlampe bei der Menstruation.", kam es bedrohlich von dem Alten. Jonouchi verzog angewidert das Gesicht stieß den Mann mit der freien Hand von sich, hielt aber den Schlüssel fest.

"Ich hab's schon mal gesagt: Ihr Sohn gibt mir nur Nachhilfe.", wiederholte Jonouchi, während er eilig die Badezimmertür aufschloss und dann öffnete. Vor der Tür stand mit geweiteten Augen Seto, der erst Jonouchi und dann seinen nackten 'Vater' musterte. Jonouchi zog an ihm vorbei und eilte in das Zimmer des Dunkelhaarigen. Seto folgte ihm und sah den Blonden sich nur suchend umschauend, bevor ihm einfiel, dass seine Sachen im Bad lagen.

Stumm ging Seto an eine Kommode, holte Unterwäsche und ein paar Freizeitsachen raus, legte sie auf das Bett und verließ das Zimmer wieder. Jonouchi sah dem Dunkelhaarigen noch kurz hinterher, dann schlüpfte er in die Frischen Klamotten, bevor er ihm raus folgte. Er sah Seto in der Küche, mit dem Rücken zu ihm stehen. Etwas war komisch an dem anderen, doch erst als er näher kam, bemerkte er, dass Seto weinte.

"Hey... sssh... ist nichts passiert.", meinte Jonouchi, der sich neben Seto stellte. Auf einmal spürte er hinter sich eine Präsenz. Als er sich umwandte stand Gozaburo - dieses Mal wenigstens halb bekleidet - hinter ihnen.

"Geht's noch?", keifte Jonouchi ungehalten. "Wie wär's mit etwas Abstand?"

"Wenn es dir nicht passt, wie ich in meiner Wohnung agiere, dann kannst du auch gehen und brauchst nicht wieder zu kommen.

"Wird nicht passieren.", zischte der Blonde. "Also ein Schritt zurück."

"Seto... vergiss nicht das packen... wir wollen morgen zeitig los.", meinte Gozaburo, während er sich abwandte. "Ich frühstücke heute auswärts."

Damit verschwand der Typ wieder in seinem Schlafzimmer, um sich fertig anzuziehen. Seto war wie erstarrt und sein Gesicht war gänzlich gerötet vor Scham. Er presste die Lippen fest aufeinander und ließ stumm die Tränen über die Wangen kullern.

"Du musst nicht mit ihm fahren...", flüsterte Jonouchi. "Komm mit zu mir."

Seto brauchte ein paar Augenblicke bevor er blinzelte und zu Jonouchi schaute. Ihn prüfend musterte, ob der Blonde das ernst meinte. Dieser lächelte ihn nur sanft und ermutigend an.
 

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Jonouchi Katsuya

Als Gozaburo aus seinem Schlafzimmer kam trat Jonouchi vor ihn.

"Seto wird nicht mit Ihnen zu diesem See fahren.", meinte der Blonde ernst.

"WAS?", kam es aufbrausend von Gozaburo, der sich auf einmal aufplusterte, um noch etwas größer und massiver zu wirken. Doch der Blonde blickte ihn nur unbeeindruckt an.

"Überlegen Sie es sich jetzt gut, was Sie tun und wie Sie reagieren. Nicht das ich mich in einer Situation wiederfinde, in der ich einem Polizisten von dem, was vorhin im Badezimmer geschehen ist, erzähle.", wisperte Jonouchi dem Älteren drohend zu. Für einen Moment glaubte Jonouchi echt, dass der Alte vor Wut platzen würde. Doch dann räusperte der andere sich, gab seine Drohgebärde auf und ging zur Garderobe, wo er nach seiner Aktentasche griff. Er wandte sich noch einmal um und musterte Seto scharf. Dieser wagte nur aus den Augenwinkel seinen 'Vater' anzuschauen und man konnte ihm deutlich die Angst vor dem Mann ansehen.

"Dann halt nicht. Bist eh schon zu alt dafür.", meinte Gozaburo und verließ die Wohnung, nicht ohne die Tür kräftig ins Schloss zu ziehen. Ungläubig starrte Seto die Wohnungstür an. Sein Mund öffnete sich einen Spalt und unterstrich den Ausdruck des Unglaubens noch.

"Hm ... Du kommst trotzdem heute mit zu mir und pennst bei mir.", meinte Jonouchi, als er zu Seto zurück gekehrt war. Dieser schaute ihn verblüfft an, dann noch einmal zur Wohnungstür. Er verstand noch nicht so ganz, was gerade geschehen war. Doch das spielte auch gar keine Rolle. Alles was zählte war, dass er nicht zu diesem See musste.

Also machte er ihnen Frühstück. Nach dem Frühstück packte Seto Nachtklamotten und seine Unterlagen für die Schule ein, während Jonouchi seine Papiere zusammensuchte und wieder in die Tasche steckte. Dann verließen sie die Wohnung in der der Dunkelhaarige in den wenigen Wochen, die er hier wohnte, schon so viel Schmerz und Leid erlebt hatte.
 

Als sie einen Stock höher in die gleiche Wohnung kamen blieb Jonouchi vor Schreck stehen. Es herrschte das reinste Chaos in ihr.

"Oh... Schei... ähm... Sorry, wie das hier aussieht.", meinte Jonouchi nur verlegen. "Geh am Besten in mein Zimmer und schau dich da ruhig um, ich werd mal fix das Chaos hier beseitigen."

"Soll ich dir helfen?", fragte Seto hilfsbereit.

"Ähm... schaff ich schon alleine.", grinste Jonouchi, der wusste, dass sein Vater aus Gewohnheit gerne mal hier und da auch seine getragene Unterwäsche, Wichstücher oder was auch immer liegen ließ. Kaum war sein Gast in seinem Zimmer verschwunden sputete sich der Blonde den Wohnraum und die Küche auf Vordermann zu bringen. Nach fast einer Stunde - absolute Rekordzeit, wie Jonouchi fand - eilte er nur ins Badezimmer. Auch dort sah es katastrophal aus. Wenigstens hatte so ein kleines Badezimmer den Vorteil, dass man es auch recht rasch wieder auf Vordermann bringen konnte.

Dann ging er zum Kühlschrank und fand diesen - wie hätte es auch anderes sein können - leer vor. Er hüpfte kurz zu seinem Zimmer.

"Du Seto, ich geh mal fix Klamotten unten in die Maschine werfen. Sollte mein Alter kommen, bleib bitte einfach hier und verhalt dich ruhig, okay?", meinte er zu Seto, der ihn mit großen Augen ansah und dann nickte. "Egal was du hörst...", merkte der Blonde noch hastig an und zog dann seine Zimmertür wieder zu. Er ging zum Mehltopf und war dankbar, darin noch etwas Geld zu finden. Er nahm den voll beladenen Wäschekorb, so wie die Wertmarken von der Hausverwaltung mit denen man die Maschinen in der Waschküche bedienen konnte und verließ die Wohnung.

Erst suchte er die Waschküche auf und verteilte Kleidung und Handtücher auf drei Maschinen. Dann bestückte er jede Maschine mit einer Wertmarke, stellte das gewünschte Programm ein und wie viel Waschmittel verwendet werden sollte und startete die Programme.

Dann huschte er geschwind aus dem Haus zum Conbini und kaufte schnell einige Sachen ein. Als er wieder in die Wohnung seines Vaters kam stand dieser mitten im Wohnraum. Jonouchis Augen weiteten sich vor Schreck, dann stellte er hastig die beiden Papiertüten neben die Tür und wusste schon, was jetzt kommen würde.

"Schon wieder?", keifte der Alte. "Du bist so dämlich, dass du es einfach nicht lernst, was?"

Noch ehe Jonouchi etwas sagen konnte spürte er bereits die Rückhand seines Vaters, die mit seiner Wange kollidierte und ihn zur Seite warf. Er fiel gegen die Garderobe, versuchte nach etwas zu greifen, konnte aber nichts erwischen. So fiel er auf seine Knie. Alles drehte sich um ihn. Doch da wurde er bereits wieder auf seine Füße gerissen.

Benommen sah er, wie Seto aus seinem Zimmer kam. Doch er gab ihm ein Zeichen, dass dieser zurück in dieses gehen und die Tür schließen sollte. Ob der andere sein Zeichen gesehen und verstanden hatte, konnte Jonouchi nicht mehr erkennen, da wurde er bereits Richtung Küche gestoßen, in der er erst gegen die Theke und dann erneut auf seine Knie fiel. Die schraubstockartige Hand seines Vaters krallte sich in sein Haar und zog ihn soweit hoch, dass er auf die Anrichte schauen konnte. Dort lag der leere Mehltopf.

"Lass mich raten, du wolltest mir wieder einen Gefallen tun und was zum Spachteln kaufen?", knurrte der Alte ihm ins Ohr. Jonouchis Gehirn konnte nicht schnell genug eine Antwort liefern und so drückte der Säufer den Kopf seines Sohns unsanft auf die Anrichte.

"Ich sag es nur noch dieses eine Mal, du Versager: Finger weg von meinem Geld. Ich werde schon einkaufen gehen, wenn ich der Meinung bin, dass wir was brauchen. Wenn dir das nicht passt such dir einen Job und schaff selbst Geld ran.", wisperte er seinem Sohn gefährlich ruhig ins Ohr. Jonouchi konnte nur halb mit dem Kopf eine nickende Bewegung machen und hoffte, dass es ausreichte, damit sein Vater erkannte, dass er verstanden hatte. Dieser ließ ihn los und Jonouchi fiel zurück auf den Boden. Dennoch verkniff sich sein Vater nicht, noch einmal nachzutreten.

"Beim nächsten Mal schlag ich dich tot.", kam es kalt von dem Amerikaner, der daraufhin wieder die Wohnung verließ.

Die Verzweiflung wollte schon in dem Blonden hochschlagen, als ihm bewusst wurde, dass er nicht alleine war. Also schluckte er seine Wut und seine Verzweiflung runter und hoffte, dass seine Tränen auch verschwinden würden. Doch als er versuchte sich hochzustemmen keuchte er vor Schmerzen und er verlor den Kampf gegen die Tränen. Er verbarg sein Gesicht zwischen den Armen und versuchte es ein weiteres Mal. Dieses Mal kam ihm jemand zur Hilfe, der ihm vorsichtig unter die Arme griff und half sich aufzusetzen.

Er sah Seto besorgt dreinschauend vor sich knien.

"Geht ... geht gleich wieder.", keuchte Jonouchi, der sich eine Hand auf die Stelle presste, an der der Schuh seines Vaters seine Seite getroffen hatte.

"Lass mich einen Krankenwagen rufen.", meinte Seto, doch Jonouchi schüttelte nur den Kopf. Seine Wange, die als erstes von Jonouchis Vater geschlagen worden war, begann sich violett zu verfärben.

"Ach was... geht gleich wieder, glaub mir.", versuchte Jonouchi mit einer Spur Humor in der Stimme den anderen zu beruhigen.

Seto setzte sich ihm gegenüber und wartete. Nach fast zwanzig Minuten befand Jonouchi, dass er genügend auf dem Boden gesessen hatte. Er legte seine freie Hand auf die Oberseite der Theke, an der er lehnte, und versuchte sich hoch zu ziehen. Sofort kam auch in Seto Bewegung, der ihm beim Aufstehen half und den Blonden so gut es ging stützte.

Dann schleppte Jonouchi sich zu den beiden Papiertüten und wollte sie aufheben, doch auch hier kam Seto ihm zuvor. Er trug die Tüten in die Küche und ließ sich von Jonouchi sagen, wo die Sachen hinkamen.

"Bist du sicher, dass ich bleiben soll?", fragte er unsicher.

"Auf jeden Fall. Mein Alter kommt nicht vor Mitternacht nach Hause. Dann fällt er für gewöhnlich direkt in sein Bett oder auf die Couch.", erklärte Jonouchi.

"Wo... ist deine Mutter?", fragte Seto scheu und unsicher. Jonouchi blickte kurz zu ihm. Scheinbar hatten sie die Phase, als sie beide sich noch keine Fragen gestellt hatten, hinter sich gelassen, was nur allzu verständlich gewesen war. Immerhin hatte Seto sich ihm gänzlich offenbart, da lag es nur nahe, dass Jonouchi gleichzog.

"Die lebt mit meiner Schwester irgendwo auf Hokkaido.", erklärte der Blonde geknickt.

"Und warum lebst du bei... diesem... Mann?", fragte Seto stockend nach.

"Weil er bei der Scheidung verloren hat.", antwortete Jonouchi mit einem sarkastischen Lächeln, das seine Selbstherabwürdigung noch unterstrich.

"Drück es nicht so aus, ich bin mir sicher, deine Mutter und deine Schwester vermissen dich sehr.", versuchte Seto Jonouchi aufzubauen.

"Meine Schwester - sicher. Genauso, wie ich sie. Aber meine Mutter... bezweifel ich doch sehr. Die hat sich seit der Scheidung nicht einmal gemeldet oder geschrieben.", kam es mit bitterer Stimme von dem Blonden.

"Seit wann sind sie denn schon geschieden?", fragte Seto etwas selbstsicherer nach.

"Hm ... das sind jetzt ... sieben Jahre?", kam es traurig von Jonouchi, als ihm bewusst wurde, dass seine Schwester jetzt schon ein Jahr länger von ihm getrennt war, als sie miteinander aufgewachsen waren.

"Ich vermisse meinen Bruder auch jeden Tag so sehr, dass mir das Herz brechen möchte.", gestand Seto leise. Jonouchi blickte zu ihm auf und lächelte mit Mühe.

"Wie alt war dein Bruder bei dem Unfall?", fragte nun der Blonde.

"Zwei.", antwortete Seto. "Er hat immer gelacht und so gestrahlt, als gäb es gar nichts Böses oder Schlechtes auf der Welt."

Als Jonouchi sich etwas mehr aufrichtete durchzog ihn ein heftiger Schmerz.

"Ich ruf jetzt den Krankenwagen.", meinte Seto und wollte schon sein Handy zücken, als Jonouchi eine Hand auf seine Hand legte.

"Nein... es tut nur weh... das gibt sich mit der Zeit.", versuchte Jonouchi ihn zu beruhigen. Seto dachte kurz nach, dann ging er zurück in Jonouchis Zimmer, öffnete das Fenster und stieg die Leiter nach unten. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück und hatte ein Pillendöschen in der Hand. Er öffnete es und holte eine Tablette heraus. Dann wandte er sich um und suchte ein Messer. Derweil nahm Jonouchi das Pillendöschen und betrachtete sich das Etikett.

"Vicodin...", las er laut vor. Ausgestellt war das Medikament auf Seto.

"Wofür hast du das verschrieben bekommen?", fragte Jonouchi.

"Ähm... ist ein Schmerzmittel.", antwortete Seto völlig ohne Kontext.

"Ja, das weiß ich. Ein ziemlich starkes sogar, oder? Kann süchtig machen.", präsentierte Jonouchi sein Fernsehwissen.

"Ein Freund von Gozaburo hat es mir verschrieben, weil ich... manchmal heftige Schmerzen hab.", meinte Seto ausweichend.

"Ein Freund von Gozaburo.", wiederholte Jonouchi, als würde er erst dadurch die Bedeutung erfassen können. "Die Hütte am See gehörte auch Freunden von Gozaburo."

Seto hielt inne und senkte seinen Blick. Dann schien er zu finden, was er suchte und teilte die Tablette in zwei Hälften. Die eine Hälfte warf er zurück ins Pillendöschen, die andere gab er Jonouchi.

"Mit reichlich Wasser runterspülen.", kam es kaum hörbar von dem Dunkelhaarigen. Er wandte sich noch mal ab, nahm ein Becher und füllte Wasser aus einer Flasche ein. Dann reichte er mit zitternder Hand den Becher Jonouchi. Der legte seine Hand auf die Setos, bis dieser seinen Blick langsam zu ihm hob.

"Danke, Seto.", meinte Jonouchi nur sanft und machte deutlich, dass er das Thema nicht weiter vertiefen würde. Dafür war Seto ihm mehr als dankbar.

"Nichts zu danken, Katsuya.", erwiderte dieser nur.
 

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Veränderungen

Die Sommerferien waren zu Ende gegangen. Seto hatte nicht an den See fahren müssen und fühlte sich dadurch seltsam befreit. Er lernte weiterhin mit Katsuya und fand darin das Gefühl der Erfüllung. Gozaburo hatte die beide seit der Konfrontation einfach links liegen gelassen. Zwar erwartete er immer noch sein Abendessen, wenn er heim kam, doch ansonsten sprach er weder mit dem Blonden noch mit seinem Sohn ein Wort.

Außerdem hatte Katsuya Seto mit in einen Baumarkt genommen, wo sie einen Riegelverschluss gekauft und danach an die Zimmertür des Dunkelhaarigen angebracht hatte. So konnte dieser abends den Riegel vorschieben und in der Sicherheit schlafen, dass Gozaburo nicht mehr einfach so in seinem Zimmer stehen würde.

Doch in einigen Nächten war es vorgekommen das Seto über die Feuertreppe einen Stock höher geschlichen war und dort sachte gegen Katsuyas Fenster geklopft hatte. Nach den ersten beiden Malen hatte Katsuya dann sein Fenster so offen gelassen, dass Seto es von außen hochschieben und ins Zimmer schlüpfen konnte.

Katsuya hatte nie gefragt, warum Seto sich zu ihm flüchtete. Er war davon überzeugt, dass Seto in diesen Nächten besonders schlecht geschlafen hatte und daher etwas Schutz und Geborgenheit suchte, die er ihm gerne schenkte.
 

Die Ferien waren kaum eine Woche vorüber, da liefen Seto und Katsuya kurz vor der Schule Ushio über den Weg, der nur allzu erfreut über die Gelegenheit war, Katsuya mal wieder zu erwischen.

"Gaijin... hast dich ganz schön dünn gemacht vor den Ferien, was?", kam es überfreundlich von dem Drittklässler.

Katsuya wollte zurückweichen, als er spürte, dass hinter ihnen die zwei Lakaien des Schlägers aufgetaucht waren.

"Ah, du sprichst nicht mehr mit mir. Versteh ich nicht, denn immerhin hast du doch mich geschnitten. Das war nicht gerade höflich.", meinte der Ältere.

"Nicht sehr höflich.", wiederholte Sakai wie ein Papagei.

"Jedes Wort an euch ist auch Verschwendung.", kam es kalt von Seto und Katsuyas Augen weiteten sich vor Schreck.

"W... was hast du gesagt?", kam es überrascht von Ushio.

"Grob übersetz hab ich dich dumm genannt.", antwortete Seto provokativ.

"Wer zum Teufel ist das... wer zum Teufel bist du überhaupt?", kam es verwirrt von Ushio.

"Das ist doch diese Goth-Schwuchtel aus der Zweiten.", kam es von Tokuda, der dafür einen genervten Blick von Ushio erntete.

"Du bist also diese Goth-Schwuchtel aus der Zweiten?", wiederholte der Anführer des Trios.

"Ich bin die Goth-Schwuchtel aus der Zweiten und du bist der hirnlose Donkey-Kong-Ersatzaffe aus der Dritten?", entgegnete Seto erneut. Ushio ballte die Fäuste und man konnte ihm den Ärger deutlich ansehen. "Was... willst du mich schlagen? Nur zu, aber überleg dir zwei Mal, ob es dir das wert ist, denn im Gegensatz zu dir, bin ich an der Schule ein unbeschriebenes Blatt."

"Er hat schon Recht, Ushio-sama... es könnte echt doof aussehen, wenn wir den hier aufmischen... bei dem Gaijin sagt niemand was... aber bei dem da...", merkte Sakai kritisch an.

"Wie wär es, Goth-Schwuchtel, wenn du einfach Leine ziehst.", schlug Ushio in einem bemüht-freundlichen Tonfall vor.

"Hm... lass mich kurz überlegen, bevor ich 'Nein' sage.", erwiderte Seto und Ushio brauchte tatsächlich einen Moment, bevor er realisierte, was der Dunkelhaarige eigentlich gesagt hatte und musste kurz belustigt Lachen.

"Der bettelt geradezu darum eine auf die Schnauze zu bekommen.", meinte Ushio und klang dabei, als würde er in einer Zwickmühle stecken.

"Wie wär das: Ihr dreht euch einfach um und lasst uns fortan in Ruhe, dafür erzählen wir niemanden, wie dämlich du eigentlich bist.", schlug Seto vor.

"Jetzt reicht es.", kam es von Ushio, der damit Seto eine verpasste. Sofort hörten sie vom Schulgelände die Pfeife der diensthabenden Aufsicht.

"Hey Ushio... zum Rektor, sofort.", blaffte der Lehrer, der den Drittklässler am Kragen packte und mit sich zog. Seto hielt sich derweil die blutende Nase. Noch immer blickte Katsuya ihn fassungslos an.

"Warum...?", stammelte der Blonde, während die beiden anderen Schläger sich verzogen.

"Na jetzt werden wir vor ihm unsere Ruhe haben.", meinte Seto nur. "Wenn er nicht ganz so blöd ist, wie ich ihn gerade genannt habe, dann wird er nicht seinen Schulabschluss für einen Verweis riskieren."

"Du pokerst ziemlich hoch.", merkte Katsuya an. "Komm ich bring dich in Krankenzimmer."

Tatsächlich ließ Ushio sie von da an in Ruhe. Zwar konnte er es nicht lassen Katsuya als Gaijin zu beschimpfen oder andere, wenig schmeichelhafte Begriffe zu verwenden, aber er wagte es nicht mehr, sich ihnen zu nähern. Scheinbar hatte der Direktor ihm ordentlich den Marsch geblasen.
 

Katsuya lag wieder quer über seinem Pult, als sein Klassenlehrer vor ihm stehen blieb. Fragend blickend richtete sich Katsuya auf. In der Hand hielt Herr Miyatake die letzte Klassenarbeit, die sie in der Woche zuvor geschrieben hatten.

"Du wirst diese Arbeit nachschreiben.", meinte er harsch zu dem Blonden.

"W... was? Wieso?", fragte Jonouchi völlig verblüfft.

"Weil du geschummelt hast.", meinte der Lehrer gereizt. "Ich weiß nicht wie, aber du hast bei irgendwem abgeschrieben."

Damit knallte er dem Blonden die korrigierte Arbeit auf den Tisch, auf dem ein 'Gut' mit Plus stand. Katsuya freute sich, doch dann verstand er, was der Lehrer meinte: Er glaubte nicht daran, dass ein Schüler, der durchgehend einen Fünferschnitt fuhr, auf einmal nach einem Sommer seine Noten auf eine Zwei heben konnte.

"Ich hab nicht abgeschrieben.", meinte Katsuya aufbegehrend.

"Entweder du schreibst sie heute Nachmittag nach oder ich trage dir eine Sechs ein.", warnte der Lehrer ihn.

"Herr Miyatake.", mischte sich auf einmal Seto ein. "Er hat nicht betrogen. Wir haben den ganzen Sommer gelernt, damit er im Stoff aufholt.", meinte Seto in einem bedächtigen Tonfall. Die gesamte Klasse drehte sich verblüfft zu ihm um, doch das war dem Goth egal. Der Lehrer musterte Seto ausgiebig bevor er genervt schnaufte.

"Ist das so, ja?", kam es von ihm in einem zweifelnden Tonfall.

"Ja, ist es.", bestätigte Seto noch einmal selbstsicher.

"Nun gut, dann will ich das mal glauben... vorerst.", meinte Herr Miyatake und gab Seto dessen Arbeit. Katsuya sah den Goth nur völlig ungläubig an.

"Alles gut?", fragte Seto leise flüsternd. Katsuya nickte wie in Zeitlupe. Das war das erste Mal seit Honda, dass sich jemand für ihn eingesetzt hatte.
 

Als Katsuya und Seto an diesem Morgen auf das Schulgelände kamen zogen sie ungewollt die Blicke aller anderen Schüler auf sich. Manche von ihnen blieben sogar stehen, um sich zu ihnen umzudrehen, tuschelten dann mit ihren Freunden kurz und zeigten dann auf sie. Andere hielten ein Blatt Papier in der Hand und schienen was auch immer darauf gedruckt war mit ihnen zu vergleichen.

"Irgendwas geht hier vor.", meinte Katsuya leise.

"Die Frage ist nur was.", erwiderte Seto ebenso leise.

"Nichts Gutes, wenn du mich fragst.", gab Katsuya seine Befürchtung zum Besten.

Als sie das Schulgebäude betraten blieben sie wie angewurzelt stehen. Die Flure waren mit unzähligen Ausdrucken eines Bildes regelrecht renoviert worden. Katsuya riss eines der Blätter ab und Seto blickte ungläubig über dessen Schulter auf den Druck.

"Wie zum...", stammelte Katsuya, während es Seto die Sprache verschlagen hatte.

"Hey, ihr beiden da...", wurden sie plötzlich von einem Lehrer angeblafft, der ebenfalls einen Ausdruck in der Hand hatte. "Zum Direktor. Sofort!"

Konsequenzen

Der Direktor tobte.

"Ihr seid eine Schande für die gesamte Schule.", schrie er laut und sein Gesicht war mittlerweile rot vor Zorn. "Wenn ihr schon solche widerlichen Neigungen habt, dann hättet ihr mehr Diskretion walten lassen müssen. Aber so... SO SEID IHR VÖLLIG UNTRAGBAR."

"Herr Direktor...", wollte Katsuya einhaken, doch der Direktor schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.

"Keine weitere Lüge von dir, Jonouchi. Du hast uns dieses Jahr mehr als genügend Probleme bereitet. Das hier ist ein guter Grund dich hochkant von der Schule zu werfen.", schrie der ältere Mann weiter. "Deinesgleichen machen immer nur Ärger."

"Herr Direktor...", versuchte es nun Seto. "Es ist nicht, wie es auf dem Bild ausschaut."

"Ach nein, Kaiba? Wie ist es denn dann? Ich finde dieses Bild lässt ziemlich wenig Spielraum für Interpretationen. Ihr habt sofort diese unselige Beziehung zu beenden, sonst wird mir nichts übrig bleiben, als euch der Schule zu verweisen, bis ihr zur Vernunft gekommen seid."

"Aber wie sollen wir was beenden, was es nicht gibt?", fragte Katsuya verzweifelt.

"WAS ES NICHT GIBT?", brüllte der Direktor aufgebracht und warf ihnen einen der unzähligen Ausdrucke zu. Auf dem Bild waren sie zu sehen, wie sie gemeinsam in Setos Bett lagen, Katsuya einen Arm um Seto, der sich eng an ihn gekuschelt hatte. "DAS IST DOCH MEHR ALS EINDEUTIG."

"Aber... wir schlafen hier doch nur gemeinsam in einem Bett.", wandte Katsuya verzweifelt ein, der nicht verstand, wie man so borniert sein konnte. "Wir sind vollständig bekleidet. Wir sind NUR Freunde."

"Schluss jetzt. Ihr wollt an eurer Liaison festhalten. Fein. Ich verweise euch der Schule und lasse eure Väter her bitten, damit sie euch abholen. Räumt schon mal eure Spinde aus.", meinte der Direktor unversöhnlich und schob die beiden aus seinem Büro, trug der Sekretärin auf die Väter zu verständigen und bat zwei Fluraufsichten - zwei Schüler aus der Dritten - die beiden zu ihren Spinden zu begleiten, damit sie diese leer räumten.
 

Bei den beiden Fluraufsichten handelten es sich um Sakai und Tokuda - die Lakaien von Ushio. Diese folgten ihnen in ein paar Schritten Abstand. Zum Glück hatte bereits die erste Stunde begonnen und die Flure waren leer.

"Ich hab nur ein einziges Mal in deinem Bett gelegen.", flüsterte der Blonde Seto zu, darauf bedacht, dass Sakai und Tokuda nichts verstehen konnten. "Wo kommt also dieses Foto her?"

"Gozaburo.", kam die schlichte Antwort von Seto.

"Gozaburo?", hakte der Blonde verwirrt nach.

"Du ... hast ihn herausgefordert und ihm die Stirn geboten. Er ist ein feiger, hinterhältiger Charakter ... und der einzige, der dieses Bild gemacht haben konnte.", erklärte Seto leise.

"Aber wieso verbreitet er es? Das zieht doch erst Recht Aufmerksamkeit auf dich.", wandte Katsuya verwirrt ein.

"Es... isoliert mich aber auch.", kam es nach einem Moment von Seto. "Jetzt, wo wir beide der Schule verwiesen sind, funktioniert unsere Nachhilfe-Ausrede nicht länger. Und es ruiniert deinen vor ihm geäußerten Wunsch, deine Noten zu verbessern, damit du auf eine Uni kannst."

Katsuya blickte Seto entgeistert an.

"Dieser elendige Mistkerl.", keifte der Blonde.

"Hey,... halt deine Klappe.", fauchte Sakai genervt. Katsuya blickte kurz über seine Schulter zu den beiden Lakaien und Wut flammte auf einmal in ihm auf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Nur zu gerne hätte er sich jetzt umgedreht und Sakai Bekanntschaft mit einer seiner Fäuste machen lassen. Doch Seto legte behutsam eine Hand auf Katsuyas Faust.

"Nicht... bitte gib ihnen keinen Grund, dich wirklich rauszuwerfen.", bat Seto ihn auf seine sanfte Art, die ihm zu Eigen war. Katsuya blickte ihn überrascht an. Seto kannte ihn mittlerweile wirklich gut. Also wandte er sich wieder nach vorne und dann erreichten sie auch schon Setos Spind.
 

Beide trugen ihre Habseligkeiten aus den Spinden in je einer Pappschachtel vor sich her, als sie zurück zum Büro des Direktors geleitet wurden. Zu ihrem Entsetzen sahen sie, dass ihre Väter beide schon eingetroffen waren. Keiner von ihnen wirkte glücklich darüber, dass sie ihre Söhne abholen mussten. Dabei musterte Katsuyas Vater Gozaburo abwertend, da er generell wenig von Anzugträgern hielt.

Katsuya konnte die Wut in den Augen seines Vaters sehen, der durch ihn wohl einen ganzen Tageslohn verloren hatte. Er wusste, was das bedeutete. Seto konnte ihm die Angst deutlich ansehen und wollte schon nach seiner Hand greifen.

"Nicht.", kam es leise von Katsuya. Es war eine Sache, ob Seto nach seiner Hand griff, wenn nur die zwei Lakaien hinter ihnen her gingen oder ob ihre Väter sie dabei sehen konnten. Der Direktor richtete ein paar letzte Worte an die Väter, die sich beide ergeben und entschuldigend verbeugten, bevor sie vor das verglaste Sekretariat traten und ihre Söhne in Gewahrsam nahmen. Keiner von ihnen sagte auch nur ein Wort zu ihren Söhnen.

Gozaburo legte eine Hand auf Setos Schulter, woraufhin dieser sich sofort verkrampfte. Mit etwas geweiteten Augen blickte er zu dem Blonden und wusste, dass dieser ihm heute nicht helfen konnte. Denn dieser würde selbst genug Ärger mit seinem Vater bekommen.

Katsuya war von seinem Vater im Nacken gepackt worden und hatte nur mit großer Mühe ein Zusammenzucke unterdrücken können. Diese Blöße würde er sich vor Sakai und Tokuda, sowie der Witzfigur eines Direktors nicht geben. Dann führten die Väter sie aus der Schule und auf den Heimweg.

Erst, als sie vor dem Wohnhaus ankamen sprach Gozaburo Katsuyas Vater an.

"Sie... wohnen hier?", fragte der Anzugträger und bekam einen strafenden Blick von Jonouchi Senior.

"Was dagegen?", fauchte der angriffslustig.

"Nein... gar nicht.", meinte Gozaburo, der daraufhin zu Katsuya blickte und begann zu grinsen.

Katsuya hatte Setos 'Vater' nie gesagt, wo er wohnte. Bei Fragen zu seinen Eltern war er immer recht allgemein geblieben, hatte zuweilen auch mal gelogen. Das sie übereinander wohnten war eine Karte, die Katsuya nicht ausspielen wollte, damit Seto einen Zufluchtsort hatte, den Gozaburo nicht kannte.

Dann betraten sie das Haus und gingen zum Fahrstuhl. Dort schlug Katsuyas Vater mit der Handkante auf den Knopf mit der Sechs. Als Gozaburo mit Seto dazu stieg zog er erkennend die Augenbrauen hoch und drückte auf die Fünf. Seine Hand hatte sich um Setos Schulter gefestigt, der kaum noch sein Zittern wirklich unterdrücken konnte.
 

Als Katsuya von seinem Vater in die Wohnung gestoßen wurde und die Tür laut ins Schloss geschlagen wurde brauchte er sich gar nicht erst umdrehen. Die Wut seines Vaters war auch so zu spüren. Dieser packte ihn am Kragen seiner Schuluniform, zog ihn herum und schlug ihn zu Boden.

"Eine verdammte Schwuchtel?", brüllte sein Vater auf einmal los. "Nichts Gutes ist aus dem Schoss der Schlampe entsprungen, die ich auch noch zwei Mal geschwängert habe."

Während er sich in einer Hasstirade über Katsuyas Mutter und Homosexualität im Allgemeinen ergoss prügelte und trat er auf seinen Sohn ein, der versuchte seinen Kopf so gut es ging mit den Armen zu schützen. Vergebens.

Irgendwann lag er nur noch da, sein Körper gebrochen und voller Schmerz. Sein Vater beugte sich über ihn.

"Du bist eine Schande.", zischte er ihm zu und spuckte ihm ins von den Schlägen entstellte Gesicht. Dann wandte er sich ab, ließ Katsuya auf dem Boden blutend liegen und verließ die Wohnung.
 

.

Zu spät?

Als Gozaburo endlich wieder zur Arbeit verschwand brauchte Seto eine ganze Weile, bevor er sich aufstemmen konnte. Er schleppte sich in das Badezimmer, wo er versuchte den Gestank und den Schmutz, den er zu spüren glaubte, von sich abzuwaschen. Für einen kurzen Moment gab er sich seiner Verzweiflung hin und seinen Tränen freien Lauf, bevor seine Gedanken zu Katsuya schwappten.

Hastig trat er aus der Dusche, trocknete sich rasch ab und lief in sein Zimmer, um sich anzuziehen. Dann sputete er zur Wohnungstür, griff in die Schale, in der er vorhin sein Schlüssel abgelegt hatte und erstarrte. Sein Schlüssel war nicht da und die Tür verschlossen. Hastig kniete er sich hin, was einen Schmerz durch seinen Körper ziehen ließ, den er versuchte zu ignorieren. Er tastete um und unter dem Schränkchen, auf dem die Schlüsselschale stand, den Boden ab, bis seine Angst bittere Realität wurde: Gozaburo hatte ihn tatsächlich eingesperrt.

Auf einmal flammte eine Wut in dem Dunkelhaarigen auf. War er nicht immer ein guter Sohn gewesen, trotz all der Erniedrigung und dem Schmerz, den Gozaburo ihm aufgebürdet hatte? Wieso dachte dieser auf einmal, er müsse ihn einsperren? Doch mit ihm nicht. Nicht mehr. Also lief er zurück in sein Zimmer, schloss die Tür und schob den Riegel vor. Dann öffnete er sein Zimmerfenster und stieg einen Stock höher.

Wie gewohnt fand er das Fenster von Katsuya einen Spalt weit offen vor. Also schob er es vorsichtig nach oben und stieg in das Zimmer des Blonden. Leise schlich er zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Er konnte Katsuyas Vater nirgends sehen. Also wagt er sich einen Schritt aus dem Zimmer. Die Stille war unheimlich und es bereitete ihm Sorge, dass er auch Katsuya nicht sehen konnte.

Er schlich zur Zimmertür, die zum Schlafzimmer von Katsuyas Vater führte, und lauschte kurz. Doch er konnte weder ein Schnarchen, noch sonst ein Geräusch vernehmen. Panik flammte in ihm auf. Wo war Katsuya? Langsam ging er zum Badezimmer, aber auch das fand er verlassen vor. Er spürte, wie sich seine Brust zusammenzog und sein Herz stach. Was hatte der Alte mit seinem Sohn nur gemacht?

Erst als er vom Badezimmer zurück in den Wohnraum kam hörte er ein angestrengtes Schnaufen. Er folgte dem Geräusch, welches ein wenig rasselte und er begann zu rätseln, was wohl die Quelle dafür sein mochte. Als er die Küchentheke umrundete stockte er geschockt, als er Katsuya auf dem Küchenfußboden liegen sah. Sein Gesicht war furchtbar geschwollen und teils blau-violett verfärbt. Sein Arm lag in einem ungesunden Winkel am Körper und aus mehreren Platzwunden blutete der Blonden.

Nach dem ersten Schock kniete sich Seto hastig neben den Blonden und stellte sicher, dass dieser Luft bekam. Besorgt drehte er Katsuya auf die Seite, bevor er sein Handy zog und die Notrufnummer wählte. Dann beugte er sich kurz verzweifelt und weinend über den Blonden, bevor er sich so setzte, dass er den Kopf des anderen vorsichtig auf dem eigenen Schoss betten konnte

"Bitte Katsuya... halt durch...", flüsterte er, während seine Tränen auf den Blonden fielen. Nach einigen Minuten klopfte es hektisch an der Tür und Seto zuckte kurz zusammen. Erst als jemand durch die Tür rief, dass sie zum Rettungsdienst gehörten, stand er vorsichtig auf und rannte dann zur Tür. Sofort kamen zwei Rettungskräfte in die Wohnung, zogen ihre Schuhe aus und eilten dann zu dem Blonden, der nur halb bei Bewusstsein war.

Seto stand nervös neben den beiden und trat von einem Fuß auf den anderen.

"Was ist geschehen?", fragte einer der Rettungskräfte.

"Keine Ahnung, ich hab ihn so gefunden.", antwortete Seto.

"Sie wohnen nicht hier?", kam die nächste Frage.

"Ich bin ein Nachbar und ein Mitschüler und... ein Freund.", antwortete Seto und bemerkte erst jetzt, dass er immer noch weinte. Katsuya murmelte etwas, was kaum zu verstehen war. Irgendetwas mit 'er' und 'Freund'.

"Wie ist sein Name?", fragte der zweite Sanitäter.

"Katsuya... ähm... Jonouchi... Jonouchi Katsuya.", antwortete Seto, der sich dann dazu zwang ruhiger zu werden. "Ich glaube, dass war sein Vater."

Der Sanitäter blickte ihn kurz an und nickte dann, während sie die Erstversorgung abschlossen. Dann schoben die beiden von beiden Seiten je einen Teil der Rettungstrage unter den Blonden.

"Kann ich mitkommen?", fragte Seto ruhig und wurde kurz vom Sanitäter gemustert, bevor dieser nickte. Nachdem die beiden Rettungskräfte beim Rausgehen wieder in ihre Schuhe geschlüpft waren, brachten sie Jonouchi über die Treppe nach unten zum Krankenwagen. Dort legten sie ihn auf die gepolsterte Liege, die zu unhandlich für das Treppenhaus gewesen wäre, und sicherten ihn dort.

"Se... Seto... SETO.", begann Katsuya plötzlich panisch und besorgt zu rufen. Seto, der gerade zugestiegen war stolperte an seine Seite.

"Hey, ich bin da...", kam es von dem Dunkelhaarigen. Das schien Katsuya zu beruhigen, der daraufhin wieder in Bewusstlosigkeit abglitt.
 

Im Krankenhaus hatte Seto nur bis zu einem gewissen Punkt den Blonden begleiten dürfen. Dann wurde er angewiesen im Wartebereich zu bleiben. Nachdem er Katsuya nicht mehr sehen konnte fiel ihm auf, dass an seinen Händen, an dem frischen Hemd und seiner Hose Katsuyas Blut trocknete. Er ging in einen Waschraum und wusch sich die Hände.

Erst jetzt überkam ihn erneut die Verzweiflung, dieses Mal aber nicht wegen seiner eigenen Situation. Vielmehr war es die Angst, dass er Katsuya verlieren könnte. Dessen Vater hatte es dieses Mal wirklich übertrieben und Seto spürte, wie sich die Wut und der Hass auf diesen Mann mehrte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er wünschte, er könnte den Mann dafür büßen lassen. Doch er konnte sich ja nicht mal gegen Gozaburo wehren, was hätte er also gegen einen Fremden ausrichten können?

Nachdem er seine Tränen wieder unter Kontrolle gebracht hatte verließ er den Waschraum und kehrte in den Wartebereich zurück. Er hatte die Hoffnung, dass ein Arzt nach ein paar Minuten zu ihm kommen würde und ihm was Neues sagen konnte. Aber es vergingen fast vier Stunden, bevor ein Arzt in den Wartebereich kam und sich kurz suchend umschaute.

"Die Angehörigen von Jonouchi Katsuya?", rief der Arzt fragend in den Raum und sofort stand Seto auf. Mit nur zwei Schritten überwand er, was ihn von dem Mann trennte und blickte ihn mit geröteten Augen an. Der Arzt musterte ihn kurz, fragte dann aber nicht, in welcher Beziehung Seto zu Katsuya stand, getreu dem Motto 'Nicht fragen, nichts sagen'. Da Seto auf den Aufruf nach den Angehöriger reagiert hatte ging der Arzt wohl davon aus, dass es so war. Also sah der Arzt keinen Grund, warum er dem Brünetten nicht über den Gesundheitszustand des Blonden unterrichten sollte.

"Es wird eine Weile dauern, aber Jonouchi-kun wird wieder gesund werden.", begann der Arzt, bevor er all die Verletzungen auflistete, die sie festgestellt und behandelt hatten. Besonders das Richten des gebrochenen Arms hatte viel Zeit in Anspruch genommen, denn dafür hatten sie den Blonden operieren müssen.

"Eines ist klar: Hätten Sie Jonouchi-kun nicht gefunden, wäre er vermutlich an den Verletzungen gestorben.", schloss der Arzt mit Anerkennung in der Stimme.

"Darf ich zu ihm?", fragte Seto. Der Arzt nickte und brachte ihn in ein Zimmer, in dem der Blonde in einem Bett lag und noch immer bewusstlos war.

"Er wird bald aus der Narkose erwachen und dann noch nicht ganz bei sich sein.", erklärte der Arzt, bevor er Seto bei Katsuya alleine ließ. Dieser ging langsam zu dem einzigen, belegten Bett und blieb davor stehen. Vorsichtig griff er nach der Hand, die nicht zusammen mit dem gesamten Arm eingegipst war. Sanft strich er mit dem Daumen über den Handrücken.

"Es tut mir leid, Katsuya... du hast mich die letzten Wochen immer vor Gozaburo beschützt und ich... ich konnte dich nicht vor deinem Vater retten.", kam es leise und schuldbewusst von dem Dunkelhaarigen, dem erneut eine Träne über die Wange rann.
 

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Ungeschützt

Nur langsam löste sich die Dunkelheit um Katsuya immer mehr. Der Schmerz war nur ein dumpfes Echo, was ihn wunderte. Er hätte damit gerechnet, dass die Prügel von seinem Vater einen bleibenden Schmerz hinterlassen hätte. Sein Vater hatte ihn schon oft wegen Nichtigkeiten verprügelt, aber nie war ein solcher Hass dabei mitgeschwungen. Nie hatte er ihn angespuckt. Eine Träne quälte sich durch das noch geschlossene Augenlid.

Krampfhaft versuchte Jonouchi seine Augen zu öffnen, doch erst nach dem dritten oder vierten Anlauf gelang es ihm das rechte Auge ein wenig aufzustemmen. Das andere war irgendwie blockiert. Er wurde von dem grellen Licht geblendet und kniff sein Auge wieder zu. Versuchte sich mit der Hand vor dem Lichteinfall zu schützen, doch sein Arm fühlte sich so schwer an. Also nahm er die andere Hand, die wesentlich leichter zu bewegen war.

Als er zum zweiten Mal sein Auge aufzwang konnte er etwas erkennen. Alles war in Weiß und an der Decke hing eine Neonlichtröhre, die ihn blendete. Wo war er? Das war nicht die Decke der Wohnung, die er mit seinem Vater bewohnte. Ein scharfer Geruch nach Desinfektionsmittel drang zu ihm und ließ ihn seine Stirn kraus ziehen, was ein erneuter, dumpfer Schmerz auslöste.

Verwirrt kämpfte sich Katsuya in eine sitzende Position. Alles um ihn herum begann sich zu drehen und er hatte wirklich Mühe nicht aus dem hohen Bett zu fallen. Eine leichte Übelkeit bildete sich in seinem Magen. Er kämpfte gegen den Drang, sich zu übergeben, an. Dann blickte er sich noch einmal um und erkannte, dass er in einem Krankenhaus war. Einer seiner Arme war vom Oberarm bis zur Hand eingegipst. Er spürte den Verband um seinen Brustkorb und den Kopf. Erst jetzt bemerkte er, dass er an einer Infusion hing, deren Zentraler Venenkatheter über dem Schlüsselbein in ihn ragte.

In dem Moment ging die Tür des Zimmers auf, in dem er lag, und ließ ihn erschrocken zusammen fahren.

"Ah, du bist ja schon wach.", kam es freundlich von der Krankenschwester. Katsuya musterte sie nur. Sie kam näher und fühlte nach seinem Puls, während sie auf eine kleine Uhr an ihrer Schwesternuniform blickte. "Du fühlst dich sicher noch etwas benommen. Das kommt von der Narkose und den Schmerzmitteln."

Schmerzmittel. Deswegen nahm er den Schmerz nur dumpf wahr. Langsam ließ er sich von der Schwester zurück in das Kissen drücken, als sich ihm eine wichtige Frage durch den Kopf schoss.

"Wie... wie bin ich hier her gekommen?", fragte er mit kratziger Stimme.

"Mit dem Krankenwagen.", antwortete sie sanft. Katsuya hätte gerne mit den Augen gerollt, wenn er nicht solche Probleme schon beim Offenhalten gehabt hätte.

"Aber wie...?", hakte er mit aller Anstrengung nach.

"Achso... dein Nachbar hat den Krankenwagen gerufen, nachdem er dich in der Wohnung deines Vaters auf dem Boden gefunden hat.", erzählte sie ihm. "Er ist mit dir hier her gefahren und nachdem du aus dem OP kamst nicht von deiner Seite gewichen."

Katsuya versuchte seine Stirn erneut kraus zu ziehen, was erneut mit einem dumpfen Schmerz belohnt wurde. Er hob seinen Kopf und blickte sich suchend um. Dabei fiel ihm auf, dass es draußen bereits dunkel war.

"Wo... wo ist er?", fragte er angestrengt.

"Oh, er wurde vor einer Stunde von seinem Vater abgeholt und nach Hause gebracht. Er wollte dich erst gar nicht alleine lassen.", lächelte die Schwester den Blonden an. "Er scheint ein guter Freund zu sein."

Als Katsuya hörte, dass Seto von seinem Vater abgeholt worden war schoss ihm das Adrenalin durch die Ader und er hatte Mühe ruhig zu bleiben. Nachdem die Schwester den Tropf noch einmal richtig eingestellt hatte ging sie endlich wieder. Sofort stemmte sich der Blonde erneut auf, zog sich den Schlauch aus dem zentralen Venenkatheder, ohne diesen zu entfernen, und stand auf. Dabei sackte er kurz zu Boden, hielt sich aber krampfhaft am Bett fest, bevor er seine Beine dazu brachte ihn endlich zu tragen.

Er sah an sich herunter und stellte fest, dass er ein Krankenhaushemdchen trug. Als sein Blick durch den Raum glitt sah er neben seinem Bett auf einem Stuhl eine Plastiktüte, in der die Sachen lagen, die er wohl bei seiner Einlieferung angehabt hatte. So eine Plastiktüte konnte zäher sein, als man meinen mochte und es kostete den Blonden einiges an Kraft sie zu zerreißen. Doch als es ihm gelang zog er eilig seine Sachen, die teils mit getrocknetem Blut verkrustet waren, an. Mit dem Gips in das Hemd seiner Schuluniform zu schlüpfen, kostete einiges an Geduld.

Dann schlüpfte er in die Plastikpantoffel, die jeder Patient vom Krankenhaus gestellt bekam und ging zur Zimmertür. Vorsichtig öffnete er die Tür. Da es scheinbar schon nach der Besuchszeit war, war auf dem Flur nicht mehr viel los. Vorsichtig verließ er sein Zimmer, blickte sich kurz in beide Richtungen des Flures um und entschied sich dann für eine. Scheinbar die Richtige, denn nach wenigen Schritten kam er zu einer Nische in der der Aufzug eingelassen war. Er drückte den Rufknopf und wartete.

Die Anspannung, ob man sein Verschwinden schon bemerkt hatte, hielt seine eingeschränkten Sinne hellwach. Doch dann öffneten sich die Fahrstuhltüren und er trat mit einem hastigen Schritt ins Innere. Dann drückte er den Knopf für das Erdgeschoss. Während die Türen langsam zusammen glitten hatte er entsetzliche Angst davor, dass die Schwester ihn doch noch erwischen und zurück in sein Zimmer bringen würde.

Doch nichts dergleichen geschah und er konnte das Krankenhaus unbehelligt verlassen. Vor der Tür schaute er sich auch noch einmal kurz um, um sich zu orientieren und zu erkennen, in welchem Krankenhaus er gewesen war. Dann lief er los. Das Adrenalin schob sogar den dumpfen Schmerz zur Seite und verlieh Katsuya eine Kraft, die ihm wohl in seinem Zustand niemand zugetraut hätte.

Nach fast einer halben Stunde erreichte er atemlos das Apartmenthaus, in dem Seto und er bei Männern wohnten, die ihnen nichts als Schmerz zufügten. Er hastete über die Straße und tastete in seinen Hosentaschen nach dem Hausschlüssel. Doch da war keiner. Aber zu seinem Glück verließ gerade jemand das Haus und er konnte ins Innere schlüpfen.

Am Aufzug sah er ein Schild, das ihn informierte, dass dieser gerade außer Betrieb war. Was sonst, ging es dem Blonden durch den Kopf. Also schleppte er sich immer schwerer atmend die Stufen in den fünften Stock hinauf. Dort musste er kurz anhalten, um wieder zu Atem zu kommen. Dann humpelte er den Flur zur letzten Wohnung im Flur entlang. Er klingelte, aber konnte niemanden hören, der kam, um ihm zu öffnen.

Was sollte er tun? Er kam nicht in die Wohnung seines Vaters, da er keinen Schlüssel dabei hatte. Klar, er hätte einfach hochgehen und klingeln können, doch wenn sein Vater zuhause wäre und ihm öffnete, würde alles nur wieder von vorne beginnen, was nicht in seinem Sinne lag. Also griff er in einem letzten, verzweifelten Versuch nach dem Türknauf der fremden Wohnung, drehte sie und... schien nochmals Glück zu haben. Sie ging auf.

Er hatte die Wohnung kaum betreten, da konnte er schon das erregte Stöhnen und ein gequältes Weinen hören. Doch das kam nicht aus Setos Zimmer. Es drang aus dem Schlafzimmer Gozaburos. Hastig stürzte Katsuya zur Zimmertür, riss sie auf und sah... wie Seto bäuchlings von Gozaburo ins Bett gedrückt war, während dieser sich eindeutig bewegte.

Katsuya griff in seiner Not nach einer Vase, die auf einem Sideboard im Wohnzimmer gestanden hatte, stürzte mit ihr in der Hand auf Gozaburo und zog diese über den Vergewaltiger. Dieser keuchte erschrocken und schmerzerfüllt auf, während er seitlich wegkippte und von Seto ablassen musste.

Sofort kniete sich Katsuya neben Seto auf das Bett, strich ihm die dunklen, schweißnassen Haare aus dem Gesicht und erkannte, dass Seto nur rudimentär bei sich war.

"Hey... Seto, komm schon, wir müssen hier weg.", keuchte Katsuya geschwächt. Da spürte er bereits, wie jemand ihn an der Jacke seiner Schuluniform packte und von dem Schwarzhaarigen weg und aus dem Raum zog. Erst als er draußen gegen eine freie Wand gestoßen wurde erkannte er Gozaburo, dem ein Blutrinnsal über die Stirn lief und ihn wütend anstierte, nackt und mit halber Erektion.
 

.

Schlag auf Schlag

Als die Polizei endlich in der Wohnung der Kaibas ankam saß Katsuya am Boden, sich die Stirn haltend und kaum in der Lage aufrecht zu sitzen.
 

Gozaburo hatte ihm eine verpasst, so dass Katsuya auf Grund seiner Verletzungen durch den eigenen Vater umgekippt war und sich alles um ihn drehte. Dann hatte er gehört, wie Gozaburo Seto im Schlafzimmer etwas zugeraunt hatte. Was genau, dass hatte Katsuya nicht verstehen können. Als Gozaburo wieder zu ihm kam hatte er eine Hose an und sein Smartphone in der Hand. Er telefonierte kurz mit jemandem und gab seine Adresse und die Appartementnummer durch.

Mit viel Mühe setzte sich Katsuya wieder auf, aber erneut aufstehen konnte er nicht. Alles drehte sich um ihn und er spürte erneut die Übelkeit in sich aufsteigen. Gozaburo hatte sich vor ihn gehockt und herablassend gegrinst. Hatte ihm gedankt, dass er ihm diese Vorlage geboten hatte, denn nun wäre es ein Leichtes ihn von seinem Sohn zu trennen.
 

"Der Bursche ist einfach hier eingebrochen. Als ich aus dem Bad kam hat er mir eine Vase über den Schädel gezogen, doch ich konnte ihn abwehren und hab ihn dann umgehauen.", erzählte Gozaburo den beiden Beamten. "Ich möchte Anzeige erstatten."

Einer der Polizisten hatte die Stirn gerunzelt und Katsuya ungläubig gemustert. Das Häufchen Elend saß mit einem eingegipsten Arm am Boden und dem Verband um den Kopf, konnte kaum etwas aus dem einen Auge sehen und auch sonst machte der Blonde kaum den Eindruck ein gefährlicher Einbrecher zu sein.

"Diese Gaijin... nichts als Ärger mit denen.", schimpfte Gozaburo und dieses Wort versetzte Katsuya erneut ein Stich ins Herz. Die Schmerzmittel schienen auch langsam nachlassen und er spürte den Schmerz seines Körpers jetzt wesentlich deutlicher.

"Dreckiger Abschaum.", murmelte Katsuya, nicht wissend, ob er damit Gozaburo meinte oder nur etwas wiederholte, was Ushio ihm im Laufe der Jahre an den Kopf geworfen hatte.

Der Polizist, der ihn ausführlich gemustert hatte, kniete sich neben ihn.

"Hör mal, wir werden dich jetzt mitnehmen müssen. Auf dem Revier nehmen wir dann deine Aussage auf. Denk bitte dran, dass alles was du sagst, vor Gericht gegen dich verwendet werden kann und wird. Du musst nichts sagen und wenn du möchtest, stellen wir dir einen Rechtsanwalt. Hast du das alles verstanden?", fragte er und klang wesentlich sanfter, als er ihm gegenüber klingen sollte.

"Ich geh hier nicht weg... nicht ohne Seto.", erwiderte der Blonde trotzig.

"Seto?", fragte der Beamte verwirrt nach.

"Keine Ahnung, wovon der Bursche redet.", keifte Gozaburo ungeduldig. "Ist mir auch egal. Nehmen sie endlich mit."

"SETO.", schrie Katsuya verzweifelt in Richtung des Schlafzimmers.

"Halt endlich dein Maul.", fuhr Gozaburo ihn an, bevor er sich gewahr wurde, dass die Polizisten ihn aufmerksam beobachteten. "Wegen dir bekomm ich noch Ärger mit meinen Nachbarn."

"Die Nachbarn kümmern sich um niemanden, außer um sich selbst.", keifte Katsuya verzweifelte zurück. "SETO... komm... wir können gehen... bitte... komm."

"Der hat völlig den Verstand verloren.", murmelte Gozaburo und grinste für einen Bruchteil einer Sekunde triumphierend. Der Polizist neben Katsuya stand wieder auf und ging zu dem Älteren.

"Der Name Seto ... der sagt Ihnen nichts?", fragte der Beamte.

"Mir?", kam es schockiert von Gozaburo. "Nein, nichts."

"Wie... wie kannst du deinen 'Sohn' verleugnen?", keifte Katsuya wütend. Die Polizisten blickten zwischen den beiden hin und her und bekamen langsam das Gefühl, dass ihnen hier etwas Essentielles entging. "Was? Hast du etwa Angst, dass die Herren erfahren, dass du deinen Sohn seit er sieben Jahre alt ist fickst?"

Jetzt legte sich die Aufmerksamkeit der beiden voll und ganz auf Gozaburo, der nur nervös grinste.

"Das ist ein Ablenkungsmanöver von dem Gaijin. Ich habe keinen Sohn, fragen sie beim Einwohnerregister nach. Die werden Ihnen das bestätigen.", versuchte er sich raus zu winden.

"SETO...", rief Katsuya ein weiteres Mal verzweifelt. "Bitte... hab keine Angst... komm... komm zu mir und sag den Herren von der Polizei alles."

"Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir mal in dieses Zimmer schauen würden?", fragte der eine Polizist, der so verständnisvoll mit Katsuya gesprochen hatte.

"WAS? Natürlich hab ich was dagegen, dass Sie auf diesen kleinen Bastard hereinfallen und auf seinen wirren Anschuldigen herein fallen.", schnauzte Gozaburo immer ungehaltener.

"Sagten Sie nicht, er habe sie mit einer Vase angegriffen, als sie aus Ihrem Badezimmer gekommen sind?", hakte der andere nach, der zu dem kurzen Flur gegangen war, der zum Badezimmer führte.

"Ja, hab ich.", bestätigte Gozaburo.

"Wo ist sie dann?", hakte der Mann nach und Gozaburos Augen weiteten sich.

"Was?", fragte der halb nackte Kaiba nach.

"Die Vase... wo ist sie?", wiederholte der Beamte sich.

"Hab ich weggeworfen.", meinte Gozaburo hastig. Doch der andere Polizist hatte sich unauffällig der Küche genährt und blickte in den dortigen Mülleimer.

"Nein, haben Sie nicht.", stellte dieser nüchtern fest.

"Ich hab sie in den Müllschlucker draußen geworfen.", versuchte der schmierige Alte sich zu retten.

"Also, damit wir das richtig verstehen: Sie werden von diesem jungen Mann in diesem Flur mit einer Vase angegriffen, sie setzen ihn außer Gefecht, rufen uns dann an und haben dann den Nerv die Scherben der Vase aufzusammeln und zum Müllschlucker zu bringen, während der 'Täter' hier noch in der Wohnung ist?", fasste der Beamte am Badezimmerflur zusammen.

"Ich hab ihm die Vase übergezogen, als ich ins Schlafzimmer ging und sah, wie er meinen Freund vergewaltigte. Ich wollte nur, dass er damit aufhört.", keuchte Katsuya kurzatmig.

"Ich bitte Sie jetzt noch einmal uns in dieses Zimmer schauen zu lassen.", bat der Polizist, der aus der Küche langsam wieder zu Gozaburo kam, die Hand am Schlagstock, als erwarte er, dass der ältere Kaiba gleich handgreiflich werden würde. Doch dieser presste nur die Lippen fest aufeinander. Dann hörten sie es im Nebenzimmer klirren. Das schien den Polizisten dann zu genügen und Gefahr in Verzug zu vermuten, was ihnen das Recht gab das Zimmer eigenmächtig zu öffnen und zu betreten.

Seto lag nackt vor dem Bett auf dem Boden und hatte in einer Hand einen Teil der Vase, den er sich wohl heran gezogen und damit auf dem Boden geschlagen hatte. Die Augen der Polizisten weiteten sich geschockt.

"Es ist nicht so, wie es aussieht.", begann Gozaburo plötzlich zu rufen und wollte ebenfalls in sein Schlafzimmer, doch einer der Polizisten reagierte instinktiv, hielt ihn auf, drängte ihn sogar einige Schritte zurück und blickte ihn ernst an.

"Herr Kaiba. Wer ist das?", fragte er, während der zweite Polizist neben Seto in die Knie ging und über sein Funkgerät einen Krankenwagen rief. Katsuya versuchte sich über den Boden zu ziehen und eine Hand von Seto zu erreichen, der es ihm gleich tat. Doch dann verlor der Blonde das Bewusstsein. Seto wollte etwas sagen, doch es kam nur ein kaum hörbarer Ton aus seiner Kehle. Dennoch erreichte er Katsuyas Hand und griff nach ihr. Dann weinte er bitterlich, während der Polizist eine Wolldecke herbei zog und damit Seto bedeckte, damit dieser nicht länger völlig entblößt dalag.
 

.

Gerettet?

Der dumpfe Schmerz drang als erstes zu ihm durch, als die Dunkelheit begann sich zu lichten. Eigentlich wollte Katsuya nicht erwachen. Wollte nicht zurück in den ewigen Kreislauf aus Hass und Gewalt ihm gegenüber. Hier konnte er einfach existieren ohne dass er auf Grund seines blonden Haars diskriminiert wurde. Niemand, der ihm weh tat. Der ihn bespuckte. Warum konnte er nicht hier bleiben?

Doch die Dunkelheit wich unaufhaltsam von ihm und für einen Moment wollte er trotzig und niedergeschlagen aufheulen. Aber noch war er nicht wach genug, um das auch wirklich zu tun, also blieb ihm nur der Wunsch, es zu tun. Das Gefühl der Verzweiflung breitete sich in ihm aus.

Dann spürte er etwas Schweres, dass über seine Brust lag. Aber es war nicht nur schwer, sondern auch warm. Ein Geruch drang zu seinem erwachenden Bewusstsein vor. Er kannte diesen Geruch. Doch da ihm das Denken immer noch schwer fiel, brauchte er einen langen Moment, bevor er ihn zuordnen konnte: Seto.

Die Verzweiflung wich von ihm und erneut spürte er die Flut des Adrenalins, dass durch die Sorge um den Dunkelhaarigen ausgelöst wurde. Schlagartig schlug er sein Auge auf und wollte aufschrecken. Doch das Schwere hielt über seiner Brust ihn.

"Sssh... ist alles gut, Katsuya.", flüsterte ihm die vertraute Stimme Setos ins Ohr. Er drehte seinen Kopf ein wenig und sah den Dunkelhaarigen, wie er neben ihm im gleichen Bett lag und ihn in seinen Armen hielt. Jetzt erkannte der Blonde, dass das Schwere der zweite Arm Setos war, der ihn festhielt.

"Se... Seto...", keuchte Katsuya einerseits verwirrt, andererseits zutiefst erleichtert.

"Ist alles gut... wir sind im Krankenhaus.", erklärte Seto mit überbeanspruchter Stimme und versuchte zu lächeln. Erst jetzt fiel Katsuya auf, dass der andere viel geweint haben musste, denn dessen Augen waren total gerötet. Er wollte seine Hand zu Setos Wange heben, doch der eingegipste Arm ließ sich kaum heben. Also legte er seine bandagierte Stirn gegen die des Dunkelhaarigen und konnte nicht vermeiden, dass ihm eine Träne entkam.

"Es tut mir so leid...", schluchzte der Blonde leise.

"Was tut dir leid?", fragte Seto verwirrt.

"Das ich zu spät gekommen bin.", ergänzte Katsuya schuldbewusst. Sanft strich ihm Seto über die Wange.

"Sssh... es ist alles gut... allein das du überhaupt gekommen bist, hat mir viel bedeutet. Das hat noch nie jemand für mich getan.", flüsterte Seto sanft in sein Ohr, bevor er leise anfing zu weinen. Tatsächlich hatte Katsuya genau das gemacht, was sich Seto in den letzten Jahren so oft gewünscht hatte: Das seine Eltern plötzlich herein gekommen, Gozaburo von ihm weggezerrt und ihn gerettet hätten. Ihm war immer bewusst gewesen, dass dieser Wunsch keine Chance auf Erfüllung gehabt hatte, denn seine Eltern waren tot. Doch das Katsuya praktisch ihren Platz eingenommen und ihn gerettet hatte, dass bewegte den Dunkelhaarigen tief in sein Innersten.

"Hey... w... was ist los, Seto... tut dir irgendetwas weh?", fragte Katsuya erschrocken. Der andere zog ihn etwas enger an sich, während er sein Gesicht an Katsuyas Halsbeuge verbarg. Irgendwie schaffte es der Blonde seinen einigermaßen gesunden Arm unter Seto zu schieben, so dass er ihm über den Rücken streicheln konnte. Es dauerte eine Weile, bis sich Seto wieder etwas fing.

"Geht es wieder?", fragte der Blonde verständnisvoll und Seto nickte ansatzweise.

"Tschuldigung.", murmelte der Dunkelhaarige.

"Ach wofür denn? Manchmal muss man eben weinen.", murmelte der Blonde, dessen Tränen durch Setos emotionaler Ausbruch versiegt waren. Dann kam ihm die Frage in den Sinn, wie es jetzt eigentlich weitergehen würde. "Die Krankenschwester hat mir erzählt, dass du mich gefunden und den Notruf gewählt hast."

"Hm...", kam es nur leise von dem Dunkelhaarigen. "Hab mir Sorgen gemacht und wollte nach dir schauen."

"Danke dafür.", kam es zaghaft lächelnd von dem Blonden.

"Nicht dafür.", gab Seto zurück und schmunzelte etwas. "Sie haben sie festgenommen."

"Wen?", kam es verwirrt von dem Blonden.

"Deinen Vater und Gozaburo.", antwortete der Goth leise, als würde die Nennung der beiden großes Unheil auf sie ziehen.

"Gozaburo versteh ich, aber mein Alter?", kam es verwirrt von Katsuya.

"Er hat dich fast tot geschlagen.", kam es entsetzt von Seto.

"Ach was... er hat mich schon übler zugerichtet.", versuchte Katsuya seine Situation und seine Verletzungen runter zu spielen, weil er nicht wollte, dass Seto sich unnötig sorgte. Doch dieser blickte ihn auf einmal mit einer Empörung an, dass Katsuya nur noch den Kopf etwas zwischen die Schulter ziehen konnte.

"Der Arzt hat gesagt, dass du gestorben wärst, wenn du nicht ins Krankenhaus gebracht worden wärst.", wiederholte Seto mit Nachdruck.

"Und woher weißte das mit meinem Vater?", fragte Katsuya und erwiderte nichts mehr auf den Fakt, dass er beinahe gestorben wäre.

"Einer der Polizisten kam noch einmal ins Krankenhaus, nachdem wir beide aufgenommen und untersucht worden sind. Er hat mir erzählt, dass dein Vater gerade nach Hause geschwankt kam, als sie die Spuren in eurer Wohnung gesichert haben. Er war wohl nicht sehr erfreut darüber, sie dort zu sehen und konnte es nicht lassen, sie anzupöbeln.", erzählte Seto sanft und zog Katsuya wieder mehr in seinen Arm.

"Hm...", war alles, was von dem Blonden dazu kam. Was hätte er auch groß dazu sagen sollen. Sicherlich würde sein Vater ein paar Tage einsitzen, sich schließlich raus winden und dann würde alles von vorne los gehen.

"Und Gozaburo?", fragte Katsuya besorgt, dass es bei dem auch so laufen könnte.

"Hat einige Anklagepunkte vor sich, mit der Aussicht von fünf bis zehn Jahren Gefängnis.", antwortete Seto und wirkte dabei etwas distanzierter.

"Fünf bis zehn Jahre?", kam es abschätzig von Katsuya. "Hätte mit mehr gerechnet, immerhin hat er dir Unsagbares angetan, dass dich ein Leben lang begleiten wird."

Seto schwieg. Er hatte seine Lippen so fest aufeinander gepresst, dass sie nur ein sehr dünner Strich in seinem Gesicht waren, während er seinen Blick gesenkt hatte.

"Hey... was ist?", fragte Katsuya auf einmal.

"Sie werden sicherlich alle über mich lachen.", meinten Seto schließlich leise und bedrückt.

"Wer?", hakte der Blonde nicht verstehend nach.

"Alle.", wiederholte der Dunkelhaarige.

"Aber warum sollten sie?", wollte der Halbjapaner wissen.

"Warum sollten sie nicht?", konterte Seto mit einer Gegenfrage.

"Denkst du, sie würden über dich lachen, wenn sie erfahren, was Gozaburo mit dir gemacht hat?", kam Katsuya schließlich auf den Trichter.

"Klar.", meinte der eher introvertierte Goth.

"Keiner wird über dich lachen. Man hat dir etwas ganz schreckliches angetan. Über so etwas würde nicht mal Ushio spotten.", versuchte Katsuya dem Dunkelhaarigen Mut zu machen.

"Ich bin fast 18 und konnte mich nicht wehren. Was sagt das über mich aus?", wandte Seto ein.

"Gar nichts. Das sagt gar nichts über dich oder deine Situation aus. Es zeigt nicht mal, dass du das über zehn Jahre erlitten hast.", wandte der Blonde energisch ein. "Seto, glaub mir bitte... du bist nicht schwach... du bist die stärkste Person, die ich kenne."

Seto blickte ihn ungläubig an, als es plötzlich klopfte und die Tür aufging. Erschrocken blickten beide zu der sich öffnenden Tür, durch die ein ihnen unbekannter Mann herein kam. Er trug einen teuren, maßgeschneiderten Anzug und eine Sonnenbrille. Verwundert blickte er sie beide an, da sie immer noch im gleichen Bett lagen.

"Seto?", fragte der Unbekannte und blickte tatsächlich den Goth an.

"Wer will das denn wissen?", kam es beschützend von Katsuya und erntete einen kritischen und musternden Blick von dem Mann. Jedenfalls fühlte es sich so an, denn die Augen des anderen konnte der Blonde durch die Sonnenbrille nicht sehen.

"Entschuldigt bitte die Störung.", meinte der Fremde, der sich dann wieder umdrehte und den Raum verließ.

"Was zum...", fragte Katsuya laut, statt nur gedanklich. "Kennst du den?"

Seto blickte immer noch dem Mann hinterher und schien abwesend zu sein, denn er reagierte nicht. Als er wieder reagierte schüttelte er nur langsam den Kopf.

"Ich... ich glaube nicht.", meinte der Dunkelhaarige, der sich wieder an Katsuya schmiegte. Nur wenige Minuten später klopfte es erneut und zwei Erwachsenen traten ein. Setos Augen weiteten sich entsetzt, bevor er aus dem Bett fiel und immer wieder 'nein' sagend in eine Ecke flüchtete, wo er versuchte sich so klein wie möglich zu machen und er wieder weinte.
 

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Entsetzen

Entsetzt hatte Katsuya Setos Reaktion beobachtet, bevor er sich erneut von der Infusion befreit hatte und seinem Freund in die Ecke gefolgt war. Schützend legte er seine Arme um ihn und versuchte ihn zu beruhigen. Doch Seto schluchzte so herzzerreisend, wie Katsuya es noch nie zuvor erlebt hatte. Missbilligend blickte er zu dem Mann und der Frau, die ihr Krankenzimmer betreten hatte und immer noch dort verweilten, wo sie stehen geblieben waren, als Seto so heftig reagiert hatte.

"Ich bin da, Seto... keiner wird dir etwas tun.", flüsterte er gegen das laute und verzweifelte Schluchzen des Dunkelhaarigen an, der beide Arme um seinen Kopf geschlungen hatte. Tatsächlich wirkte er ein wenig so, als wolle er nicht gesehen werden. Wieder blickte Katsuya irritiert zu den beiden, die einfach nur da standen und abwarteten.

"Wer sind Sie?", keifte Katsuya nur unwirsch, den es wahnsinnig machte, dass die einfach nur da standen und nichts taten. Abwarteten. Dennoch lag Schmerz in dem Blick der beiden und Katsuya verstand nicht, woher dieser kam. Oder was die beiden überhaupt wollten.

Vorsichtig, fast ängstlich, trat die Frau vor, bevor sie in einem Meter Abstand in die Hocke ging. Sie hatte ein gütiges, fast liebevolles Lächeln im Gesicht. Eine Träne löste sich aus ihrem Auge. Das alles verwirrte Katsuya noch mehr.

"Endlich haben wir dich gefunden... Seto.", kam es erleichtert von der Frau, während sich Seto immer mehr in Katsuyas Arme presste und versuchte regelrecht in ihn zu kriechen.

"Hey... sprechen Sie ihn nicht an und hören sie gefälligst auf, mich zu ignorieren.", zischte Katsuya beschützend. Die Frau richtete ihren Blick auf den Blonden, dessen Gesicht immer noch einseitig zugeschwollen und blau-violett verfärbt war. Auch ihm schenkte sie ein warmherziges Lächeln.

"Das ist Mosui, mein Mann, und mein Name ist Sanuki. Yamanashi Mosui und Sanuki.", stellte sie ihren Mann und sich vor, als würde das alles erklären. Katsuya blickte sie nur nicht verstehend an, während ihr Blick wieder auf den Dunkelhaarigen glitt.

"Ja, und?", warf der Blonde ihr nur unwirsch entgegen.

"Wir sind Setos Eltern.", behauptete sie schließlich.

"NEIN... NEIN...", schrie Seto auf einmal. "Ihr seid tot... TOT."

Katsuya verstand auf einmal gar nichts mehr. Verwirrt musterte er die Frau, die da so elegant vor ihnen kniete, und den Mann, in seinem superteuren Anzug und der autoritären, aber wohlwollenden Ausstrahlung, der sich geduldig im Hintergrund hielt.

"Nein, Seto... wir sind nicht tot.", wiedersprach die Frau mit einem liebevollen Unterton. "Das hat dir dieser Mann nur eingeredet, damit du mit ihm gehst."

"Sie reden von Gozaburo?", fragte Katsuya nun nach und die brünette Frau, die ihre Haare kunstvoll hochgesteckt hatte, nickte. "Er... er ist gar kein entfernter Verwandter von Seto?"

"Nein. Er... er hat unser Augenstern vor langer Zeit entführt.", eröffnete Setos Mutter dem Blonden. Noch immer zog sich Seto immer mehr zusammen und versteckte sich in Katsuyas Arme. Dieser blickte behutsam zu dem Dunkelhaarigen in seinen Armen.

"Hey... Seto...", flüsterte er den Dunkelhaarigen vorsichtig an. Dessen Schultern bebten immer noch und er krallte sich an dem Krankenhaushemdchen, welches Katsuya trug, fest. "Sind das deine Eltern?"

"Sie sind tot... verunglückt... ins Meer gestürzt... mit dem Auto... mit meinem Bruder.", wiederholte Seto nur immer wieder völlig aufgelöst und verzweifelnd weinend. Er musste sich an dem, was Gozaburo ihm damals erzählt hatte, festhalten. Würde er akzeptieren, dass das alles eine Lüge war... eine schreckliche, grausame Lüge, die dieser Mann einem Siebenjährigen erzählt hatte, dann würde dessen Taten eine ganz andere Tragweite erhalten.

Vorsichtig berührte die Frau Katsuya am Ärmel und hielt ihm einen Reisebilderrahmen hin und lächelte.

"Ich denke, es ist besser, wenn wir euch das erst einmal verdauen lassen. Aber wir sind nicht weit. Im Bilderrahmen ist auch unsere Telefonnummer.", meinte sie zu dem Blonden hoffnungsvoll, bevor sie - so elegant, wie sie gekniet hatte - aufstand und zurück zu ihrem Mann ging, der liebevoll einen Arm um ihre Schultern legte. Katsuya konnte den Schmerz in den Augen der beiden sehen. Nicht der Schmerz darüber, dass Seto so reagiert hatte, wie er es getan hatte, sondern darüber, was man ihrem Sohn angetan hatte.
 

Es war eine ganze Weile vergangen, bevor Seto ruhig in Katsuyas Arm lag und nur vor sich hinschaute. Katsuya hatte sich etwas bequemer auf den Boden gesetzt und Seto näher an sich gezogen. Hatte sein Kopf auf das dunkle Haar gebettet und gab seinem Freund die Zeit, die dieser eben brauchte, damit alles sackte.

"I... ich hab mir so oft gewünscht, dass das alles nur eine perfide Lüge von ihm ist... ich hab so oft nach ihnen gerufen... gefleht, dass sie mir helfen und mich retten... und immer wusste ich, dass das unmöglich war, denn sie waren ja tot.", begann Seto plötzlich ganz leise zu erzählen.

"Dann ist dein Wunsch in Erfüllung gegangen.", kam es sanft von dem Blonden, doch Seto schüttelte nur kaum merklich den Kopf.

"Nein... er... er soll nicht in Erfüllung gehen... W... was wenn sie erfahren... was... was er mit mir... Sie werden sicherlich ganz entsetzt sein und sich vor mir ekeln und... und... was wenn sie enttäuscht davon sind, wie ich geworden bin... oder...", wieder begann er leise zu weinen.

"Sie werden nicht enttäuscht sein. Die beiden wirkten so glücklich darüber, dass sie dich endlich gefunden haben.", versuchte der Blonde seinen Freund zu trösten.

"Was... was wenn sie fragen, warum ich das alles einfach so geglaubt habe?", brach sich Setos Unsicherheit weiter Bahn. "Warum ich nicht... nicht... weggelaufen bin? ... Warum... warum ich mich nie gewehrt habe?"

Katsuya hatte alle Mühe seine Tränen zurück zu halten. Sanft wiegte er Seto hin und her, in der Hoffnung es hätte eine beruhigende Wirkung auf seinen Freund.

"Das werden sie bestimmt nicht fragen.", sprach er ihm ruhig zu.

"Wie kannst du dir da so sicher sein?", schluchzte der Dunkelhaarige zweifelnd.

"Seto... natürlich wissen sie, was Gozaburo mit dir gemacht hat: Er hat dich nur zu diesem einen Zweck entführt. Aber sie werden auch wissen, wie manipulativ diese Männer sein können.", versuchte der Blonde Seto zu erklären und ihm die Angst, sowie die Scheu zu nehmen. "Du warst doch erst sieben Jahre, als das alles begonnen hat. Wenn man so lange manipuliert wird, dann wehrt man sich auch nicht mehr, wenn man theoretisch körperlich dazu in der Lage wäre."

Seto sah ihn mit geröteten und vom Weinen geschwollenen Augen an. Er erkannte, dass Katsuya nicht nur von ihm, sondern auch ein wenig von sich selbst sprach. Sanft legte er seine Arme um Katsuya und lehnte sich wieder mehr an.

"Was meinst du: Sollen wir mal in den Bilderrahmen hier rein schauen?", damit hob der Blonde den versilberten Rahmen hoch, den man aufklappen konnte. Seto legte sein Gesicht kurz an Katsuyas Halsbeuge. Dieser konnte ein leichtes Zittern beim anderen spüren. Dann nickte der Dunkelhaarige.

Der Blonde öffnete den Rahmen vorsichtig und als erstes kam ein Bild zum Vorschein, welches die Eltern und einen sehr jungen Seto zeigte, der ein schwarzhaariges Baby auf dem Arm hatte. Der Seto auf dem Bild lächelte glücklich und voller Stolz in die Kamera. Eine Träne löste sich bei Seto und er presste die Lippen fest aufeinander. Katsuya schmunzelte sanft.

"Was für ein süßes Kind.", meinte Katsuya zärtlich.

"Ja, mein Bruder war immer schon ein süßes Kind gewesen.", kam es leise von Seto, der nicht verstanden hatte, dass der Blonde eigentlich ihn gemeint hatte.

"Du bist voll in der Bruder-Rolle aufgegangen, hm?", fragte Katsuya behutsam.

"Ich war gerne der große Bruder.", gestand Seto.

"Hey, du kannst wieder der große Bruder sein.", lächelte der Blonde ihn zuversichtlich an.

"Er wird es bestimmt nicht so toll finden, dass er auf einmal einen großen Bruder hat.", wandte Seto nachdenklich ein.

"Was? Wie kommst du denn darauf?", wollte Katsuya sofort gespielt empört wissen.

"Na ja, er ist doch als Einzelkind aufgewachsen.", merkte der Dunkelhaarige traurig an.

"Ich glaube, er wird unglaublich glücklich sein, wenn sein großer Bruder endlich wieder heim kommen wird.", versuchte der Blonde ihn zu beruhigen.

Dann schlug er den Teilrahmen, in dem das Familienbild steckte, um. Auf der anderen Seite war ein Bild eines schwarzhaarigen Zwölfjährigen, der glücklich in die Kamera strahlte.

"Er sieht dir sehr ähnlich.", meinte der Blonde sanft."

"Findest du?", fragte Seto zweifelnd, der von dem Bild fasziniert war. So sah sein Bruder also heute aus? So erwachsen und lebendig. Er wirkte wie jemand, der viele Freunde hatte und sehr viel unterwegs war. Dagegen war er der introvertierte, scheue Typ, der nur einen einzigen Freund hatte.

"Ja, er hat die gleiche Ausstrahlung wie du, wenn du mir Nachhilfe gibst.", lächelte Katsuya. Seto blickte ihn überrascht an. Dann schlug er diesen mittleren Einschub um und im hintersten Rahmen fand sich eine Zeichnung, die Seto zum Verwechseln ähnlich sah, nur das Seto auf dem Bild braune Haare und etwas mehr Farbe im Gesicht hatte. Die Signatur machte deutlich, dass Mokuba das Bild gezeichnet haben musste. Irgendwie erschreckte diese Zeichnung Seto enorm.

"Wo... Woher weiß er, wie ich aussehe?", stammelte er verwirrt.

"Vielleicht hat er sich vorgestellt, wie du heute aussehen würdest.", riet Katsuya und konnte nicht ahnen, dass er tatsächlich richtig lag. "Er ist künstlerisch scheinbar sehr begabt."

Seto verbarg sein Gesicht wieder an Katsuyas Halsbeuge und rang mit seiner Fassung. Was hatte diese Zeichnung zu bedeuten? Sicherlich würde er mit seinem heutigen Ich seine Eltern und seinen Bruder bitterlich enttäuschen. Seine so lange tot geglaubte Familie. Er war machtlos gegen die Tränen, die sich jetzt erneut ihren Weg ertrotzten.

Katsuya klappte den Reisebilderrahmen zu und zog Seto wieder enger in seine Arme. Sanft streichelte er ihm über den Rücken.
 

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Heimkehr

Seto saß auf der Rückbank der Mittelklassenlimousine und hatte ein flaues Gefühl im Magen. Unruhig nestelte er mit seinen Fingern am Saum seines etwas zu großen Pullovers. Der Vorteil bei diesem Pullover war der Rollkragen, der es ihm ersparte, dass Nietenhalsband zu tragen. Katsuya hatte ihm empfohlen das Halsband erst einmal wegzulassen, wenn seine Eltern ihn das erste Mal mit nach Hause nahmen.

Katsuya... Traurigkeit erfasste den Dunkelhaarigen. Er vermisste den Blonden, der ihm ein so guter Freund geworden war und den er in Domino City hatte zurück lassen müssen. Wie gerne hätte er ihn mitgenommen. Gerade jetzt, bei seiner Rückkehr nach Nara, und damit dem bevorstehenden 'Kennenlernen' mit seinem kleinen Bruder, den er früher über alles geliebt hatte. Doch jetzt war Mokuba fast schon ein Teenager und hatte sich völlig unabhängig von ihm entwickelt. Wer wusste schon, ob der Jüngere ihn leiden würde?

Unruhig rutschte er auf seinem Platz kurz hin und her und biss sich auf die Unterlippe, als ihm seine Mutter eine Hand auf die seinen legte.

"Mokuba freut sich schon sehr darauf, seinen großen Bruder endlich kennen lernen zu dürfen.", meinte sie mit einer sanften Stimme zu ihm. Er zog seine Hände unsicher unter ihrer langsam weg. Da sie spürte, dass Seto diese Berührung nicht wollte nahm sie ihre Hand langsam weg. So war das in den letzten zwei Wochen immer gewesen, in denen sie sich nach und nach im Krankenhaus angenähert hatte. Sie suchte den physischen Kontakt, den Seto nicht ertrug und statt ihm daraus einen Vorwurf zu machen akzeptierte sie es und entschärfte die Situation durch einen Rückzug. Dafür war Seto ihr dankbar.
 

Nach dem anfänglichen Schock darüber, dass seine Eltern noch lebten, hatten sie ihn täglich besucht. Anfangs nur stundenweise und wenn Katsuya dabei war. Katsuya hatte versucht zu vermitteln und Seto zu ermutigen sich seinen Eltern gegenüber zu öffnen. Der Blonde hatte gewusst, wohin das führen würde. Hatte gewusst, dass ihre gemeinsame Zeit bald enden würde. Dennoch hatte er ihm so geholfen.

Nach der ersten Woche hatte der Blonde immer gesagt, er sei zu müde, wenn die Eltern mit ihnen spazieren gehen wollten. So war Seto zumindest zeitweise alleine mit den Menschen, die er so lange für tot gehalten hatte. Dabei hatte seine Mutter das erneute Kennenlernen wesentlich aktiver voran getrieben, als es sein Vater tat. Das hatte wieder Zweifel und Unsicherheiten in Seto geweckt.

Doch Katsuya war da und hatte jeden Zweifel zerstreut und jede Unsicherheit mit gutem Zureden weggefegt. Als der Arzt ihnen schließlich eröffnete, dass Seto am nächsten Tag entlassen werden würde war der Dunkelhaarigen regelrecht in Panik geraten. Doch Katsuya hatte ihn zu sich gezogen und ihn beruhigt. Sie hatten sich versprochen weiterhin via Whats App, Mail und Chat in Kontakt zu bleiben.

Als dann die Entlassung anstand hätte sich Seto fast im Badezimmer eingesperrt. Doch Katsuya hatte ihn aufgehalten und in den Arm genommen. Er hatte ihr Versprechen wiederholt, ihm Mut zugesprochen und versichert, dass seine Eltern ihm nicht weh tun würden. Da war sich der Blonde so sicher, dass es Setos Panik nach und nach beruhigte. Als seine Eltern ihn in Empfang nehmen wollten hatte er sie - zum ersten Mal von sich aus - angesprochen und gefragt, ob sie Katsuya nicht mitnehmen könnten. Seine Eltern hatten belämmert zu ihm geschaut und nach Worten gesucht. Doch dann hatte der Blonde selbst das Wort ergriffen und grinsend gemeint, dass Seto sich um ihn keine Sorgen machen brauchte.
 

Eigentlich hatte Seto damit gerechnet, dass sie nach seiner Entlassung noch einmal in die Wohnung von Gozaburo fahren würden. Doch tatsächlich erwartete der Mann mit der Sonnenbrille sie vor dem Krankenhaus und war mit ihm zum Kofferraum gegangen. Dort waren all seine Sachen aus der Wohnung enthalten.

Dann hatte er sich erinnert. Der Mann hieß Isono Akito und als er es laut sagte, lächelte der Sonnenbrillenträger glücklich. Isono war ursprünglich ein Auszubildender im Betrieb seines Vaters gewesen, der ihn dann aber zu seinem Protegé gemacht hatte. Isono hatte fast bei ihnen gewohnt, so oft war er da gewesen und damals hatte Seto ihn 'großer Bruder' genannt.

Isono fragte ihn, ob er etwas vergessen hatte einzupacken und Seto dachte sich, dass er nichts davon brauchen würde und er all das gegen Katsuya tauschen würde. Also hatte er nur seinen Kopf geschüttelt und sie waren eingestiegen. Eigentlich wollte er erst seine Eltern einsteigen lassen und so zumindest auf einer Seite seine Ruhe haben. Doch schlussendlich hatten die beiden ihn zwischen sich genommen.

Zwar hatten sie darauf geachtet, dass sie nicht dicht auf dicht saßen, dennoch fühlte sich Seto wie in einer Falle. Ständig unter Beobachtung. Auf dem Prüfstand. Scheinbar war seine Anspannung so deutlich zu sehen gewesen, dass sein Vater Isono bat bei der nächsten Gelegenheit anzuhalten. Dort hatte er dann auf den Beifahrersitz gewechselt, um seinem Sohn mehr Raum zu geben. Das hatte den Dunkelhaarigen wirklich überrascht und er war ihm dankbar dafür. Also war er an die Tür gerutscht und hatte etwas mehr Abstand zwischen sich und seine Mutter gebracht und konnte nun auch aus dem Fenster schauen. So konnte er beobachten, wie sich die Landschaft langsam, aber stetig veränderte.
 

Der Wagen hielt schließlich vor einem traditionellen Torbogen, in dem ein gusseisernes Tor eingesetzt war, welches langsam aufschwang. Dahinter lag ein zweistöckiges, ebenso traditionell wirkendes Haus, das recht weitläufig wirkte. Umgeben war das Haus von eine großen Gartenlandschaft. Isono fuhr den Wagen vor die Haustür und dann stieg Setos Vater aus.

"Bist du soweit oder brauchst du noch einen Moment, Schatz?", fragte seine Mutter ihn. Er sah sie nur aus dem Augenwinkel an. Den direkten Blickkontakt scheute er nach wie vor, sowohl bei seiner Mutter, als auch bei seinem Vater.

"Geht schon.", antwortete er leise, bevor er ausstieg und sich etwas streckte. Auf der anderen Seite des Autos ging die Haustür auf einmal mit Schwung auf und jemand lief mit einem Jauchzen auf Setos Vater zu, dem er um den Hals fiel. Sein Vater hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten und schlang seine Arme um seinen Zweitgeborenen. In Seto begann sich auf einmal alles zusammen zu ziehen. Seine Mutter stieg schließlich auch aus, ging zu dem schwarzhaarigen Wirbelwind, den sie liebevoll umarmte und sanft anlächelte

"Mokuba, ich möchte dir deinen großen Bruder Seto vorstellen.", meinte sie schließlich und das erinnerte Seto daran, wie sie ihm damals Mokuba vorgestellt hatte, nachdem sie mit ihm aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war. Aufgeweckt und interessiert reckte der Dreizehnjährige seinen Hals und blickte über das Autodach hinweg zu Seto, der noch immer dort stand und sich am liebsten zurück zu Katsuya gebeamt hätte. Unsicher biss er wieder auf seine Unterlippe, als Mokubas Schmunzeln sich zu einem richtig breiten Lächeln zog und er dann eilig um das Auto lief, um sich an Seto zu werfen.

Dieser war davon sichtlich überfordert. Er hätte nicht damit gerechnet, dass sein Bruder ihn so herzlich begrüßen würde. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass er reservierter sein würde und erst einmal ausloten würde, was für ein Typ Mensch er wäre. Nur langsam legte er seine Arme um Mokubas Rücken.

Das war sein kleiner Bruder, wurde Seto plötzlich auch in seinem Inneren bewusst und er zog ihn fester an sich, während sich plötzlich wieder Tränen ihren Weg bahnten und in ein Schluchzen überging. Mokuba stockte auf einmal und war sich nicht sicher, ob er etwas falsch gemacht hatte und blickte hilfesuchend zu ihren Eltern. Diese kamen auch um das Auto. Seto hielt Mokuba weiterhin fest, als würde dieser verschwinden, wenn er seine Umarmung auch nur einen Moment lockern würde.

Seine Mutter schmunzelte als erste, als sie erkannte, dass Seto vor Glück weinte. Was ihnen verwehrt geblieben war, hatte Mokuba in weniger als einer Minute geschafft: Eine emotionale Bindung zu initiieren.

"Alles gut, Mokuba.", meinte sie sanft. "Seto ist einfach nur glücklich."

Mokuba lächelte und streichelte seinem älteren Bruder behutsam über den Rücken. Endlich hatte sich auch sein Wunsch erfüllt, dass sein großer Bruder wieder nach Hause kommen würde. Also blieben sie einfach so lange da stehen, bis sein Bruder so weit sein würde, mit ihnen ins Haus zu kommen.
 

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Überraschung

Überrascht blickte sich Katsuya in dem Zimmer um. Es war ein wenig größer als in der Wohnung seines Vaters, aber wesentlich besser ausgestattet: Er hatte ein Bett, dass etwas mehr Platz bot, als das bisherige 80 Zentimeter breite bei ihm Zuhause. Er schätzte die Breite auf 120 oder 140 Zentimeter. Es war bereits frisch bezogen und bot mehr als nur eine dünne Wolldecke und ein schmales Kissen.

Ein Schreibtisch mit Drehstuhl stand am Fenster. Auf der Tischplatte lagen seine neuen Schulbücher und weiteres Zeug für die Schule. Er konnte sich gar nicht erinnern, wann er zuletzt einen eigenen Schreibtisch gehabt hatte. Sein alter Schreibtisch war von seinem Vater irgendwann in einem Wutanfall kurz und klein geschlagen worden. Zwar hatte Katsuya versucht ihn zu flicken, doch irgendwann hatte er tränenreich aufgeben müssen. Das war mit einer der Gründe, warum er selten Hausaufgaben gemacht oder gelernt hatte.

An einer Wand standen drei recht breite Regale, die nur darauf warteten, dass sie befüllt wurden Katsuya fragte sich nur, womit er sie befüllen sollte, denn immerhin hatte er eigentlich nichts, was ein Regal benötigte. Da sein Vater früher gerne sein Zeug, dass er mal gesammelt hatte oder auf das er stolz gewesen war, aus dem Fenster geworfen hatte, hatte der Blonde irgendwann schlicht aufgehört sowas anzuhäufen.

Was ihn aber wirklich verwunderte war der niedrige Fernsehtisch, auf dem ein überdimensionierter Fernseher stand und darunter waren zwei Spielkonsole der aktuellen Generation platziert, sowie einige der aktuellen Spielen.

"Ich wusste nicht genau, welche Konsole du bevorzugen würdest, da hab ich dir beide gekauft. Ich hoffe, dass ist in Ordnung.", hörte der Blonde plötzlich hinter sich. Er wandte sich erschrocken um und sah seine Mutter hinter ihm stehen. Sie lächelte ihn schwach an.

"Klar, danke.", meinte er reserviert. Noch immer trug er einen Gips an seinem Arm, der langsam heilte. Sein Gesicht war nicht mehr geschwollen, aber hier und da noch leicht verfärbt.
 

Es hatte ihn überrascht, als seine Mutter drei Tage, nachdem Seto das Krankenhaus verlassen und mit seinen Eltern nach Nara zurück gekehrt war, in sein Zimmer gekommen war. Erst hatte er seinen Augen nicht trauen wollen und hatte schon gedacht, dass die Krankenschwester ihm die falschen Medikamente gegeben hatte. Doch da stand sie, in ihrem adretten zweiteilige Kostüm und der sorgfältig gerichteten Frisur. Sie hatte ihn schuldbewusst angeschaut und ihn zögerlich begrüßt.

"Hallo Katsuya.", wagte sie sich seinen Namen auch nur in den Mund zu nehmen. Er musste sich wirklich beherrschen seine Wut unter Kontrolle zu halten. Sie war damals mit Shizuka gegangen und hatte ihn bei seinem Vater zurück gelassen. Danach hatte sie sich nie wieder gemeldet. Das hatte nur die Aussage seines Vaters bekräftigt, dass sie nichts von ihm wissen wollte.

"Was... willst du denn hier?", fragte er nur und konnte eine gewisse Schärfe nicht vermeiden.

"Das Krankenhaus hat mich angerufen und ich darüber informiert, was geschehen ist.", meinte sie zur Erklärung, was aber nicht Katsuyas Frage beantwortete.

"Und?", fragte er nur. "Was willst du hier?"

"Dein Vater wird ins Gefängnis gehen und damit verliert er das Sorgerecht für dich.", setzte sie erneut an.

"Ja, weiß ich.", kam es nur wegschauend von Katsuya.

"Dann kann ich das Sorgerecht zurück bekommen, wenn du das wollen würdest.", sprach sie weiter. Er zog verwirrt die Stirn kraus.

"Wenn ich das wollen würde? Warum solltest du dich um das Sorgerecht für mich bemühen?", zischte er leise, während er aus dem Fenster blickte und sich wünschte, dass Seto hier wäre.

"Warum sollte ich das nicht wollen? Du bist mein Sohn.", erwiderte sie und klang ehrlich überrascht. Verwirrt blickte Katsuya zu ihr. Dann wallte seine Wut soweit auf, dass er sie nicht mehr bändigen konnte.

"Ich bin dein Sohn? Davon hab ich in den letzten Jahren reichlich wenig gemerkt? Wo warst du denn, wenn der Alte mich abgezogen hat, weil er sich an meiner bloßen Existenz gestört hat? Wo, wenn ich nach ein paar Tage ohne was zu spachteln Reste aus 'ner Mülltonne hinter 'nem Restaurant gefischt habe? Wo warst du, als mich der Direx zum x-ten Mal zusammengefaltet hat, weil ich mir die Haare nicht schwarz färben wollte oder er mich von der Schule geworfen hat, wegen 'nem Bild, welches er einfach fehlinterpretiert hat und dann noch den Alten angerufen hat, der mich fast tot geschlagen hat? WO WARST DU DA???", brach sich seine Wut Bahn.

Erschrocken war sie einen Schritt von ihm zurück gewichen und hatte entsetzt die Hand vor den Mund gelegt.

"Nicht da.", kam es leise von ihr.

"RICHTIG... richtig, du warst nicht da... weil es dir egal war... weil ICH dir egal war... also nochmal: Was willst du hier?", wurde Katsuya wieder ruhiger und man konnte ihm ansehen, dass er den Tränen nahe war.

"Ich möchte dich gerne mit nach Hokkaido nehmen... zu deiner Schwester, die dich wahnsinnig vermisst...", antwortete sie endlich.

"Möchtest du das wirklich oder ist das nur eine lästige Pflicht, die du erfüllen musst?", fragte Katsuya bissig, der dem ganzen nicht traute.

"Ich muss nicht. Aber ich möchte es.", antwortete sie, bevor sie erneut ansetzte. "Katsuya... ich kann mir vorstellen, was dein Vater dir alles erzählt hat, aber du müsstest doch am aller besten wissen, dass dein Vater ein Lügner ist. Bei der Scheidung habe ich ihm viel Geld dafür geboten, dass er auf sein Sorgerecht für dich verzichtet. Doch er wollte nicht, weil er wusste, dass ich dich - genau wie deine Schwester - liebe und er mir damit einfach weh tun wollte."

"Und du hast dich nie gemeldet...? Hast mir nie eine Karte zum Geburtstag geschickt...?", warf Katsuya müde ins Gespräch.

"Aber... ich habe dir doch Karten geschickt.", kam es verwirrt von der Frau.

"Ach ja? Und wo sind die?", fragte Katsuya. "Ich... bin... müde... Genau, ich bin müde, sei so gut und geh weg, ja?"

Dabei hatte er sich von ihr weggedreht und sie war ohne ein weiteres Wort gegangen. Doch schon am nächsten Tag war sie wieder gekommen. Genau wie am Tag darauf. Und am nächsten Tag. Und den Tag danach. Sie hatten ein wenig geredet und schließlich hatte Katsuya eingewilligt zu ihr nach Hokkaido zu ziehen. Was hätte ihn auch hier schon gehalten? Seto war fort. Sonst war ihm nichts eingefallen, weswegen er geblieben wäre.
 

In dem Moment kam Shizuka aus dem Erdgeschoss hoch zu ihnen.

"Da sind mehrere Kisten angekommen, vermutlich das Zeug aus der Wohnung in Domino.", meinte sie heiter, bevor sie sich an den unverletzten Arm ihres Bruders schmiegte, der glücklich schmunzelte. Endlich durfte er wieder Teil des Lebens seiner Schwester sein. Er bedauerte nur, dass er so viel in ihrem Leben verpasst hatte.

Gemeinsam stiegen sie die Treppe wieder hinunter und holten die Kisten rein. Seine Mutter hatte die gesamte Wohnung seines Vaters ausräumen und den Inhalt, bis auf die Möbel, herschicken lassen.

Shizuka hob schließlich ein kleines Holzkistchen hoch, dass ungewohnt kunstvoll geschnitzt war.

"Was ist das denn?", fragte sie und Katsuya blickte zu ihr. Dann zuckte er mit der Schulter.

"Keine Ahnung. Das stand immer in seinem Schlafzimmer.", meinte der Blonde nur. Shizuka öffnete es und bekam große Augen.

"Oh, man.", war alles was sie sagte.

"Was ist denn, mein Liebling?", fragte ihre Mutter und kam zu ihr rüber. Auch ihre Augen weiteten sich. Davon irritiert stand nun auch Katsuya von der Kiste auf, die er durchgeschaut hatte und kam zu den beiden. Als er auf Shizukas freier Seite zum Stehen kam sah er, dass in dem Kästchen unzählige, geöffnete Briefumschläge lagen. Er nahm einen und sah, dass dieser an ihn selbst adressiert war. Als Absender stand seine Mutter drauf. Er schaute in den Umschlag und fand eine Karte zum Geburtstag. Als er sie aufklappte las er den liebevollen und besorgten Gruß seiner Mutter und Shizuka zum Geburtstag in dem auch von Geld die Rede war. Er blickte in das Kästchen und stellte fest, dass da sicherlich drei Dutzend Umschläge lagen.

"Er... er hat sie unterschlagen und sich das Geld daraus genommen.", traf ihn auf einmal die bittere Erkenntnis und sah ungläubig zu seiner Mutter auf. Sie hatte ihn tatsächlich nicht angelogen: Sie hatte ihm zu jedem Anlass eine Karte geschickt. Sie lächelte ihn nur behutsam und verständnisvoll an.

"Ist schon okay.", meinte sie liebevoll zu ihm. Sie nahm das Kästchen und stellte es zur Seite. Dann schauten sie die Kisten weiter durch. In einer Kiste waren auch die Klamotten seines Vaters.

"Uh... was machen wir damit?", fragte Shizuka angewidert.

"Zurück schicken?", schlug Katsuya leise vor.

"Nein.", kam es entschieden von seiner Mutter, die die Kiste nahm und nach hinten in den Garten trug. Shizuka folgte ihr und zog ihren großen Bruder mit sich. Dort nahm die Mutter eine große Metalltonne und stopfte die gesamte Kleidung des Mannes hinein, der ihren Sohn fast zu Tode geschlagen hatte. Dann nahm sie den Grillspiritus, spritzte davon ordentlich etwas auf die Klamotten, bevor sie ihn wieder wegstellte und die Grillanzünder zur Hand nahm. Diese hielt sie Katsuya mit einem liebevollen Lächeln hin.

"Hier... Schatz... du wirst sehen, dass das befreiend sein wird.", meinte sie zu ihm und Katsuya blickte sie überrascht an. Hatte sie ihn gerade 'Schatz' genannt? Doch dann nickte er und nahm die Anzünder aus ihrer Hand und sie hatte vollkommen Recht: Als die Klamotten in hellen, lodernden Flammen aufgingen fühlte sich das wahnsinnig befreiend an.
 

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Ein neuer Anfang

Es war unglaublich. Was anderes ging Katsuya seit dem Morgen nicht mehr durch den Kopf. Vom Losfahren, über die gesamte Strecke, bis zu seiner Ankunft hier, hatte er sich gefühlt wie in einem Traum. Einen unglaublichen Traum. Doch jetzt stand er in dem nur rudimentär eingerichteten Wohnheimzimmer und blickte auf die beiden Bette, die zwei Regale an der Seite und die zwei Schreibtische.

"Hübsch hier.", meinte seine Schwester etwas neidisch. Katsuya legte einen Arm um ihre Schulter und grinste glücklich.

"Wart nur ab, in vier Jahren wirst du auch hier oder an einer anderen Uni studieren.", meinte er zuversichtlich zu ihr und sie grinste zurück.

"Möglich... scheinbar ist dein Mitbewohner noch nicht da, also hast du die freie Wahl.", kam es neckend von ihr.

"Hm... ich denke, ich werde jetzt erst mal alles hochtragen und dann auf ihn warten. Möchte nicht, dass er sich an meiner Wahl stört, immerhin muss ich mit dem ein ganzes Jahr oder länger hier aushalten.", meinte der Blonde erklärend. Da legte sich eine Hand auf seine und eine zweite Hand auf Shizukas Schulter und der Kopf seiner Mutter schob sich zwischen sie.

"Ach schau an... zu meiner Zeit an der Uni waren die Zimmer aber wesentlich kleiner und hatten kein eigenes Badezimmer.", meinte sie verblüfft.

"Ein eigenes Badezimmer?", fragte Katsuya verblüfft, da er die Tür noch gar nicht wahrgenommen hatte. Als er sie öffnete tat sich ein kleiner, nur wenige Schritte langer Gang auf. Die Tür gleich rechts führte zu einem fensterlosen Raum mit Waschmaschine und Trockner und durch eine weitere Tür in die Toilette, vor der bereits die obligatorischen Klo-Pantoffeln standen. Die Tür am Ende des kurzen Ganges führte in ein geräumiges Badezimmer, dass neben einer Dusche auch noch eine luxuriöse Badewanne und ein Doppelwaschbecken bot.

"Oh man, ich hab irgendwie das Gefühl, dass meine Zimmerzuteilung vielleicht ein Versehen sein könnte.", meinte er nur geschockt.

"Was? Wieso?", fragte Shizuka, die heran gekommen war und über seine Schulter in das Badezimmer schaute.

"Na, weil das hier nicht nach 'nem Standard-Studenten-Zimmer aussieht. Das ist sicherlich so ein VIP-Ding.", meinte Katsuya etwas niedergeschlagen, der damit rechnete, dass jeden Moment zwei überprivilegierte Studenten reinkommen und ihn raus pöbeln würden. Sofort fühlte er sich wie vor anderthalb Jahren, als er noch in Domino City an der Schule gewesen und wegen seinem blonden Haar gemobbt worden war.

In Hokkaido hatte seine Mutter ihn an eine internationale Oberschule angemeldet, an der blondes Haar keine auffällige Seltenheit war. Dort hatte er einige Freunde finden können, mit denen er schnell den Anschluss an den Unterricht gefunden hatte.

Dennoch hatte er den Kontakt zu Seto nicht einreisen lassen. Jeden Abend hatten sie stundenlang miteinander geskypt, oft während sie Hausaufgaben gemacht oder gelernt hatte. Dabei half Seto ihm weiterhin, wenn er mal wieder wo gehangen hatte. Erst im letzten halben Schuljahr war der Kontakt nach und nach immer weniger geworden, da der Stress um die Abschlussprüfungen sie beide fast aufgefressen hatte.

Shizuka hatte die darauf folgende gedrückte Stimmung ihres Bruders als 'Liebeskummer' bezeichnet, was Katsuya aber sofort vehement verneinte. Da er nicht wusste, wie seine Mutter reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass er wohl schwul war, wollte er das Thema auch zuhause in keinster Weise ansprechen. War er denn überhaupt schwul? An Mädchen hatte er bislang einfach kein Interesse gehabt, aber machte das einen sofort schwul? Immerhin hatte er bislang auch an keinem Jungen wirklich Interesse entwickelt.

Vielleicht war es ganz gut gewesen, dass sich in den letzten anderthalb Jahren keine Gelegenheit geboten hatte Seto zu besuchen oder von ihm besucht zu werden. Wer wusste schon, was für Dummheiten der Blonde angestellt und seinen Freund oder sich selbst in Misskredit gebracht hätte. Denn für sie beide hatte sich ja schlussendlich alles zum Guten gewendet und wenn er seinen Gefühlen freien Lauf gelassen hätte, hätte er das womöglich zunichte gemacht.
 

"Erde an Katsuya.", lachte Shizuka amüsiert. "Wo biste denn schon wieder mit deinen Gedanken?"

"Ähm... hier natürlich, bei meiner hinreisenden Schwester.", lachte Katsuya und lachte, um den Anflug der Traurigkeit zu überspielen, den er erneut empfand, als er an Seto dachte. Er vermisste den anderen furchtbar, schon fast schmerzhaft. Er hatte nicht mal erfahren, auf welche Uni der Brünette - er hatte die schwarze Farbe kurz nach seinem Umzug rauswachsen und abschneiden lassen - gehen würde. Kurz spielte er mit dem Gedanken Seto eine Whats App zu schicken, doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Wenn der andere gewollt hätte, dass er wusste, auf welche Uni dieser ging, hätte er es ihm doch sicherlich von selbst geschrieben und er wollte nicht aufdringlich wirken.

"Komm Shizuka, wir holen schon mal die ersten Kisten.", meinte Katsuyas Mutter und Shizuka drückte ihrem Bruder noch schnell einen Kuss auf die Wange, bevor sie mit ihrer Mutter das Zimmer verließ.

Hatten die beiden seine Befürchtung gerade ignoriert? Schien so. Er lief noch einmal durch das Badezimmer und wollte dann zurück ins Zimmer kehren, als er merkte, dass er nicht mehr alleine war. Abrupt blieb er im schmalen Flur des Studentenzimmers stehen und glaubte seinen Augen nicht. Langsam wandte sich der andere zu ihm und lächelte ihn glücklich an, als er ihn sah. der dann lächelte, als er ihn sah.

"Hi.", kam es von Seto, der wie aus dem Nichts in dem Zimmer stand.

"Hi.", erwiderte Katsuya automatisch, immer noch ungläubig den anderen musternd. Er sah gut aus. Das braune Haar stand ihm wirklich besser, als das schwarze. Seto hatte etwas mehr Farbe bekommen und schien etwas Gewicht zugelegt zu haben, was immer noch nichts an seiner Schlankheit änderte, aber ihn nicht mehr mager wirken ließ. Seto trug eine legere Hose und ein Hemd, dessen obere Knöpfe offen waren.

"Gut siehst du aus.", meinte Seto in einem sanften Tonfall.

"Uhm... ähm... danke... du auch.", stammelte Katsuya, der immer noch total überrumpelt war. "W... was machst du hier?"

"Ich bezieh mein Studentenwohnheimzimmer und freu mich, meinen Mitbewohner kennen zu lernen.", meinte Seto amüsiert.

"Ähm... hä?", kam es nur wenig intelligent von dem Blonden. Dann trat Seto einen Schritt auf ihn zu und angelte nach der Hand des anderen. Diesem gelang es einfach nicht sein Erstaunen zu überwinden.

"Ich hoffe, es ist okay, dass wir uns das Zimmer hier teilen werden.", fragte Seto nun doch etwas scheu und unsicher Katsuya. Erst nach und nach begann der Blonde zu verstehen, dass das alles von seinem Freund arrangiert worden war und begann zu lächeln.

"Du hast das arrangiert.", sprach er es laut aus und Seto lächelte sanft.

"Ohne deine Mutter und deine Schwester wäre mir das nicht gelungen. Und auch meine Eltern haben mir mit einer kleinen Spende an die Uni geholfen, dieses Zimmer für uns und die nächsten vier Jahre zu sichern.", erzählte Seto verlegen. "Wenn... wenn du das möchtest."

"Warum sollte ich es nicht wollen?", erwiderte Katsuya mit einem schiefen Grinsen. "Ich hab dich wahnsinnig vermisst."

"Ich dich auch... glaub mir bitte.", kam es in einem vertrauteren Ton von Seto. "Die letzten anderthalb Jahre... gab es kaum ein Tag, an dem ich mir nicht gewünscht habe, dass wir näher beieinander wohnen würden, so dass wir uns hätten sehen können."

"Ging mir auch so.", gestand Katsuya mit einem verlegenen Unterton.

"Skypen hat das zwar etwas gelindert, ist aber kein Ersatz dafür gewesen, dir wirklich gegenüber zu stehen.", stellte der Brünette ruhig fest. Katsuya konnte nur nicken. Er versank gerade in den strahlenden, blauen Augen seines Gegenübers und verschränkte seine Finger mit denen Setos. Sein Herz schlug furchtbar schnell und hoch.

"Seto?", hauchte er.

"Ja, Katsuya?", erwiderte der Brünette kaum hörbar.

"Darf ich dich küssen?", fragte Katsuya.

"Natürlich darfst du.", antwortete Seto, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Er beugt sich dem Blonden etwas entgegen, der ihm auch langsam entgegen kam und dann seine Lippen vorsichtig auf die seinen legte. Beide schlossen langsam ihre Augen, während sie sich küssten. Katsuya legte seine Arme um Setos Rücken, der eine seiner Hände an Katsuyas Wange legte.
 

"Seit wann machen die beiden das?", fragte Shizuka einen schwarzhaarigen, jungen Mann, der mit einer Kiste auf dem Arm vor dem Zimmer ihres Bruders stand.

"Oh... schon 'ne ganze Weile.", antwortete Mokuba abgelenkt. Erst dann wandte er seinen Blick zu der jungen Frau und spürte eine seltsame Verzückung. "Ich bin Yamanashi Mokuba."

"Jonouchi Shizuka.", stellte sich die Brünette mit einem Lächeln vor, bevor sie sie beiden ihre Kisten abstellten und die beiden Turteltäubchen alleine ließen, um einen Tee trinken zu gehen.
 

.

Weihnachten

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Ein Blick in die Zukunft

"Satoru, du sollst deinen kleinen Bruder doch nicht ärgern.", kam es maßregelnd von Katsuya, der seinen ältesten Sohn Richtung Küche schob. "Los, frühstücken."

"Aber Dad...", begehrte der Zwölfjährige auf, der seit neun Jahren zwei Väter besaß und sich darüber glücklich schätzte, hatte seine leibliche Mutter ihn früher immer viel geschlagen und ihren Frust an ihm ausgelassen. "Yoshimine soll mich doch einfach nur fragen, ob er sich den Handheld nehmen kann. Mehr verlang ich doch gar nicht."

"Hm...", kam es von dem Blonden, der sich dem Neunjährigen zuwandte, den sie vor drei Jahren adoptiert hatten. "Yoshi, hast du wieder nicht gefragt?"

"Ich hab Angst, dass er nein sagt.", versuchte der Grundschüler sich zu rechtfertigen.

"Wenn Satoru dich mit etwas, dass ihm gehört, nicht spielen lassen möchte, musst du das akzeptieren... aber hat er dich jemals abgewiesen, wenn du ihn gefragt hast?", erklärte er geduldig seinem jüngsten Sohn.

"Nein.", nuschelte dieser verlegen. Katsuya wusste genau, woher die Angst vor Abweisung herkam. In seiner leiblichen Familie hatte man ihn immer wieder selbst um das Grundlegendste, wie Essen, betteln lassen und hatte ihn ausgelacht, wenn man seine Bitte ausschlug. Sanft zog er den rothaarigen Neunjährige in seine Arme und hob ihn hoch. Dann gingen sie zu dem schwarzhaarigen Zwölfjährigen, der seinem kleinen Bruder bereits dessen Lieblingscornflakes in eine Schüssel gefüllt hatte.

"Hier Knirps.", meinte er sanft und Yoshimine reichte seinem älteren Bruder dessen tragbare Spielkonsole. "Ne, kannst ruhig damit spielen, leg sie aber später auf die Station zum Aufladen."

"Danke Sa-kun.", meinte der Jüngere und lächelte erleichtert, bevor er von Katsuyas Arm auf die Sitzbank wechselte und sich über sein Frühstück her machte. Sanft zog Katsuya nun Satoru in seine Arme und umarmte ihn.

"Ich bin sehr stolz auf dich, Satoru.", flüsterte er ihm zu und strich ihm über das dunkle Haar. Dann ließ er auch seinen ältesten Sohn frühstücken.

In dem Moment kam Seto die Treppe hinunter und lächelte seine Familie an.

"Guten Morgen.", grüßte er sie, ging zu Katsuya und küsste ihn sanft und voller Liebe.

"Na du.", fragte Katsuya sanft neckend seinen Ehemann. "Haste die Arbeit noch fertig korrigiert?"

"Jap...", meinte Seto mit einem bezaubernden Grinsen, wie Katsuya fand. Ob Setos Schüler wohl glaubten, dass er auch kein Privatleben hatte, wenn er von einem Tag auf den anderen eben mal so 30 Klassenarbeiten korrigierte. "Aber ich werde mich heute Nachmittag noch mal mit Tanaka-kun eine Stunde hinsetzen müssen und mit ihm das Thema durchgehen. Er hat da noch einige Schwächen."

Katsuyas Lächeln wurde breiter und stolzer.

"Was ist?", fragte Seto verwirrt.

"Kein Wunder, dass deine Schüler dich so lieben und dich jedes Jahr aufs Neue zum Vertrauenslehrer wählen.", meinte Katsuya.

"Na ja,... das alles verdanken sie nur dir alleine.", erwiderte der Brünette, bevor er sich setzte, die Krawatte über seine Schulter legte und begann zu frühstücken.

"Mir?", kam es verblüfft von dem Blonden.

"Sicher... durch dich hab ich festgestellt, dass mir das Unterrichten Spaß macht. Da hab ich erkannt, dass ich gerne Lehrer werden würde. Nur deswegen hab ich schließlich Lehramt studiert.", erklärte Seto, als ob es ein längst bekannter Fakt wäre.

"Du hast Dad mal Nachhilfe gegeben?", fragte Yoshimine verblüfft.

"Klar hat er das. Nur dank eurem Papa hab ich es überhaupt an die Uni geschafft.", grinste der Blonde und wirkte einmal mehr wie in seiner Jugend. Da hörten sie das Klappern des Briefkastens. Da Katsuya immer noch nicht saß ging er an die Tür, öffnete sie und sah wie ihr Briefträger gerade den Vorgarten verließ. Er wandte sich zu ihm und grüßte ihn, während Katsuya ihm nur kurz nachwinkte. Dann nahm er die Post aus dem Briefkasten und kam dann wieder ins Haus.

Auf dem Weg zum Tisch ging er die Umschläge durch und prüfte kurz, wer der jeweilige Absender war. Da waren ein Brief von seinem Verlag, die Strom- und Telefonrechnung, ein Brief von Shizuka und Mokuba und eine Postkarte ohne Motiv. Er drehte sie um und fühlte sich schlagartig, als hätte ihn ein Vorschlaghammer getroffen. Die Briefe fielen zu Boden und seine Hand, mit der er die Karte hielt, begann zu zittern. Sofort stand Seto auf und kam zu ihm herüber, während auch Satoru aufsprang und die fallengelassene Post rasch aufhob.

"Hey, Sonnenschein... was ist denn los?", fragte Seto besorgt. Als Katsuya ihn ansah erschrak er selbst, denn diesen Blick hatte Katsuya das letzte Mal, als ihre Väter sie von der damaligen Oberschule abgeholt hatten. Seto nahm die Karte aus Katsuyas Hand und war fassungslos:

Die Postkarte kam vom Justizministerium, die Katsuya darüber informierte, dass sein Vater in der kommenden Woche seine fünfzehnjährige Haftstrafe verbüßt habe und auf freien Fuß kommen würde. Katsuya nahm die Postkarte aus Setos Hand und knüllte sie zusammen, bevor er sie in den Papiermüll warf.

"Egal.", murmelte er leise. "Frühstückt zu Ende, ich komm gleich und fahr euch zur Schule."

Dann verließ er die Küche, ging die Treppe hinauf und zog sich kurz in ihr Schlafzimmer zurück. Dort setzte er sich auf die Bettkante und versuchte ruhig durchzuatmen. Er kannte die Atemtechnik, die Stress und Panik reduzierte und ihn wieder zur Ruhe kommen ließ. Immerhin war sie seine Lieblingsmethode, die er seinen Patienten immer wieder empfahl und beibrachte. Besser als jedes Medikament zur Angstlösung.

Gerade, als sein Stresslevel wieder auf ein erträgliches Maß gesunken war schlangen sich zwei Arme um ihn.

"Er kann dir nichts mehr tun. Du bist nicht mehr alleine.", flüsterte Seto ihm sanft ins Ohr.

"Danke.", erwiderte Katsuya leise. "Es war nur im ersten Moment so ein Schreck."

"Kann ich mir vorstellen.", kam es mitfühlend von Seto. "Würde mir ganz genauso gehen, wenn Gozaburo nicht längst tot wäre."

"Ich hoffe nur, dass er nicht plötzlich auftaucht.", kam es mit Angst in der Stimme von Katsuya. "Ich will ihn nicht in der Nähe unserer Söhne haben."

"Selbst wenn er auftaucht, werden wir ihm klar machen, dass er in unserem Leben nicht erwünscht ist. Hab keine Sorge, wir werden auch das meistern.", versicherte der Brünette sanft. Katsuya nickte und strich sich eine verirrte Träne von der Wange, die sich wohl gelöst hat.

"Vielleicht schau ich kurz bei Kai vorbei, wenn ich die Kinder bei ihrer Schule abgesetzt habe.", meinte Katsuya und meinte damit sein Mentor und Ausbilder, von der Uni.

"Tu das, das wird dir sicherlich gut tun.", ermutigte Seto ihn liebevoll.
 

Es war ein wenig hektisch im Hause Yamanashi - Katsuya hatte bei ihrer Hochzeit Setos Familiennamen angenommen: Shizuka und Mokuba waren mit ihrer dreijährigen Tochter zu Besuch und auch Katsuyas Mutter war gekommen. Es gab keinen bestimmten Anlass für das Treffen. Es war nur etwas, was sie versuchten einmal im Monat auf die Beine zu stellen und das Familiengefühl zu festigen. Gerade für ihre Jungs war es wichtig in einen familiären Rahmen eingespannt zu sein. Setos Eltern waren noch unterwegs und waren durch einen Stau aufgehalten worden.

Als es klingelte ging Satoru an die Tür, öffnete und erstarrte. Vor ihm standen nicht die Großeltern, die er erwartet hatte, sondern ein alter Mann, der völlig herunter gewirtschaftet wirkte und ihn anlächelte. Irgendetwas an ihm kam dem Zwölfjährigen bekannt vor, doch er konnte es nicht benennen.

"Satoru, wer ist denn da an der Tür?", rief Katsuya aus dem Esszimmer, bevor er heran kam. Als er sah, wer vor der Tür stand schob er sich sofort vor seinen Sohn. "Was zum..."

"Schätzchen, ist alles in Ordnung?", hörte er seine Mutter aus der Küche fragend rufen. Doch Katsuya war völlig auf den Mann vor sich fixiert. Dieser hatte seine Baseball-Cap abgezogen und hielt sie unsicher in der runzligen Hand vor seiner Brust.

"Hallo, Sohn.", kam es schließlich von dem alten Mann. Satoru linste hinter seinem Dad hervor und musterte den Alten. Daher kam er ihm so bekannt vor: Sie hatten ähnliche Gesichtszüge.

"Wie bitte?", keifte der Blonde plötzlich. "Sohn? Du hast keinen Sohn mehr. Den hast du halbtot geschlagen in deiner Küche auf dem Boden seinem Schicksal überlassen."

Er wollte die Tür schon schließen, als der Alte ihn traurig ansah.

"Es tut mir leid." Kam es hastig und mit brüchiger Stimme von dem Älteren. Katsuya zog die Tür wieder auf und trat einen bedrohlichen Schritt auf den Älteren zu.

"LEID? ES TUT DIR LEID?", fauchte er ungehalten. Durch die angehobene Stimme kamen nun auch Seto, Shizuka, Mokuba und Katsuyas Mutter heran.

"Du?", kam es fassungslos von Shizuka.

"Ich... ich weiß, ich habe viele Fehler gemacht. Aber ich habe meine Haft genutzt, um eine Therapie zu machen und lange darüber nachzudenken. Ich erwarte gar nicht das du mir verzeihst, Katsuya... oder ihr beiden...", er sah zu seiner Ex-Frau und seine Tochter. "Alles was ich wollte war, mich bei dir aufrichtig für all den Schmerz entschuldigen, den ich dir in deiner Kindheit und Jugend zugefügt habe."

Mit diesen Worten drehte sich der Mann um und schlurfte durch den Vorgarten zum Bordstein und dann die Straße entlang. Fassungslos blickte Katsuya ihm noch lange hinterher, selbst als der Alte um die nächste Ecke bog und verschwand. Nur langsam konnte Seto die Tür aus Katsuyas Griff lösen und sie schließen. Dann zog er seinen Ehemann in seinen Arm und hielt ihn lange fest.

Seinen Hass auf diesen Mann hatte er schon vor langer Zeit bewältigt, weil er diesen nicht den Rest seines Lebens mit sich herumschleppen wollte. Doch die Wut war immer noch in ihm.

Tränen lösten sich aus Katsuyas Augen. Diese Worte von seinem Vater zu hören, auf die er so lange hatte warten müssen, hatte ihm überraschenderweise ein Gefühl der Befreiung geschenkt.
 

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Von:  Lexischlumpf183
2020-01-20T16:28:19+00:00 20.01.2020 17:28
Hab die Story in einem Rutsch gelesen und fand sie super. 😁 war zwar am Anfang traurig und zwischenzeitlich zum Weinen aber das Ende 😍 schön das es für beide separat wie auch etwas später gemeinsam ein Happyend gibt und auch das sie Kinder haben und diesen (endlich) eine schöne Kindheit bieten, ganz viel 🥛🍪 🙋😁
Antwort von:  MAC01
20.01.2020 17:32
Hallo  Lexischlumpf183,

vielen herzlichen Dank für deinen Kommi :3

Es freut mich, dass du die Story gelesen hast und sie super fandest. Ja, dass mit der Traurigkeit / Hoffnungslosigkeit war gewollt, denn nur dann wird ein Happy End so richtig schön, oder?

Liebe Grüße
Von:  night-blue-dragon
2019-12-26T17:20:41+00:00 26.12.2019 18:20
Huhu^^

und noch ein Überraschungskapitel. Ich gewöhn mich langsam daran, nur weiter so.^^

Es war ein schöner Blick in die Zukunft. Dass sich die beiden für Kinder mit ähnlichen Problemen einsetzen war zu erwarten.
Gozaboru ist schon in der Hölle, ich wüsste schon, was er dort immer wieder erleben dürfte.
Obwohl es von Katsuyas Vater eine nette Geste ist, ich verstehe, dass dieser ihm nicht verzeihen kann... was auch nur sehr verständlich ist. Das allerschönste ist, dass Seto und Katsuya ihre Probleme nie mehr alleine lösen müssen... sie haben eine Familie, die hinter ihnen steht und sie unterstützt.
Ich könnte noch viel mehr schreiben, aber mir fehlen die passenden Worte dazu.

In diesem Sinne vielen dank für diese Geschichte und die Zusatzkapitel.

glg night-blue-dragon
Antwort von:  MAC01
27.12.2019 07:36
Hallo  night-blue-dragon,

ich danke dir herzlich für all deinen Kommi :3

Es freut mich, dass dir der Adventskalendar gefallen hat und wer weiß... vielleicht werden zu dieser Story ein paar Zusatzkapis erscheinen - aber noch ohne Gewähr :D

Komm gut ins neue Jahr :3
Von:  Onlyknow3
2019-12-26T09:57:25+00:00 26.12.2019 10:57
Das war ein sehr schöner Abschluss, mit viel mehr als nur ein Blick in die Zukunft.
Sehr schön, mir hatdein AK gefallen, danke für diese Story.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  MAC01
26.12.2019 11:05
Hey Onlyknow3,

vielen herzlichen Dank für deinen Kommi :3

Schön das dir der AK gefallen hat :)

Bis zum nächsten Mal :3
Von:  -Pharao-Atemu-
2019-12-26T09:33:54+00:00 26.12.2019 10:33
E ist schön dass beide einen Beruf gefunden haben dr ihnen liegt. Und dass beide sich um Kinder kümmern und so eine Familie gründen konnten
Antwort von:  MAC01
26.12.2019 10:37
Moin moin -Pharao-Atemu-,

vielen lieben Dank für deinen Kommi :3

Manchmal wendet sich auch was zum Guten.

Bis zum nächsten Mal :3
Von:  Neko20
2019-12-26T05:22:53+00:00 26.12.2019 06:22
Ein wunderschöner Abschluss!
Toll das Seto und Katsuya eine gemeinsame Zukunft haben. Nach allem was die beiden erleben mussten, haben sie das verdient. Gute Idee, dass die beiden zwei Kindern ein schönes, liebevolles Zuhause schenken.
Du hast mir diesem Adventskalender etwas wundervolles geschaffen.
Arigato gozaimasu!
Wünsche dir einen schönen Tag.
LG Neko20
Antwort von:  MAC01
26.12.2019 06:28
Guten Morgen Neko20,

vielen herzlichen Dank für all deine Kommi, die du mir Kapitel für Kapitel in diesem Adventskalender geschenkt hast :3

Ich freu mich einfach, dass der Adventskalender gefallen hat :)

Ich wünsche dir auch noch einen wundervollen Tag :3
Von:  Onlyknow3
2019-12-25T20:33:59+00:00 25.12.2019 21:33
Wie schön, das sie sich nun haben mit Haut und Haar. Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  MAC01
26.12.2019 05:17
Hallo Onlyknow3,

vielen lieben Dank für deinen Kommi :3

Das nächste Kapitel?

:3
Von:  Neko20
2019-12-25T15:49:14+00:00 25.12.2019 16:49
Ein Bonustürchen. Super!
Toll das Honda und Katsuya wieder Kontakt haben. Freunde sind einfach wichtig.
Das Katsuya seinen Drachen so überrascht hat ist super. Schön das Seto trotz all dem schlimmen, was er erleben musste, diese Intimität und Nähe mit Katsuya genießen kann.
Du beschreibst das sehr sinnlich!
Jetzt haben die beiden eine gemeinsame Zukunft.
Ein sehr schöner Abschluss für diesen Adventskalender.
Wünsche dir einen schönen Abend.
LG Neko20
Antwort von:  MAC01
25.12.2019 16:53
Hallo Neko20,

vielen herzlichen Dank für deinen Kommi :3

Es freut mich, dass du dieses Bonuskapitel als schönen Abschluss siehst... dann werde ich dir auch nicht verraten, dass da morgen noch ein Kapi kommt ;-P

Schönen Abend noch :3
Von:  night-blue-dragon
2019-12-25T13:30:53+00:00 25.12.2019 14:30
Hallo,

das war eine nette Überraschung heute morgen.^^
Ein sehr gelungener Bonus, den du uns beschert hast. Ich habe ihn - wenn ich es so ausdrückend darf - mit Genuss gelesen.
Den beiden steht nun eine tolle Zukunft bevor, das freut mich.

glg night-blue-dragon
Antwort von:  MAC01
25.12.2019 14:38
Hey  night-blue-dragon,

vielen herzlichen Dank für deinen Kommi :3

Es freut mich, dass ich dir diesen Genuss bereiten konnte :)
Von:  Koinu
2019-12-25T09:21:11+00:00 25.12.2019 10:21
Autsch.. die Vorbereitung ohne Gleitgel an den Fingern muss sicher unangenehm sein. Da hat Katsu wohl nicht richtig nachgelesen ;D
Antwort von:  MAC01
25.12.2019 10:25
Hallo Koinu,

vielen dank für deinen Kommi :3

Vorberietung ohne Gleitgel muss nicht unbedingt unangenehm sein. Das kommt immer drauf an, wie man vorbereitet...

Noch besinnliche Feiertage :3
Von:  -Pharao-Atemu-
2019-12-25T07:07:08+00:00 25.12.2019 08:07
Meow, esi st so niedlich.
*Schneeflöckchen hier mal überall verstreut*
Es ist schön wie viel vertrauen Seto inzwischen hat. Wirklich sehr schön
Antwort von:  MAC01
25.12.2019 08:10
Guten Morgen -Pharao-Atemu-,

vielen lieben Dank für deinen Kommi :3

*mitmacht und Schneeflöckchen hier mal über all verstreut*



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